Über Suse Vyth, die Letzte, die man in das Judenhaus einquartierte, ist noch weniger bekannt als über das Leben von Babette Weil. Sie war am 24. Juli 1879 als Sara Isaacson in Dinslaken am Niederrhein geboren worden, wo es seinerzeit eine ganze Reihe von Familien mit diesem Namen gab, die eine wichtige Rolle im dortigen Wirtschaftsleben, i.B. als Metzger, spielten. Auch der vermutliche Großvater von Suse, Salomon Isaacsen, übte diesen Beruf aus. Seine Frau Sara, geb. Andreas war vermutlich die Namensgeberin für die Enkelin, in deren Geburtsregistereintrag nur der Vorname Sara eingetragen wurde. Die Eltern von Suse waren der 1829 geborene und zumindest später in Dinslaken lebende Handelsmann Moses Isaacson und seine Frau Sophie, geb. Herzfeld.[1] Suse war das zweite Kind. Über den weiteren Werdegang ihres älteren, am 30. August 1875 geborenen Bruders Max ist ebenfalls nichts Näheres bekannt. Die jüngere Schwester Laura, geboren am 25. Januar 1883, später verheiratete Rosenthal, teilte das Schicksal ihrer Schwester. Am 29. Juli 1942 wurde sie von Dortmund aus nach Theresienstadt deportiert. Die jüngste, ledig gebliebene Schwester Else, die am 27. April 1885 ebenfalls in Dinslaken geboren wurde, hat den Holocaust überlebt. Sie verstarb kurz nach Kriegsende am 29. August 1945 in Zürich in der Schweiz. Wie sie dort unter welchen Umständen hingelangt war, ist nicht bekannt.
Weder war etwas über den beruflichen Werdegang von Suse Vyth, noch über ihre früheren Wohnsitze in Erfahrung zu bringen.[2] Selbst der Zeitpunkt ihres Zuzugs nach Wiesbaden ist nicht genau feststellbar, denn in den verschiedenen Ausgaben des Wiesbadener Adressbuchs ist sie nirgends eingetragen. Da auch ein Eintrag im Jüdischen Adressbuch von 1935 fehlt, kann man vermuten, dass sie erst danach kam und dann trotz ihres Alters von fast 60 Jahren vielleicht als Hausgehilfin in einem anderen Haushalt tätig war. Das würde zumindest das Fehlen ihres Namens in den Adressbüchern erklären. Zum Zeitpunkt der Volkszählung im Mai 1939 gab sie dann aber an, in Wiesbaden in der Rambacher Str. 11 zu wohnen.
Danach taucht ihr Name in einer Meldung des Zellenwarts der Zelle 07 Wiesbaden-Ost vom 11. Februar 1940 auf. Auf eine Anfrage der Ortsgruppenleitung hatten alle Zellenleiter zu überprüfen, wo zum damaligen Zeitpunkt noch welche Juden in welchen Wohnungen und bei welchen Vermietern lebten. In dem Schreiben, in dem 8 jüdische Einzelpersonen bzw. Familien aufgeführt sind, heißt es unter der Adresse Thelemannstr. 7, vierter Stock:
„Zwei alte Jüdinnen als Untermieter bei Zais. Suse Sara Isaackson und Johanna Sara Loeb.
Hausbesitzer und Vermieter Frau Marie Zais, im Hause.
Je ein Zimmer
Mietpreis: Zimmer Isaackson RM 20.- mit Heizung RM 25
Zimmer Loeb RM 25.- mit Heizung RM 30.“[3]
Etwa ein Jahr später findet sich ihr Name in einer anderen, ebenfalls für die Kreisleitung bestimmten Liste vom 20. Februar 1941 wieder. Diesmal ging es darum, Arbeitseinsätze für Juden zu organisieren, weshalb man das Alter und die Arbeitsfähigkeit der in den jeweiligen Zellen wohnenden Juden erfragt hatte. In der übermittelten Liste ist dann neben der Adresse aber nur das Alter der aufgelisteten Juden angegeben. Noch immer wohnte Suse Isaacson damals mit Johanna Loeb zusammen in der Thelemannstr. 7.[4]
Ob sie tatsächlich zu diesem Zeitpunkt noch dort wohnte, ist eher fraglich, denn am 12. Dezember des Jahres 1940 hatte sie Hugo Vyth geheiratet, der damals in der Sonnenberger Str.42 gemeldet war. [5] Vermutlich war Suse Isaacson, jetzt Vyth, nach der Hochzeit zu ihrem Mann in dessen Wohnung gezogen, zumindest gab Hugo Vyth in seiner Vermögenserklärung vom 10. März 1941 an, dort mit seiner Frau zusammenzuleben.[6]
Hugo Vyth stammte aus Mainz, wo er am 2. März 1869 geboren worden war. Sein Vater, Leopold Asher Vyth, kam wie Suse Isaacson ursprünglich auch vom Niederrhein, allerdings aus Kalkar. Seine Frau Regina Adler war Rüsselsheimerin.[7] Im Mainz besaß das Ehepaar ein Fell- und Häutelager.[8]
Hugo selbst war das fünfte von insgesamt sechs Kindern von Asher Vyth und seiner Frau Regina. Er selbst war Kaufmann geworden, vermutlich längere Zeit im Dienst der „Nordsee-AG“, von der er später eine jährliche Rente von 5.400 RM bezog.[9] Seit 1910, dem Jahr in dem er erstmals im Wiesbadener Adressbuch als Einwohner gelistet ist, war er bis 1928 Teilhaber, phasenweise auch alleiniger Inhaber der Firma „J.J. Höss Nachf. R. Wöll“, einer am Marktplatz gelegen Fischhandlung.[10] Es könnte sein, dass er diesen Laden – heute würde man sagen – als Franchise-Unternehmen zusammen mit der „Nordsee-AG“ betrieb.
Nach den Angaben der Zollfahndungsstelle Mainz verfügte er im Jahr 1938 neben seiner Rente auch noch über ein kleines Vermögens, bestehend aus Wertpapieren von knapp 30.000 RM und einem kleinen Bankguthaben. Das war für die Devisenstelle in Frankfurt Grund genug, um eine Sicherungsanordnung zu erlassen.[11] Man hatte ihn im Verdacht, gegen die bestehenden gesetzlichen Regelungen, illegal unter Mitnahme der Gelder ins Ausland gehen zu wollen. Der Hinweis, dass er im Ausland auf die Unterstützung von Verwandten zählen könne, bezog sich möglicherweise auf seinen Bruder Julius und dessen Familie, die etwa in dieser Zeit nach Argentinien ausgewandert waren.[12]
Das kleine Vermögen wurde 1938 erheblich reduziert, da er 1936 und 1937 Bürgschaften für die Firma „J.J. Höss Nachf. R. Wöll“ übernommen hatte, für die noch 1938 einstehen musste. 1940 gab er bei einer erneuten Vermögenserklärung an, über kein Einkommen mehr zu verfügen, im Gegenteil erhebliche Schulden zu haben. Sein verbliebenes Vermögen von etwa 4.000 RM war durch das Reichsfluchtsteuerpfand völlig aufgehoben. Sein jährliches Einkommen belief sich durch die Rente nach seinen Angaben aber immer noch auf einen Betrag zwischen 5.000 und 6.000 RM.[13]
Die Devisenstelle setzte daraufhin seinen Freibetrag auf 250 RM. In einem Schreiben, in dem er genauestens seine monatlichen Ausgaben aufführte, bat er darum, ihm wenigsten 300 RM zu gewähren.[14] Im November des gleichen Jahres ersuchte er erneut die Devisenstelle um Anhebung seines Freibetrags um weitere 50 bis 100 RM. Er sehe es als seine Pflicht an, seine inzwischen verwitwete Schwester Laura Kapp in Mainz finanziell zu unterstützen, da deren Sohn Siegmund, der 1940 emigriert sei und sie dadurch bar jeder finanzieller Hilfe sei.[15]
Am 10 März 1941 hatte Hugo Vyth seine letzte Vermögenserklärung ausgefüllt. Sie entsprach im Wesentlichen der vorherigen, allerdings bestand der Haushalt nach seiner vor einem Vierteljahr geschlossenen Ehe mit Suse Isaacson jetzt aus zwei Personen. Er hatte in diesem Formular schon unter den Ausgaben die Kosten für Medikamente notiert, derer er wegen seiner Krankheit, es handelte sich um Lungenkrebs, bedürfe. Ungefähr ein weiteres Vierteljahr später, am 28. Juni 1941, verstarb er.[16]
Damit verschlechterte sich auch die Lebenssituation von Suse Vyth, denn mit dem Tod ihres Ehemanns wurde auch die bisherige Rente gestrichen. Sie war nun auf die geringen Erträge der verbliebenen Wertpapiere angewiesen, wollte aber die Unterstützung für ihre Schwägerin Laura Kapp weiterhin bestreiten.[17] Ob ihrer Bitte um einen Freibetrag von 220 RM stattgegeben wurde, ist den Akten nicht zu entnehmen.
Vermutlich waren es auch finanzielle Gründe, die sie dazu bewogen hatten, nach dem Tod ihres Mannes wieder in ihre ehemalige Wohnung in der Thelemannstr. 7 zu ziehen. Hier blieb sie laut Gestapo-Karteieintrag bis zum 4. April 1942. Bereits aus der neuen Wohnung teilte sie am 23. April der Devisenstelle ihren Umzug in das Judenhaus Bahnhofstr 46 mit.[18] Mit großer Wahrscheinlichkeit war dieser erneute Wohnungswechsel erzwungen worden.
Vier Wochen, nach dem sie diese kurze Mitteilung aufgesetzt hatte, bestieg sie an der Viehrampe des Wiesbadener Schlachthofs den Waggon, der sie über Frankfurt nach Izbica bringen sollte. Kurzfristig hatte man den eigentlich für Frankfurter Juden vorgesehenen Zug noch mit Wiesbadener Juden „aufgefüllt“. Umgebracht wurde sie, wie auch die anderen Mitbewohner der Bahnhofstr. 46 – Bernhard Bodenheimer, Frieda Kahn und Helene Schreiber -, bald nach ihrer Ankunft in der Todesfabrik Sobibor.
Anmerkungen:
[1] Die Vater-Sohn–Verbindung zwischen Samuel und Moses Isaacson ist nicht völlig gesichert, aber sehr wahrscheinlich. In einer Einwohnerliste von Dinslaken aus dem Jahr 1858 ist als Haushaltsvorstand des Hauses mit der Nummer 140 Salomon Isaacson verzeichnet, Moses Isaacson wird hier als „in dem Haus halt lebend“ aufgeführt. Die Angaben zur Familie Isaacson verdanke ich der intensiven Recherchearbeit von Frau Prior aus der örtlichen Stolpersteininitiative und den Mitarbeitern des dortigen Stadtarchivs. Frau Prior hat mir auch eine Abschrift der Geburtsurkunde von Suse Sara Isaacson übermittelt. Die große Schwierigkeit beim Auffinden von Suse Sara Isaacson bestand wesentlich darin, dass sie bisher nur mit dem Vornamen Suse bekannt war, der aber im Geburtseintrag gar nicht aufgenommen worden war.
[2] Auch ihre frühere Adresse in ihrem Geburtsort Dinslaken ist dort nicht mehr bekannt, siehe http://www.stolpersteine-dinslaken.de/?q=node/18.
[3] HHStAW 483 10127 (96).
[4] Ebd. 122. Laut dieser Liste war angeblich inzwischen auch die 46 jährige Mathilde Heilbronn dort eingezogen. Die Angaben des Zellenleiters ist in jedem Fall falsch, denn Mathilde Heilbronn war laut Eintrag auf ihrer Gestapo-Karteikarte Gestapo-Karteikarte bereits im August 1939 nach England ausgewandert.
[5] HHStAW 519/3 6409 (17). Für Hugo Vyth war es die zweite Ehe. Zuvor war er mit der am 15.2.1876 in Linz a. Rhein geborenen Margarete Sinzig verheiratet gewesen. Die Ehe war wahrscheinlich kinderlos geblieben, denn als anspruchsberechtigte Erben traten im späteren Entschädigungsverfahren die Söhne von Margarete Sinzigs Bruders Josef Sinzig, Jakob und Erich Sinzig, auf. Siehe HHStAW 518 67884 (8).
[6] HHStAW 519/3 6409 (20). In einem weiteren Brief von Suse Vyth selbst an die Devisenstelle vom Juli 1941 ist als Absender ebenfalls die Sonnenberger Str. 42 angegeben, ebd. (23).
[7] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1941 / 1207. Leopold Vyth war am 18.8.1835, Regina Adler am 13.8.1831 geboren worden. Sie verstarben beide in Main, er am 25.9.1908, sie war bereits am 8.51889 verstorben.
[8] https://www.archivportal-d.de/item/3PCAMNKBOYEZRPBNJL3JOKFERDIVJOT7.
[9] Die „Nordsee-AG“, heute bekannt durch die weit verbreiteten Fischrestaurants, war 1896 von Bremer Kaufleuten und Fischern gegründet worden. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war sie durch Erweiterung der Fischfangflotten und zahlreiche Fusionen mit anderen Fischereigesellschaften norddeutscher Hafenstädte zur größten deutschen Fischereigesellschaft aufgestiegen und besaß vor dem Zweiten Weltkrieg 40 % der Dampffischereikapazitäten. Siehe Göben, Heinz, Der Wettbewerb der deutschen Fischereihäfen und seine Probleme, Berlin 1961, S. 168 ff.
[10] Diese Angaben sind den jeweiligen Adressbüchern zu entnehmen. Ebenso die jeweiligen Wohnadressen. Zunächst bis 1916 war dies die Herrenmühlgasse 9, danach bis 1918 die Schwalbacher Str. 5, ab 1920 wohnte er bis Anfang der 30er Jahre am Marktplatz 11. Ab 1933 war er in der Hindenburgallee 33 gemeldet. Im letzten Adressbuch von 1938/39 ist er eigenartigerweise nicht gemeldet. Wann er in die Sonnenberger Str. 42 zog, ist nicht bekannt.
[11] HHStAW 519/3 6409 (1). Johanna Maeschig, eine Nichte von Hug Vyth, die das Entschädigungsverfahren einleitete, nannte damals unter Bezug auf die Steuerakten erheblich höhere Vermögenssummen. Nach ihren Angaben besaß ihr Onkel 1935 sogar 122.000 RM, 1938 noch 67.000 RM, 1939 48.000 RM 1940 noch immer 42.000 RM. Siehe HHStAW 518 67884 (9).
[12] Von Julius und seiner Frau Rieka, geb. Jesses, sind die beiden Kennkarten mit dem „J“-Stempel erhalten geblieben. https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0641.pdf und https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0240.pdf.
[13] HHStAW 519/3 6409 (11).
[14] Ebd. (13).
[15] Ebd. (15). Ob dies genehmigt wurde, ist den Akten nicht zu entnehmen. Laura Vyth war mit dem 1862 geborenen Simon Hirsch Kapp verheiratet gewesen, der bereits 1894 verstorben war.
[16] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1941 / 1207.
[17] Laura Kapp wurde am 27.9.1942 von Darmstadt aus nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 8.11.1943 ums Leben kam. Siehe auch die „Page of Testimony“in Yad Vashem http://yvng.yadvashem.org/remote/namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM/04031809_329_2887/12.jpg?width=700.
[18] Ebd. (25).