Edith Levy


Lanzstr. 6 heute
Das ehemalige Judenhaus Lanzstr. 6 heute
Eigene Aufnahme
Lage Lanzstr 6
Lage des ehemaligen Judenhauses Lanzstr. 6
Belegung des Jugendhauses Lanzstr. 6

 

 

 

 

 


Auf der Gestapokarteikarte von Edith Levy findet man als ersten Adresseneintrag die Lanzstr. 6, allerdings ohne Angabe eines Einzugsdatums. Auch der nächste Eintrag ist undatiert, sodass man nicht weiß, wann sie dort tatsächlich gewohnt hat. Obwohl die Kartei 1938 angelegt wurde,[1] also mindestens ein Jahr bevor es Planungen zur Einrichtung von Judenhäusern in Wiesbaden gab, ist es ist es durch andere Dokumente gesichert, dass auch sie zu den Judenhausbewohnern zu zählen ist. Allerdings ist nicht mehr feststellbar, wie lange sie sich tatsächlichen dort aufhielt.

Stammbaum Levy Bierstadt
Ausschnitt aus dem Stammbaum der Familie Levy aus Bierstadt
GDB

Überhaupt weiß man nur wenig über diese Frau, deren Leben in Wiesbaden bis zu ihrem Abtransport nach Sobibor weitgehend unscheinbar verlief. Das man so wenig über sie weiß, ist umso erstaunlicher, als sie aus einer der großen, alteingesessenen jüdischen Familien des früheren Wiesbadener Vororts Bierstadt stammte. Ihre Vorfahren lassen sich fünf Generationen bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückverfolgen.

David ha-Levi
Grabstein von David ha-Levi auf dem Alten Jüdischen Friedhof Schöne Aussicht in Wiesbaden
https://www.lagis-hessen.de/img/juf/s2/WiesbadenAlt-106_V.jpg

Der Ururgroßvater Joseph David, der den Familienname Levy annahm, war am 21. Januar 1775 schon in Bierstadt als Sohn von David ha- Levi und seiner Frau Schönchen geboren worden.[2] Joseph David hatte mit seiner 1799 im benachbarten Kloppenheim geehelichten Frau Ester Moses insgesamt neun Kinder, woraus sich logisch die große Zahl der Nachkommen des Urahns ergibt.[3] Sein zweitältester Sohn Jakob Joseph Levy, geboren am 5. Februar 1803, heiratete am 31. März 1844 die ebenfalls aus Kloppenheim stammende Hindle / Hannchen Moses. Sie war am 8. Januar 1807 geboren worden und hatte noch vor der Hochzeit den festen Familiennamen Kahn angenommen. In dieser Ehe kamen, soweit bekannt, nur drei, eigentlich sogar nur zwei Kinder zur Welt, was allein deshalb nicht verwunderlich ist, als die Gattin zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits 37 Jahre alt war. Ihr erster Sohn Moses war nämlich etwa einen Monat vor der offiziellen Hochzeit am 3. Februar 1844 geboren worden.[4] Die Hochzeit fand dann am 31. März in Bierstadt statt.[5] Am 4. Oktober 1846 folgten ihm noch der Bruder Abraham und am 26. September 1848 die Schwester Hannchen / Johanna.[6]

Familien Levy in Bierstadt
Wiesbadener Adressbuch 1890/91

Offenbar waren die Levys, wie auch die Juden sonst in den ländlichen Gemeinden, weitgehend im Handel aktiv. Im ersten Adressbuch von Bierstadt aus dem Jahr 1890/91 findet man Abraham als Handelsmann, David als Geflügelhändler, Moses I als Vieh- und Fruchthändler und Moses II, der Großvater von Edith Levy, als Manufakturwarenhändler. Während die ersten drei genannten jeweils Eigentümer ihrer Häuser waren, wohnte Moses II offenbar zur Miete in der Sandbachstr. 7. Ein großes Vermögen wird er also kaum besessen haben. Da es auch keine Steuerunterlagen aus diesen Jahren gibt, muss auch der Umfang seiner Unternehmungen im Dunklen bleiben.

Wann Moses Levy seine Ehe mit Jette Neumann, geboren in Spachbrücken im Kreis Dieburg einging, ist nicht bekannt. Sie erscheint nur als Mutter ihres gemeinsames Sohnes Simon in dessen Heiratsurkunde. Simon war am 8. Februar 1872 selbst auch im Geburtsort der Mutter, in Spachbrücken, geboren worden,[7] was die Vermutung begründet, das die Geburt vermutlich nicht ehelich war und der Sohn zunächst auch bei der Mutter aufwuchs. Wann die Familie dann in Bierstadt zusammenkam, ließ sich nicht mehr feststellen.

Simon blieb das einzige Kind in dieser Beziehung. Jette Levy verstarb am 9. September 1890 in Bierstadt.[8]

Moses II war nach dem Tod seiner ersten Frau um das Jahr 1896 in Bierstadt in die Honiggasse 12 gezogen und hatte die bisherige Wohnung in der Sandbachstr. 7 seinem Sohn Simon überlassen. Wer von beiden das Geschäft unter welcher Adresse weiterführte, lässt sich aus den Eintragungen der folgenden Adressbücher nicht sicher entnehmen. Zwar heißt es bei Moses II immer „Manufacturw.-Hdl.“, aber auch bei Simon findet man den Zusatz „Handelsmann“. Vermutlich lief das Geschäft weiter als gemeinsamer Familienbetrieb, in dem die wohl eher kargen Erträge nach dem jeweiligem Bedarf verteilt wurden.

Und der Bedarf von Simon stieg vermutlich an, nachdem er am 18. März 1895 in Heldenbergen, dem Geburts- und Wohnort seiner Braut, Lina Scheuer geheiratet hatte.[9] Sie war am 7. Juni 1870 als Tochter des Metzgers Seligmann Scheuer III und seiner Frau Mina, geborene Geier, in der Gemeinde im heutigen Main-Kinzig-Kreis zur Welt gekommen.

Die Ehe – so könnte man sagen – stand unter keinem guten Stern. Sieben Kinder wurden geboren, aber nur drei erreichten das Erwachsenenalter. Julius Jakob, der am 26. August 1895 schon 5 Monate nach der Hochzeit zur Welt kam, wurde nur knapp zwei Monate alt.[10] Mina, geboren am 27. Oktober 1896 verstarb nach acht Monaten am 22. Juni 1897.[11] Die beiden folgenden Töchter Jenny, geboren am 24. April 1898,[12] und Rosa, geboren am 7. April 1899,[13] gehören zu denjenigen, die nicht bereits im Kleinkindalter zu Tode kamen. Isidor, geboren am 28. Juli 1901 wurde nur etwa eine Woche alt [14] und Hilda, geboren 22. Dezember 1907, verstarb ebenfalls bevor sie das erste Lebensjahr erreichte.[15] Die letztgeborene Edith, die spätere Bewohnerin der Lanzstr. 6, kam am 8. August 1913 zur Welt.[16] Sie fiel mit 31 Jahren dem Rassenhass der Nazis zum Opfer.

Die Todesursachen für die relativ hohe Kindersterblichkeit in der Familie Levy zu Zeiten, in denen Hygienemängel kaum mehr diese Rolle gespielt haben können, sind selbstverständlich nicht bekannt. Was immer die Gründe waren, für die Familie und besonders die Eltern muss der wiederholte Verlust der Kinder unerträgliches Leid bedeutet haben.

 

Sandbachstr. 9 in Bierstadt
Eigene Aufnahme

Zur Jahrhundertwende wechselte Moses Levy II für sich und seine Familie noch einmal die Unterkunft in Bierstadt. Er zog in die Schwarzgasse 9, wo er die nächsten zehn Jahre blieb. Am 15. August 1905 ging der Witwer im Alter von 61 Jahren nach dem Tod von Jette Levy noch eine zweite Ehe ein. Die Braut Karoline Dorfzaun war am 8. Mai 1853 im unterfränkischen Rödelmaier bei Neustadt an der Saale geboren worden. Zum Zeitpunkt der Eheschließung wohnte sie in Frankfurt am Main, wo auch die standesamtliche Urkunde ausgefertigt worden war.[17] Nach dem Tod ihres Vaters, dem Kaufmann und Schneidermeister Abraham Dorfzaun, war auch Karolines Mutter Pauline Dorfzaun, geborene Goldschmidt, in die Mainmetropole gekommen. Karoline zog aber nach der Eheschließung zu ihrem Mann Moses nach Bierstadt. Die Ehe währte nur fünf Jahre, denn am 29. April 1910 verstarb Moses Levy II in seiner Heimatgemeinde im Alter von 66 Jahren.[18]

Die Witwe blieb zunächst weiter in der Schwarzgasse 10 wohnen. 1912 zeigten sich dann relativ plötzlich erste Symptome einer psychischen Erkrankung, die dazu führten, dass sie noch im gleichen Jahr in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg bei Kiedrich eingeliefert werden musste.[19] Ihr Schwager, der Metzger Julius Levy aus Bierstadt, übernahm die Vormundschaft für die erkrankte Frau, die, obwohl noch dort gemeldet, im Sommer 1912 zeitweise als Obdachlose in Wiesbaden umherirrte. Auch war sie inhaftiert worden, weil sie sich in teure Hotels einmietete, ohne die Rechnungen bezahlen zu können. Am 28. Januar 1915 verstarb sie nach einem etwa dreijährigen Aufenthalt auf dem Eichberg, ohne dass sich ihr Zustand noch einmal verbessert hätte.[20]

Auch Simon Levy, der Vater von Edith, war zu Beginn des neuen Jahrhunderts erneut umgezogen, bewohnte ab 1902/03 die Wiesbadener Str. 11 in Bierstadt und dann ab 1907/08 die dortige Wilhelmstr. 27. 1910 kam er wieder zurück in die Sandbachstr 9. In den folgenden Jahren wechseln die Adressen fast jährlich und man muss zumindest in Frage stellen, ob die Angaben in den Adressbüchern tatsächlich die Wohngeschichte der Familie richtig widerspiegeln. Auf die Sandbachstr. 9 folgt das dortige Haus mit der Nummer 2, dann für drei Jahre die Schulgasse 9. 1916 ist er dann wieder zurück in der Wilhelmstr. 27, die dann bis zu seinem Tod am 23. Mai 1922, verursacht durch einen Schlaganfall, die Adresse der Familie blieb. Auch danach blieb die Mutter mit ihren drei Töchtern, die alle den Beruf als Verkäuferin ausübten, dort wohnen. Wo diese eine Anstellung gefunden hatten, ließ sich nicht mehr ermitteln. Dass sie aber nicht nur zu Hause im eigenen Laden tätig waren, lässt sich zumindest für Jenny nachweisen, die durch die Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes für Angestellte versichert war.[21] Die Umsätze im eigenen Betrieb hätten wahrscheinlich auch kaum für den Lebensunterhalt von vier Personen ausgereicht. Zudem ist auch nicht klar, ob das Geschäft nach dem Ableben von Simon Levy überhaupt noch weitergeführt wurde.

Die Wiesbadener Str. 27, die heutige Patrickstraße, in der die Familie Levy so großes Leid erfahren musste
Eigene Aufnahme

Wie wenig Bierstadt und im Besonderen das Haus in der Wilhelmstr. 27 für die vier Frauen noch ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit war, kann man an dem erschütternden Schicksal von Rosa nachvollziehen. 1922 wurde bei ihr Krebs diagnostiziert, worauf sie eine Bestrahlung in den städtischen Kliniken erhielt, bei der es aber zu einem ärztlichen Kunstfehler gekommen sein muss. Sie war dadurch arbeitsunfähig geworden, was aber nicht das Mitleid der übrigen Hausbewohner und Nachbarn hervorrief, sondern die übelsten Anfeindungen. Ihr behandelnder Arzt berichtete später in einem Brief über das ihr damals angetane Leid:
“Unter dem Einfluss dieser Beschwerden, anscheinend sehr ungünstiger häuslicher Verhältnisse und den Sticheleien der lieben Nachbarn und Hausmitbewohner, denen wohl nicht in den Kopf wollte, dass ein anscheinend gesundes Mädchen nichts tat, sondern auch noch Invalidenrente bezog, traten bei der sehr geistesfrischen und unter der erzwungenen Untätigkeit selbst am meisten leidenden Patientin im Laufe des Sommers 1925 immer häufiger Depressionszustände, Weinkrämpfe, Schlaflosigkeit ect. auf. Gegen Herbst 1925 erlitt sie durch einen Hausbewohner eine Misshandlung, die zu einer Gerichtsverhandlung führte.
Bei dem Bericht, den mir Frl. Levy einige Tage nach der Verhandlung über diese gab, fielen mir die ersten Wahnideen auf. Sie fühlte sich von dem Richter nicht ernst genommen, als halb unzurechnungsfähig behandelt. Auch habe der Richter das von mir ausgestellte Attest über die Spuren der Misshandlung nicht ordentlich gelesen und wegwerfend behandelt. Auch die verhängte Strafe schien ihr zu gering. Das Ganze führte sie auf Intrigen des ihr nicht wohlgesinnten Bürgermeisters zurück, da der Angeklagte ein sehr einflussreicher Mann sei.
In der Folge erzählte mir Frl. Levy öfters, dass sie von dem Verurteilten und seiner Frau bedroht und beschimpft worden sei. Anscheinend ist auch im Anschluss an diesen Prozess eine Untersuchung wegen Meineids gegen die Mutter Frl. Levy’s eröffnet worden.“
[22]

Auch wenn möglicherweise eine genetische Disposition für die damals ausbrechende Schizophrenie konstatiert werden muss, so war sicher nicht nur subjektiv die bedrohlich empfundene Situation im näheren Umfeld ein Auslöser für die schwere Erkrankung. Ob bei diesen geschilderten Anfeindungen antisemitische Einstellungen eine Rolle spielten, ist heute nicht mehr nachvollziehbar, auszuschließen ist das aber sicher nicht. Dass die Gehässigkeiten sich nicht nur gegen Rose, sondern offenbar gegen die ganze Familie richteten, zeigt die Klage gegen die Mutter.
Am 11. Dezember 1925 war Rosa Levy zunächst in die geschlossene Abteilung des Städtischen Krankenhauses Wiesbaden eingeliefert worden, von wo sie dann auf Anraten des oben zitierten Arztes in ein Erholungsheim in Winkel im Rheingau gebracht wurde. Nach kurzeitiger Besserung ihres Zustandes durfte sie wieder besuchsweise nach Bierstadt. Mit dieser Konfrontation brachen die alten Ängste wieder auf und Rosa beging sogar einen Suizidversuch – „sie wollte ins Wasser gehen“ heißt es in der Krankenakte.

Das nahe Ende von Rosa Levy
HHStAW 430/1 8165 (28)

Am 25 Januar 1926 wurde sie nach Hadamar gebracht, wo sie die folgenden zweieinhalb Jahre blieb, ohne dass sich ihr Zustand verbesserte. Entkräftet und abgemagert kam sie am 14. August 1928 auf den Eichberg, von wo aus man der Mutter, die damals immer noch in der Wilhelmstraße wohnte, am 28. Dezember 1928 per „Drahtnachricht“ mitteilte, dass ihre „Tochter Rosa schwer erkrankt“ sei und Lebensgefahr bestehe.[23] Noch am selben Tag verstarb sie in der dortigen Heil- und Pflegeanstalt. Am Sylvester wurde sie auf dem dortigen Friedhof beigesetzt.[24]

Ob ihre Mutter, die in dem zitierten Brief an den Arzt von ihrer Tochter als „hilflos“ bezeichnet wurde, oder ihre Schwestern sie besuchten oder ihr auf andere Weise Beistand leisteten, ist nicht bekannt. Zumindest in der letzten Phase ihrer Krankheit war auch ihre Schwester Jenny nicht mehr in Wiesbaden. Sie hatte am 22. Mai 1928 den Mannheimer Kaufmann Martin Jacob geheiratet.[25]

Jenny Jacob
Martin Jacob

 

Das kinderlos gebliebene Paar konnte im September 1938 von Rotterdam aus mit dem Schiff „Statendam“ nach New York ausreisen.[26] Auf den Papieren ist als ihr letzter Wohnort in Deutschland Köln angegeben. Nicht klar ist, ob sie dort schon länger gemeldet waren oder ob es sich nur um eine Zwischenstation auf ihrem Weg nach Amerika handelte. In den Vereinigten Staaten stand ihnen in Chicago ein Cousin namens Bowmann als erster Kontakt zur Seite. Dort, in der Metropole an den Großen Seen, ließen sich Jenny und Martin Jacob dann auch auf Dauer nieder. Beide fanden bald eine Anstellung in einer Miederwarenfabrik, wo Martin als „Cutter“, Zuschneider, und seine Frau als Inspektorin auch in den folgenden Jahren ihren Arbeitsplatz hatten.[27]

Jenny und Martin Jacob in der Volkszählung 1940
https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/144511010:2442?tid=&pid=&queryId=d317e25c-ddc5-4aa7-a987-c4baab36af59&_phsrc=svo3378&_phstart=successSource

Im Februar 1942 wurde Martin Jacob für die amerikanische Armee registriert, ob er noch zum Kriegseinsatz kam, ist nicht bekannt.[28] 1944 erhielten sie dann die Einbürgerungsurkunde der Vereinigten Staaten.[29]

Das Grab von Jenny Jacob, geb. Levy, in Chicago
https://images.findagrave.com/photos/2017/291/184417760_1508445257.jpg

 

Als die Phase der schlimmsten Verfolgung in Deutschland begann, lebten somit nur noch die Mutter Lina und die jüngste Tochter Edith in Wiesbaden. Bis 1934 hatten beide noch in der Wilhelmstr. 27 ausgeharrt, erst danach waren sie noch einmal in Bierstadt in die Hofmannstr. 15 umgezogen, wo sie dann mindestens bis 1938 blieben. Mit dieser Anschrift sind sie auch im Jüdischen Adressbuch von 1935 eingetragen.

Die Villa in der Lanzstr. 4 war baugleich mit der im Krieg zerstörten Lanzstr. 6 Mit Dank an Herrn D. Schaller
Die Villa in der Lanzstr. 4 war baugleich mit der im Krieg zerstörten Lanzstr. 6
Mit Dank an Herrn D. Schaller

Auf ihrer Gestapokarteikarte ist für Lina Levy festgehalten, dass sie „arbeitsunfähig, leidend“ sei. Allerdings wurde dieser Eintrag nicht schon bei der Anlage der Karte, sondern später vorgenommen. Erstellt wurde die Karteikarte möglicherweise nach ihrem Umzug von Bierstadt in die Innenstadt. Als erste Adresse ist darauf leider ohne Datum die Taunusstr. 55 festgehalten. Weder ist auf der Karte von Edith diese Anschrift, noch die folgende ihrer Mutter in der Schiersteiner Str. 4 vermerkt, wo diese vom 17. Februar bis zum 29. Juni 1939 wohnte. Man muss daher davon auszugehen, dass Mutter und Tochter sich mit dem Wegzug aus Bierstadt zunächst trennten. Ihre Schwester Jenny gab im Entschädigungsverfahren an, dass Edith ihren früheren Beruf als Verkäuferin habe aufgeben und sich als Hausangestellte habe verdingen müssen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb auf ihrer Gestapokarteikarte die Lanzstr. 6 als erste Anschrift zu finden ist. Nicht mehr feststellbar ist, ob sie damals bei dem Hauseigentümern Mayer oder den 1938 gerade eingezogenen Mietern Jacobsohn eine Anstellung gefunden hatte.

edith levy
Vermögenserklärung von Edith Levy 1940
HHStAw 519/3 3441 (3)

Am 17. Februar 1939 zog Lina Levy in die Neugasse 3 und auch bei ihrer Tochter ist als nächste Wohnanschrift diese Adresse eingetragen, allerdings auch diesmal ohne Datum. Zwar werden beide dort zusammen gewohnt haben, aber mit Sicherheit sind sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten dort eingezogen. Als die Devisenstelle in Frankfurt am 16. April 1940 eine sogenannte „JS-Mappe“, eine Kontrollakte für jüdische Vermögenswerte, anlegt, wohnte Edith noch in der Lanzstr. 6.[30] Man hatte ihr damals die Verfügung über ihr Eigentum beschränkt und ihr vorläufig 300 RM monatlich zur freien Verfügung belassen. Die Auflage war mit der Abgabe einer Vermögenserklärung verknüpft, die sie am 26. des Monats bei der Behörde einreichte. Darin gab sie an, keinerlei eigenes Vermögen zu besitzen. „Ich habe 43 RM Monatslohn bei freier Station“, fügte sie bei der Frage nach dem monatlichen Einkommen hinzu.[31] Demnach wohnte sie zu diesem Zeitpunkt noch immer in der inzwischen zum Judenhaus gewordenen Villa. Von dem Lohn gab sie fast die Hälfte, nämlich 20 RM, an ihre Mutter ab. Angesichts dieser finanziellen Situation verzichtete die Devisenstelle auf die Einrichtung eines Sicherheitskontos, erlaubte, dass sie ihren Lohn in bar entgegennehmen dürfe und setzte den monatlichen Freibetrag auf 150 RM herab.[32]

Wann das Arbeitsverhältnis aufgelöst wurde und Edith Levy dann auch in die Neugasse zu ihrer Mutter zog, ist nirgendwo festgehalten. Aber auch hier – so ist der Zusatz „bei Golomb“ sicher zu verstehen – war der Einzug mit einer Tätigkeit als Haushaltshilfe verbunden. Eigentlich konnte sich der ehemalige Wäschevertreter und inzwischen verarmte, auf die Fürsorge angewiesene Leon Golomb eine Haushälterin kaum leisten. Aber vielleicht hatte man ein Arrangement getroffen, denn er war krank und zweifellos auf Hilfe angewiesen, zumal seine Frau im März 1938 verstorben war.[33] Die beiden Töchter waren zwischenzeitlich bis zur ihrer Ausreise nach England in München untergebracht worden, sodass in der Wohnung hinreichend Platz war. Vielleicht wurde die Mietzahlung mit einer entsprechenden Leistung im Haushalt verrechnet, sodass beiden Parteien geholfen war. Natürlich ist nicht ausgeschlossen, dass es sich auch um eines der üblichen Untermietverhältnisse handelte, wie sie nach den neuen Mietgesetzen für Juden und mit der Einrichtung der Judenhäuser immer häufiger zustande kamen.

In der Neugasse blieben Lina und Edith Levy die folgende ihnen noch in Wiesbaden verbleibende Zeit zusammen wohnen, bei Edith unterbrochen durch einen etwa vierwöchigen Aufenthalt im Judenhaus Adelheidstr. 94. Laut ihrer Gestapokarteikarte wohnte sie vom 31. Oktober 1940 bis zum 30. November dort bei dem Ehepaar Morgenthau, wo sie vermutlich für kurze Zeit ebenfalls als Hausanggestellte tätig war. Anschließend kam sie wieder zurück in die Neugasse, wo sie und ihre Mutter sich die Wohnung im zweiten Stock mit dem Hauptmieter Leon Golomb, dem Ehepaar Pewsner [34] und zuletzt noch mit Heinrich Sichel teilen mussten.[35]

Edith Levy
Edith Levy als Zwangsarbeiter bei Blendax
HHStAW 519/3 3441 (5)

Spätestens ab Mai 1941 war Edith Levy nicht mehr als Hausangestellte beschäftigt, sondern jetzt Zwangsarbeiterin für die Blendax-Werke in Mainz. In einem Schreiben der Firma an die Devisenstelle fragte diese an, ob sie die Löhne für drei – alle in Wiesbadener Judenhäuser lebende Frauen – in bar auszahlen dürfe, was dann auch genehmigt wurde.[36] Ein letztes Lebenszeichen von ihrer Schwester hatte Jenny Jacob noch im August 1941 erhalten. Der Umschlag des Briefes – leider ist dieser selbst in der Entschädigungsakte nicht enthalten – war von der Zensur geöffnet worden, bevor er über den Ozean geschickt wurde. Man fragt sich unweigerlich, was darin gestanden haben könnte, ein Hilferuf, ein paar wohl gewählte Worte zur  Beruhigung der Schwester oder eine nüchterne Situationsbeschreibung ?

Auch für ihre Mutter war im April 1940 eine „JS-Mappe“ angelegt worden und auch sie hatte eine Vermögenserklärung abzugeben. Genauso wie bei ihrer Tochter waren die Eintragungen zum Vermögen leer geblieben. Sie besaß nichts, war vielmehr, wie sie anmerkte „Wohlfahrtsempfängerin“ der jüdischen Kultusgemeinde.[37] Auch bei ihr wurde entsprechend auf die Errichtung eines Sicherungskontos verzichtet und der monatliche Freibetrag auf 150 RM festgesetzt.[38]

Über das letzte Jahr, das Lina und Edith Levy im Haus in der Neugasse verbrachten, liegen keine Informationen mehr vor. Als Jenny nach dem Krieg das Entschädigungsverfahren für ihre Schwester in Gang setzte, war sie davon ausgegangen, dass angesichts des Altersunterschieds ihre Schwester die Mutter überlebt haben musste. Dem war nicht so. Edith wurde bei der großen Deportation, die Wiesbaden am 10. Juni 1942 verließ, nach Lublin gebracht und dann, so haben Nachforschungen über diesen Transport ergeben, anschließend nach Sobibor gebracht, wo sie wahrscheinlich mit den anderen unmittelbar nach der Ankunft dort im Gas umgebracht wurde. Auch von den in Lublin ausgewählten arbeitsfähigen Männern, die zum Arbeitseinsatz nach Majdanek geschickt wurden, hat keiner überlebt. Durch Beschluss des Amtsgerichts Wiesbaden wurde der Tod von Edith Levy am 26. April 1962 auf den 8. Mai  1945, dem Tag des Kriegsendes, festgesetzt.[39]

Ihre Mutter gehörte zu den älteren Jüdinnen und Juden, die gemäß der Planung der Eichmann-Behörde am 1. September 1942 in das „Altersghetto“ Theresienstadt deportiert wurden. Vielleicht ist sie eine der älteren Frauen, die ein unbekannter Fotograph auf der Viehverladestation am Hauptbahnhof in Wiesbaden ins Visier genommen hatte.

Ältere Frauen an der Viehverladestation des Hauptbahnhofs am Morgen des 1. Septembers 1942
Foto eines unbekannten Fotografen
HHStAW 3008 2 16571

Sie überlebte die unmenschlichen Lebensbedingungen in dem angeblichen Vorzeigeghetto nicht einmal zwei Wochen. Man hatte sie dort in einem der Blocks auf dem Dachboden einquartiert. Am 13. September 1942 verstarb sie dort angeblich oder auch tatsächlich an einem Darmkatarrh, wie ein Dr. Silbermann auf der Todesfallanzeige bescheinigte.[40]

 

Veröffentlicht: 27. 02. 2024

 

 

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Anmerkungen:

[1] Streich, Auf der Suche nach den Namen, S. 50.

[2] Auf seinem Grabstein sind die folgenden Angaben zu finden:
Hier ruht
ein lauterer und aufrichtiger Mann, er wandelte
auf untadeligem Pfade von seiner Jugend bis zum Tage
seines Todes, um den Willen seines Schöpfers mit Leib und
Seele zu erfüllen. Stets suchte er
seine Frau und seine Kinder von seiner Hände Arbeit zu ernähren.
Dies ist Joseph, Sohn des David ha-Levi
aus Bierstadt. Er ging ein
in seine Welt am Mittwoch, den 13. Nisan,
und er wurde begraben am Donnerstag, den 14. desselben
[5]612 n.d.k.Z.
Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens.

„Levi, Joseph ha- (1852) – Wiesbaden, Alter Jüdischer Friedhof“, in: Jüdische Grabstätten https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/9085. (Stand: 1.7.2014).

[3] Im gegebenen Rahmen kann das Schicksal dieses gesamten Familienverbandes nicht aufgearbeitet und dargestellt werden. Die folgenden Darlegungen beschränken sich daher nur auf den Strang, der zur Ururenkelin Edith Levy führt. Die Familie von Abraham Levy, dem Großonkel von Edith Levy und Bruder von Moses Levy, ist im Kapitel über das Judenhaus in der Hallgarter Straße unter https://moebus-flick.de/die-judenhaeuser-wiesbadens/hallgarter-str-6/die-metzgerfamilie-von-arthur-levy-aus-bierstadt/. bearbeitet.

[4] Heiratsregister Frankfurt 609 / 1905.

[5] Gerhard Buck / Bernd Günther Mai / Dr. Wolfgang Fritzsche, Zivilstandsregister Bierstadt, (Ev. Pfarramt Bierstadt), 2/1844.

[6] Ebd. Abraham verstarb am 11.9.11918 in Bierstadt und hinterließ 7 Kinder. Sterberegister Bierstadt 43 / 1918. Hannchen blieb ledig und kinderlos. Sie verstarb am 1.5.1868 ebenfalls in Bierstadt. Ebd. 16/1868.

[7] Heiratsregister Heldenbergen 4 / 1895. Sie war die Tochter des damals noch in Spachbrücken lebenden Ehepaars Isak und Jendle / Hannchen Neumann, geborene Heil. Nach dem Tod ihres Mannes war die Mutter ebenfalls nach Bierstadt gezogen.,

[8] Sterberegister Bierstadt 29 / 1890.

[9] Heiratsregister Heldenbergen 4 / 1895.

[10] Geburtsregister Bierstadt 64 / 1895 und Sterberegister Bierstadt 38 / 1895.

[11] Geburtsregister Bierstadt 68 / 1896 und Sterberegister Bierstadt 25 / 1897.

[12] Geburtsregister Bierstadt 24 / 1898.

[13] Geburtsregister Bierstadt 38 / 1899.

[14] Geburtsregister Bierstadt 69 / 1901 und Sterberegister Bierstadt 24 / 1901.

[15] Geburtsregister Bierstadt 138 / 1907 und Sterberegister Bierstadt 33 / 1908.

[16] Geburtsregister Bierstadt 50 / 1913.

[17] Heiratsregister Frankfurt am Main 609 / 1905.

[18] Sterberegister Bierstadt 20 / 1910.

[19] Siehe dazu insgesamt die Krankenakte von  Karoline Levy HHStAW 430/1 5742.

[20] Sterberegister Erbach 15 /1915.

[21] HHStAW 430/1 8165 (14r).

[22] Ebd. (o.P.) Die Krankenakte enthält auch einen sehr berührenden Brief von Rosa an den Arzt, der einzigen Person, der sie vollstes Vertrauen schenkte. Er wurde noch im frühen Stadium ihrer Krankheit am 5.3.1926 von Hadamar aus geschrieben: „(…) Auf alle Fälle sehr verehrter Doktor wende ich mich an Sie mit der innigsten Bitte mir zu helfen, entschuldigen Sie mich, wenn ich Sie behelligen u. finden mich bitte nicht unbescheiden oder ich wolle Ihre große Güte ausnutzen, aber ich weiß mir keinen Ausweg um hier fort zu kommen. Sie kennen meine Verhältnisse u. wissen daß ich ni etwas unrechtes in meinem Leben getan habe. (…).Bitte kommen Sie doch u. besuchen Sie mich ich bin verzweifelt u. habe sonst keinen Menschen, der mir so nahe steht wie Sie u. ich bin überzeugt Sie schaffen für mich geplagtes Menschlein Rat!.“ Ebd. (Die Orthographie wurde nicht verändert).
Gerhard Valentin hat dem 1906 errichteten Haus in seinem Buch über die Privatstraße, dem Eckhaus Wilhelmstr. 27 ein eigenes Kapitel gewidmet. Es beherbergte von seiner Entstehung an bis in dieses Jahrtausend immer Metzgereien, seit 1912 die der Familie Hundhausen. Offenbar war dem Autor nicht bekannt, was sich in dem Haus in der dreißiger Jahren an zugetragen hatte, vermutlich war ihm auch nicht bekannt, dass es hier eine jüdische Familie gab, die ganz offenbar von ihren Mitbewohnern und Nachbarn auf übelste Weise schikaniert worden war. Andernfalls hätte das Resümee am Ende des Kapitels – „Insgesamt existierte die Metzgerei der Familie Hundhausen fast 100 Jahre lang an derselben Stelle, Ecke Privat- und Wiesbadener Straße, versorgte über vier Generationen hinweg die Menschen in Bierstadt mit Fleisch- und Wurstwaren in bester Qualität. Sie waren im ganzen Dorf angesehene und geachtete Metzgersleute“ – anders ausfallen müssen. Valentin, Bierstadt-Privatstraße, S.63 f.

[23] Ebd. (o.P.).

[24] Ebd. (o.P.).

[25] Die Datumsangabe entstammt dem späteren Einbürgerungsantrag des Paares in den USA. Siehe https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/3349236:61196?tid=&pid=&queryId=200a143c-733d-418d-9474-511d8f87d0fe&_phsrc=svo3342&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.2.2024). Darin ist auch das Geburtsdatum des Ehemanns mit dem 16.2.1902 angegeben.

[26] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/21041207:7488?tid=&pid=&queryId=ddab6399-3756-481d-b126-12395477da60&_phsrc=svo3343&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.2.2024).

[27] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/3349240:61196?tid=&pid=&queryId=7134ffb7-c9ac-48da-99c3-b62a8f52e1cb&_phsrc=svo3361&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.2.2024). Der Einbürgerungsantrag seiner Frau ist unter https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/3349236:61196?tid=&pid=&queryId=200a143c-733d-418d-9474-511d8f87d0fe&_phsrc=svo3342&_phstart=successSource (Zugriff: 20.2.2024) zu finden. Siehe zur Berufstätigkeit die Volkszählungen 1940 und 1950 https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/144511010:2442?tid=&pid=&queryId=d317e25c-ddc5-4aa7-a987-c4baab36af59&_phsrc=svo3378&_phstart=successSource und https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/221480201:62308. (Zugriff: 20.2.2024).

[28] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/40340563:2238?tid=&pid=&queryId=6a11ab31-8e9f-4005-a836-a4a02bf45f1e&_phsrc=svo3369&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.2.2024). Auch hier ist wieder als Kontakt eine Person namens Bowman genannt, allerdings eine Bessie Bowman. Irritierend ist, dass dahinter von anderer Hand „Mother“ eingetragen ist.

[29] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/205763:60724. (Zugriff: 20.2.2024).

[30] HHStAW 519/3 3441 (1).

[31] Ebd. (3)

[32] Ebd. (4).

[33] Siehe zu Leon Golomb das Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse https://www.am-spiegelgasse.de/offline/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Golomb-Leon.pdf. (Zugriff: 20.2.2024).

[34] Auch zum Ehepaar Pewsner hat das Aktive Museum Spiegelgasse ein Erinnerungsblatt erstellt, siehe https://www.am-spiegelgasse.de/offline/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Pewsner-Abraham.pdf. (Zugriff: 20.2.2024).

[35] Dass auch Heinrich Sichel dort zuletzt wohnte, ist auf seiner Gestapokarteikarte nicht mehr eingetragen, allerdings ist er mit dieser Adresse in der unbekannten Liste X1, die nach der Deportation vom 10.6.1942 entstand, aufgeführt. Auf seiner Karteikarte ist mit Datum 7.8.1942 als letzte Adresse die Rheingauer Str. 5 eingetragen. Wenn diese Angaben richtig sind, dann kann er nur noch kurze Zeit in der Neugasse einquartiert worden sein. Kurz vor der auch für ihn geplanten Deportation vom 1.9.1942 wählte er die Flucht in den Tod.

[36] HHStAW 519/3 3441 (5, 6).

[37] HHStAW 519/3 3447 (1, 3).

[38] Ebd. (4).

[39] HHStAW 469/33 5299 (10).

[40] https://ca.jewishmuseum.cz/media/zmarch/images/3/0/8/58427_ca_object_representations_media_30839_large.jpg. (Zugriff: 20.2.2024). Fälschlicherweise ist auf dem Dokument die richtige Heimatanschrift Neugasse 4 in Wiesbaden durch Frankfurt ersetzt worden.