Unabhängig von der großen Zahl der Opfer ist das Haus aber noch unter einem anderen Aspekt von besonderem Interesse. Durch das Schreiben eines – wohl anonymen – Zeitgenossen an das Wiesbadener Finanzamt kann man womöglich einen Einblick in die Machenschaften der Nazis und ihrer Günstlinge bei der Verwertung des zurückgelassenen Eigentums der ehemaligen Hausbewohner gewinnen. Man muss diese Quelle allerdings mit einer gewissen Vorsicht betrachten, denn die Beamten des Finanzamts wiesen nicht nur die vorgebrachten Anschuldigungen vehement zurück, sie behaupteten auch, dass es eine Person mit dem Namen des Briefschreibers in der angegebenen Stellung nicht gäbe.
Der Brief stammte, zumindest ist das die Angabe auf dem Brief selbst, von einem Unteroffizier Max Guth, der angab, von dem dargelegten Sachverhalt während eines Urlaubs in Wiesbaden erfahren zu haben. Das mit dem 8. März 1943 datierte Schreiben war sowohl an den Reichsminister der Finanzen in Berlin als auch an den Oberfinanzpräsidenten in Kassel adressiert und war dann an das Finanzamt Wiesbaden mit der Bitte um Aufklärung weitergeleitet worden.
Der Brief, in dem es neben der Adelheidstr. 94[1] auch um Vorgänge in der Mainzer Str. geht, soll im Folgenden wegen seiner Bedeutung ausführlich zitiert werden:
„In Wiesbaden sind bei dem Verkauf des Judenmobiliars Dinge vorgekommen, die unbedingt durch eine höhere Stelle nachgeprüft werden müssen. Man erzählt sich hier Sachen, die kaum glaubhaft erscheinen und doch sind es Tatsachen, von denen Sie sich leicht überzeugen können.
Bekanntlich ist die Verwertung des Judenvermögens in Wiesbaden dem Finanzamt übertragen. Jm Reichsinteresse wäre es erforderlich gewesen, in den Judenwohnungen eine Bestandsaufnahme und Taxierung vorzunehmen und dann die Sachen öffentlich meistbietend zu versteigern. Eine Bestandsaufnahme erfolgte nun vielfach erst dann, nachdem Beamte des Finanzamtes die wertvollsten Stücke ohne Bezahlung oder zu Schleuderpreisen von der mit der Verwertung der Judensachen betrauten Stelle zugeschoben bekommen hatten, – ein Beamter bedachte den andern. So ist es vorgekommen, dass z.B. Perserteppiche, wertvolle Bilder usw. im Werte von jeweils mehreren tausend Mark zu Spottpreisen an Beamte abgegeben worden sind. Als diese Vorgänge in der Stadt zu sehr bekannt wurden und überall davon gesprochen wurde, ging man vorsichtiger zu Werke. Die von den Beamten erworbenen Sachen wurden in die bei den Versteigerungen aufgestellten Protokolle mit eingetragen, obwohl sie bei den Versteigerungen bereits nicht mehr da waren.
Ich bitte nun, feststellen zu lassen, wer von den Beamten des Finanzamts Judensachen bekommen hat, was er bekommen und was er dafür bezahlt hat. Sie werden über das Ergebnis dieser Feststellung erstaunt sein, nur dürfen Sie nicht das Finanzamt Wiesbaden damit beauftragen, denn die Beamten des Finanzamtes sind fast alle – von der Leitung angefangen bis zum kleinsten Beamten – an den Schiebungen beteiligt. Wenn die Beamten eidlich vernommen werden, werden sie wohl bekennen, was sie auf die vorher angedeutete Weise sich angeeignet haben. Bekannte von mir haben mehrfach dem Finanzamt Wahrnehmungen solcher Verschiebungen in den Judenwohnungen sogleich dem Finanzamt fernmündlich Mitteilung gemacht, damit es sich von dem unlautern Treiben überzeugen und rechtzeitig hätte eingreifen können.
Von Seiten des Finanzamts ist aber nichts geschehen, um dem Treiben Einhalt zu gebieten. Die die Anzeige erstattenden Menschen wussten ja nicht, dass das Finanzamt selber ein Interesse daran hatte, die Angelegenheit totzuschweigen. So ist es z.B. vorgekommen, dass eine den Hausbewohnern nicht bekannte Frau eine Judenwohnung in der Adelheidstrasse, hier, öffnete und auf die erstaunte Frage der Hausbewohner, was sie in der Wohnung suche, antwortete: „Ich bin die Frau des Vollziehungsbeamten X, ich bin berechtigt, in die Wohnung zu gehen. Sie sehen ja, dass ich die Schlüssel zur Wohnung besitze. Ich habe den Auftrag, festzustellen, was in der Wohnung vorhanden ist.“ Dass derartige Feststellungen Frauen von Beamten übertragen worden sind, halte ich für ausgeschlossen und es bleibt die Frage offen, wie diese Frau zu den Schlüsseln der Judenwohnung kam. — In der Mainzerstrasse, hier, wo sich auch 2 Wohnungen von abgeschobenen Juden befanden, bemerkten Mitbewohner des Hauses, wie abends eine der Wohnungen von einem Manne sowie einer Frau geöffnet und betreten wurde. Nach längerer Zeit kamen beide, mit schweren, gepackten Koffern und einem gefüllten Sack aus der Wohnung heraus und gingen in Richtung Bahnhof davon. Den Mitbewohnern kam das Treiben nicht ganz geheuer vor und sie vermuteten mit Recht, dass hier Judensachen verschoben worden waren. Sie teilten am ändern Tage dem Finanzamt ihre Wahrnehmung fernmündlich mit. Das Finanzamt veranlasste aber nichts. (…)
So könnten noch unzählige Beispiele angeführt werden, aber es würde zu weit führen. Das Weitere ergibt sich bei einer Nachprüfung hier beim Finanzamt und den in Betracht kommenden Beamten.[2]
Zum Schluss führt er namentlich noch die Beamten an, die nach seiner Meinung an den Schiebereien beteiligt waren.
Vier Wochen später bestritt die Leitung des Wiesbadener Finanzamts in einem ausführlichen Schreiben an die vorgesetzten Behörden die Vorwürfe mit allem Nachdruck. Die anonyme Eingabe enthalte „durchweg falsche Beschuldigungen. Schon die Masslosigkeit der einzelnen Behauptungen“ zeige, “dass sie unwahr, mindestens aber stark entstellt sein müssen“.[3] Leider habe man bisher nicht herausfinden können, wer hinter der Eingabe stehe. Der Verfasser habe sich damit „leichtfertig zum Verbreiter der allgemein umgehenden Gerüchte gemacht“, wie sie auch in Frankfurt, in Mainz und Augsburg im Umlauf seien.
Man konstatierte zwar, dass alle genannten Beamten mit der Verwertung jüdischen Eigentums befasst seien, aber zumeist nur mit Verwaltungsangelegenheiten und keinesfalls Einfluss auf irgendwelche Verschiebungen hätten nehmen können. Im Übrigen sei die Verwertung, so der Leiter des Finanzamts Trommershausen, genau nach seinen Anordnungen erfolgt, die er wie folgt beschreibt und so einen Einblick in diesen tausendfach vollzogenen Vorgang des behördlichen Raubzugs gewährt:
„Der Leiter der Vollstreckungsstelle bestimmte von Fall zu Fall, welche der von der Geheimen Staatspolizei versiegelten Judenwohnungen geöffnet werden sollten. Die Öffnung ebenso wie später das Arbeiten in den Wohnungen erfolgte grundsätzlich nur von 2 Beamten gemeinsam. Ich habe bereits damals den Beamten gesagt, dass ich diese Anordnung weniger aus Misstrauen gegen sie, sondern zu ihrer Sicherheit und zum Schutz gegen etwaige Vorwürfe treffe. An Hand des Vermögensverzeichnisses der Juden wurde das vorhandene Mobiliar festgestellt, nicht angegebenes nötigenfalls nachgetragen. Anschliessend fand die Taxierung statt, unter Zuziehung des von der Industrie- und Handelskammer vereidigten Sachverständigen W. Wertvolle Sachen wurden noch von besonderen Fachleuten abgeschätzt. Nach Feststellung der Werte wurden Wäsche, Möbel, Einrichtungsgegenstände anderer Art, die weisungsgemäss für Zwecke der RFV ,oder wie Nähmaschinen für den Oberbürgermeister in Litzmannstadt sicherzustellen waren,[4] ausgesondert und im Dienstgebäude Herrngartenstrasse untergebracht. Danach erhielten das Kriegsschädenamt der Stadt und die NSV Gelegenheit, sich die Sachen auszusuchen, deren sie bedurften. Danach wurde der Rest freihändig verkauft, da Versteigerungen möglichst vermieden werden sollten. Kaufliebhaber erhielten Gelegenheit, an Ort und Stelle Möbel und Wäsche anzusehen und sie zum Taxpreis zu kaufen.
Ebenso ist hinsichtlich der Angehörigen des FA verfahren worden. Ich habe die Abgabe von Sachen an Angehörige des FA so gehandhabt, wie es mir von der Verwertungsstelle beim FA Frankfurt (Main)-Aussen als zugelassen angegeben war. Zur Sicherheit gegen Missbrauch musste aber jeder Beamte und Angestellte einen schriftlichen Antrag vorlegen, über den ich in jedem Falle selbst entschieden habe. Vorher durfte nichts abgegeben werden. Als einige unbescheidene Anträge eingegangen waren, habe ich in einer Amtsbesprechung darüber meine Meinung gesagt und die Genehmigung wesentlich eingeschränkt. Bei Eingang des generellen Verbotes war die Abgabe daher schon fast ganz eingestellt.
Die Durchführung der Arbeiten bei der Bestandsaufnahme und Taxierung wurde durch den Leiter der Vollstreckungsstelle überwacht. Auch der zuständige Sachbearbeiter hat sich wiederholt unangemeldet in die Judenwohnungen begeben, um die Arbeiten ten zu kontrollieren. In der gleichen Weise erfolgte eine Überwachung der Versteigerungen. Diese wurden auch unauffällig von der Preisprüfungsstelle überwacht; deren Beamte haben mir und den versteigernden Beamten ausdrücklich erklärt, dass die Versteigerungen ordnungsmässig vor sich gegangen sind.
Wertvolle Bilder und Teppiche wurden aus Sicherheitsgründen zum Finanzamt gebracht. Sie wurden dort abgeschätzt und dann Kaufliebhabern zugänglich gemacht. Als Schätzer wurde der Kaufmann Heinemann herangezogen, der als zuverlässig anerkannte Jnhaber einer Kunst-und Antiquitätenhandlung. Die Bilder wurden ausserdem vom Direktor des hiesigen Museums, Professor Voss, mehrmals besichtigt und geschätzt. Für die Bewertung der Teppiche wurde der Kaufmann Danker, Inhaber eines grossen Teppichgeschäfts, herangezogen.
Es ist unwahr, dass Beamte wertvolle Bilder oder Perserteppiche bekommen haben. Es haben ein Beamter und ein Angestellter Bilder erworben, die anderweit nicht recht zu verwerten waren. Ein Beamter hat einen wahrscheinlich echten Teppich bekommen. Dieser Beamte war Bombenbeschädigt.“
Nach dieser grundsätzlichen Klarstellung wurde darauf hingewiesen, dass „die Begehrlichkeit nach Judensachen in weitesten Kreisen der Bevölkerung sehr groß“ sei und das auch die Neigung erkläre, „hinter den harmlosesten Vorgängen unkorrektes Verhalten, Bevorzugung, Schiebung zu wittern“. Er sei all den angeblichen Vorgängen nachgegangen und alle hätten sich als falsch herausgestellt, auch die in der Adelheidstr. 94:
„Beim Hause Adelheidstrasse 94 ist es aber einmal aufgefallen, dass eine Frau ständig mit Handkoffern aus dem Hause kam. Sie wurde von einem Vollziehungsbeamten gestellt, und es ergab sich, dass sie Sachen aus einer Judenwohnung, deren Inhaber noch nicht abgeschoben war, wegbrachte. Offenbar haben die Juden, die mit einer Abschiebung rechneten, an die Arierin verkauft. In dem gleichen Haus war in einer anderen Wohnung die Verwertung von Judensachen im Gange. Und schon nahmen die Beobachter an, aus dieser Wohnung werde etwas verschleppt.
Zu Missverständnissen und falschen Annahmen haben auch häufig folgende Tatsachen geführt: Mehrfach wurde gemeldet, dass Licht in einer Wohnung brenne. Es wurde dann ein Beamter entsandt, der das Licht löschte. Häufig haben die Vollziehungsbeamten bis in die Nacht hinein die Bestandsaufnahmen gemacht, um die Wohnungen baldigst freizumachen. Wiederholt baten Käufer, besonders Bombengeschädigte aus Mainz, die gekauften Sachen abends spät abholen zu dürfen, teils aus Zeitmangel, teils weil nur abends noch Fuhrwerk zu bekommen war. All diese Tatsachen waren Anlass zu unbegründeten Mitteilungen und Anzeigen über unbefugtes Betreten der Judenwohnungen oder Diebstahl von Sachen.“
Es waren also nicht die Beamten des Finanzamts, die die „Judensachen“ auf eigene Rechnung verwerteten. Im Gegenteil: Ihr überaus großer Arbeitseinsatz für Volk und Führer, sogar bis in die Nacht hinein, hatte sie in diesen falschen Verdacht gebracht. Oder aber es waren die – selbst jetzt noch – geld- und raffgierigen Juden, die vor ihrer Deportation ihre Wertgegenstände schnell noch in bare Münze umwandeln wollten.
Und selbst wenn in diesem Falle – was allerdings höchst unwahrscheinlich ist – an den Anschuldigungen nichts dran gewesen sein sollte, dann zeigt der ganze Vorgang dennoch zwei wesentliche Aspekte. Zum einen traute man offensichtlich in der Bevölkerung all denen, die im System der Naziherrschaft an den entsprechenden Schaltstellen saßen, jede nur erdenkliche Vorteilsnahme zu. Diese sicher berechtigte Skepsis scheint auf den ersten Blick für den oder sogar für die vielen anderen deutschen Volksgenossen zu sprechen, kommt darin doch das Misstrauen gegenüber diesem Staat und seinen Funktionsträgern deutlich zum Ausdruck. Das viel Schlimmere ist aber, dass sich dieser Argwohn aus der Angst speist, selbst zu kurz zu kommen und nur einen unzureichenden Teil von der Beute zu erhalten. Die vermeintliche Systemkritik entlarvt sich als das, was sie wirklich ist, nämlich die vehemente Zustimmung zu der von den Nazis in Gang gesetzten Beraubung der jüdischen Mitbürger.[5]
Anmerkungen:
[1] Zwar ist in dem Brief an die Finanzbehörde nicht explizit gesagt, dass die Judenhäuser in der Adelheidstr. 94 und der Mainzer Str. 60 gemeint sind, dies ergibt sich aber aus dem Antwortschreiben des Finanzamts Wiesbaden an den Oberfinanzpräsidenten Kassel, da in diesem Brief unter Bezugnahme auf die geschilderten Vorgänge ausdrücklich von diesen beiden Häusern die Rede ist.
[2] HHStAW 519/2 2393 (o.P.)
[3] HHStAW 519/2 2393 (14 f.) Was den Autor der Anschuldigungen betraf, so hatte man sowohl bei den Einwohnermeldeämtern in Wiesbaden und Mainz nach einer Person dieses Namens nachgeforscht. Darüber hinaus hatte man bei den zuständigen Kommandanturen angefragt, ob ein Unteroffizier Guth sich als Urlauber angemeldet habe und sogar beim Ernährungsamt hatte man sich erkundigt, ob Lebensmittelkarten auf diesen Namen ausgestellt worden seien – alles ohne Erfolg, was aber keineswegs bedeutet, dass es eine Person dieses Namens nicht gab. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass der Autor des Briefes im Hinblick auf seine Identität aus verständlichen Gründen falsche Angaben gemacht hatte
[4] Durch Erlass des Reichsministers der Finanzen war am 21.3.1942 verfügt worden, dass „alle dem Reich aus eingezogenem und verfallenem Vermögen anfallende Nähmaschinen dem Oberbürgermeister der Stadt Litzmannstadt zur Anfertigung von Wehrmachtskleidung anzubieten sind.“ Erst wenn dessen Bedarf gestillt sei, dürften andere Verwertungsmöglichkeiten genutzt werden. HHStAW 519/2 2393 (o.P.) Schreiben des Oberfinanzpräsidenten Kassel vom 31.3.1943.
[5] Siehe zu diesem gesamten Komplex Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2007.