Für Jakob Gottschall war die Hallgarter Str. 6 die letzte Station vor seiner Deportation nach Theresienstadt am 1. September 1942.
1935 war er von Groß-Gerau nach Wiesbaden gekommen, nachdem seine Frau Henriette dort am 18. April des gleichen Jahres verstorben war.[1] Er selbst, am 5. Mai 1864 geboren, war vermutlich ein Kind von Simon und Esther Gottschall, geborene Löwenstein, die in Groß-Gerau eine Metzgerei betrieben. Auch Jakobs Frau Henriette war eine geborene Löwenstein und stammte aus Schornsheim.[2] Die beiden hatten 1892 geheiratet und verdienten ihren Lebensunterhalt gemäß alter jüdischer Tradition im Viehhandel. Das Geschäft lief zunächst wohl nicht gar so schlecht, die gegenüber dem Finanzamt angegebenen vierteljährlichen Umsätze bewegten sich in den späten zwanziger und ersten dreißiger Jahren immer um die 10.000 RM. Aber ab 1933 gingen sie dann deutlich zurück, betrugen im letzten Quartal 1934 nur noch etwa 4.000 RM und Jakob Gottschall musste die Finanzbehörde bitten, ihm die Steuervorauszahlungen herabzusetzen.[3]
Der Tod seiner Frau, die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und zunehmende Anfeindungen der Mitbürger werden ihn im November 1935 veranlasst haben, das Anwesen in der damaligen Wilhelmstr. 20, der heutigen Jahnstr. 12, zu verkaufen[4] und am 31. Dezember des gleichen Jahres nach Wiesbaden an einen vermeintlich sichereren Ort zu ziehen.
Er verließ eine Gemeinde, in der es seit dem 13. Jahrhundert jüdisches Leben gab, ein Leben, das – wie in so vielen anderen Orten – von Phasen der Akzeptanz, aber auch von Verfolgung, Vertreibung und Pogromen geprägt war. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts war es den jüdischen Familien gestattet worden, die im 30jährigen Krieg zerstörte Synagoge wieder aufzubauen. „Sühnegelder“ und andere Sondersteuern, diskriminierende Verbote, wie das Verbot außerhalb des Gottesdienstes Hebräisch zu sprechen, gehörten zu den Einschränkungen, die sie zu ertragen hatten. Als im Zuge der napoleonischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Juden in Groß Gerau bürgerliche Namen annehmen mussten, gehörten die Gottschalls vermutlich noch nicht zu den dortigen Bewohnern. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ziehen viele Landjuden in die Stadt, in der es inzwischen auch für sie vielfältige Erwerbsmöglichkeiten auch außerhalb der traditionellen Berufe gab. Gottschalls blieben aber offensichtlich der Familientradition verhaftet. Bei einer Volkszählung im Jahr 1911 ist nun auch Jakob Gottschall als einer der dort ansässigen Viehhändler erfasst worden. Die Zahl der in Groß Gerau lebenden Juden wuchs in den folgenden Jahren sogar noch einmal und erreichte mit 161 jüdischen Bürgern im Jahr 1926 ihren Höhepunkt. Aber schon vier Jahre später hatten die Nazis bei den Reichstagswahlen in Groß Gerau etwa 20 Prozent und wiederum zwei Jahre später erreichten sie schon über 40 Prozent. 1933 hatte auch in Groß-Gerau der Rassenwahn große Teile der Bevölkerung erfasst. Es begann die Zeit der Verfolgung, zunächst mit dem Boykott am 1. April 1933, schon vier Jahre vor der Reichspogromnacht drangen ‚Unbekannte’ in die Synagoge ein und verwüsteten die dortigen Thorarollen und andere kultischen Geräte. Jüdischen Kindern wurde 1935 der Zutritt zu öffentlichen Schulen verwehrt. Angesichts dieser Bedrohungen verließen immer mehr Juden Groß Gerau, zogen nach Mainz, Frankfurt oder Wiesbaden oder gingen sogar ins Ausland, wenn sie denn über die dafür notwendigen finanziellen Mittel verfügten.
Die Weggezogenen mussten zumindest nicht mehr erleben, wie man 1938 am Tag nach der Reichspogromnacht die männlichen jüdischen Bürger Groß-Geraus auf dem Marktplatz versammelte und sie unter dem Gelächter der Meute zwang, Kniebeugen zu verrichten. Ein unglaublich entwürdigender Anblick, den ein Fotograf, vermutlich einer aus der geifernden Masse, damals festgehalten hat.[5]
Jakob Gottschalls finanzielle Mittel hätten durch den Hausverkauf sogar ausgereicht, um ebenfalls das Land zu verlassen, aber er war inzwischen über 70 Jahre alt, alleine und vermutlich ohne die Kraft, die damit verbundenen Strapazen noch zu bewältigen. Möglicherweise plante er aber dennoch im Sommer 1938 von Wiesbaden aus seine Ausreise, zumindest geht die Formulierung der Devisenstelle, „Jakob Gottschall … beabsichtigt demnächst auszuwandern“, über einen puren Verdacht der Mainzer Zollfahndungsstelle hinaus.[6] Auch teilte im das Finanzamt Wiesbaden noch in derselben Woche mit, dass er von der Reichsfluchtsteuer befreit sei und eine steuerliche „Unbedenklichkeitsbescheinigung“, die Voraussetzung für die Ausfertigung eines Reisepasses, ausgestellt werden könne.[7] Konkrete Hinweise auf solche Pläne lassen sich aber ansonsten in den Akten nicht finden und ob diese realistisch gewesen wären, sei dahingestellt.
Stattdessen hatte er das Geld aus dem Hausverkauf – er hatte dafür samt Mobiliar 15.000 RM erhalten[8] – in Wertpapiere angelegt, was die Zollfahndung Mainz auf ihn aufmerksam machte. Diese beantragte im Sommer 1938 bei der Frankfurter Devisenstelle eine Sicherungsanordnung für sein Depot bei der Commerzbank in Höhe von 21.000 RM. Auch wurden Verwandte im Ausland angeführt, die eine illegale Ausreise unter Verstoß gegen die Devisengesetze wahrscheinlich machen würden.[9] Innerhalb einer Woche kam die Bestätigung der Anordnung aus Frankfurt. Zwar waren die Erträge der Wertpapiere freigestellt worden, aber schon im November des gleichen Jahres bat er darum, zusätzliche Mittel aus dem Depot für seinen Lebensunterhalt freizugeben. Dies wurde gestattet, wie auch der Verkauf von Papieren im Wert von 8.000 RM zum Abschluss einer Altersrentenversicherung.[10] Auf der Devisenstelle wird man über soviel Zuversicht nur milde gelächelt haben.
Die Begleichung der sogenannten „Sühneleistungen“ nach der „Reichspogromnacht“ – jeweils Raten von ca. 2.000 RM – konnte Jakob Gottschall nur durch den weiteren Verkauf seiner Papiere an die Preußische Staatsbank bewerkstelligen.[11] Als dann auch noch eine fünfte Rate fällig wurde, bat Jakob Gottschall um deren Herabsetzung. Er habe bisher alles pünktlich bezahlt und verfüge nur noch über ein Depot von 13.000 RM „Ich bin 75 Jahre alt und vollständig alleinstehend und möchte in meinem Alter nicht darauf angewiesen sein, fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen.“ Auf der Rückseite des Schreibens ist die barsche Antwort „Der Antrag ist abzulehnen“ vermerkt.[12]
Im Februar 1940 besaß Jakob Gottschall noch Wertpapiere über knapp 11.000 RM, die Erträge abwarfen. Auch erhielt er eine Vorzugsrente aus einer Kriegsanleihe und eine Altersrente, sodass er 1939 noch immer ein Jahreseinkommen von ca. 2.500 RM erzielt hatte. Verfügen konnte er darüber freilich nicht, denn die Devisenstelle hatte schon längst eine Sicherung seiner Konten angeordnet. Seine Ausgaben hatte er monatlich auf 360 RM bezifferte, davon 70 RM für Miete. „Ich bin alleinstehend und leidend, was meinen allgemeinen Lebensunterhalt verteuert,“ hatte er noch angemerkt.[13] Der vorläufige Freibetrag war zunächst auf 250 RM festgesetzt, dann auf 300 RM angehoben worden.[14]
Anhand der vorhandenen Unterlagen sind die mehrfachen Wohnungswechsel von Jakob Gottschall hier in Wiesbaden nicht genau zu rekonstruieren. Auch die Gestapo-Karteikarte gibt nur unzureichend Auskunft, zumal die ersten beiden Adressen vor 1939 gar nicht eingetragen sind. Sicher ist, dass seine erste Unterkunft in Wiesbaden in der Bertramstr. 10 war. Im August 1938 schickt er seine Vermögensanmeldung an die Devisenstelle aus der Adolfsallee 24 und auch die folgende Sicherungsanordnung ereichte ihn unter dieser Adresse.[15] Wann er von da in die Victoriastr. 39 zog, ist unbekannt.
Vermutlich beabsichtigte Ludwig Gottschall im Sommer 1939 nach Frankfurt zu ziehen. Ein Brief vom 9. Juli 1939, den der ehemals in Groß Gerau lebende, dann aber nach Frankfurt umgezogene jüdische Getreidehändler Martin Marx an seinen in die USA emigrierten Sohn schrieb, enthält eine leider zusammenhanglose knappe Bemerkung: „Jacob Gottschall, der seither in Wiesbaden wohnte, will jetzt hierher und kommt morgen, um sich eine Pension zu suchen.“ [16]
Der Plan hatte sich aber wohl zerschlagen, denn am 1. August 1939 war er laut Gestapo-Kartei dann hier in Wiesbaden in die Adelheidstr. 90 zu dem Ehepaar Siegfried und Anna Weis gezogen. Möglicherweise war dieser Umzug durch verwandtschaftliche Beziehungen ermöglicht worden, denn auch in seiner vorherigen Adresse in der Victoriastraße hatte eine Familie Weis gelebt. Von der neuen Adresse Adelheidstraße schickte er im Juli 1940 noch die geforderte Vermögenserklärung an die Devisenstelle.[17] Laut Eintrag in der Gestapo-Kartei war er aber bereits am 22. Februar 1940 weiter in die Rauenthaler Str. 3 als Untermieter bei Hendel gezogen. Aber erst am 25. September 1941 meldet er diesen Umzug der Devisenstelle,[18] obwohl er andererseits bereits am 17. Februar 1941 die Einkommensteuererklärung für das Jahr 1940 mit der neuen Adresse in der Rauenthaler Straße abgegeben hatte [19] – insgesamt eine eher verworrene Chronologie. Welche der Umzüge unmittelbar erzwungen war, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Spätestens seit 1940 könnte das aber der Fall gewesen sein, wenngleich es sich auch bei der letzten Adresse in der Rauenthaler Straße um kein Judenhaus handelte.
Im Februar 1942 wurde ihm von der Devisenstelle noch einmal der Freibetrag für seinen Lebensunterhalt auf 240 RM gekürzt. Es sind diese kleinen Bosheiten, die sicher auch einen Menschen wie Jakob Gottschall mürbe machten. Er hatte seinen Lebensbedarf mit 250 RM angegeben, hatte auch diesmal darauf hingewiesen, dass er schon seit vielen Jahren ein Blasenleiden habe und sehr viel Geld für Medikamente ausgeben müsse.[20] 10 RM weniger als der angegebene Bedarf wurden von der Devisenstelle genehmigt. Die gleiche Behörde teilte am 6. Oktober 1942 der führenden Bank, die Gottschalls das Sicherungskonto geführt hatte, mit, dass der Jude Jakob Gottschall „nach dem Protektorat evakuiert“ worden sei.[21]
Die Aufforderung, sich am 27. August im Hof der Synagoge in der Friedrichstraße zur Registrierung für den anstehenden Transport einzufinden, hatte ihn im Judenhaus Hallgarter Str. 6 erreicht. Am 15 Juni 1942 hatte man ihn zuletzt hier im dritten Stock einquartiert, wo er noch für wenige Wochen ein einzelnes Zimmer bewohnte. Mit zwölf anderen jüdischen Mitbewohnern wurde er dann am 1. September mit dem letzten großen Transport mit hauptsächlich alten Menschen über Frankfurt nach Theresienstadt deportiert. Nur wenige Tage hat er diese Tortour überlebt. Am 12. des Monats war er laut der Todesfallanzeige des dortigen Ältestenrats morgens um 0.30 angeblich an einem Darmkatarrh verstorben.[22]
Stand: 16. 03 2019
Anmerkungen:
[1] Henriette Löwenstein war am 3.11.1865 geboren worden.
Die sehr informative Homepage http://www.erinnerung.org/gg/index.htm (Zugriff: 15.3.2019) hält die Erinnerungen an die jüdischen Bürger von Groß-Gerau wach. Eine Seite ist auch dem Haus und damit auch dem Leben von Jakob Gottschall gewidmet, siehe http://www.erinnerung.org/gg/haeuser/jahn12.html. (Zugriff: 15.3.2019). In der weiteren Darstellung zu Jakob Gottschall wird zum Teil auf die Informationen dieser sehr empfehlenswerten Seite zurückgegriffen. Einziges Manko sind die fehlenden Quellenangaben.
[2] Zur Bedeutung der jüdischen Familie Löwenstein in Schornsheim siehe http://www.alemannia-judaica.de/schornsheim_synagoge.htm. (Zugriff: 15.3.2019).
[3] HHStAW 685 214b (34, 35) Interessant sind auch die in diesen Akten enthaltenen Aufzeichnungen über die Zahl und Art der geschlachteten Tiere und die Kontrollen, die von staatlicher Seite ausgeübt wurden.
[4] Herr Ziegler von der Erinnerungsgruppe Groß-Gerau hat im Zusammenhang mit dem Hausverkauf mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Ehe der Gottschall vermutlich kinderlos geblieben war. Auch andere Verwandte in der Erblinie seien wohl nicht vorhanden gewesen, weil sich die Jewish Restitution Successor Organization nach dem Krieg dieser „Arisierung“ angenommen habe. Das Haus sei damals zu einem verordneten Preis unterhalb des Verkehrswerts verkauft worden. Verhandelt wurde vor der Wiedergutmachungskammer des LG Darmstadt, ohne dass Ansprüche eventuell überlebender Nacherben des Jakob Gottschall in Erscheinung getreten seien.
[5] Der knappe historische Abriss über das jüdische Leben in Groß-Gerau beruht im Wesentlichen auf Schleindl, Angelika, Verschwundene Nachbarn. Jüdische Gemeinden und Synagogen im Kreis Groß-Gerau, 1990, S. 109-137. Hier ist auf S. 129 auch das besagte Bild abgedruckt. Die Autorin hat in ihrem Buch auch sechs Familienschicksale vorgestellt, die sie auf Befragungen und Briefen Überlebender basieren. Darin wird gerade auch über die Zeit vor deren jeweiliger Auswanderung berichtet.
[6] HHStAW 685 214 (19).
[7] Ebd. (24).
[8] Der Einheitswert des Hauses war 1935 auf 16.200 RM veranschlagt worden, vgl. HHStAW 685 214 (11), aber schon 3 Jahre später auf 19.000 RM gestiegen. Dass der Käufer Finanzbeamter, ein Obersteuerinspektor, war, genauer gesagt es war seine Frau, die im Vertrag als Käufer erscheint, ist vor dem Hintergrund der Rolle des Fiskus bei der Arisierung jüdischer Immobilien kaum verwunderlich. Siehe den Kaufvertrag, in dem alle Details des Inventars wie Möbel, Öfen, Gardinen, Kristalle usw. aufgezählt sind. Der Wert dieses Inventars wurde allein mit 2.000 RM angegeben, sodass der reale Hauspreis sogar bei nur 13.000 RM lag. HHStAW 685 214 (15) Zur weiteren Geschichte des Hauses siehe die Homepage der Groß Gerauer Erinnerungsgruppe, Link unter Anm. 1.
[9] HHStAW 519/3 2023 (1) Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Adresse Victoriastr. 39. Bei dem angesprochenen Verwandten könnte es sich um Adolf Löwenstein gehandelt haben. Zumindest wird der Dresdner Bank gestattet, vom Auswandererguthaben dieses Adolf Löwenstein im November 1939 300 RM in zwei Monatsraten zu erhalten. Sowohl die Mutter wie auch seine Frau waren geborene Löwensteins.
[10] HHStAW 519/3 2023 (10).
[11] HHStAW 519/3 2023 (11, 14, 15). Die Vermögensaufstellung zum Stichtag 30.6.1938 hatte ein Gesamtvermögen von knapp 40.000 RM ergeben, sie HHStAW 685 214 (7), Zu den Anträgen, die „Sühneabgabe“ durch Verkauf von Wertpapieren begleichen zu dürfen, siehe ebd. (4, 9, 11)
[12] HHStAW 685 214 (13, 14).
[13] HHStAW 519/3 2023 (18).
[14] HHStAW 519/3 2023 (16,18, 21).
[15] HHStAW 685 214 (19).
[16] http://www.liebermartin.com/the-letters/1939/-07-july-1939/07-09-1939. (Zugriff: 15.3.2019). Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich ebenfalls Jürgen Ziegler aus der Groß Gerauer Gruppe.
[17] HHStAW 685 214a (1).
[18] HHStAW 519/3 2023 (22).
[19] HHStAW 685 214a.
[20] HHStAW 519/3 2023 (25).
[21] HHStAW 519/3 2023 (26, 27).
[22] http://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/82495-gottschall-jakob-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/. (Zugriff: 15.3.2019).