Obwohl Ludwig Landau viele Jahre in Wiesbaden verbrachte, liegen über ihn nur sehr spärliche Informationen vor. Geboren wurde er am 22. August 1879 im damals zum Deutschen Reich gehörenden Breslau in Schlesien, das heute als Wroclaw auf polnischem Staatsgebiet liegt. Seine Eltern, Wilhelm und Fanny Landau, geborene Loewy,[1] hatten noch zwei weitere Kinder, Ludwig war der Letztgeborene. Zunächst war am 5. April 1873 die Tochter Friedericke Margarete,[2] dann am 8. Februar 1875 der Bruder Salomon Max geboren worden.[3] Über ihn liegen keine weiteren Informationen vor. Die Eltern müssen zu einem nicht bekannten Zeitpunkt, vermutlich aber um die Jahrhundertwende nach Berlin verzogen sein,[4] wo Wilhelm Landau am 25. April 1906 und Fanny Landau am 20. November 1920 verstarben.[5] In Berlin lebte später auch Emil Landaus Schwester Margarete. Sie hatte hier um die Jahrhundertwende den aus der Reichshauptstadt stammenden Leon Leiser Nesselroth geehelicht.[6] Am 15. Juli 1900 war dort ihr erstes Kind Anni Lotti zur Welt gekommen,[7] drei Jahre später, am 26. August 1903 ihre Tochter Lina Adele.[8] Zu dieser Zeit hatte die Familie in der dortigen Niederwaldstr. 23 gelebt.
Während die beiden Töchter sich der Verfolgung vermutlich durch die rechtzeitige Flucht ins Ausland entziehen konnten, wurde Margarete Nesselroth ein Opfer des Holocaust.[9] Zwar ist nicht bekannt, wann ihr wesentlich älterer Ehemann verstarb, aber als sie im November 1942 in Berlin eine Vermögenserklärung abgeben musste, bezeichnete sie sich als Witwe. Sie war damals völlig verarmt und wohnte für 17 RM Miete im Vierteljahr zur Untermieter in einem Zimmer, in dem ihr gesamtes Vermögen, ein Bett, ein Tisch zwei Stühle und einen Reisekorb, untergebracht war. Ihre Adresse in der Giesebrechtstr. 10 in Berlin-Charlottenburg lag im traditionellen jüdischen Viertel Berlins, unmittelbar angrenzend an den Kurfürstendamm. Aus dieser Straße allein wurden insgesamt 116 jüdische Bürger deportiert. Am 19. November 1942 wurde auch Margarete Nesselroth verhaftet und mit dem Transport I/78, Nr. 9829, nach Theresienstadt verbracht. Nicht einmal ein halbes Jahr überlebte die knapp Siebzigjährige die Torturen im Ghetto. Am 28. März 1943 verlor sie dort ihr Leben.
Sehr wenig weiß man auch über das Leben ihres Bruders Ludwig Landau, bevor er nach Wiesbaden kam. Es ist nicht einmal mehr feststellbar, wann er dorthin gezogen war. In keinem der Adressbücher aus der Zeit der Weimarer Republik oder der NS-Zeit ist er gelistet, einzig im Jüdischen Adressbuch von 1935 ist sein Name mit der Adresse Rauenthaler Str. 21 angegeben. Der damals einzige jüdische Bewohner dieses Hauses muss allerdings spätestens seit 1933 in Wiesbaden gewohnt haben, denn in einem Brief an die Devisenstelle Frankfurt aus dem Jahr 1940 erwähnt er, dass er bereits seit Januar 1933 von der „hiesigen Wohlfahrtspflege“, d.h. der Wiesbadener Wohlfahrtspflege, unterstützt werde.[10]
Seine nächste feststellbare Anschrift war die Rüdesheimer Str. 38, wo er im Vorderhaus im ersten Stock bei der Witwe Rosa Sender, geborene Stern, wohnte. Wann er dort eingezogen war, ist auf der Gestapokarteikarte nicht eingetragen worden. Man kann aber vermuten, dass das zu der Zeit geschah, als er Rosa Sender heiratete, also im Sommer 1939. Die Ehe war am 8. August 1939 in Wiesbaden geschlossen worden.[11]
Rosa Senders vorheriger Ehemann, Siegmund Sender, geboren am 29. Mai 1884 in der galizischen Stadt Kolomea, war am 5. September 1934 in Wiesbaden verstorben. Zunächst war damals Rosas ältere Schwester Klara Stern bei ihr eingezogen. Nach deren erneuter Vermählung hatte sie die gemeinsame Wohnung wieder verlassen.
Auch Ludwig Landau war zuvor bereits einmal verheiratet gewesen. In einer Militärakte des Königreichs Bayern aus dem Ersten Weltkrieg ist als seine damalige Ehefrau Rosa, geborene Finstermeier eingetragen. Das Paar lebte zur Zeit des Kriegsausbruchs in München. Ob die Ehe durch Scheidung oder den Tod der Ehefrau aufgelöst wurde, ist nicht bekannt,[12] auch nicht, ob möglicherweise Kinder aus ihr hervorgegangen waren. Der Beruf von Ludwig Landau ist in der Akte mit „Schauspieler“ angegeben. Unklar ist, ob das tatsächlich ein erlernter Beruf war oder er diesen vielleicht nur sporadisch ausübte. Im Jüdischen Adressbuch von 1935 wird er als Kaufmann bezeichnet,[13] auf der Gestapokarteikarte ist als Beruf kaufmännischer Angestellter angegeben. Nicht bekannt ist, in welcher Branche er seine berufliche Tätigkeit einmal ausgeübt hatte. Inzwischen, so ist dem bereits zitierten Brief zu entnehmen war er seit Jahren arbeitslos und auf die Unterstützung des Wohlfahrtsamtes angewiesen. Seit 1939 wurden die Leistungen von der Jüdischen Wohlfahrtspflege erbracht.[14]
Auch wenn es keinen Beleg dafür gibt, so wird der Umzug des Paares am 1. November 1939 in die Rheingaustr. 6 mit großer Sicherheit erzwungen worden sein.[15] Das Haus wurde in dieser Zeit zu einem der Wiesbadener Judenhäuser erklärt. Dass sie unter Zwang ihre bisherige Wohnung verlassen mussten, kann man schon daraus schließen, dass Rosa Landau damals schwer unter Diabetes litt und wohl kaum freiwillig sich der Strapaze eines Umzugs unterworfen hätte. Nur wenige Wochen später und nach nicht einmal einem halben Jahr der Ehe mit Emil Landau erlag sie am 29. Januar 1940 in den Städtischen Kliniken ihrem Leiden.[16]
Nach dem Tod seiner Frau geriet Ludwig Landau in das Visier der Devisenstelle in Frankfurt. Dort wurde für ihn Anfang März eine sogenannte ‚JS-Mappe’ angelegt, mit der das Vermögen der Juden kontrolliert wurde. Die Anlage einer solchen Mappe war verbunden mit der Einforderung der Behörde, ihr mittels eines vorgegebenen Formulars die finanziellen Verhältnisse offen zu legen. Zudem wurde dem Adressaten ein vorläufiger Freibetrag mitgeteilt, über den er ohne besondere Erlaubnis der Devisenstelle monatlich sollte verfügen können – üblicherweise zunächst 300 RM. So auch bei Ludwig Landau.[17]
In dem Antwortbrief, dem einzigen Dokument, das von ihm erhalten geblieben ist, legte er dar, in welchen finanziellen Nöten er sich befand. Nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch die Kosten für den Krankenhausaufenthalt seiner Frau wie auch die Beisetzungskosten habe von der Jüdischen Wohlfahrt übernommen werden müssen. Er selbst besitze keinerlei Vermögenswerte, wohne in einer Zwei-Zimmerwohnung mit Küche, wovon aber ein Zimmer möbliert vermietet sei.[18] Angesichts dieser finanziellen Notsituation sah selbst die Devisenstelle keine Gefahr, dass Ludwig Landau plane, dem Deutschen Reich irgendwelche Vermögenswerte entziehen zu wollen und verzichtete auf die Anlage eines Sicherungskontos. Der Freibetrag wurde aber auf 150 RM pro Monat herabgesetzt.[19]
Ludwig Landau blieb bis zum 1. März 1941 im Judenhaus Rheingauer Str. 6, um dann für ein weiteres halbes Jahr in das nächste Judenhaus in der Stiftstr. 14 verschoben zu werden. Am 28. August 1941 wurde er dann nach Aussage des ehemaligen Mitbewohners Willy Rink zwangsweise in das Judenhaus Hermannstr. 26 einquartiert.[20]
Obwohl auf seiner Gestapokarteikarte der Vermerk steht, dass Ludwig Landau „arbeitsunfähig“ und „schwerhörig“ sei, zudem unter „Verkalkung“ leide, wurde er in der Zeit, in der er in der Hermannstr. 26 wohnte, offensichtlich noch zur Zwangsarbeit verpflichtet. Allerdings ist nicht ganz klar, wie lange er bei der Idsteiner Lederwarenfirma ‚Landauer & Donner’, die sowohl jüdische wie auch osteuropäische Zwangsarbeiter umfänglich ausbeutete, beschäftigt war. Nach einer nach dem Krieg gefertigten Aufstellung sollen es nur die Tage vom 20. bis zum 22. Oktober 1941 gewesen sein, in einer ebenfalls aus der Nachkriegszeit stammenden Aufstellung erstreckte sich die Anstellung dagegen vom 20. Oktober bis zum 22. Dezember 1941. Man wird angesichts der übrigen Eintragungen, die alle über mehrer Wochen, wenn nicht sogar Monate gingen, davon ausgehen können, dass es sich in der ersten Liste um einen Tippfehler handelt, es sei denn, die auf der Gestapokarteikarte notierte Behinderung war so groß, dass er tatsächlich bald wieder entlassen wurde. Weiter Informationen, etwa zum Verdienst und zur Unterbringung, liegen leider nicht vor.[21]
Die Hermannstr. 26 war die letzte Station von Ludwig Landau durch die verschiedenen Wiesbadener Judenhäuser. Am 10. Juni 1942 wurde er zusammen mit sechs weiteren Bewohnern des Hauses vom Güterbahnhof Wiesbaden über Frankfurt in die Gaskammern von Sobibor gebracht und ermordet.
Veröffentlicht: 01. 05. 2020
Anmerkungen:
[1] Wilhelm Landau war am 4.11.1825, seine deutlich jüngere Frau 1843 geboren worden. Siehe die Eintragungen in den jeweiligen Sterberegistern von Berlin Wilmersdorf 193 / 1906 und 1275 /1920. Zu Wilhelm Landau sind darin auch dessen Eltern Salomon und Henriette Landau, geborene Peisker, angegeben.
[2] Heiratsregister Berlin Wilmersdorf 511 / 1899.
[3] Geburtsregister Breslau 506 /1875.
[4] Dies ergibt sich aus dem Eintrag der Kriegsrangliste für Ludwig Landau vom 12.2.1917, wo die Adresse der Eltern mit Berlin, Kurfürstendamm 145 angegeben ist.
[5] Quelle siehe Anm. 1.
[6] Das genaue Datum war der 13.7.1899, Heiratsregister Berlin Wilmersdorf 511 / 1899. Für den am 9.10.1857 geborenen Kaufmann Leon Leiser Nesselroth war es die zweite Ehe. Er hatte am 19.6.1888 in Kroloszyn in Polen bereits Chana / Anna Stazzewer geheiratet. Aus dieser Ehe war zumindest auch ein Kind hervorgegangen. Am 17.10.1889 war die Tochter Käthe geboren worden. Siehe Geburtsregister Berlin II 956 / 1889. Wann und wodurch die Ehe aufgelöst worden war, ist nicht bekannt.
[7] Geburtsregister Berlin Wilmersdorf 674 / 1900. Der Geburtseintrag enthält die Anmerkung, dass Anni Lotti am 13.4.2003 in Berlin Charlottenburg verstorben ist.
[8] Geburtsregister Berlin Wilmersdorf 1443 / 1903.
[9] Die Stolpersteininitiative Berlin hat das Schicksal von Margarete Nesselroth, geborene Landau, recherchiert und auch ein Stolperstein zu ihrem Gedenken in der Giesebrechtstr. 10 legen lassen. Aus dieser Straße wurden während der NS-Zeit insgesamt 116 Menschen deportiert, 84 von ihnen überlebten die Zeit nicht. Für jeden der Ermordeten aus dieser Straße ist inzwischen ein solcher Stolperstein verlegt worden. Allein vor dem Haus mit der Nummer 10, in dem Margarete Nesselroth wohnte, sind es 9, vor dem Nachbarhaus Nr. 12 sogar 18. Es gehört zu den Kuriositäten, dass in diesem Haus auch der Leiter des Reichsicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner und der deutsch-polnische Historiker Joseph Wulf wohnte, der als Überlebender der Lager ganz wesentlich zur Aufarbeitung dieser Zeit beigetragen hat. In der 68er Zeit hatte die Kommune II in dieser Straße ihr Domizil. Siehe zum besonderen Charakter dieser Straße und ihrer Bewohner https://www.wikiwand.com/de/Giesebrechtstra%C3%9Fe. (Zugriff: 25.4.2020).
[10] HHStAW 519/3 3317 (3).
[11] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 812 / 1939. Zum Schicksal der Familien Sender und Stern siehe ausführlich den Artikel ‚Klara Stern und ihre Geschwister’ im Kapitel zum Judenhaus Dotzheimer Str. 15.
[12] Allerdings ist Ludwig Landau auf der Gestapokarteikarte als Witwer bezeichnet. Dieser Eintrag wurde bereits bei Anlage der Karte vorgenommen. Dies muss, so ist den weiteren handschriftlichen Einträgen zu entnehmen, vor dem Tod seiner zweiten Frau Rosa geschehen sein. Demnach ist die erste Ehe vermutlich durch den Tod von Rosa Finstermeier aufgelöst worden.
[13] Willi Rink, der als Kind Bewohner des Judenhauses Hermannstr. 26 war, konnte sich später kaum mehr an Ludwig Landau erinnern. Er teilte mir auf Anfrage Folgendes mit: „Ich weiss eben nur, dass Ludwig Landau ein Verwandter meiner jüdischen Verwandten Lothar, Zilla, Martha und Walter Löwenberg war, den ich Mitte der Dreißiger Jahre als Inhaber einer Pferdemetzgerei in der Hermannstraße einige Male getroffen habe. Da der Laden nicht reüssierte, wurde er schnell wieder geschlossen, und von da an habe ich nichts mehr von Ludwig Landau gehört.“ Rink, Das Judenhaus, S. 77. Möglicherweise liegt hier aber auch eine Verwechslung vor, denn es gibt in den Adressbüchern keine Hinweise auf eine solche Metzgerei. Laut Jüdischem Adressbuch betrieb allerdings einen Arthur Landau in der Friedrichstr. 40 eine Metzgerei, eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen den beiden ist aber sehr unwahrscheinlich, da letzterer aus Kloppenheim stammte.
[14] HHStAW 519/3 3317 (3).
[15] Es existiert sowohl für Rosa Sender als auch für Ludwig Landau jeweils eine Gestapokarteikarte. Auf jeder ist dieser Umzug mit dem gleichen Datum vermerkt.
[16] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 270 / 1940.
[17] HHStAW 519/3 3317 (1).
[18] Sein Untermieter war seit dem 17. September 1940 der 36jährige Ernst Rosenthal, der zuvor in der Herrngartenstr. 17 gewohnt hatte und vermutlich ebenfalls dort zwangsweise einquartiert worden war. Nach etwa einem Vierteljahr zog dieser in die Geisbergstr. 16. Die entsprechenden Eintragungen befinden sich auf dessen Gestapokarteikarte.
[19] HHStAW 519/3 3317 (4).
[20] Rink, Das Judenhaus, S. 77.
[21] Dass auch die Devisenakte keine Dokumente dazu enthält, könnte wiederum auf eine sehr kurze Beschäftigung dort hinweisen. Leider fehlt noch immer eine systematische Erarbeitung über die Zwangsarbeit in Idstein, zumal hiervon gleich zwei der dortigen Lederfabriken profitierten. Eine Schülergruppe der Idsteiner Pestalozzischule hatte im Schuljahr 1996 Kontakt mit einer ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiterin bei einer der beiden Idsteiner Lederfabriken. Sie war damals gerade einmal 16 Jahre alt war, als man sie zusammen mit vielen anderen Frauen und Männern in einem Zug nach Deutschland beförderte, ein Zug der vermutlich auf seiner Rückfahrt wieder mit Juden angefüllt wurde, um diese der Vernichtung zuzuführen. Von dem Transport wurden in Frankfurt 70 Zwangsarbeiter nach Idstein gebracht. Über die Arbeitsbedingungen in der Lederfabrik, der sie zugeteilt wurde, berichtete sie damals:
“Vom Bahnhof kamen wir zu einer Lederfabrik. Ich erinnere mich an einen kleinen Innenhof und einen Haufen stinkendes Leder. In der Kantine, die sich im Keller befand, wurde uns etwas zum Essen angeboten, eine Mischung von Gemüse und Spinat, ungeschälten Kartoffeln und Lauch. Keiner hat das essen können. Dafür wurden wir am nächsten Tag bestraft, wir bekamen gar kein Essen. Unser Lager, in dem wir wohnten, war nicht weit vom Wohnort von Frau S. entfernt. Dort gab es ein französisches Gefängnis. Wir schliefen auf den Pritschen, auf Papiermatratzen und Kissen, gefüllt mit Stroh. Jeder bekam ein Bett – und Kissenbezug mit einer Wolldecke. Am nächsten Tag wurden wir zu der Fabrik gefahren und an uns wurden die Arbeitsplätze verteilt. Ich wurde der Abteilung Spritzerei zugeordnet, in der man das Leder mit Chemikalien verarbeitete. Unser Abteilungsleiter hat uns Russen nie beleidigt oder geschlagen, aber wir hatten es trotzdem sehr schwer, ohne Schutzmasken zu arbeiten, und alle diese Gifte einzuatmen. Dazu standen wir den ganzen Tag in einem geschlossenen, unter künstlichem Licht beleuchteten Raum. Die Fenster wurden auf Grund des Leders nicht geöffnet. Falls man das Fenster öffnete, wurde man bestraft. Aus diesem Grund wurden einige Personen krank, erst dann wurde gehandelt, und wir bekamen unsere Schutzmasken, 6 Monate später nachdem wir in Idstein ankamen. (…) Ich kann nur sagen, dass wir für eine schwere Arbeit nach Deutschland gebracht wurden. Das konnte man an verschiedenen Beispielen, wie zum Beispiel die Anforderungen, die an uns gestellt wurden, sehen. Deutsche Männer, die bei uns in der Abteilung arbeiteten, mussten 5 Dutzend Lederstücke bearbeiten, wir Frauen dagegen 13 Dutzend. (…) Unter der Brücke in der Stadt, die das Schloss und die Hügel verbindet, gingen wir zur Arbeit und ins Lager zurück. Die Mitglieder der Hitlerjugend, die zu der Zeit im Schloss waren, haben uns immer bespuckt und beschimpft.“
Niedernhausen und Idstein – 1933-1945 – Spurensuche, Geschichte AG der Stufe 12 im Schuljahr 2000/01 der Pestalozzischule Idstein (Gymnasium), (unveröffentlicht). Die Schülerarbeit wurde mir freundlicherweise vom Stadtarchiv Idstein zur Verfügung gestellt. Zwar handelt es sich hier um den Bericht einer osteuropäischen Zwangsarbeiterin. Man wird aber vermuten können, dass die Arbeitsbedingungen der jüdischen Zwangsarbeiter eher noch schlechter gewesen sein müssen.
Wie dringend die Aufarbeitung dieses Teils der Idsteiner Geschichte ist, wird auch anhand eines Zeitzeugenberichts deutlich, über den der Wiesbadener Kurier 2016 berichtete. Beim ‚40. Zeitzeugenabend der Reservistengemeinschaft Idstein’ erinnerte sich der 1932 geborene Zeitzeuge ohne jegliche Distanzierung, eher mit Stolz und Bewunderung (zumindest ist das der Eindruck den der Artikel beim Lesen hinterlässt) an das Fahnenmeer mit dem Hakenkreuz, an braune Uniformen, an Gesänge und ‚Sieg-Heil’-Rufe, aber auch an die Zwangsarbeiter: „Schließlich kam das Kriegsende. In den Wirren der letzten Kriegstage 1945 machten ausländische Zwangsarbeiter die Gegend unsicher. ‚Zusammengezogen aus der ganzen Gegend haben die in der Idsteiner Bauschule gehaust. Eine Meute überfiel zweimal die außerhalb von Esch liegende Hirtese-Mühle.’“ Das war alles, was ihm zu den Zwangsarbeitern in Idstein in Erinnerung geblieben war. Wiesbadener Kurier vom 10.5.2016.