Horst-Wessel-Str. 45


Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Das ehemalige Judenhaus in der Horst-Wessel-Str. 45 heute
Eigene Aufnahme
Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Lage des ehemaligen Judenhauses in Biebrich
Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Belegung des Judenhauses Horst-Wessel-Str. 45

 

 

 

 

 

 


Adelheid Löwensberg

In der jüngsten Zeit hat in Wiesbaden die Diskussion um die Pfitzner-Straße erneut die Frage aufgeworfen, welches Selbstverständnis die Bewohner eines Gemeinwesens durch die Namensgebung von Straßen und Plätzen zum Ausdruck bringen wollen. Eine Diskussion, die auch in dem ehemaligen Vorort Biebrich schon oft geführt werden musste und vermutlich immer wieder auch zu erregten Disputen geführt hat. So hat auch die Straße, in der eines der drei Biebricher Judenhäuser lag, seit dem 18. Jahrhundert drei Mal ihren Namen ändern müssen.
Die neue Verbindungsstraße zwischen dem neu entstandenen städtischen Zentrum von Biebrich und der Stadt Wiesbaden, die nach ihrer allmählichen Bebauung am Ende des 19. Jahrhunderts die alte Verbindung über die am Schlosspark gelegene Wiesbadener Straße ablösen sollte, hatte zunächst den entsprechend würdigen Namen Kaiserstraße erhalten. Nachdem Biebrich 1926 seine Selbständigkeit verloren und zum Stadtteil von Wiesbaden wurde, wo es bereits eine solche Straße gab, musste man, nachdem der Kaiser zudem seit nunmehr fünf Jahren abgedankt hatte und aus dem Reich zumindest verfassungsrechtlich eine Republik geworden war, eine auch politisch angemessenere Bezeichnung finden. Es bot es sich an, sie jetzt in Straße der Republik umzutaufen. Aber kaum war den Nazis die Macht zugefallen, begannen sie auf allen Ebenen mit ihrer Kulturrevolution. Eine Straße zu Ehren der Republik durfte es nicht mehr geben. Als neuer Patron bot sich der jüngst, angeblich durch Kommunistenhand, in Wahrheit bei einer Auseinandersetzung in Zuhälterkreisen zu Tode gekommene SA-Mann Horst Wessel an, der von Goebbels zum Helden und Märtyrer stilisiert wurde. Das Horst-Wessel-Lied avancierte zur Parteihymne und wurde üblicherweise im Anschluss an die Nationalhymne gesungen. Immer dann, wenn man als Bewohner der Straße seine Adresse angeben musste, besonders als Jude, werden einem unwillkürlich die folgenden Zeilen des Liedes durch den Kopf gegangen sein: „Die Straße frei den braunen Bataillonen, die Straße frei, dem Sturmabteilungsmann!“. Eine permanente, assoziative Drohkulisse: Frei für die braunen Bataillone bedeutet ja nichts anderes, als weg mit den Juden und allen anderen Oppositionellen.[1] Der Platz zwischen Horst-Wessel-Straße und Rathausstraße erhielt den Namen Horst-Wessel-Platz und diente den Nazis in den folgenden zwölf Jahren immer wieder als Aufmarsch- und Kundgebungsplatz.

Was sie aber dazu bewogen haben mag, ausgerechnet in einer solchen „Heldenstraße“ ein Judenhaus einzurichten, bleibt der Rationalität verschlossen. Man muss allerdings konstatieren, dass das Haus in der Horst-Wessel-Str. 45 zwar auf der im Januar 1940 entstandenen Liste der Judenhäuser stand, aber die Funktion eines solchen nie erfüllt hat. Die verwitwete Eigentümerin Johanna Löwensberg und später ihre Tochter Adelheid waren die einzigen Juden, die in der Zeit der NS-Herrschaft in dem Haus wohnten.[2]

Zu Beginn der NS-Zeit lebten etwa 150 Menschen jüdischen Glaubens in Biebrich, somit deutlich weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung von etwa 20.000. Jungmann gibt sogar für das Jahr 1925 nur einen jüdischen Anteil von 0,5 Prozent an, wobei sich die Zahl von 112 Juden aber nur auf diejenigen bezieht, die damals tatsächlich Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren. Der Rückgang der jüdischen Bevölkerung in Biebrich von etwa 5 Prozent in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf 0,5 Prozent innerhalb von 75 Jahren ist sicher nicht nur als Folge einer demographischen Entwicklung zu sehen, sondern auch Ergebnis einer zunehmenden Säkularisierung im jüdischen Milieu selbst.[3] Anfänge jüdischen Lebens in Biebrich reichen zurück bis in das 16. Jahrhundert,[4] aber erst im 19. Jahrhundert bildete sich nach langen Auseinandersetzungen durch die Verbindung der Mosbacher und der Biebricher Judenschaft eine eigenständige Gemeinde, die 1830 auch eine eigene Synagoge und 1885 einen eigenen jüdischen Friedhof einweihen konnte. Wie auch sonst in ländlichen Gemeinden gehörte die jüdische Bevölkerung als Kleinhändler für Tuche, Landprodukte oder Vieh sozial eher der Unterschicht an. Das änderte sich erst allmählich, als im Zuge der Industrialisierung Biebrich durch seine Lage am Rhein und dem Bau der Eisenbahn zum „Vorhafen“ Frankfurts aufstieg. Die rechtliche Gleichstellung von Juden und Nichtjuden nach der Annexion Nassaus durch Preußen 1866 bot auch den Biebricher Juden neue Chancen: „Die Gemeindemitglieder, die einerseits streng an ihren religiösen Grundsätzen festhielten, waren andererseits auf wirtschaftlichem Gebiet sehr wandlungsfähig und konnten sich den Erfordernissen der neuen Zeit anpassen.“[5] Statt oder neben dem Haussierhandel mit Tuchen und Kleidung wurden feste Ladengeschäfte eingerichtet und Viehhändler boten der wachsenden Zahl der Industriearbeiter ihre Fleischwaren zunehmend auch in eigenen Metzgereien an. Sogar jüdische Industrielle, wie Hermann Löwenherz, siedelten sich in der Wiesbadener Vorstadt an.[6]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Stammbaum der Familie Löwensberg
GDB

Die Familie Löwensberg gehörte jedoch nicht zu den alteingesessenen jüdischen Einwohnern Biebrichs. In der Biebricher „Judenliste“ von 1839 ist der Name Löwensberg noch nicht vertreten.[7] Lazarus, Leser oder auch Elieser Löwensberg stammte aus Igstadt, wo sich sein Vater Löw Manche im 18. Jahrhundert von Wehrheim bei Usingen kommend angesiedelt hatte. Seine Frau war die in Cramberg bei Diez geborene Babette Graß / Kreß. Als 1841 erbliche Familiennamen auch in Igstadt zur Pflicht wurden, wurde offensichtlich das aus der männlichen Linie stammende Löw mit dem der Crambergers – in der Familie der Frau war der Herkunftsort schon als Familienname festgelegt worden – verbunden, sodass zunächst der gemeinsame Name Löwensberger entstand, der dann auf Löwensberg verkürzt wurde.

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Grabmal von Lazarus Löwensberg auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Wiesbaden
https://www.lagis-hessen.de/de/imagepopup/rec/sn/juf/current/1/dir/s2/mode/untyped/fid/9526
Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Erster Eintrag der Familie Löwensberg im Biebricher Adressbuch von 1889/90

Lazarus war das letzte von insgesamt sechs Kindern von Löb Manche und seiner Frau Eleasar Babette. Die Kinder – so Buck – „wuchsen in einer gut situierten Familie auf“.[8] Der Vater hatte ein Handelsgeschäft aufgebaut, in dem nahezu alles angeboten wurde, für das es im ländlichen Raum eine Nachfrage gab: Guss- und Eisenwaren, Tuch- und Wollwaren, aber auch Vieh und Fleischwaren. Er besaß mehrere Häuser und eine große Zahl an Äckern und Wiesen. Nach seinem Tod wurde ein Inventar angelegt, das etwa 80 Seiten umfasst haben soll. Auch Lazarus wird einen nicht unerheblichen Erbteil erhalten und in die am 4. Juli 1837 geschlossene Ehe mit Zerline Kaufmann bzw. Wolfsohn eingebracht haben.[9] Anders als seine Geschwister verließ Lazarus Löwensberg seinen Heimatort Igstadt und zog stattdessen zu seiner Frau nach Biebrich. In ihrer Ehe kamen insgesamt acht Kinder zur Welt, von denen der am 17. September 1841 geborene Kaufmann Eliakim, der Vater von Adelheide, das zweitälteste war.[10] Wo die Familie damals wohnte, ist nicht bekannt. Im Jahr 1847 erwarb Lazarus Löwensberg dann ein zweistöckiges Wohnhaus mit Hofraum in der „Schulgaße“[11] In den folgenden Jahrzehnten zog die Familie bzw. deren Nachkommen mehrfach um. Das vermutlich nächste Haus, das sie als Eigentümer auch bewohnten, lag in der heutigen Straße Am Schlosspark 23, damals noch die Wiesbadener Str. 23. Wann das Hausgrundstück gekauft wurde, ist nicht bekannt, aber als im Jahr 1874 die Wohngrundstücke in Biebrich neu vermessen und registriert wurden, war es schon in Besitz von Lazarus Löwensberg und seiner Frau Zerline. In dem entsprechenden Stockbucheintrag vom 15. Oktober 1874 heißt es, dass das gesamte Areal aus einem ebenfalls zweistöckigen Wohnhaus und einem Hofraum bestehen würde, der von einem Hinterhaus, einer Remise, einer Scheune, einem Schweinestall und einem Schuppen umschlossen sei. Als diese Zumessung aktenkundig wurde, war Zerline Löwensberg allerdings bereits mehr als sechs Jahre Tod[12]

Adelheid Löwensberg mit Kindern aus ihrem Elternhaus in der Biebricher Kaiserstraße um 1908
Archiv AMS

Offensichtlich hatte Kaufmann Löwensberg als ältester Sohn das väterliche Geschäft noch zu dessen Lebzeiten übernommen, denn nur er ist im ersten Biebricher Adressbuch von 1889/90 als Geschäftsmann mit dem Namen Löwensberg vermerkt. Sein Vater war am 7. Januar 1890 verstorben.[13] Das Warenangebot umfasste allgemein Landesprodukte, Branntwein und Lederartikel. Am 21. Mai 1878 heiratete Kaufmann Löwensberg in Langenschwalbach, dem heutigen Bad Schwalbach, Johanna Marxheimer, genannt Hannchen, die Tochter von Benedict und Adelheid Marxheimer, geborene Wolf.[14] 1877 wurde ihr erstes Kind geboren, das leider noch am Tag der Geburt verstarb, bevor ihm ein Name gegeben werden konnte. Auf den toten Sohn folgten noch fünf weitere Kinder, über die aber, abgesehen von Adelheide, außer den Geburtsdaten kaum Informationen vorliegen. Nur über den am 16. Mai 1878 geborenen Leopold gibt es noch einige Angaben, aus denen sein weiterer Lebensweg zumindest bruchstückhaft rekonstruiert werden kann. Die am 2. August 1880 geborene Lina verstarb schon am 22. Februar 1897 im Kindesalter von nur sechzehn Jahren.[15] Von dem folgenden Sohn Carl liegt nur der Geburtseintrag vom 7. Februar 1883 vor.[16] Vermutlich ist auch er früh verstorben, denn sein Name wird in keiner der vorliegenden Akten noch einmal erwähnt. Am 4. November des folgenden Jahres kam Moritz zur Welt, aber auch er wurde nicht einmal eine Woche alt. Sein Todestag ist mit dem 10. November 1884 im Biebricher Sterberegister festgehalten.[17] Adelheide, die später in den Akten nur noch verkürzt mit Adelheid bezeichnet wird und selbst auch nur so unterschrieb, wurde am 1. April 1886 geboren.[18] Sie blieb in ihrer Geburtsstadt Biebrich, bis sie 1942 „nach dem Osten“ verschleppt wurde.

Diese Zeit der Verfolgung mussten weder ihre Großeltern, noch ihr Vater noch erleben. Zwar war es auch früher schon, besonders im 18. Jahrhundert, auch in Biebrich zu Konflikten mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft gekommen, [19] aber während der Zeit des Kaiserreichs soll es nach Jungmann solche Anfeindungen so gut wie nicht mehr gegeben haben. Im Gegenteil, die Ernennung des hoch gebildeten Religionslehrers Seligmann Baer zum ersten Ehrenbürger der Stadt im Jahr 1882 wertete er als Beleg für eine intakte Bürgergemeinschaft in dieser Zeit, in der die antisemitische Hetze ansonsten überall in Deutschland bedrohliche Ausmaße annahm.[20]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45, Wiesbadener Str. 23
Biebrich, Wiesbadener Str. 23
Eigene Aufnahme

Schon um die Jahrhundertwende– so ist den Eintragungen der Biebricher Adressbücher zu entnehmen – hatte Kaufmann Löwensberg das Haus der Eltern in der Wiesbadener Str. 25 wieder verkauft und stattdessen das größere Nachbarhaus mit der Nummer 23 erworben. Welche Gründe dafür sonst noch maßgebend waren, ist nicht bekannt.[21] Aber auch dort blieb die Familie nur wenige Jahre. Biebrich mit seiner aufstrebenden Industrie und wachsenden Bevölkerung dehnte sich in alle Richtungen aus, weshalb in dieser Zeit auch die Straße angelegt bzw. ausgebaut wurde, die als Biebrich neue Hauptverbindung zwischen Biebrich und Wiesbaden fungieren sollte und für die es angesichts ihrer zentralen Bedeutung in diesen Zeiten keinen anderen Namen als Kaiserstraße geben konnte.

Wohnung der Familie Löwensberg in ihrem Haus in der Kaiserstr. 45 bzw. später der Horst-Wessel-Str. 25
HHStAW 519/2 2196 II

Dort erwarb Kaufmann Löwensberg 1904 das neu erstellte Haus, das im Dezember des folgenden Jahres auf seinen Namen im Grundbuch von Biebrich eingetragen wurde.[22] Ursprünglich trug es die Hausnummer 51, die aber um 1908 durch eine Neunummerierung zu Kaiserstr. 45 wurde. Dass es sich um das identische Haus handelt, ergibt sich daraus, dass die Bewohner weitgehend die gleichen blieben. Das Wohngebäude besaß neben dem Vorderhaus einen Seitenflügel, über dem Erdgeschoss lagen zwei Etagen mit jeweils zwei Wohnungen und ein Dachgeschoss.[23] Allerdings hatten Löwensbergs damals das Haus nicht allein aus eigener Kraft erwerben können. Im Grundbuch war eine Grundschuld eingetragen und auch in ihren Vermögenssteuererklärungen hatte Adelheid Löwensberg bis zuletzt Hypothekenlasten in einer Gesamthöhe von 12.700 RM geltend gemacht.[24] Außer dem ersten Stockwerk, in dem die Eigentümer für sich selbst eine Drei-Zimmer-Wohnung beanspruchten, konnten die übrigen Etagen vermietet werden. Sicher war mit dem Kauf dieser Immobilie auch die Hoffnung auf Mieteinnahmen und damit auf ein gesichertes Alterseinkommen verbunden. Neben Löwensberg sind im Biebricher Adressbuch von 1909 sieben Mietparteien aufgeführt, von denen man den Namen Schlig auch 30 Jahre später noch unter den Mietern finden kann.

Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Juden und christlicher Mehrheitsgesellschaft markierte auch in Biebrich der Erste Weltkrieg eine deutliche Zäsur. Obwohl der größte Teil der dortigen Juden sich mit der Kriegspolitik des Kaisers solidarisierte und bereitwillig seine Opfer an Leib, Leben und Geld erbrachte, begannen spätestens mit der Niederlage, mit der Verbreitung der Dolchstoßlegende antisemitische Organisationen auch in Biebrich lauthals ihre Hetze in Veranstaltungen oder durch Flugblätter und Zeitungsartikel zu verbreiten.[25] Die aus einer jüdischen Familie stammende Biebricher Pazifistin und spätere USPD- bzw. SPD-Reichstagsabgeordnete Tony Sender verkörperte nicht die allgemeine Haltung der heimischen Judenschaft, war aber für solche Gruppen, zumal als Frau, eine willkommenes Feindbild.[26]

Kaufmann Löwensberg war bereits tot, als sich dieser Wandel auch in seiner Heimatgemeinde abzuzeichnen begann. Er war bereits am Vorabend des Krieges, am 11. Mai 1914 im Alter von 72 Jahren in seinem Haus in der damaligen Kaiserstraße verstorben.[27] Die Krisenjahre der Republik, von denen die Familie finanziell auch unmittelbar betroffen wurde, mussten seine Witwe und die Tochter Adelheid, die auch weiterhin ihre bisherigen Zimmer in der ersten Etage des Hauses bewohnten, alleine durchstehen.

Der inzwischen erwachsene Sohn Leopold lebte zu dieser Zeit schon einige Jahre als Kaufmann in Hamburg. Noch zu Lebzeiten des Vaters hatte er am 14. Januar 1908 in der Hansestadt eine eigene Familie gegründet. Seine Frau, die Jüdin Bertha Auguste Hamer, geboren am 2. Juni 1881, war die Tochter des Hamburger Gastwirts Johann Jochen Heinrich Wilhelm Hamer und seiner Frau Margarete Catharina, geborene Dwenger.[28]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Plakat der Leopold Löwensberg GmbH
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Inserat der Firma Löwensberg
https://agora.sub.uni-hamburg.de//subhh-adress/cntmng;jsessionid=A1960DE076A57475F42B6918EBE95F06.agora11?type=pdf&did=c1:678823

Der Umzug von Biebrich in die Handelsmetropole Hamburg scheint sich für Leopold Löwensberg zumindest zunächst gelohnt zu haben, denn schon in der Heiratsurkunde wird er als Prokurist bezeichnet. Vermutlich war er damals schon bei der 1925 als GmbH. firmierenden ‚Hanseatische Jute-Erzeugnisse G.m.b.H.’ angestellt, die ihre Niederlassung im Hafen am Pfeiler 13 hatte und mit Juteprodukten und Filtertüchern handelte. In dieser Firma war er später sogar zum Geschäftsführer aufgestiegen. Man wird sicher davon ausgehen können, dass er auch Anteile an der GmbH. besaß.[29] Eine Anzeige – aus welchem Jahr ist nicht bekannt – zeigt, dass zu dem im Zentrum von Alt-Hamburg gelegenen Kontor auch eine eigene Fabrikationsstätte und ein eigenes Lager in der östlichen Hafengegend gehörten. Aber vermutlich war die Firma während der Inflationsjahre ins Strudeln geraten und wurde deshalb 1925 von einer anderen Firma übernommen. Ab diesem Zeitpunkt lief sie unter dem Namen ‚Säckeindustrie Hansa AG Hamburg.’ Welche Rolle Leopold Löwensberg in diesem Unternehmen noch spielte, ist nicht bekannt, aber ganz offensichtlich war auch er persönlich in eine finanziell prekäre Situation geraten, wie man einer Mitteilung seiner Schwester im Jahr 1925 an das Finanzamt Wiesbaden entnehmen kann. Hatte sie bisher am wirtschaftlichen Erfolg des Bruders dadurch teilhaben können, dass sie ebenfalls in seinem Unternehmen als Agentin für Wiesbaden fest angestellt war, so fiel diese sichere Einnahme nun für sie weg:

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Die schwierigen Jahre beginnen
HHStAW 685 497a (4)

„Ich beantrage Berücksichtigung des Umstandes, daß die Biebricher Filiale der Leopold Löwensberg A.G. Hamburg aufgelöst ist & ich nun als Vertreterin der Gesellschaft tätig & auf ungewisse Provisionen angewiesen bin, während ich bis dahin ein festes Gehaltbezogen hatte. Weiter ist mein in Hamburg wohnender Bruder, welcher bis dahin meiner Mutter einen regelmäßigen monatlichen Zuschuss gegeben hatte, aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, diese Zuschüsse einzustellen. Ich muss von meinem Einkommen den Haushalt meiner Mutter bestreiten & bin deshalb auch gezwungen. Unterstützung von Verwandten in Anspruch zu nehmen.“ [30]

Seit Oktober 1925 war das feste Gehalt, das bis dahin 168 RM monatlich betragen hatte, ausgeblieben, die für den November und Dezember erhaltene Provision betrugen insgesamt nur noch knapp 170 RM. [31] Bereits im April 1926 hatte sie dem Finanzamt mitgeteilt, dass ihre Mutter beabsichtige mit Einverständnis ihres Bruders, ihrem einzigen potentiellen Miterben, ihr das Haus in der Straße der Republik 45 zu überschreiben.[32] Im Juni gab sie dann gegenüber dem Finanzamt an, bereits seit 1. Januar 1926 Eigentümerin des Hauses zu sein.[33]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Arbeitszeugnis für Frau Schlig von Adelheid Löwensberg
HHStAW 685 497b (30)

Abgesehen von Löwensbergs wurde das Haus von insgesamt fünf weiteren Mietparteien bewohnt. Im Parterre unterhielt der Elektrikermeister sein Installationsgeschäft mit Werkstatt und einem kleinen Büro über die gesamte Breite des Gebäudes. Im ersten Stock wohnten neben Johanna und Adelheid Löwensberg auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenhauses die Witwe Christaller. Während den Eigentümern 3 Zimmer und Küche, insgesamt etwa 60 qm, zur Verfügung standen, war die Nachbarwohnung etwas kleiner. Ein gleicher Schnitt war vermutlich auch im darüber liegenden Stockwerk vorhanden, dass von dem Pensionäre Weiland und der Familie Hergenhahn angemietet war. Im Dachgeschoss hatte der Elektriker eine kleine Wohnung für sich und seinen verheirateten Sohn, der allerdings seit Kriegsbeginn eingezogen war. Dafür lebte seine Frau zusammen mit ihren Schwiegereltern. Eine weitere Wohnung war an Paula Schlig vermietet. Sie war ursprünglich von Adelheid Löwensberg als Kontoristin in der Wiesbadener Filiale ihres Bruders angestellt worden. 1926 musste sie wegen der betrieblichen Veränderungen entlassen werden. Die Ruheständlerin durfte sie aber weiterhin im Haus wohnen bleiben.[34]

Der 1929 geborene Sohn der Hergenhahns gewährte in einem Brief, der allerdings erst in der Nachkriegszeit geschrieben wurde, einen Einblick in das Innenleben des Hauses während der 30er Jahre, damals gesehen mit den Augen eines Kindes. Er schrieb, dass er als einziges Kind recht beliebt (gewesen sei) und die Zuneigung der Mitbewohner so recht genossen habe. Einige habe ich mit verwandtschaftlichen Bezeichnungen in mein Umfeld enger eingebunden. Frau Johanna Löwensberg existierte eigentlich nur als meine Oma Löwensberg und ihre Tochter war eben meine Tante Adel. Es gab jedoch auch die Oma Schlig und Frau Neiß, die etwas jünger war und ich deshalb noch als Tante einstufte. Meine Abstecher in die Löwensberg-Wohnung wurden öfters mit einer Matze belohnt, jener flachen ungesäuerten Weizenoblate, eigentlich das Fastenbrot der Juden. Fast möchte ich sagen, hier gab es dies das ganze Jahr über. Ich habe die Matze unwahrscheinlich gern gegessen, aber sie war nicht der einzige Grund für meinen Besuch der beiden Damen, denn ich war immer herzlich willkommen, was man auch als Kind schnell feststellt. Oma Löwensberg habe ich als eine gebeugt gehende Frau in Erinnerung, die aber immer gutmütig und für mich liebenswert war. (…) Ich persönlich schätzte Adelheid L. sehr, war sie doch mir gegenüber recht verbindlich und immer freundlich, aber es galt auch, einen respektvollen Umgang mit ihr zu pflegen, woran ich mich offensichtlich gut gehalten habe. Das Miteinander veränderte sich natürlich im Laufe der Zeit. Es war angeglichen an meine Entwicklung vom Kleinkind zum Jugendlichen. Adelheids jüdische Abstammung spielte dabei nie eine Rolle. Sie war auch m.E. mit der Religion nicht stark verbunden. Erst der Judenstern, den sie tragen musste, hat vielen ihre Abstammung verraten.[35]

Das Haus, das auf einen Einheitswert von 21.700 RM geschätzt wurde, erbrachte zwar Mieteinnahmen von etwas mehr als 2.700 RM im Jahr 1925, aber mehr als die Hälfte der Einnahmen mussten als Grund- und Hauszinssteuer abgeführt werden, Nach Abzug weiterer Kosten konnten keine Erträge verbucht werden.[36] Bis 1929 betrug das zu versteuernde Einkommen von Adelheid Löwensberg nur um die 600 RM jährlich. Trotz der folgenden Krisenjahre verbesserte sich dann ihre wirtschaftliche Situation, da sie eine Stellung als Kontoristin in einem allerdings nicht bekannten Unternehmen angenommen hatte. In den folgenden Jahren, sogar bis 1939 lag ihr Einkommen dann im Jahr immer über 1.000 RM, 1931 sogar bei 1650 RM, in den anderen Jahren meist bei etwa 1.200 RM.[37] Wenn man allerdings bedenkt, dass das faktisch nur etwa 100 RM pro Monat für den Unterhalt von zwei Personen bedeutete, Miete fiel im eigenen Haus nicht an, dann wird offenbar, in welch ärmlichen Verhältnissen Mutter und Tochter in all den Jahren dennoch lebten. Hinzu kamen zwei längere Krankenhausaufenthalten von Adelheid Löwensberg in den Jahren 1931 und 1933, über deren Grund aber den Steuerakten nichts zu entnehmen ist.[38]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Die Kaiserstraße in Biebrich in einer alten Ansicht
Mit Dank an A. Fuchs

Löwensbergs waren keine armen Juden, aber sie gehörten auch nicht in den Kreis, die Jungmann zu dem wohlhabenden Bürgertum von Biebrich rechnete, wie die Kahns, Levis, Senders oder Oppenheimers.[39] Aber es war ihnen bisher möglich gewesen, einen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, der dem des größten Teils der übrigen Bevölkerung entsprach. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen und im April zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen wurde, stand an erster Stelle der so genannten „Judenliste“ unter der Rubrik „Agenten und Versicherungsmakler“ Adelheid Löwensberg, Horst-Wessel-Str. 45.[40] Obwohl sie schon längst keine selbstständige Tätigkeit mehr ausübte, erschien ihr Name auf dieser Liste. Seine einschüchternde Wirkung wird dieser denunziatorische Liste nicht verfehlt haben, wenngleich Adelheid Löwensberg wirtschaftlich kaum mehr davon betroffen sein konnte.

In ihrer dennoch insgesamt eher unsicheren finanziellen Situation bot das Vermögen, das neben dem Hausgrundstück aus einem nicht unbeträchtlichen Aktienpaket bestand, immerhin einen gewissen Rückhalt. Aber der Verkauf von Papieren, der zwar die unmittelbare Not hätte lindern können, hätte auch die Erträge aus den Papieren mittelfristig geschmälert. Ab 1938 war diese Alternative aber ohnehin hinfällig geworden, denn die Zollfahndungsstelle Mainz erwirkte am 28. Juli eine Sicherungsanordnung gegen Adelheid Löwensberg. Nach der dortigen Aufstellung besaß sie neben dem Haus – Einheitswert jetzt angeblich 28.800 RM -, zwei größere Wertpapierdepots bei der Deutschen Bank, eins im Wert von 16.000 RM, ein weiteres über 15.000 RM.[41] Letzteres bestand ursprünglich aus Papieren, die in einem Tresor gelagert waren und dann aber auf Veranlassung der Zollfahndungsstelle dem Depot der Bank übergeben werden mussten, sodass nun sowohl von der Zollfahndung, wie auch der mit ihr kooperierenden Bank immer die Kontrolle ihrer Finanzen gesichert war. Wenn hier, wie in unzählig vielen anderen Fällen auch, die Zollfahndung aktiv wurde, dann hatte das seinen Grund darin, dass man angeblich potentielle Devisenvergehen verhindern wollte. Man unterstellte vermögenden Juden prinzipiell, dass sie Wertpapiere illegal ins Ausland schaffen wollten, um gegebenenfalls dort mit dem Kapital ein neues Leben beginnen zu können. Angesichts der Lage, in der die Juden sich in Deutschland befanden, keine ganz falsche Vermutung. Seit diesem Zeitpunkt konnte Adelheid Löwensberg über ihr Vermögen nicht mehr frei verfügen, nur auf die Erträgnisse der Papiere konnte sie zunächst noch ohne Einschränkungen zurückgreifen. Aber dieser Eingriff in ihre finanzielle Autonomie war zu verschmerzen angesichts dessen, was in diesem Jahr 1938 noch auf die jüdische Bevölkerung und auch Mutter und Tochter Löwensberg zukommen sollte: Die Reichspogromnacht.[42]

Nachdem am 7. November 1938 Herschel Gynszpan in Paris das Attentat auf den Legationssekretär Ernst Eduard von Rath verübt hatte, dieser aber noch nicht verstorben war, begann schon am folgenden Tag die allgemeine Hetzte gegen das Judentum an sich – auch in Biebrich. So titelte das ‚Biebricher Tagespost’ am folgenden Tag: „Das Weltjudentum ist verantwortlich“ und ergänzte im Artikel selbst, dass der „jüdische Mörder … nicht aus eigener Initiative gehandelt habe, sondern zu dieser außerordentlich bedauerlichen Tat von interessierten Kreisen angestiftet worden sei, die ihm wahrscheinlich sogar die Waffe in die Hand gedrückt hätten.“ Im ‚Völkischen Beobachter’ wurden schon am folgenden Tag konkrete Maßnahmen angekündigt. „Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als ‚ausländische’ Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen.“[43] Ansonsten blieb es aber noch weitgehend ruhig, wenngleich in verschiedenen Orten und Städten gerade auch in Nordhessen es zu Gewaltaktionen und Ausschreitungen gegen Juden kam.[44] Auch am Tag als von Rath verstarb, am 9. November, gab es in Biebrich zunächst keine gewalttätigen Aktionen. Wie in München, wo sich die „Alten Kämpfer“ des Putsches von 1923 trafen, fand auch dort an diesem Abend eine „Feierstande“ – Jungmann spricht von einem „nazistischen Theatrium“[45] mit der üblichen NSDAP-Liturgie – Gesang, Reden, Fahnen usw. – statt, in der dem „Führer“ gehuldigt und ihm ewige Treue gelobt wurde. Laut dem Bericht der ‚Biebricher Tagespost’ spielte das Attentat von Paris an diesem Abend keine Rolle. [Artikel]

Nach dem Ende dieser offiziellen Feierstunde in der Turnhalle, trafen sich die NSDAPler, SA-und SS-Männer noch in ihrem bevorzugten Versammlungslokal ‚Bellevue’, vermutlich um in einer eher lockeren Runde sich dem Genuss alkoholischer Getränke hinzugeben. In München hatte man inzwischen beschlossen, die in einigen Orten noch eher spontan stattgefundenen Demonstrationen gegen Juden zu nutzen und daraus eine zentral organisierte Aktion zu machen, die wiederum die Legitimation für den längst geplanten Zugriff auf die jüdischen Vermögen liefern würde. Noch vor Mitternacht lief in allen Staatspolizeileitstellen des Reichs das Fernschreiben von Gestapochefs Heinrich Müller ein, in dem angekündigte wurde, dass in „kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden würden. Sie sind nicht zu stören.“[46] Auch wurde die Verhaftung von 20-30000 Juden – insbesondere wohlhabenden Juden – angekündigt. Ein weiteres Fernschreiben von Heydrich enthielt noch weitere und präzisere Instruktionen, wonach u. a. jüdische Wohnungen zwar zerstört, aber nicht geplündert werden dürften.[47] Auch die Biebricher Nazis erreichten die Schreiben noch in der Nacht und sofort wurden in einem abgeschirmten Raum des Lokals die Rollkommandos zusammengestellt, Einsatzorte, auch in den umliegenden Gemeinden, festgelegt und „Judenlisten“ ausgegeben. Um die Aktion als Manifestation des Volkszorns erscheinen zu lassen, sollten Biebricher NSDAPler auch in ihrer Stadt selbst auftreten, auch war vielerorts die Anweisung ergangen, nicht in Montur, sondern in Zivil daran teilzunehmen.

„Der größte Trupp lief die Rathausstraße hinauf bis zur Hausnummer 37. Dort befand sich eine etwa 1,50 m hohe Mauer, unterbrochen von einem Metalltor, durch das man über einen Plattenbelag an die von der Rathausstraße zurückliegende Synagoge kam. Da wurde keine Tür ohne Gewalt geöffnet, da hing schon bald das Eingangstor schief in den Angeln, und SA und SS-Stiefel traten die große Eingangstür ebenso ein wie die kleinere Nebentür. Innen ‚verlustierte’ man sich, trieb allerlei Spott mit den Einrichtungsgegenständen, die dem Gottesdienst dienten, riß den Vorhang herunter, warf die Tora-Rollen (sic) auf den Boden im Parterre, zertrümmerte das Lesepult, die Bänke, eilte zur Empore, trat in die Brüstung hinein und macht zuschanden, was nur eben zuschanden zu machen war.
Diese barbarische Tätigkeit dauerte bis in die Vormittagsstunden des 10. November hinein. Als es hell wurde, fanden sich immer mehr ‚Schaulustige’ ein, guckten dem Treiben der Plünderer zu, die sich nicht schämten, die Thorarollen auf die Straße zu tragen, sie dort auseinanderzuwickeln, mit ihnen ’Fußball’ spielten und die sich wie Helden vorkommen mochten.“
[48]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Gedenktafel am Ort der ehemaligen Synagoge in Biebrich
https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20171/Biebrich%20Synagoge%20171.jpg

Andere Rollkommandos hatten inzwischen jüdische Geschäfte heimgesucht, hatten die Rollläden herausgerissen und die Scheiben eingeschlagen, um sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. So war ein Trupp Uniformierter, aber auch Zivilisten in das Haus und Geschäft von Meyer Halberstadt an der Ecke Rathaus- / Hopfengartenstraße eingedrungen und hatte die Inneneinrichtung völlig demoliert, den Warenbestand an Wäsche, Bettzeug Vorhängen und Kissen aus den Regalen gerissen und war darauf herumgetrampelt. Die Kissen wurden aufgeschlitzt und die Federn im gesamten Laden verteilt.
Mittags etwa um 13.00 Uhr wurde die Wohnung des Bäckers Hennemann verwüstet, der allerdings kein Jude war. Der Mob hatte versehendlich statt der des jüdischen Schreibwarenhändlers Kusel die Wohnung des nichtjüdischen Nachbarn erstürmt. Als Mieter eines Juden, so wurde ihm nach seinem Protest vorgehalten, sei er dafür selbst verantwortlich.
In der Metzgerei des Max Kahn in der Wiesbadener Str. 97 wurden, nachdem der Ladenbesitzer bereits verhaftet war, ebenfalls die Fleisch- und Wurstwaren auf die Straße geworfen. Ein weiteres Opfer war der Drogist Oppenheimer, in dessen Wohnung neben der Einrichtung auch wertvolle Gemälde und Kristall zerstört wurden. Auch die Wohnung und der Laden des Kaufmanns Levi wurde unter den Augen der gesamten Familie zerstört. Nachmittags erreichte der Mob die Elisabethenstraße, in der der Kaufmann Stern sein Haus hatte. Mit Gegröle und Rufen „Wo ist der Jude? Wir schneiden ihm den Hals ab!“, drangen die aufgeputschten Menschen in die Wohnung ein, um ihr zerstörerisches Werk zu vollenden. Dies sind nur einige Erinnerungen von Zeitzeugen, die Junghans in seiner Sammlung über die damaligen Ereignisse zusammengetragen hat und die hier im Detail nicht alle wiedergegeben werden können.

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Bericht über die Pogromnacht in der Bibricher Tagespost vom 11.11.1938
Stadtarchiv Wiesbaden NL 34 59

Wie überall im Reich zerfiel auch in Biebrich die Bevölkerung in verschiedene Gruppen, in diejenigen die sich aktiv beteiligten, diejenigen die die Aktionen begrüßten, ohne sich aber selbst die Finger schmutzig machen zu wollen, oder diejenigen, die angesichts des Pogroms erschraken, vielleicht sogar darüber erschraken, wie sehr sie selbst bisher die braune Revolution begrüßt hatten. Sogar der Biebricher NSDAP-Ortsgruppenleiter Schneider soll gesagt haben, dass „wir daran so lange zu knabbern haben (werden), wie wir den Namen Deutschland schreiben werden.“[49] Gleichwohl ist er der Partei und seinem „Führer“ weiterhin gefolgt. Aber es gab auch einige, die die Aktion offen missbilligten, etwa die Anwohner der Synagoge, die aber bei der Brandstiftung vermutlich mehr um ihre eigenen Häuser fürchteten als um die jüdischen Mitbürger. Nur wenige solidarisierten sich offen mit den Verfolgten und kamen ihnen soweit es möglich war zu Hilfe. So etwa der Metzger Christ, der mit seiner Metzgeraxt und den Worten ‚Wer den beiden was antut, kriegt’s mit mir zu tun. An mir kommt niemand vorbei!’ sich der Meute in den Weg stellte, als diese in das Wäschegeschäft der Geschwister Bella und Regina Marx in der Kirchstraße einzudringen versuchte. Die größte Gruppe war aber auch in Biebrich diejenige, die meinte, keine Stellung beziehen zu müssen, die als schweigende Mehrheit so tat, als habe sie mit all dem nichts zu tun.[50]

Auch wenn in den Berichten von Jungmann nicht erwähnt, so fiel die Horde auch in die Wohnung von Adelheid Löwensberg ein. Es liegen mehrere Zeugenberichte über diesen Überfall vor. So konnte sich 1949, also fast zwanzig Jahre später, die ehemalige Mitbewohnerin Frau Schlig an diesen Tag erinnern. Obwohl eigentlich verboten, war sie unmittelbar danach in die Wohnung gekommen und hatte das gesamte Zerstörungswerk noch mit eigenen Augen sehen können: „Nach ihren Angaben war die gesamte, aus drei Zimmern und Küche bestehende Wohnung mit Ausnahme des Schlafzimmers demoliert worden. Das Schlafzimmer sei auf inständiges Bitten von Frau Adelheid Löwensberg von der SS verschont worden, weil dort die schwerkranke Mutter von Frau Löwensberg gelegen habe. Von der Einrichtung der übrigen Wohnung sei mit Ausnahme der allerdings teilweise stark beschädigten Möbel nichts mehr zu verwenden gewesen.“[51]
Zeuge war auch der damals neunjährige Richard Hergenhahn, den die Ereignisse an diesem 10. November, wie er später berichtete, tief berührt und auf lange Zeit verängstigt hatten. [52]
Die ‚Reichskristallnacht’ ist mir noch gut in Erinnerung. Eine Horde von Männern warf in der Löwensberg-Wohnung die Schränke um, was einen fürchterlichen Lärm ergab, außerdem durchzogen das Haus unterschiedliche Gerüche. Aber diese Tat sollte noch Folgen haben. Unter der Wohnung im ersten Stock befand sich das Lampengeschäft der Elektrofirma Neiß. Heinrich Neiß riss alle in dem Schauraum hängenden Lampen (meist Ladenhüter) aus ihrer Halterung und zerstörte sie am Boden, schob dann die Schuld auf die unsachgemäß durchgeführte Aktion, durch die ihm als Volksgenosse ein sehr großer Schaden zugefügt worden wäre. Er forderte eine recht ansehnliche Summe Geld, die ihm recht unkonventionell ausgezahlt wurde. Er hatte nämlich noch einen Trumpf in der Hand. Als sich die Partei bei ihm entschuldigen wollte für das etwas ‚tölpelhafte’ Agieren der Gruppe, ohne den Sachverhalt vorher zu überprüfen, ließ Neiß diese Argumentation nicht gelten, sondern richtete seine Anklage gegen diejenigen in der NSDAP, die diese Horde angeheuert haben, zumal sich darunter noch ein ehemaliger Kommunist befunden habe. Mehrere Hausbewohner konnten dies bestätigen, sodass der Fall Löwensberg einigen Parteibonzen einen Schrecken in die Glieder gejagt haben dürfte, denn Versager hat man bei den Nazis auch schon aus den eigenen Reihen ‚liquidiert’. So dürfte die prompte Begleichung der Zahlungsforderung ohne eine Überprüfung der Schadensursache (!) leicht zu erklären sein. Ob von der erhaltenen Summe Heinrich Neiß einen Betrag an Löwensbergs weitergegeben hat, ist mir unklar. Auffallend war jedoch die relativ schnelle Behebung der Schäden in der Wohnung. Dass von der ganzen Vorgangstäuschung nie etwas herauskam, spricht für eine integere Hausgemeinschaft! Die Freude über die hereingelegten Nazis war riesig groß. Die Story wurde später immer wieder in Erinnerung gerufen, war es doch auch eine kleine Genugtuung für den Schaden, der in der Wohnung Löwensberg angerichtet wurde. Keiner der Hausbewohner hatte hierfür auch nur das geringste Verständnis, denn die beiden Damen waren als Hausbesitzer hoch angesehen.“[53]

Die Täter hatten damals aber nicht nur mutwillig die Einrichtung, das Porzellan und wertvolle Kristallgläser zerstört, was die SA- und SS-Männer selbst gebrauchen konnten, ließen sie trotz ausdrücklichem Verbot der Plünderung einfach mitgehen, so ein Radiogerät und auch eine Schreibmaschine.[54]
In einem Schreiben, das Adelheid Löwensberg am 14. Dezember 1938 an den Regierungspräsidenten mit der Bitte um Weiterleitung an das Finanzamt richtete, heißt es: „Gemäß Reichssteuerblatt Nr. 106 vom 24.11.38 (…) gebe ich den mir durch die“ – eine sehr zurückhaltende Formulierung – „Kundgebung am 10. November d.J. entstandenen Schaden mit 2 000 RM an.“[55] Vermutlich handelt es sich bei der hier gemeldeten Summe um die Schäden, die der Mieter Neiß selbst verursacht hatte. Denn selbstverständlich war es sonst nicht möglich, die Versicherungen für die materiellen Folgen des Pogroms in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil. Neben dem angerichteten Schaden hatte auch Adelheid Löwensberg noch eine so genannte Sühneleistung aufzubringen. Zunächst 20, dann 25 Prozent des vorhandenen Vermögens waren in vier bzw. fünf Vierteljahresraten an den Fiskus abzutreten.

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Nassauischer Anzeiger vom 14.11.1938
Statdtarchiv Wiesbaden NL 34 59

Diese Sondersteuer für Juden war geschickt mit der im April 1938 in ganz Deutschland erzwungenen Anmeldung jüdischer Vermögen verknüpft worden. In allen Zeitungen, auch denen in Biebrich und Wiesbaden, wurde das Zerrbild vom reichen Juden gezeichnet, der schamlos dem deutschen Volkskörper das Blut aussauge. Neben der ‚Sühneleistung’, auch Judenvermögensabgabe genannt, wurde die konsequente Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben für den 1. Januar 1939 angekündigt.[Zeitungsausschnitte]

Bei seiner Berechnung der Judenvermögensabgabe für Adelheid Löwensberg legte das Finanzamt Wiesbaden bei ihr ein Vermögen von 43.000 RM zu Grunde, was vier, dann fünf Raten von jeweils 2.150 RM bedeutete, insgesamt eine Summe von mehr als 10.000 RM.[56] Da sie aber nicht einmal über 500 RM an Bargeld verfügte, war sie gezwungen ihre Wertpapiere in Zahlung zu geben.[57] Im Januar 1940 war ihr Vermögen auf 28.500 RM zusammengeschrumpft, wobei der Einheitswert des Hauses allein mit 26.100 RM berechnet war.[58] Am 28. Oktober 1941, nach dem alle Sonderabgaben gezahlt worden waren, bestätigte die Deutsche Bank, dass auf ihrem gesicherten Konto noch 3.891 RM liegen würden.[59]

Unterdessen gab es in dieser Zeit durch die verstärkten Bombardements der britischen Air Force eine geradezu paradox Bedrohung für Leib und Leben der Bewohner des Judenhauses. Am 6. Mai 1941 war die erste große Bombe in Biebrich gefallen, die zwei Menschenleben gekostet hatte. Aber anders als Weichel in seinem Buch über den Bombenkrieg in Wiesbaden schreibt, hatte Wiesbaden danach keineswegs für „mehr als ein Jahr Ruhe“.[60] Noch bevor 1942 die Briten begannen, durch breit angelegte Flächenbombardements deutscher Städte mit Brandbomben in Schutt und Asche zu legen, gab es immer wieder einzelne Bombenabwürfe, gezielt oder auch versehentlich, die den Bewohnern die reale Schutzlosigkeit vor Augen führen sollten. Von einem solchen Angriff wurde am 3. September 1941 auch das Judenhaus in der Horst-Wessel-Str. 45 getroffen.[61] Eine Brandbombe war in den Dachstuhl eingeschlagen und hatte in der Wohnung von Frau Schlig erhebliche Schäden angerichtet. Das belegen die vielen Rechnungen von Handwerkern, die diese wieder beseitigen mussten und die Kosten dafür beim ‚Wehrmacht- und Kriegsschäden-Amt’ bei der Stadt Wiesbaden einreichten.[62] Dies kam normalerweise für solche Schäden auf, nicht aber bei Juden, zumindest dann nicht, wenn der Eigentümer Miterträgnisse verbuchen konnte. Da aber die Mühlen der Bürokratie auch im NS-Staat mitunter sehr langsam mahlten, hatte man versäumt, das Geld von Adelheid Löwensberg einzutreiben, bevor sie deportiert wurde. Somit blieb die Zahlung der Schäden am zukünftigen Eigentümer hängen.

Adelheids Mutter Johanna Löwensberg, die im November 1938 schon bettlägerig war, überlebte die folgende Zeit der wachsenden Verfolgung, Drangsalierung und Ausraubung nur noch ein halbes Jahr. Sie war bereits am 26. April 1939 in Biebrich verstorben,[63] ein dreiviertel Jahr bevor aus ihrem Haus ein Judenhaus wurde. Jungmann schreibt im Hinblick auf die drei Biebricher Judenhäuser:
Der Entzug der Wohnung und die Gettoisierung als Vorstufe der Vernichtung blieb nie ohne Spuren. Mit dem Auszug nahmen sie Abschied von einem Ort, mit dem sie lange und tief verwurzelt waren. Ihre ehemalige Wohnung und ab 1933 Zufluchtstätte vor Diffamierung und Diskriminierung existierte nicht mehr. Altvertraute Möbel und Einrichtungsgegenstände blieben zurück, Bücher und Bilder gingen verloren, Haustiere durften nicht mitgenommen werden. Es kam daher vor, daß Juden zu ihren Wohnungen zurückkehrten, um sie von außen anzusehen. Der Verlust löste Tränen und Trauer aus. Wer das Privileg hatte, zunächst in seiner Wohnung bleiben zu können, nahm Verwandte und Bekannte auf. Zu ihnen stießen bald Fremde: Alleinstehende, Ehepaare oder Familien mit Kindern. Die letzten Monate der jüdischen Biebricher waren nur noch trostlos. Eine Unzahl von Koffern. Pappkartons und kleinen Kisten, häufig noch auf Kästen und Kommoden aufgetürmt, füllte jeden Winkel aus und verstellte den Weg. Die Möbel, mit denen sie nach der Vertreibung aus der Wohnung nichts mehr anzufangen wußten, lagerten bei einem Spediteur. Alles, was man früher in Schubladen und Kästen verwahrt hatte, Kleider, Wäsche, Schuhzeug, Bücher, in manchen Haushalten sogar noch die Kriegsauszeichnungen, war nun in den Kästen, Koffern und Taschen verpackt.“[64]
Diese Darstellung trifft ganz sicher für viele solcher Ghettohäuser im damaligen Deutschen Reich zu, auch für einige in Wiesbaden, ganz sicher aber nicht für das Haus in der Horst-Wessel-Straße. Ohne das ihr angetane Leid auch nur im Geringsten schmälern zu wollen, so muss man doch festhalten, dass Adelheid Löwensberg das Glück hatte, bis zuletzt alleine in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung bleiben zu dürfen. Ob und inwieweit sie nach dem Tod ihrer Mutter von ihren nichtjüdischen Mitbewohnern, etwa ihrer ehemaligen Mitarbeiterin Frau Schlig, eine menschliche Unterstützung erfahren hat, ist nicht bekannt. Aber es gab daneben wohl auch eine engere Beziehung zu dem nichtjüdischen Sanitätsrat Dr. Happel aus Biebrich, zumindest wurde das – so Richard Hergenhahn – damals „gemunkelt“.[65] Über die Art dieser Verbindung konnte er aber keine Auskunft geben. Sollte sie intimeren Charakter gehabt haben, so hätten sich beide des Straftatbestands der „Blutschande“ schuldig gemacht. Dieser Dr. Happel hatte nach dem Krieg dem Suchdienst des Roten Kreuzes die Auskunft erteilt, Adelheid Löwensberg sei am 11. Juni 1942 nach Lodz deportiert worden.[66] Auch wenn diese Information nur zum Teil richtig war, so kann sie doch als Indiz für eine engere Beziehung zwischen den beiden gewertet werden.

Bereits am 10. Juni hatte sich Adelheid Löwensberg von ihren Mitbewohnern verabschieden müssen, eine Situation, die dem inzwischen 12 Jahre alt gewordenen Richard Hergenhahn auch später noch sehr gegenwärtig vor Augen stand.
„Als sich Adelheid Löwensberg verabschiedete, glaubten wir alle und sie selbst nur an eine Episode, die bald vorbei sein dürfte, hatte sie doch keinem Menschen etwas zuleide getan. (…) An der Ecke Garten- und Straße der Republik (ich möchte sie in diesem Zusammenhang nicht Horst-Wessel-Straße nennen, wie sie damals hieß) bei Uhren-Katz drehte sich meine Tante Adel noch einmal um und winkte kurz. Wir standen am Fenster. Keiner hat geglaubt, dass sie nie wieder zurück kommen wird. Erst später ahnte man, was mit ihr geschehen sein könnte. Gewissheit bekamen wir erst, als sie auch nach dem Kriegsende nicht mehr zurückkehrte. Der Abschied und das letzte Winken wurden uns erst im Nachhinein in der ganzen Schwere bewusst.“[67]

Adelheid Löwensberg war am 11. Juni 1942 nicht – wie Dr. Happel annahm – nach Lodz, sondern wie die anderen etwa 1250 Insassen des Zuges nach Lublin deportiert worden. Schon am Tag zuvor hatte man die Wiesbadener Juden zunächst nach Frankfurt gebracht, wo der Zug endgültig zusammengestellt wurde. Neben den 371 Personen aus Wiesbaden wurden in der Frankfurter Großmarkthalle weitere Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Regierungsbezirk Wiesbaden und aus der Stadt Frankfurt dem Transport zugeordnet. Wenige 100 arbeitsfähige Männer holte die SS in Lublin aus dem Zug, um sie beim Aufbau des Lagers Majdanek einzusetzten. Die nicht mehr Verwertbaren brachte der Zug dann nach Sobibor, wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit unmittelbar nach ihrer Ankunft vernichtet wurden.[68]

Adelheid Löwensbergs Bruder Leopold und seine Frau Margareta haben den Holocaust überlebt. Allerdings ist bisher völlig unklar, wie ihnen das gelang. Leopold strengte nach dem Krieg das Entschädigungs- und Rückerstattungsverfahren für seine Schwester respektive für seine Familie an. In den Unterlagen findet sich nur ein sehr knapper Verweis auf seine eigene Lebensgeschichte, wiederum von Sanitätsrat Dr. Happel. In einem Brief an das Wiesbadener Finanzamt vom 10. Dezember 1945, in dem er umfassende Kenntnisse über die früheren finanziellen Verhältnisse von Adelheid Löwensberg offenbart, schreibt er: „Ihr nächster Anverwandter ist ihr Bruder, Leopold Löwensberg, Hamburg 13, Jsesstr. 104 (24) [soll vermutlich Isestr. heißen – K.F.]; er lebt und hat die Angriffe, die er über sich ergehen lassen musste, gut überstanden.“[69]

Die Entschädigungsverfahren zogen sich – wie üblich – über Jahre hin. Ihr Ende erlebte Leopold nicht mehr. Er verstarb am 20. Januar 1953 in Hamburg. Seine Frau Margarete hatte nach seinem Tod dann allerdings erhebliche Probleme, als Witwe die Ansprüche ihres Mannes durchzusetzen.[70]
Das ehemalige Judenhaus in der nun wieder zu Straße der Republik gewordenen Verbindung nach Wiesbaden war allerdings bereits durch Beschluss des Amtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung vom 4. Juli 1949 wieder an Leopold Löwensberg zurückerstattet worden.[71] Zuvor, eigentlich unmittelbar nachdem die Eigentümerin der Immobilie deportiert worden war, begann auch in diesem Fall das Gezerre um das verwaiste Raubgut. Wie üblich war das Hausgrundstück genauso wie alle anderen noch vorhandenen Vermögenswerte der Deportierten zunächst dem Deutschen Reich verfallen, was aber zunächst nur bedeutete, dass niemand anderes Zugriff darauf hatte.

Einen solchen Zugriff, wenn auch nicht an dem Vermögen selbst, beanspruchte als erstes die Stadt Wiesbaden. Sie ließ die bereits unter Adelheid Löwensberg verantwortliche Hausverwaltung Franke & Fütterer wissen, dass die ehemaligen Judenwohnungen „den geltenden Bestimmungen über die Erleichterung der Wohnungsbeschaffung für kinderreiche Familien sowie über das Verbot der Umwandlung von Wohnräumen in gewerbliche – und Büroräume“ unterliegen würden. Die Hausverwaltung habe deshalb die freigewordene Wohnung im ersten Stockwerk dem Städtischen Wohnungsamt zu melden.[72] Die Hausverwaltung setzte daraufhin das Finanzamt Wiesbaden von diesem Schreiben in Kenntnis. Möglicherweise dadurch veranlasst, beantragte am 16. August 1942 der dafür zuständige Sachbearbeiter Schreck im Finanzamt die Umschreibung des Grundstücks auf das Deutsche Reich, die dann schon am 21. August vollzogen wurde.[73]

Kurioserweise war damit auch die Begleichung der Kosten für die Reparatur der Bombenschäden von der deportierten jüdischen Eigentümerin auf das Finanzamt übergegangen. Am 9. September 1942 forderte das Kriegsschäden-Amt von der Haus- und Grundstücksverwaltung Franke & Fütterer die entsprechenden Gelder ein. Schon jetzt wurde festgehalten, dass im Falle eines Besitzerwechsels, die Ansprüche an den neuen Eigentümer übergehen würden, d. h. an den Reichsfinanzminister.[74] Erst ein dreiviertel Jahr später, am 23. Juni 1943, erging dann von der ‚Dienststelle für Verwertung jüdischen Vermögens’ beim Finanzamt Wiesbaden die entsprechende Auszahlungsanordnung an die Stadt Wiesbaden. Auf der Sammelanweisung waren neben dem Judenhaus in der Horst-Wessel-Straße auch die beiden in der Bahnhofstr. 46 und der Martinsthaler Str. 2 aufgeführt. Auch hier hatte es offensichtlich, allerdings zu einem anderen Zeitpunkt ähnliche Kriegsschäden gegeben, für die nun die Finanzbehörden aufkommen mussten.[75]

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Umschreibung des Löwenberg-Hauses im Grundbuch auf den Reichsfiskus
HHStAW 519/2 2196 I

Mit der auch formalen Aneignung der Immobilie durch den Eintrag im Grundbuch auf den Reichsfiskus hatte der NS-Staat aber auch seine Machtstellung gegenüber anderen privaten Interessenten an dem Haus erfolgreich ausgespielt. Auf der Liste potentieller Käufer für jüdische Immobilien, die im Oktober 1942 angelegt worden war, hatte sich ein Anton Riegel, über den nichts Näheres bekannt ist, für das Wohngrundstück in der Horst-Wessel-Straße eintragen lassen.[76] Die Liste solcher Interessenten war angelegt worden, nachdem die Regierung im April eine generelle Verkaufssperre jüdischer Wohngrundstücke angeordnet hatte, angeblich, um die „im Feld stehenden“ Soldaten beim Zugriff auf die Beute nicht zu benachteiligen.[77] Hatte man aber gute Beziehungen zu den entsprechenden Personen im Parteiapparat, dann war es schon möglich, dass Ausnahmen gemacht wurden, und man trotz des Verbots zum Zuge kam.

Entsprechende Eingaben wurden auch im Falle des Löwensberg-Hauses gemacht. Kaum sechs Wochen nachdem man Adelheid Löwensberg aus dem Haus vertrieben hatte – angeblich wusste keiner was mit den deportierten Juden geschehen würde, aber man war sich offenbar sicher, dass sie nicht zurückkommen würden !! – und noch bevor das Hausgrundstück auf das Deutsche Reich überschrieben worden war, lagen dem Finanzamt zwei Schreiben von Interessenten vor.

Ein Schreiben wurde von dem Besitzer der in Wiesbaden ansässigen ‚Chemisch-Pharmazeutischen Fabrik Uhlhorn’ am 4. August 1942 eingereicht. Der Eigentümer Dr. Uhlhorn verwies bei seinem Antrag nicht nur auf seine zwei Söhne, die zur Zeit „im Feld“ stehen würden, sondern hoffte auch, durch den Erwerb des Gebäudes „zur Erfüllung der gesteigerten Aufgabe der Nachkriegszeit“ einen größeren Beitrag leisten zu können.[78] „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ – zumindest musste man diese Nazi-Parole ins Feld führen, wollte man seine eigennützigen Interessen realisieren.

Interessanter sind allerdings zwei andere Anfragen, die bereits am 14. und 30. Juli, also schon 4 Wochen nach der Deportation aus dem Haus selbst von dem Mieter Neiss über die DAF (Deutsche Arbeitsfront) eingereicht wurden. In der zweiten bat er darum, ihm „die vormals jüdische Wohnung“ zur Miete zu überlassen. Er betreibe in dem Haus seit 30 Jahren ein Installationsgeschäft mit normalerweise etwa 10 Beschäftigten. Er habe früher schon im ersten Stock gewohnt, sei aber vor etwa 15 Jahren „auf dem Zwangswege von der damaligen Wohnungskommission (Mehrheit Kommunisten) herausbefördert“ worden. Die Wohnung habe stattdessen der Vorsitzende des Arbeiterrates Jaworski erhalten. Ihm sei die Dachwohnung zugewiesen worden, sodass er seit dieser Zeit gezwungen sei, nach Geschäftschluss „nach dem Dachstock zu wandern“. Für seinen inzwischen verheirateten Sohn habe es keinen Platz mehr in dem Haus gegeben. Während dessen Frau inzwischen bei ihnen in den ohnehin beengten Verhältnisse lebe, stände dieser als „Flieger in Russland im Felde“.

Adelheid Löwensberg, Leopold Löwensberg, Kaufmann Eliakim Löwensberg, Johanna Marxheimer Löwensberg, Lazarus Löwensberg, Zerline Kaufmann Löwensberg Löwensberg, Judenhaus Wiesbaden Biebrich, Horst-Wessel-Str. 45, Straße der Republik 45
Die Profiteure der Judendeportationen offenbaren sich
HHStAW 519/2 2196 I

“Sollte das Haus evtl. zum Verkauf kommen, so bitte ich, mich in allererster Linie berücksichtigen zu wollen. Ich habe hier meine ganze Existenz aufgebaut, sämtliche verfügbaren Lagerräume, Werkstatt, Garage usw. gemietet, und dürfte bei anderweitigem Verkauf mein ganzes Geschäft in Frage gestellt sein.“[79]
Dieses Kaufinteresse hatte er auch schon in dem ersten Brief geäußert, hier aber bezüglich seines Sohnes, der der eigentliche Käufer sein sollte, noch ergänzt, dass dieser seit seiner Gründung Mitglied des N.S.K.K. (Nationalsozialistisches Kraftfahrzeugkorps) und mit der Nummer 5392064 auch Mitglied der NSDAP sei.[80]

Vor diesem Hintergrund muss man den Eindruck gewinnen, dass das Verhalten des Mieters Neiss während der Reichspogromnacht doch weniger davon motiviert gewesen war, dem NS-Staat ein Schnäppchen zu schlagen als davon, die höchst bedrohliche Situation für die jüdische Mitbewohnerin zum eigenen Vorteil zu nutzen und das veraltete Warenangebot gewinnbringend abzustoßen. Jetzt wo die Jüdin fort war, galt es erneut seinen Vorteil zu suchen, jetzt als Antikommunist und zumindest der NSDAP offensichtlich nahe stehender „Volksgenosse“.
Wie sich aus einem Gesprächsvermerk beim Finanzamt ergibt, kam es zunächst zu einer Vorortbesichtigung des Sachbearbeiters im Haus, der sich von der prinzipiellen Bedürftigkeit des bisherigen Mieters Neiss überzeugte und daraufhin ein Gespräch mit dem städtischen Wohnungsamt führte. Hier trug der Sachbearbeiter – vermutlich war es Schreck selbst – vor, dass das Finanzamt plane, das Haus an Neiss zu verkaufen. Wenn es zum Verkauf käme, so könne der neue Eigentümer Anspruch auf die Wohnung zu Eigenbedarfszwecken stellen, ohne dass das Gebot der Einquartierung einer kinderreichen Familie dann Vorrang habe. Voraussetzung sei aber, dass der Verkauf entgegen der Bestimmung des Reichsfinanzministers tatsächlich zu Stande käme. Er machte zudem auf ein weiteres Hindernis aufmerksam, womit eine der typischen Konflikte im Dritten Reich zwischen traditionellen Behörden und Machtansprüchen bzw. -anmaßungen der NSDAP-Bonzen angesprochen ist: „Herr Sauer [vom Städtischen Wohnungsamt – K.F.] deutete an, daß die Kreisleitung Anspruch zur Besetzung der Wohnung gegeben habe. Ihr sei dieses Recht überlassen, sodaß das Wohnungsamt wenig machen könne.“[81] Der Biebricher NSDAP-Ortsgruppe war ihr bisheriger Versammlungsraum zu klein, weshalb sie die Wohnung der in der gleichen Etage lebenden Mieterin Bausch beanspruchte. Natürlich musste der dafür eine Ersatzwohnung zugewiesen werden können. Was lag also näher, als die „Judenwohnung“ über die Wohnungsverwaltung, allerdings unter Umgehung des Finanzamts und des städtischen Wohnungsamts, an die Frau zu vermieten. Am 18. August 1942 war der Mietvertrag geschlossen worden, am 1. September sollte sie dort einziehen.[82]

Das Finanzamt, das in ständigen Kontakt mit dem Oberfinanzpräsidenten in Kassel wegen der Verwertung der Immobilie stand, informierte die übergeordnete Behörde, die dann am 23. September unmissverständlich erklärte, dass der Mietvertrag hinfällig sei, das Haus dem Reichsfiskus gehöre und das Finanzamt Wiesbaden alleine berechtigt sei, Mietverträge zu vereinbaren. Auch wurde die NSDAP-Ortsgruppe darauf hingewiesen, dass es auch ihr auf Grund der Verordnung über das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum nicht erlaubt sei, solchen in Büroräume umzuwandeln. Weiterhin stellte der Oberfinanzpräsident für den Verkauf des Hauses an Neiss eine Ausnahmegenehmigung in Aussicht. Man solle ihm deshalb den Einheitswert des Grundstücks mitteilen.[83]

Die Wohnung in der Horst-Wessel-Straße war zu diesem Zeitpunkt noch nicht von der von der NSDAP-Ortsgruppe ausgesuchten Mieterin bezogen worden, da – so erfährt man aus den Unterlagen nebenbei – diese bisher noch nicht von den Einrichtungsgegenständen von Adelheid Löwensberg geräumt worden war. Inzwischen war von Seiten des Finanzamts ein Mietvertrag mit dem Installateur Neiss zustande gekommen und es wurde begonnen, die Wohnungseinrichtung zwecks Verwertung zu räumen. Als die NSDAP-Biebrich erfuhr, dass nicht der von ihr abgeschlossene Mietvertrag zum tragen kommen sollte, heftete der Ortsgruppenleiter Ohlmacher ein Zettel mit folgendem Wortlaut an die Haustür:
“Anordnung
Diese Wohnung ist durch den Kreisleiter als Beauftragten des Gauwohnungskommissars beschlagnahmt. Die Besitznahme erfolgt durch den Kreisleiter. Unberechtigtes Belegen der Wohnung zieht schärfste Bestrafung nach sich
gez. Ohlmacher“
[84]

Nach einem Gespräch konnte der Konflikt dann doch noch beseitigt werden, indem eine andere Wohnung für die Familie Bausch gefunden wurde. Ob die NSDAP auch die Genehmigung erhielt für ihre Zwecke Wohnraum in Büros umzuwandeln, ist den Akten nicht zu entnehmen. Neiss erhielt zwar einen gültigen Mietvertrag für die ehemalige Wohnung der Löwensbergs und sein Sohn konnte mit seiner Frau die Dachgeschosswohnung seiner Eltern beziehen, aber zu einem Verkauf des Hauses kam es in den folgenden Jahren nicht mehr. Das Haus wurde auf Kosten des Staates – das Reichsfinanzministerium blieb weiterhin der Eigentümer – kostspielig renoviert und der neue Mieter Neiss stellte für die von ihm selbst getätigten Elektroarbeiten eine entsprechende Rechnung aus.

„Die ehem. jüdische Wohnung“ sei „stark heruntergewirtschaftet, Decken, Wände und Friese schmutzig“ gewesen, erläuterte der Rechnungsprüfer beim Finanzamt die hohen Kosten. Bezüglich der von Neiss ausgeführten Elektroarbeiten schrieb er: „Die gesamten elektr. Licht- und Klingelanlagen von der Haustür nach dem Stiegenhaus waren durch die jüdische Misswirtschaft oft nur behelfsmäßig verlegt und durch Abgabe einzelner Räume durch den Juden an Untermieter vielfach willkürlich unterbrochen, schadhaft und in dem Zustand unbrauchbar. Eine vollständige ordnungsgemäße Verlegung und Herrichtung der Anlage wurde bei Neuvermietung der Wohnung gefordert.“ [85] Von wem war diese Beurteilung abgegeben und die Forderung erhoben worden, wenn nicht von Neiss, einem, der in vielfacher Hinsicht zu den Profiteuren der Judenverfolgung zu zählen ist.

Nachdem das Haus vom Reichsfinanzministerium zurückerstattet worden war, Leopold Löwensberg verstorben war, gab es für die übrigen Familienmitglieder, die selbst keine Bindung nach Wiesbaden oder Biebrich hatten, keinen Grund mehr an dem Besitz festzuhalten. Das ehemalige Judenhaus ging in fremde Hände über.

 

Veröffentlicht: 20. 05. 2021

 

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Anmerkungen:

 

[1] Zum Horst-Wessel-Lied siehe die informative Wikipedia-Seite https://de.wikipedia.org/wiki/Horst-Wessel-Lied, auf der weiterführende Literatur angegeben ist. (Zugriff: 10.5.2021). Nach dem Krieg erhielt die Straße wieder ihren Namen aus der Weimarer Zeit, heißt also wieder Straße der Republik und soll auf diese Weise ihren kleinen Beitrag zur Identifikation der Bürger mit dem Staat der heutigen deutschen Republik leisten.

[2] Dieser Schluss, der sich aus den vorhandenen Akten ergibt, wird auch bestätigt durch einen Brief von Richard Hergenhahn, der damals noch als Kind in dem Judenhaus lebte, siehe Sammlung Georg Schneider.

[3] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 222.

[4] Siehe zur Historie jüdischen Lebens in Biebrich generell, Jungmann, Verwehte Spuren, S.185-265. ). Die verdienstvolle Aufarbeitung der jüdischen Geschichte von Biebrich wurde in der zweiten Auflage das lokalgeschichtlichen Werkes von Reiner Winkler ‚Biebrich – kleine und große Ereignisse im Ablauf von 2000 Jahren’ veröffentlicht. In seiner ersten Auflage zeichnete sich dieses lokalgeschichtliche Werk durch eine geradezu unfassbare Ignoranz gegenüber den Geschehnissen während der NS-Zeit aus. Die erste Auflage erschien nicht in den fünfziger, auch nicht in den frühen sechziger Jahren, als nahezu ganz Deutschland einer kollektiven Amnesie verfallen war, sondern im Jahr 1989. In diesem Werk, in dem von S. 96 – 106 auch die Zeit des Nationalsozialismus behandelt wird, taucht das Wort ‚Jude’ nur ein einziges Mal auf. Und dies im Zusammenhang mit der Reichspogromnacht. Aber selbst hier werden durch die Verwechslung von Anlass und Kausalität die Juden quasi selbst für die Ereignisse verantwortlich gemacht. Es heißt dazu auf S. 104.: „Auf Grund der Ermordung eines deutschen Botschaftsrats in Paris durch einen jungen Juden, wurde von den Machthabern eine Zerstörung insbesondere jüdischer Synagogen und Geschäfte in ganz Deutschland angeordnet. Auch die Synagoge in der Rathausstraße wurde im Inneren völlig zerstört.“ Man erfährt in diesem Buch, dass am 29. 10. 1935 im Schlosspark ein Ahornbaum umgefallen war und dass am 1.12. 1939 einem Einwohner drei wertvolle Karnickel gestohlen wurden. In dem Jahr als viele jüdische Bürger in die Konzentrationslager deportiert wurden, gab es einzig zu berichten, dass die Biebricher Bank fortan unter dem Namen Volksbank Biebrich firmieren werde. Man mag einwenden, dass der Autor sich bei seinen Annalen ausschließlich auf die in der örtlichen Presse veröffentlichte Meinung stützte und die Meldungen aufnahm, die damals in der ‚Biebricher Tagespost’ und der ‚Wiesbadener Tagespost’ erschienen waren. Allerdings wäre dann doch zu hinterfragen, ob das eine angemessene Quellenbasis für eine solche Chronologie sein kann, zumal in den Vorbemerkungen selbstkritische Anmerkungen dazu fehlen. Hier wird nur allgemein auf das Problem eines Redakteurs bei der Auswahl von Nachrichten verwiesen. „Dass hier subjektives Empfinden nicht völlig ausgeschlossen werden konnte, sei mir verziehen (…) Es soll mir geglaubt werden, wenn ich versichere, mein Möglichstes in bezug auf Objektivität getan zu haben.“ (S. 3) Umso schlimmer! Dass der zweiten Auflage von 1994 die umfassende Darstellung von Jungmann angehängt wurde, macht den ersten Teil, der unverändert blieb, aber nicht besser. Siehe Winkler, Reiner, Biebrich – Kleine und große Ereignisse im Ablauf von 2000 Jahren, Biebrich 1989 und Jungmann, Ernst, Verwehte Spuren -Sie waren doch alle Biebricher!. Aus der Geschichte der Biebricher Bürger jüdischen Glaubens, in: Winkler, Reiner, Biebrich -Kleine und große Ereignisse, Biebrich 1994, 2. Aufl.

[5] Zehmer, Biebrich, S. 52.

[6] Zu Hermann Löwenherz siehe ebd. S. 53ff.

[7] Jungmann, Verwehte Spuren, S, 204.

[8] Sie waren unsere Nachbarn, S. 28. Umfassend ist in den Buch das Schicksal der in Igstadt verbliebenen Familienmitglieder der Löwensbergs dargestellt, siehe ebd. S. 46-89.

[9] Heiratsangabe nach Jungmann, Jüdische Bürger in Biebrich 1818-1874. Zerline Kaufmann war am 12.4.1814 in Biebrich als Tochter von Wolf Kaufmann und Sara Marx geboren worden. Der Vater hatte den festen Familiennamen Wolfsohn angenommen. In HHStAW 469/33 5262 (o.P.) ist der Nachname von Zerline allerdings mit Wolff angegeben.

[10] Geburtsdatum nach Jungmann, Jüdische Bürger in Biebrich und Mosbach 1818-1874. „Kaufmann“ ist hier nicht als Berufsbezeichnung zu verstehen, sondern war ein keineswegs unüblicher jüdischer Vorname, der ursprünglich aber sicher aus der Berufstätigkeit abgeleitet worden war.

[11] HHStAW 246 1081 (114). Der frühere Eigentümer ist leider unleserlich.

[12]  HHStAW 469/33 5262 (o.P.).
Zerline Lazarus verstarb am 14.7.1868 in Biebrich. Auf ihrem Grabstein ist folgender Eintrag zu lesen:
Dies ist das Grabmal
einer Frau, sittsam und anmutig auf ihren Pfaden,
untadelig und aufrichtig in all ihren Werken.
Stets war sie auf das Wohl ihres Mannes bedacht,
und leitete ihre Kinder zu Geradheit an.
Diese ist Frau Zerle, Tochter des Eljakim,
Ehefrau des ehrwürdigen Herrn Elieser Löwensberg
aus Biebrich. Sie ging ein in ihre Welt am
Dienstag, den 24. Tamus, und sie wurde begraben am nächsten Tag
im Jahre [5]628 n.d.k.Z. Ihre Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens.
(Deutsche Inschrift:)
Zerlina Löwensberg
ging zum ewigen Leben über
Dienstag, den 14. Juli 1868

[13] Sterberegister Biebrich 10 / 1890.
Sein Grabstein trägt folgende Inschrift:
Hier ruht
der Gemeindeälteste, gerecht und aufrichtig, geehrt unter seinem Volke.
Untadelig war er zu Gott und den Menschen in allen seinen Handlungen.
Er liebte die Geschöpfe und war friedliebend alle Tage seines Lebens.
Dies ist der Greis, Herr Elieser, Sohn des Jehuda
Löwensberg aus Biebrich.
Er ging ein in seine Welt am Dienstag, den 15. Tewet, und er wurde begraben
am Donnerstag, den 17. des Monats im Jahre [5]650 n.d.k.Z.
Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens.
(Deutsche Inschrift:)
Lazarus Löwensberg
geb. d. 12. Februar 1816
gest. d. 7. Januar 1890

[14] Heiratsregister Langenschwalbach 12 / 1876. Sie war die Schwester von Benjamin Marxheimer, geboren um 1846 und verstorben am 19.1.1903, der wiederum der Vater des Juristen Moritz Marxheimer war, geboren am 25.5.1875 in Wiesbaden. Dieser ist aber nicht mit dem am 28.2.1871 geborenen und noch bekannteren Juristen gleichen Namens zu verwechseln, der in Mauthausen ermordet wurde. Johannas Neffe konnte 1939 mit seinem Sohn und seiner Tochter rechtzeitig nach Südafrika auswandern.

[15] Sterberegister Biebrich 31 / 1897.

[16] Geburtsregister Biebrich 42 / 1883.

[17] Sterberegister Biebrich 153 / 1884.

[18] Geburtsregister Biebrich 76 / 1886.

[19] Zehmer, Biebrich, S. 23-28.

[20] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 206 f., zur Familie Baer siehe auch Zehmer, Biebrich, S. 40-45.

[21] Es scheint hier keine Neunummerierung der Häuser gegeben zu haben, zumindest haben die Bewohner des Hauses Nr. 23 andere Namen als die in der Wiesbadener Str. 25.

[22] Grundbuch Biebrich Bd. 1000 Bl. 1774.

[23] HHStAW 685 497 (o.P.).
Zur genauen Aufteilung der Wohnungen siehe HHStAW 519/2 2196 III.

[24] HHStAW 519/2 2196 I und HHStAW 685 497b (39), hier für das Steuerjahr 1940. Neben einer Frau Bergmann, gehörte auch die Firma Gebr. Marxheimer zu den Gläubigern, offensichtlich Geld, dass aus der Verwandtschaft von Johanna Löwensberg gekommen war.

[25] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 214 ff.

[26] Bei Jungmann, Verwehte Spuren, S. 216 ist ein anonymer gegen sie gerichteter Leserbrief abgedruckt, in dem es heißt: „An die Giftpflanze Tony Sender. Soeben habe ich in der ‚Volksstimme’ ihre Unterredung mit dem franz. Redakteur gelesen und frage mich warum auch Sie nicht gleichzeitig mit Rosa Luxemburg verschwunden sind damit die Zucht solcher Menschen einmal erledigt ist. Haben wir Deutsche schon an der verfluchten Judensaubande so schwer zu leiden daß keine Moral und Sitte zu schlecht sind um anzuwenden gegen alle gutmütigen Menschen welche sich noch in dem Glauben befinden wir hätten doch ehrliche Menschen die das sagen was sie meinen (…) Traurig ist daß wir Männer solchen Brutmaschinen nicht gleich das Handwerk legen und sie auf eine Insel setzen damit sie ihre faulen Geburten selbst anstaunen können und sich nicht dem Volke als Representantin wichtig machen mit ihrem verbohrten Hirn, was so verkalkt ist dass es darum nicht schade ist. Hoffentlich wird man Sie als verücten Fotzenkopf behandeln (…). [sprachliche Fehler im Original]

[27] Sterberegister Biebrich 103 / 1914.

[28] Heiratsregister Hamburg 9 / 1908.

[29] https://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/cntmng;jsessionid=E548286DE6FBA4C04EA28F8D4F47BA93.agora12?type=pdf&did=c1:1428648. (Zugriff: 10.5.2021). Im Internet wird ein sehr schönes Werbeplakat dieser Firma angeboten, siehe https://www.ebay.de/itm/401976625335?mkevt=1&mkcid=1&mkrid=707-53477-19255-0&campid=5338722076&toolid=10001. (Zugriff: 10.5.2021).

[30] HHStAW 685 497a (4).

[31] Ebd. (7).

[32] Ebd. (5).

[33] Ebd. (7).

[34] Siehe das Arbeitszeugnis, ausgestellt von Adelheid Löwensberg vom 31.1.1926, Sammlung Georg Schneider.

[35] Sammlung Georg Schneider.

[36] Ebd. (6), auch HHStAW 685 497b (1, 25).

[37] Ebd. (passim).

[38] Ebd. (39, 58).

[39] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 222.

[40] Ebd. S. 223.

[41] HHStAW 685 497b (24). Zum Einheitswert des Hauses liegen in den Akten unterschiedliche Informationen vor. Adelheid Löwensberg hatte in einer Eingabe gen die von der Zollfahndung Bewertung in einem Schreiben vom 5.8.1938 darauf hingewiesen, dass der Wert laut einer Feststellung aus dem Jahr 1925 nur 21.700 RM betrage. Bei einer Neubewertung im Zusammenhang mit der Berechnung der Judenvermögensabgabe wurden im Januar 1939 dann 26.000 RM angesetzt, siehe ebd. (25, 32)

[42] Dokumente über die Ereignisse dieser Nacht und des folgenden Tages wurden von Jungamnn gesammelt. Sie sind archiviert im Stadtarchiv Wiesbaden unter NL 34 Nr. 59. Diese Sammlungliegt auch seiner Darstellung der Ereignisse in Verwehte Spuren, S. 231-235 zugrunde.

[43] Zit. nach Kropat, Kristallnacht in Hessen, S. 20.

[44] Kropat, Kristallnacht in Hessen, S. 19 ff.

[45] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 231.

[46] Kropat, Kristallnacht in Hessen, S. 74 f., Dok. 11 A.

[47] Ebd. S. 75, Dok. 11 B.

[48] Stadtarchiv Wiesbaden NL 34 Nr. 59. Laut Zehmer spielten Männer des in Biebrich stationierten 3. SS-Pioniersturmbanns bei der Aktion eine Rädelsführerrolle. Zehmer, Biebrich, S. 72. Die Synagoge konnte von da an für religiöse Zusammenkünfte nicht mehr genutzt werden. Durch einen Bombeneinschlag bei dem Großangriff auf Biebrich am 18.12.1944 wurde sie endgültig zerstört.

[49] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 235

[50] Siehe insgesamt zur Haltung der Bevölkerung im Besonderen in Hessen, Kropat Kristallnacht S.  241-245.

[51] HHStAW 518 38028 (o.P.), Anlage zu (47).

[52] Sammlung Georg Schneider.

[53] Sammlung Georg Schneider. Ob die Einschätzung bezüglich der „integren Hausgemeinschaft“ tatsächlich der Realität entsprach, erscheint allerdings eine sehr idealisierte Erinnerung zu sein, wenn man die Hausakten der folgenden Jahre betrachtet. Siehe dazu unten.

[54] HHStAW 518 38028 (47).

[55] HHStAW 685 497b (30).

[56] HHStAW 685 497b (32, 37), auch HHStAW 518 38028 (12).

[57] HHStAW 685 497b (35, 36).

[58] Ebd. (41).

[59] Ebd. (o.P.).

[60] Weichel, Wiesbaden im Bombenkrieg, S. 34.

[61] HHStAW 519/2 (Bandzählwerk 0002)

[62] Ebd. (Bandzählwerk 0003-0006).

[63] Sterberegister Wiesbaden 67 / 1939.

[64] Jungmann, Verwehte Spuren, S. 236.

[65] Sammlung Georg Schneider.

[66] HHStAW 469/33 2346 (3).

[67] Sammlung Georg Schneider.

[68] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 214.

[69] HHStAW 519/2 2196 II (Bandzählwerk 0004).

[70] HHStAW 518 38028 (15).

[71] Ebd. (20).

[72] HHStAW 519/2 2196 I (Bandzählwerk 18)

[73] Ebd. (Bandzählwerk 20). Nicht richtig ist daher die Angabe auf dem Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse für Adelheid Löwensberg, das Haus sei schon 1938, einen Monat nach der Reichspogromnacht enteignet worden, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Adelheid-Loewensberg.pdf. (Zugriff: 10.5.2021).

[74] HHStAW 519/2 2196 I (Bandzählwerk 0012).

[75] Ebd. I (Bandzählwerk 0014).

[76] HHStAW 519/2 3149.

[77] Siehe oben

[78] HHStAW 519/2 2196 I (Bandzählwerk 16).

[79] Ebd. (Bandzählwerk 0015 f.).

[80] Ebd. (Bandzählwerk 0014).

[81] Ebd. (Bandzählwerk 0018).

[82] Ebd.. (Bandzählwerk 0023 ff.).

[83] Ebd. (Bandzählwerk 0025).

[84] Ebd. ((Bandzählwerk 0027).

[85] Ebd. (Bandzählwerk 0038).