In einer weiteren Familie, von der zuletzt ein Teil in der Blumenstr. 7 lebte, lagen Tragik und glückliche Fügung eng beieinander. Für diejenigen, die im Judenhaus wohnten, die Familie Hirschbrandt, gab es allerdings keine Rettung. Sie gehörte zu der ersten Gruppe Wiesbadener Juden, die am 23. Mai 1942 einen Zug am Bahnhof besteigen musste, der sie dann der systematischen Vernichtung zuführen sollte. Es waren nur die jeweiligen Geschwister des Ehepaars, denen es mit ihren Familien gelang, den Mördern zu entkommen.
Die kleine Familie Hirschbrandt bestand aus drei Personen, Otto Hirschbrandt, seiner Frau Ida und der damals 18jährigen Tochter Helga. Otto Hirschbrandt stammte aus dem rheinhessischen Erbes-Büdesheim, wo er als der ältere von zwei Söhnen des Ehepaars Heinrich und Helene / Lina Hirschbrandt geboren wurde.[1] Zwischen Otto und seinem mehr als zehn Jahre jüngeren Bruder Gustav, geboren am 23. April 1900, scheint eine recht enge Beziehung bestanden zu haben. Dieser war als Landwirt in Erbes-Büdesheim geblieben, wo er mit der Nichtjüdin Marie Margarete Mathilde Götter verheiratet war. Deren Vater Wilhelm Götter hatte auch in der Zeit zunehmender Verfolgung den Kontakt zu seinen jüdischen Verwandten in Wiesbaden weiterhin aufrecht erhalten.[2]
Die Ehe zwischen Otto Hirschbrandt und seiner Frau Ida Strauss wurde am 20. Oktober 1922 geschlossen.[3] Die älteste Tochter von Emil und Johanna Strauss, geb. Blum, kam aus der kleinen Taunusgemeinde Miehlen in der Nähe von Nastätten im Kreis St. Goarshausen.[4] In diesem kleinen regionalen Wirtschaftszentrum war die Großfamilie Strauss wohl schon seit längerer Zeit ansässig und – wie die meisten anderen dort lebenden Juden – im Handel tätig.[5] Die Eltern betrieben ein Geschäft für Vieh- Getreide und Futtermittel und muss damals zu einem nicht unbeträchtlichen Vermögen gekommen sein. Zwei Jahre nach Ida wurden am 4. Januar 1903 die Schwester Elly und am 10. August des folgenden Jahres als letztes Kind noch Elisabeth Frieda geboren.
Ob auch heute noch in diesen beiden Orten, Nastätten und Miehlen, alle Spuren des früher einmal sehr bedeutsamen jüdischen Lebens verwischt sind, wie Meier-Hussing in ihrem vor zwanzig Jahren publizierten Artikel über die dortige jüdische Kultur feststellte, konnte nicht untersucht werden, aber nach 1933 führten die verschiedensten Verfolgungsmaßnahmen dazu, dass nahezu alle jüdischen Bewohner in kürzester Zeit abwanderten. Steine wurden durch die geschlossenen Fenster und sogar Sprengkörper in Hausflure geworfen, Hunde wurden vergiftet und es wurden auch hier Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte initiiert. Von all dem waren auch die Eltern von Ida Hirschbrandt betroffen, die nach ihrer Eheschließung selbst dort nicht mehr lebte. Auch den Eltern hatte ein großer Stein das geschlossene Fenster ihres Schlafzimmers im ersten Stock zerschlagen und nur mit Glück blieben sie unverletzt. Der Boykott ihres Geschäfts zwang die Eltern schon 1934 zur Aufgabe. Der Versuch eines Neubeginns in Niederlahnstein scheiterte ebenfalls nach nur einem Jahr.[6]
Nur scheinbar und nur sehr kurzfristig war Ida durch ihre Ehe mit dem Otto Hirschbrandt ein gesellschaftlicher Aufstieg gelungen. Anders als sein Bruder hatte der am 31. März 1889 geborene Otto Hirschbrandt eine akademische Ausbildung erhalten und war nach seinem Studium zum Dr. jur. promoviert worden.[7] Seine Praxis als Anwalt eröffnete er vermutlich zunächst in Alzey, zumindest lebte das Paar dort, als ihre Tochter Helga am 11. Mai 1924 geborenen wurde.[8] Am 23. Juni 1927 übernahm Otto Hirschbrandt dann in Gau-Algesheim, einer Kleinstadt in der Nähe seines Geburtsortes, das dortige Notariat.[9] Die Stelle war seit längerem vakant, wurde nur nebenbei von einem Ingelheimer Notar mitbetrieben, einem SA- oder SS-Mann, der noch vor dem Machtantritt der Nazis die Amtsführung seines jüdischen Kollegen so weit als möglich hintertrieb. Ab 1933 war – so der damalige Bürovorsteher der Kanzlei – „für das Notariat keine gute Zeit gekommen. Die Bauern sehr viel (! sic) Hitleranhänger meideten das Notariat nicht aus sich heraus, sondern den Anderen gegenüber wollte man in Judengeschäften nicht gesehen sein. Das Notariat Gau-Algesheim ist aber ein Landnotariat und von Landwirten abhängig.“[10]
Ob tatsächlich nur die Angst vor „sozialer“ Kontrolle oder doch die vorhandenen eigenen antisemitischen Vorurteile den allmählichen Rückgang der Beurkundungen verursachte, lässt sich nicht sagen, aber der Rückgang um mindestens 10 Prozent noch vor 1933 spiegelt das damalige Klima deutlich wider.[11]
Mit Wirkung zum 1. August 1934 wurde Dr. Hirschbrandt aus seinem Amt entlassen, das Notariat quasi „arisiert“, indem es einem SA-Mann übertragen wurde.[12] Von nun an war die Familie faktisch ohne Arbeitseinkommen, allerdings bezog der entlassene Notar weiterhin eine jährliche Pension von etwa 3.600 RM brutto, von der aber Steuern und Abgaben in der Höhe von 700 RM abgezogen wurden, sodass der Familie daraus monatlich etwa 250 RM zu Verfügung standen. Hätte sie nicht auch noch auf Vermögenswerte und deren Erträge zurückgreifen können, dann wäre der finanzielle und soziale Absturz noch gravierender gewesen.[13] Bereits 1934, als Otto Hirschbrandt noch über ein Jahreseinkommen von etwa 8.500 RM verfügte, wechselte er, möglicherweise schon aus finanziellen Gründen und weil er die Büroräume nicht mehr benötigte, erstmals die Wohnung, zunächst noch innerhalb der Stadt Gau-Algesheim.[14]
Am 12. Dezember 1935 zog die Familie dann nach Wiesbaden, vermutlich in dem irrigen Glauben, in der als weltoffen geltenden Kurstadt den alltäglichen Anfeindungen entgehen zu können. Mit Hirschbrandts kam auch die seit mehreren Jahren angestellte, katholische Hausgehilfin Frau Maria Metzoll nach Wiesbaden, um auch dort den Haushalt zu führen. Die neu angemietete Wohnung lag im zweiten Stock des Hauses Rheinstr. 98, einem der typischen viergeschossigen repräsentativen Stadthäuser innerhalb der Ringbebauung. [15] Hier verbrachten Hirschbrandts die folgenden knapp fünf Jahre vor ihrem nächsten Umzug, dem in das Judenhaus Blumenstr. 7.
Helga, die nach ihrer Volksschulzeit in Alzey zunächst Schülerin an der Höheren Töchterschule in Bingen gewesen war,[16] wechselte in Wiesbaden auf das Lyzeum am Schlossplatz, wo sie die gleiche Klasse wie ihre jüdischen Mitschülerinnen Charlotte Guthmann und Gerti Rosenau besuchte. Obwohl die Schulleitung unter Dr. Heineck versuchte, der Ausgrenzung der jüdischen Mädchen möglichst entgegenzuwirken, kam es immer wieder zu schikanösen Behandlungen durch die Lehrkräfte, von denen Charlotte Guthmann, verheiratete Opfermann, in einem späteren Interview eindringlich berichtete.[17] Platzierungen in der letzten Reihe gehörten für die Mädchen zum Schulalltag, genauso wie ungerechte Noten und diffamierende Bemerkungen der Mitschülerinnen. Aber es gab, so berichtete sie, auch diskrete Formen der Solidarisierung und vereinzelt Akte der Unterstützung. Dennoch konnte Helga dieses Klima der Angst, Demütigung und Einschüchterung nicht länger ertragen. Als 1936 auf Geheiß der Nazis die jüdische Schule in der Mainzer Straße eröffnet wurde, wechselte sie dorthin. Wie lange sie diese Schule, die erst 1942 geschlossen wurde, besuchen konnte, ist nicht bekannt. Ihre Tante Elly Reutlinger gab später an, Helga habe in Köln in einem jüdischen Kinderheim eine Ausbildung als Kinderpflegerin begonnen.[18] Wann genau dies war und ob sie diese abschloss, ist ebenfalls nicht bekannt. Sie sei von Köln aus wieder zu „einer Art Arbeitsdienst“ zurück nach Wiesbaden beordert worden, so die Tante in ihrer Mitteilung an die Entschädigungsbehörde.[19] Eine akademische Ausbildung, für die Helga alle Fähigkeiten mitbrachte, die ihr von ihren Eltern mit Sicherheit auch unter normalen Verhältnissen ermöglicht worden wäre, kam für sie unter den gegebenen Umständen nicht mehr in Frage.[20]
Nicht nur der Ausschluss jüdischer Studierender aus den Hochschulen, der seit 1933 systematisch betrieben wurde und 1938 auch per Dekret generell durchgesetzt wurde, verhinderte ein solches Studium, inzwischen waren auch die finanziellen Mittel der Familie zusehends erschöpft.
Als Otto Hirschbrandt am 30 Juni 1938 die geforderte Vermögenserklärung nach Stand April 1938 abgab, meldete er einen Grundbesitz – zwei Äcker und das elterliche Haus in Erbes-Büdesheim – im Wert von 18.000 RM an, der ihm aber nur zur Hälfte gehöre. Auch diese Hälfte, so korrigierte er im Dezember im Hinblick auf die Berechnung der Judenvermögensabgabe seine vorherigen Angaben, stände als Ausgleich für sein Studium „vollständig im Besitz und Genuss“ seines Bruders.[21] Der nominelle Vermögensanteil wurde dennoch selbstverständlich in die Berechnung des Finanzamts einbezogen. Auch sei der Wert seines Depots nicht mehr rund 4.000, sondern nur noch 3.000 RM wert. Zudem hätten sich Forderungen, die ihm eigentlich noch aus seiner Notariatstätigkeit zustehen würden, „zwischenzeitlich als uneinbringlich herausgestellt“. Sein Auto sei von der Gestapo beschlagnahmt worden und sein Geschäftsanteil an der Gau-Algesheimer Volksbank sei erloschen.[22]
Insgesamt kamen die Finanzbehörden bei Otto Hirschbrandt auf ein Gesamtvermögen von 9.000 RM, somit auf eine Judenvermögensabgabe von insgesamt 1.800 RM.
Zwar liegen keine Devisenakten von Ida und Helga Strauss mehr vor, aber das Finanzamt Wiesbaden konnte später im Entschädigungsverfahren belegen, dass beide ebenfalls zu dieser „Sühneleistung“ mit jeweils sogar 2.000 RM herangezogen worden waren.[23] Von der Zahlung der fünften Rate blieben sie dann ein Jahr später wegen fehlender Vermögenswerte alle verschont.[24]
Angesichts des Raubes jüdischen Eigentums durch den Staat, beschlossen die Brüder Gustav und Otto Hirschbrandt offensichtlich die vorhandenen Werte nach Möglichkeit in Sicherheit zu bringen. So liegt eine Mitteilung des Finanzamts Alzey vor, nach der die beiden im April 1939 ein Grundstück im Wert von 1.600 RM an den nichtjüdischen Schwiegervater von Gustav Hirschbrandt veräußert hatten – dem Preis nach handelte es sich vermutlich um ein Ackergrundstück. Ein anderer Brief der Dresdner Bank vom 14. Juni 1940 an die Devisenstelle Darmstadt belegt den Verkauf einer weiteren Immobilie, wobei allerdings die konkreten Zusammenhänge nicht mehr zu klären sind. Im Juli fragte die Bank bei der Devisenstelle an, ob Otto Hirschbrandt von seinem gesicherten Konto 12.000 RM auf das Konto seiner Schwägerin Marie Hirschbrandt-Götter übertragen dürfe. Es handle sich um den ihr zustehenden Anteil am Erlös aus einer Grundstücksveräußerung. Vermutlich war es aber ein Grundstück, das Otto Hirschbrandt und seinem Bruder gehörte, dessen Wert aber durch diesen Transfer auf ein „arisches“ Konto in Sicherheit gebracht werden sollte. Da in dem Brief explizit von der Schwägerin gesprochen wird, muss man davon ausgehen, dass die Ehe von Gustav Hirschbrandt und Marie Götter zu dieser Zeit noch bestand. In Erbes-Büdesheim hält sich bis heute das Gerücht, dass die Ehe der beiden damals „zwangsgeschieden“ worden sein soll – ein rechtlicher Vorgang, den es in dieser Form allerdings nicht gab. Was es gegeben haben wird, war ein so erheblicher Druck auch auf diese Mischehe, dass die Eheleute irgendwann doch getrennte Wege gingen.[25] Es ist allerdings nicht bekannt, wann genau das geschah und auch nicht, ob es zu einer formalen Scheidungen gekommen war.[26] Unklar ist auch der exakte Zeitpunkt, zu dem Gustav Hirschbrandt Deutschland verließ und nach Bolivien ins Exil ging. Vermutlich fand die Ausreise aber Anfang des Jahres 1941 statt, denn am 4. März 1941 trat die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ an Otto Hirschbrandt heran und forderte ihn auf, 94 RM zu überweisen. Es handelte sich dabei um die fällige Auswanderungsabgabe, für die Otto Hirschbrandt als Bürge für seinen Bruder einstand.[27] Augenscheinlich hatte Gustav angesichts der wachsenden Bedrohungen die ungewisse Existenz im Exil dem noch unsicheren Leben in einer Mischehe hier vorgezogen.[28]
Zu diesem Zeitpunkt hatten auch die beiden jüngeren Schwestern von Ida Hirschbrand, Elly und Elisabeth, Deutschland verlassen, vermutlich auch die Eltern. Beide Schwestern waren inzwischen verheiratet.
Elly hatte 1929 die Ehe mit dem Kaufmann Gustav Reutlinger geschlossen, der in Kirchheim unter Teck seit 1920 einen Kurzwarenladen betrieb.[29] Das Geschäft, in dem auch seine beiden Brüder Sally und Willy mitarbeiteten, Letzterer war sogar Teilhaber, ging so gut, dass man 1932 in ein neues Haus mit großer Ladenfläche zog und jetzt auch Weiß- und Wollwaren anbot. Elly arbeitete neben den zumindest zeitweise bis zu sieben Verkäuferinnen selbst in dem Geschäft mit. Am 23. Juli 1930 wurde ihre Tochter Renate geboren, die tagsüber von einer nichtjüdischen Kinderfrau betreut wurde. Der Verlust dieser Bezugsperson durch die Bestimmungen der Nürnberger Gesetze 1935 bedeutete für die kleine Renate eine erste, aber sehr prägende Erfahrung mit dem NS-Staat. Dass diese Frau später ihrem ersten eigenen Kind auch den Namen Renate gab, zeugt von der engen wechselseitigen Bindung zwischen den beiden, aber sicher auch von der guten Beziehung zur Familie Reutlinger insgesamt. Der nächste Verlust war der der Freundinnen, nachdem sie aus der Schule ausgeschlossen wurde.[30] Die Eltern litten seit 1933 unter den Boykottaktionen der Nazis, die am Boykotttag im April 1933 mit Gewehren bewaffnet vor dem Laden patrouillierten und jeden potentiellen Käufer vom Betreten des Geschäfts abhielten.[31]
Die zuvor zumindest gut gestellte Familie geriet zusehends in Not. Es begann die Suche nach einem Verwandten, der die nötigen Sicherheiten für eine Einreise in die USA würde bereitstellen können. Die Großmutter hatte in ihrer Bibel alle Namen von Familienmitgliedern, die jemals aus Deutschland ausgewandert waren, notiert und vermutlich auch mit bekannten Adressen vermerkt. So fand sich in den USA ein entfernter Cousin, Henry Katz, der bereit war, Reutlingers zu helfen. Durch Zufall gelangten sie an allerdings nur ein Ticket für die Überfahrt nach Kuba. Und damit standen auch sie vor der schwierigen, aber doch so häufig gestellten Frage: Trennen und vielleicht später gemeinsam überleben oder aber mit allem Risiko zusammenbleiben und abwarten. Es war wohl Elly, die darauf drängte, dass Gustav zunächst alleine ausreisen solle, um dann von Kuba aus auch sie und ihre Tochter Renate aus Deutschland herauszuholen.
Mit dieser Trennung begann die schier unglaubliche Geschichte einer Flucht, die verbunden war mit der bekannten Irrfahrt des Schiffes „St. Louis“, die wie keine andere für das unglaubliche Versagen der Nationen und die Ignoranz der damaligen Politiker in der Flüchtlingspolitik steht.
Nachdem Haus und Geschäft in Kirchheim zu einem Schleuderpreis verkauft waren, trat Gustav Reutlinger etwa April / Mai 1939 die Reise an und erreichte Kuba ohne Probleme.[32] Auch für seine Frau und Renate hatte er noch zwei Karten für eine Passage gekauft, die am 1. Juni 1939 stattfinden sollte. Er war übrigens gezwungen, eine Hin- und Rückreise zu buchen, obwohl er nicht vorhatte, in nächster Zeit wieder in dieses Land zurückzukehren. Zwei Wochen früher, so hatte Renates Mutter erfahren, sollte jedoch noch ein anderes Schiff nach Kuba auslaufen und deshalb hatte sie, um Deutschland so schnell wie möglich verlassen zu können, auch dafür noch Karten gekauft. Es waren die Tickets für die „St. Lous“. Trotz aller kommenden Widrigkeiten war dies die richtige Entscheidung gewesen, denn die ursprünglich gebuchte Überfahrt fand nicht mehr statt.
Für die kleine achtjährige Renate war die Fahrt mit dem Luxusdampfer mit Ballsaal und Schwimmbad vermutlich ein großes Abenteuer, zumal sie ja das Wiedersehen mit ihrem Vater zum Ziel hatte. An Bord waren 938 jüdische Flüchtlinge, darunter auch viele Kinder.[33] Als das Schiff Kuba nach etwa vier Wochen erreichte, wurden die Flüchtlinge auf Befehl der kubanischen Regierung mit Waffengewalt daran gehindert, das Land zu betreten. Die Einreisegenehmigungen seien inzwischen durch eine Änderung der Bestimmungen ungültig geworden, wurde gesagt. Nelly und Renate konnten ihren Mann bzw. Vater, der in einem kleinen Paddelboot an den Dampfer herangerudert war, vom Schiff aus sehen, aber sie durften nicht zu ihm. Alle Versuche des Kapitäns Schröder, die Anlandung der Flüchtlinge doch noch zu genehmigen, scheiterten. Auch die USA unter Roosevelt waren nicht einmal bereit, die 200 Kinder aufzunehmen. Um Zeit zu gewinnen kreuzte der Kapitän so lange vor der amerikanischen Küste, bis Vertreter jüdischer Organisationen es erreichten, dass die europäischen Staaten Belgien, Holland, Frankreich und England sich bereit erklärten, jeweils gewisse Kontingente aufzunehmen und sie in Lager unterzubringen. Aber nur England war ein sicherer Ort. Nelly Reutlinger und Renate kamen mit 181 anderen Flüchtlingen aber nach Holland in ein bewachtes und umzäuntes Camp in Rotterdam West, wo sie unter schlimmsten Umständen hausen mussten.
Ihrem Vater war inzwischen am 1. September 1939 von Kuba aus die Einreise in die USA genehmigt worden. Hier konnte er jetzt die notwendigen Papiere für die Einreise seiner Angehörigen beschaffen. Eine Briefmarkensammlung, die Renate von ihrem Lieblingsonkel Willi, dem Bruder ihres Vaters, vor seiner Flucht zur Erinnerung an ihn geschenkt worden war, diente zur Bestechung des Lagerkommandanten, der ihnen die Möglichkeit zum Grenzübertritt nach Belgien verschaffte. Am 29 Oktober 1939 erreichten sie von Antwerpen aus mit dem Schiff „Veendam“ die USA. Viele der zurückgebliebenen ehemaligen Passagiere der „St. Louis“ – schon einmal so dicht am rettenden Ufer – wurden nach dem deutschen Überfall im Frühsommer 1940 und der Besetzung von Holland, Belgien oder Frankreich aus doch noch in die Todeslager des Ostens gebracht. Diejenigen, die mit Elly und Renate Reutlinger in West-Rotterdam eingesessen hatten, wurden in das Lager Westerbork und dann später nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Es war ein Zufall, dass an Bord der „Veedam“ auch die Schwester von Ida und Elly, nämlich Elisabeth / Liesel mit ihrer Familie war. Liesel Strauss hatte 1933 den Viehhändler Walter Ermann geheiratet. Das Paar, dem um 1937 noch der Sohn Kurt geboren worden war, scheint zunächst in Miehlen geblieben zu sein. 1935 baten er und andere jüdische Viehhändler dort um ein polizeiliches Führungszeugnis, das sie benötigten, um beim Finanzamt eine Befreiung von der Pflicht, ein Umsatzsteuerheft führen zu müssen, zu erreichen. Umsätze wurden offensichtlich nicht mehr gemacht. Diese Bitte wurde mit der Begründung abgelehnt, dass ihnen „in Anbetracht ihrer nichtarischen Abstammung und letztlich auch wegen der politischen Unzuverlässigkeit“ ein solches Zeugnis nicht ausgestellt werden könne.[34] Auch sie hatten, wie die Eltern Strauss, Miehlen 1938 verlassen und waren „zur Vorbereitung der Auswanderung“ nach Niederlahnstein gezogen.[35] Walter Ermann war im Zusammenhang mit der Reichspogromnacht verhaftet und nach Buchenwald überführt worden. Seine Frau versuchte über in Luxemburg lebende Verwandte ihres Mannes die gemeinsame Ausreise aus Deutschland zu organisieren. Tatsächlich wurde er aus Buchenwald entlassen und an der Luxemburgischen Grenze von seiner Frau und seinem Sohn, die inzwischen dorthin ausgereist waren, erwartet. Dann wurde er wider alle Absprachen am Grenzübertritt gehindert. Erst Monate später fanden sie unter nicht bekannten Umständen wieder zusammen und trafen so auf dem Schiff unerwartet auch auf Elly und deren Tochter Renate. Walter hatte ein Jahr im Konzentrationslager überlebt, aber er hat das Trauma diese Zeit nie überwunden. Von seinem Lagerplatz in der dortigen Baracke hatte er den Blick auf einen großen Baum, von den Wärtern als der „Judenbaum“ bezeichnet. Jeden Morgen habe dort ein anderer Jude gehangen, eines Morgens sein bester Freund. Die Flucht in den Tod schien ihm die einzige Möglichkeit zu sein, sich von diesen Bildern zu befreien. Schon bald nach der Ankunft in Amerika beging er in Philadelphia, der neuen Heimat der Reutlingers und Ermanns, Selbstmord. Walter Ermann ist im Gedenkbuch der NS-Opfer nicht verzeichnet, aber unzweifelhaft gehört auch er auf diese Liste.
Die Eltern der drei Schwestern, Emil und Johanna Strauss, gelangten auch noch in die USA, auf welchem Weg ist bisher nicht bekannt.[36] Aber 1941 muss Emil Strauss in Kuba gewesen sein, weil er zu diesem Zeitpunkt von dort aus Kontakt zur Familie Hirschbrandt in Wiesbaden aufgenommen hatte. Danach müssen die Eltern dann bald zu den Kindern in Philadelphia gezogen sein. Hier lebte die Familie ohne finanzielle Unterstützung von jüdischen Organisationen oder vom US-amerikanischen Staat unter schwierigsten Verhältnissen. Emil Strauss verstarb schon am 19. März 1942, seine Frau Johanna überlebte ihn um fünfzehn Jahre.[37]
Zurückgeblieben waren Otto, Ida und Helga Strauss, obwohl auch sie ursprünglich vorhatten, Deutschland zu verlassen. Auf der Rückseite der Gestapo-Karteikarte von Otto Hirschbrandt ist in der Rubrik „Auswanderung beabsichtig“ der Vermerk „ja“ eingetragen.[38]
Wieso dies in all der noch verbliebenen Zeit nicht gelang, wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Vielleicht waren es am Ende die fehlenden finanziellen Mittel und ab 1940 die immer restriktiveren Bestimmungen. In jedem Fall versuchte die Familie wenigsten die Tochter Helga noch zu retten. Zwar erreichten die Briefe mit den Hilferufen von Helgas Eltern noch die Verwandten in Amerika, aber es war inzwischen zu spät. Großvater Emil Strauss hatte im November 1941 von Havanna aus noch versucht, seine Enkelin dorthin zu holen. Für 500 Dollar erstand er für sie ein Besuchervisum für Kuba, beschaffte für 75 Dollar schon die Schiffskarte und auch die Kosten für einen Anwalt in Havanna wurden irgendwie aufgebracht. Es war diesmal nicht die kubanische Regierung, die Helgas Flucht verhinderte, sondern der NS-Staat, der die Ausreise nicht mehr gestattete. [39] Die Eltern erhielten einen Brief, in dem ihnen mitgeteilt wurde, Helga sei in Diensten des deutschen Staats mit dem Aufwickeln von Verbänden beim Roten Kreuz beschäftigt und könne deshalb nicht ausreisen.
Auch Ida Strauss war zuletzt noch zur Zwangsarbeiten verpflichtet worden. Am 23. Juni 1941 bat Otto Strauss die Devisenstelle darum, man möge doch erlauben, dass die 7 – 8 RM, die Ida bei der Wiesbadener Firma Söhngen & Co. verdiene, ihr bar ausgezahlt werden dürfen. Von dem Lohn würden Unkosten für Essen, Fahrt und die Arbeitskleidung abgehen, sodass die Aufwendungen und die Arbeitsbelastung auch für Bank durch die Überweisung auf sein gesichertes Konto in keinem Verhältnis zu dem Lohn ständen. Der Antrag wurde tatsächlich bewilligt. [40]
Der Brief trug als Absender bereits die Adresse des Judenhauses Blumenstr. 7. Die Familie war gezwungen worden seit dem 4. Oktober 1940 in dieser, ihrer letzten Unterkunft in Wiesbaden zu wohnen. Eineinhalb Jahre später mussten sie den am 23 Mai 1942 bereitgestellten Zug nach Frankfurt besteigen. Sie gehörten zu den 27 Juden aus Wiesbaden, die dazu ausersehen waren, den Transport aufzufüllen, der die insgesamt 930 Insassen, zumeist Frankfurter Juden, in das Transitghetto Izbica in Polen bringen sollte. Von dort kam ein halbes Jahr später von Otto Hirschbrandt noch eine etwas mysteriöse Nachricht. Gerichtet war sie an Frau Hallheimer in der Rheinstr. 98, wo Hirschbrandts vor ihrem Umzug in das Judenhaus gelebt hatten. Am Abend vor der Deportation hatten sie noch ein letztes Mal miteinander gesprochen. Frau Hallheimer gab im späteren Verfahren zur Todeserklärung an, dass sich Otto und Ida Hirschbrandt auf einer vorgedruckten Karte bei ihr für die Übersendung eines Pakets bedankten. Ein solches Päckchen habe sie aber nie nach Izbica geschickt. Des weiteren habe auf der Karte gestanden, dass es ihnen gut gehe, allerdings nicht handgeschrieben, sondern vorgedruckt. Die Karte sei aber mit Otto und Idel unterzeichnet gewesen. Als Absender sei „Izbica / Wierpz Bez. Lublin, Kreis Krasmystaw, Generalgouvernement, Block VII 1220“ angegeben gewesen. Ob sie zu diesem Zeitpunkt noch lebten, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, denn es ist ungewiss, wann die Unterschrift unter die Formkarte gesetzt worden war. Vermutlich wurden alle drei bald nach ihrer Ankunft in Sobibor ermordet.[41] Elly Reutlinger hat zur Erinnerung an ihre Schwester, ihren Schwager und ihre Nichte in Yad Vashem jeweils eine ‚Page of Testimony’ hinterlegt.[42]
Am 27. November 1948 wurde durch das Amtsgericht Wiesbaden der Todestag von Otto, Ida und Helga Hirschbrandt amtlich auf den 31. Dezember 1942 festgelegt.[43]
Anmerkungen:
[1] Der Grabstein mit den genauen Lebensdaten des Paares ist als Foto zu finden auf http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%2059/ErbesBuedesheim%20Friedhof%20105.jpg. (Zugriff: 5.03.2018). Heinrich Hirschbrandt lebte von 1859 bis 1929, seine Frau, eine geborene Strauss, von 1862 bis 1931.
[2] Zu den verwandtschaftlichen Beziehungen siehe HHStAW 469/33 2301.
[3] Ida war zuvor bereits verlobt gewesen, allerdings wurde der Mann von ihrem Vater nicht akzeptiert, vermutlich weil er nach seiner Meinung nicht den angemessenen sozialen Status hatte. Ihm – ebenfalls Jude – gelang rechtzeitig die Flucht. Er überlebte die Shoa im Exil in Kalifornien.
[4] HHStAW 469/33 2301 (8).
[5] Siehe zum jüdischen Leben in diesen beiden Orten allgemein und besonders zu den im Folgenden kurz beschriebenen Ereignissen Meier-Hussing, Brigitte, Jüdisches Leben in Nastätten und Miehlen in der Zeit von 1933 bis 1945, in Beiträge zur Jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz, Heft 13, 1/1997, S. 19-23. Siehe hier auch die Ausführungen zu den gewaltsamen Ausschreitungen im Rahmen der Reichspogromnacht, an der auch SA-Leute aus Wiesbaden beteiligt gewesen sein sollen.
[6] Hussing, Jüdisches Leben, S. 20 f. Welches judenfeindliche Klima in Miehlen geherrscht haben muss, kann man daran erkennen, dass bereits bei der Märzwahl 1933 663 von 862 Stimmberechtigten für die NSDAP votiert hatten.
[7] Als materiellen Ausgleich für dieses Privileg erhielt Gustav ein Grundstück in Erbes-Büdesheim, siehe HHStAW 685 299 Vermögensteuer (9).
[8] HHStAW 468/33 2301 (13).
[9] HHStAW 518 16421 (70).
[10] Ebd. (85).
[11] Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erreichte die NSDAP in Gau-Algesheim knapp 47 %. Unmittelbar danach begann die NSDAP in der Gemeinde mit den üblichen Aktionen zur Gleichschaltung der Vereine und des gesamten Alltagslebens. Im Juni wurden die ersten, damals politisch Oppositionellen in das nahe KZ Osthofen verbracht. Siehe zu den Ereignissen in Gau-Algesheim die chronologische Darstellung in
https://www.brilmayer-gesellschaft.de/stationen-der-stadtgeschichte/diktatur-und-krieg-1933-1945.html. (Zugriff 5.9.2020)
[12] HHStAW 685 299 a (8) und HHStAW 518 16421 (85).
[13] In den Einkommensteuererklärungen von 1935 bis 1940 bezifferte Otto Hirschbrandt sein jeweiliges Einkommen mit 5.800 RM, 4.800 RM, 4.200 RM, 3.650 RM und zuletzt 3.500 RM, siehe HHStAW 685 299 passim.
[14] Dass seine neue Adresse in Gau-Algesheim aber nun in der „Werner-Best-Straße“ lag, ist geradezu tragisch, denn Werner Best, einer der höchsten SS- und Gestapo-Führer, war derjenige, der ganz wesentlich am Aufbau des RSHA, der organisatorischen Zentrale der rassischen und politischen Verfolgung, beteiligt war. Im Mai 1933 hatte man auch in Gau-Algesheim wichtige Straßen und Plätze nach Nazi-Größen umbenannt.
[15] HHStAW 685 299 (29).
[16] HHStAW 518 16419 (125).
[17] Stationen, a.a.O. S. 1 ff.
[18] Auf ihrer Gestapo-Karteikarte ist ihr Umzug nach Köln mit dem 1.3.1940 datiert. Darüber, in welchem Heim die Ausbildung stattfand, machte Elly Reutlinger keine Angaben. Es handelte sich aber vermutlich um die 1890 gegründete und 1900 in die Lützowstr. 35-37 umgezogene jüdische Einrichtung, in der es ein Säuglingsheim, einen Kinderhort, eine Koch- und eine Haushaltungsschule gab. In der Weimarer Zeit kamen die dort untergekommenen Kinder oft aus zerrütteten und hilfsbedürftigen Familien, viele waren auch unehelich geboren worden. 1931 sollen 131 Kinder betreut worden sein. An das Schicksal der Kinder, die 1942 im Heim lebten und samt Betreuern und Pflegekräften mit dem Zug DA 219 in den Osten verbracht wurden, dort im Wald von Maly Trostenez auf bestialischste Weise ermordet wurden, erinnerte 2006 die Fernsehdokumentation „Die vergessenen Kinder von Köln“ von Jürgen Naumann. Siehe dazu auch http://www.taz.de/!358434/. (Zugriff: 28.02.2018).
[19] HHStAW 518 16419 (104).
[20] Die Frage, ob Helga unter normalen Bedingungen ein Studium hätte absolvieren und ein entsprechendes Gehalt hätte beziehen können, spielte in dem späteren Entschädigungsverfahren eine wesentliche Rolle. Ausgehend von ihrem Beruf der Kinderpflegerin, war man behördlicherseits zunächst nicht bereit, eine höhere Entschädigungszahlung an die Erben zu leisten, siehe HHStAW 518 16419 passim. Der jugendliche Berufswunsch von Helga soll eigentlich Tänzerin gewesen sein. Vor 1933, als sie noch nicht einmal 10 Jahre alt war, soll sie schon öffentliche Auftritte gehabt haben. Siehe dazu das Bild auf http://www.nj.gov/education/holocaust/curriculum/Renate.pdf. (o.P.),(Zugriff: 5.03.2018). wo sie als Tänzerin mit drei anderen Mädchen zu sehen ist.
[21] HHStAW 685 209 Vermögensteuerakte (4).
[22] Ebd. (6). Der Ausschluss aller Juden aus Genossenschaften, damit auch aus den Volksbanken, erfolgte per Verordnung am 12.11.1938, unmittelbar nach dem Novemberpogrom. Seinen Führerschein hatte er laut Eintrag auf der Gestapo-Karteikarte am 23.12.1938 abgegeben, siehe 469/33 2301 (4).
[23] HHStAW 518 16420 (41).
[24] HHStAW 685 209 Vermögensteuerakte (14).
[25] Laut Aussage von Karl-Heinrich Sailler von der Geschichtswerkstatt Erbes-Büdesheim hatte eine SA-Truppe schon in der Reichspogromnacht den Hof von Gustav Hirschbrandt überfallen und den Geldschrank aufgebrochen und geplündert.
[26] In einem Schreiben von Wilhelm Götter an die Entschädigungsbehörde vom 5.8.1948 bezeichnet er Gustav Hirschbrandt noch immer als seinen Schwiegersohn.
[27] HHStAW 519/3 340 (18).Der Betrag durfte selbstverständlich von dem gesicherten Konto abgebucht werden.
[28] Nach dem Krieg soll Gustav Hirschbrandt nach Auskunft von Herrn Sailler noch zweimal in Deutschland gewesen sein, gestorben ist er aber am 4.6.1949 in Sucre in Bolivien, siehe HHStAW 518 16419 (24). Anlass für einen solchen Besuch könnte der Tod seiner – vielleicht – ehemaligen Frau gewesen sein. Sie war bereits vor August 1948 verstorben, wie einem Brief ihres Vaters zu entnehmen ist, siehe HHStAW 469/33 2301 (5).
[29] Die wesentlichen Informationen zur außergewöhnlichen Geschichte der Familie Reutlinger verdanke ich Renate Reutlinger, verheiratete Breslow, die heute in Elkins Park in der Nähe von Philadelphia lebt. Sie hat 3 Kinder und 9 Enkel. Nicht nur hat sie in vielen Schulen der USA über die Schrecken der NS-Zeit und ihre abenteuerliche Flucht erzählt, sie hat diese Geschichte mit der Lehrerin Lise Marlowe auch in einem kleinen Buch veröffentlicht: Breslow, Renate; Marlow, Lise, The jewish Child who escaped Nazi Germany. 2009. Dieses Buch wurde wiederum in ihrem Heimatort Kirchheim unter Teck von Schülern ins Deutsche übertragen und dient dort im Unterricht als authentisches Zeugnis über die NS-Zeit. Durch den persönlichen Kontakt mit Renate Breslow konnte ich nicht nur zusätzliche Informationen erhalten, sie gab mir auch die Erlaubnis, ihre privaten Fotografien in diesem Artikel zu verwenden. Auch dafür bin ich ihr sehr dankbar. Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass im Internet unter dem Titel LETTERS Briefe kursieren, die angeblich von Renate Breslow geschrieben wurden. Es handelt sich dabei aber um eine schulische Verarbeitung der Lektüre des Buches „Renate“. Amerikanische SchülerInnen hatten wohl von der Lehrerin die Aufgabe erhalten, sich in Renate Breslow hineinzuversetzen und die Eindrücke und Erinnerungen als Briefe an bestimmte, im Buch auch genannte Adressaten neu zu formulieren. Die Briefe sind somit keine authentischen Zeugnisse und stammen auch nicht von Renate Breslow.
Siehe zur Familie Reutlinger auch Kneher, Brigitte, Chronik der jüdischen Bürger Kirchheims seit 1896, in: Stadt Kirchheim unter Teck, Schriftenreihe des Stadtarchivs Bd. 3, passim, bes. S. 75, 100-102. Jakob Reutlinger war 1906 von Haigerloch nach Kirchheim gekommen. Die Familie, die im Viehhandel tätig war, galt als strenggläubig, während die anderen Juden der Stadt eher dem liberalen Judentum zugeneigt waren, ebd. S.76 f. Die Eltern von Gustav, geboren am 10.10.1897, waren Jakob (1866 – 1928) und Ida Reutlinger, geb. Schmal (1860 – 1936).
[30] Elly Reutlinger erwähnt in einem Brief diese für Renate so schwierige Situation: „Meine Tochter Renate hat an ihre Schultage keine guten Erinnerungen. Sie ist nach einem Schuljahr ganz plötzlich entlassen worden, als einzige in der Klasse, und stand allein, sieben Jahre alt, ohne Freunde und Kameraden da.“ Zit. nach Kneher, Jüdische Bürger Kirchheims, S. 82, Hervorhebung im Original.
[31] Ebd. 88 ff.
[32] Auch die beiden Brüder von Gustav Reutlinger gelang die Fluch, Sally Siegbert gelangte 1939 über Shanghai 1945 nach Palästina, Willy 1941 in die USA. Dort ließ er sich in Philadelphia nieder, wo zu dieser Zeit auch schon Gustav mit seiner Familie angekommen war, siehe Kneher ,jüdische Bürger Kirchheims, S. 102.
[33] Es gibt neben den hier veröffentlichten eine Reihe weiterer Bilder, die Elly Reutlinger mit ihrer Tochter an Bord der St. Louis zeigen und vermutlich vom Bordfotografen – so etwas gab es auf der St. Louis ! – gemacht worden sind, siehe http://www.nj.gov/education/holocaust/curriculum/Renate.pdf. (Zugriff: 5.03.2018).
[34] Meier-Hussing, Jüdisches Leben, S. 21.
[35] HHStAW 518 16419 (103).
[36] Auch Renate Breslow konnte sich nicht mehr erinnern, wann genau, unter welchen Umständen und auf welchem Weg sie in die USA gelangt waren. Sie meint aber, dass auch sie wohl über Kuba gekommen seien.
[37] Sie starb am 16.6.1957, HHStAW 518 16420 (24).
[38] HHStAW 469/33 2301 (4).
[39] HHStAW 518 16419 (61, 68).
[40] HHStAW 519/3 340 (20). Die Firma W. Söhngen & Co. war eine Fabrik für Verbandstoffe, die in der Waldstraße in Wiesbaden angesiedelt war, siehe Brüchert, Zwangsarbeit in Wiesbaden, S. 18. Mit großer Wahrscheinlichkeit war auch die Tochter Helga bei Söhngen tätig.
[41] Gewissheit dafür gibt es nicht, Sobibor ist aber als Sterbeort der drei im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz eingetragen.
[42] https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM/21022131_277_1077/249.jpg, https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM/21022131_277_1077/248.jpg,
https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM/21022131_277_1077/250.jpg. (Zugriff: 5.03.2018). Der Familie Hirschbrand hat auch das Aktive Museum Soiegelgasse 2012 ein Erinnerungsblatt gewidmet, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Hirschbrandt-Otto.pdf.
[43] HHStAW 469/33 2301 (22).