Johanna / Hanna Wolf


Juden Wiesbaden, Judenhäuser
Das ehemalige Judenhaus in der Hallgarter Str. 6
Eigene Aufnahme
Judenverfolgung Wiesbaden
Lage des ehemaligen Judenhauses Hallgarter Str. 6
Judenhaus Wiesbadaen, Judenäuser Wiesbaden, Juden Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Hallgarter Str. 6
Das Judenhaus Hallgarter Str. 6 früher
Mit Genehmigung M. Sauber

 

 

 

 

 


Wenig bekannt ist über die am 12. Juli 1923 geborene Hanna Wolf, obwohl sie ein Nachkomme verschiedener, sehr alter jüdischer Familien Wiesbadens war. Ihr Vater war Arnold Jehuda Wolf, eines von vier Kindern des Kaufmanns Benjamin Jehuda Wolf und seiner aus Mannheim stammenden Frau Mathilde, geborene Carlebach. Die Familie Wolf war spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Wiesbaden wohnhaft. Die Mutter von Hanna Wolf, Alice Ida Heymann, hätte sogar eine noch längere Traditionslinie in Wiesbaden vorweisen können. Ihr Urgroßvater Isaac Heyum war 1783 in dem damals noch selbstständigen Wiesbaden Dotzheim geboren worden, wo er am 15. Februar 1842 auch verstarb. Auf seinem Grabstein, auf dem er als ein „ehrewerter Mann“ mit „gutem Ruf“ gewürdigt wurde, erfährt man sogar noch den Name seines Vaters Chajim / Heyum Isaac.[1] Mütterlicherseits konnte Hanna somit auf insgesamt fünf Generationen Wiesbadener Juden zurückblicken.

Johanna Wolf, Arnold Jehuda Wolf, Alice Ida Heymann Wolf, Judenhaus, Hallgarter Str. 6, Wiesbaden
Stammbaum von Johanna Wolf
(GDB-PLS)

Obwohl sie das einzige Kind war, das in der Ehe von Arnold Jehuda und Alice Wolf geboren worden war, ist es den Nazis nicht gelungen, diesen Zweig der Familie Heymann durch den Mord an ihr gänzlich auszulöschen. Bevor Alice Heymann die Ehe mit Arnold Jehuda einging, war sie mit dessen jüngerem, am 4. Juni 1875 geborenen Bruder, dem Kaufmann Hugo Naphtalie verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe war ebenfalls ein Kind hervorgegangen, nämlich der am 29. August 1904 geborene Sohn Benno. Dessen Vater war am 7. August 1921 im Wiesbadener Krankenhaus im Alter von nur 46 Jahren verstorben.[2] Seinem Sohn gelang zwar die Flucht, aber über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.[3].

Etwa ein Jahr nach dem Tod ihres ersten Mannes, heiratete Alice am 5. November 1922 dann dessen älteren Bruder Arnold, der in der Heiratsurkunde ebenfalls als Kaufmann bezeichnet wird und inzwischen auch in die Nikolasstr. 26, der heutigen Bahnhofstraße, eingezogen war.[4] Der tragische Tod von Alice Wolf bei der Geburt der gemeinsamen Tochter Johanna, genannt Hanna, beendete diese Ehe nach nicht einmal einem Jahr. Hanna wurde am 12. Juli 1923 geboren, ihre Mutter verstarb am folgenden Tag. Zwar wird der Stiefsohn bzw. –bruder Benno, der inzwischen fast erwachsen war, kaum mehr im Haus seines Onkels und Stiefvaters gewohnt haben,[5] aber auch so war die Aufgabe und Verantwortung immens, die dem Witwer mit seinem neugeborenen Kind zugefallen war, zumal die Ereignisse sich im größten Krisenjahr der frühen Weimarer Republik, dem Jahr 1923, zutrugen. Mit welchen Problemen der Vater und mit welchen schrecklichen Erfahrungen von Geburt an Hanna konfrontiert war, lässt sich nur vage erahnen. Möglicherweise, um der Tochter eine Mutter zu bieten, heiratete Arnold Wolf am 7. Juni 1927 Jetty Swiadostsch. Sie war am 9. Juli 1904 in Frankfurt geboren worden.[6] Aber schon am 14. Dezember des folgenden Jahres trennte sich das Paar wieder. Die Ehe wurde geschieden. Vermutlich war danach die inzwischen verwitwete Mutter von Arnold Juhuda eingezogen und hatte sich des Kindes angenommen. Zumindest ist sie später im Jüdischen Adressbuch von 1935 als Mitbewohnerin von Sohn und Enkelin im Haus in der Großen Burgstr. 6 verzeichnet.

Aber auch weiterhin scheint sich das Leben von Johanna einzig im Kontinuum des Schreckens abgespielt zu haben. Die Entbehrungen während der Weltwirtschaftskrise waren inzwischen durch die Demütigungen und Beschränkungen abgelöst worden, die jüdische Jugendliche überall im neuen Nazi-Staat in Schule und Freizeit zu spüren bekamen. Aber auch in ihrem persönlichen Leben folgten weitere Schicksalsschläge. Am 23. Dezember 1935 starb ihre fast 90jährige Großmutter, die der jetzt Zwölfjährigen sicher wenigstens partiell die fehlende Mutter ersetzt hatte.[7]

Johanna Wolf, Judenhäuser Wiesbaden
Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg
Mit Genehmigung des Jüdischen Museums Frankfurt
Johanna Hanna Wolf, Jüdin Wiesbaden, Judenhaus
Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu Isenburg – Terrasse von Haus 1
Mit Genehmigung des Jüdischen Museums Frankfurt

Vermutlich konnte der Vater sich nicht hinreichend um seine Tochter kümmern, denn er sorgte dafür, dass sie in das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg aufgenommen wurde. Seit dem 30. Oktober 1936 lebte sie in dem Haus, das von der jüdischen Frauenrechtlerin und Sozialreformerin Bertha von Pappenheim gegründet worden war.[8] Diese hatte in der Mainmetropole, wo auch damals schon die sozialen Konflikte kumulierten, umfassende soziale Aktivitäten entfaltet, hatte in der Kinder- und Jugendwohlfahrtspflege gearbeitet, sich für die Verbesserung der Rechte von ledigen Müttern und unehelichen Kindern eingesetzt und sich auch für die Reform des Jugendstrafrechts engagiert. Ihre große Sorge galt denjenigen, die entweder durch mangelnde Bindungen oder aber durch soziale Verelendung besonderen Gefährdungen ausgesetzt waren, seien es Waisenkinder oder auch Frauen und Mädchen, die in der Gefahr standen, der Armutsprostitution anheim zu fallen.

Judenhaus Wiesbaden Hallgarter Str.6, Johanna Wolf
Bertha Pappenheim
Mit Genehmigung des Jüdischen Museums Frankfurt

Ihre Aktivitäten entfaltete sie innerhalb der gesamten bürgerlichen Stadtgesellschaft, aber ihr besonderes Augenmerk richtete sie auf die Frauen und Mädchen innerhalb der Jüdischen Gemeinde. Auf ihre Initiative ging daher auch die Gründung des Jüdischen Frauenbundes im Jahre 1904 zurück. Ab 1895 leitete sie das Mädchenwaisenhaus, das der Israelitische Frauenverein in Frankfurt eingerichtet hatte. „Als Krönung ihres Lebenswerks“ – so die Gestalter der Homepage über das Haus in Neu-Isenburg – betrachtete sie aber das 1907 errichtete Mädchenheim, in dem Johanna einen Platz fand. Hier wurden sozial gefährdete jüdische Mädchen – man sprach damals gern von ‚gefallenen Mädchen’ – aufgenommen und betreut. Das Haus mit seinen modernen Formen des Zusammenlebens sollte für die Mädchen ein Schutzraum sein, in dem ihnen zugleich durch Ausbildungsangebote, etwa zur Erzieherin oder Haushälterin, eine langfristige und stabile Lebensperspektive aufgezeigt werden sollte.[9]

Wenn Johanna im Alter von dreizehn Jahren hier aufgenommen wurde, dann muss man davon ausgehen, dass auch sie damals zum Kreis der Gefährdeten gehörte, was angesichts ihrer bisherigen Lebensgeschichte auch nicht verwunderlich ist. Noch während sie in dem Heim lebte, wurde sie vom nächsten Schicksalsschlag getroffen: Am 24. März 1937 starb auch ihr Vater.

Die Vormundschaft über die zur Vollwaise gewordenen wurde dem jüdischen Rechtsanwalt und damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Dr. Berthold Guthmann übertragen.[10] Ob er angesichts der vielfältigen Aufgaben, die ihm als jüdischem Konsulent aufgebürdet wurden, Zeit hatte, sich persönlich um das Kind zu kümmern, muss bezweifelt werden.[11] Sie blieb bis zum 28. April 1938 in dem Heim, lebte anschließend in Frankfurt in der Grünestr. 38.[12] Dort wohnte sie auch noch, als im Mai 1939 die Volkszählung in Deutschland durchgeführt wurde, aber noch im selben Jahr kam sie zurück in ihre Heimatstadt, wo sie laut ihrer Gestapo-Karteikarte in dem späteren Judenhaus Grillparzerstr. 9 ein Unterkommen fand. Am 2. Januar 1940, zu einer Zeit als die Judenhäuser in Wiesbaden eingerichtet wurden, zog sie dann in das Judenhaus in der Hallgarter Str. 6 um.

Trotz ihrer schwierigen Kindheit war Johanna Wolf nicht arm. Vermutlich beruhte ihr Vermögen, von dem sie zunächst leben konnte, auf Erbschaften, die ihr ihre Großmutter und ihr Vater hinterlassen hatten. Laut dem Formular zur Vermögenserklärung, das ihr die Devisenstelle Frankfurt im April 1940 zugesandt hatte und von ihrem Vormund Dr. Guthmann ausgefüllt worden war, besaß sie etwa 13.000 RM. Die Judenvermögensabgabe war zu diesem Zeitpunkt bereits entrichtet, eine möglicherweise fällige Reichsfluchtsteuer von etwa 1.500 RM hatte Dr. Guthmann bereits von ihrem nominalen Vermögen abgezogen.[13] Sollte sie damals tatsächlich noch Auswanderungspläne gehabt haben, so wären diese völlig unrealistisch gewesen. Es gab für sie keinen Weg mehr aus Deutschland heraus.

Ihr Jahreseinkommen bezifferte sie im laufenden Jahr auf etwa 900 RM, für das folgende auf 765 RM. Für den monatlichen Unterhalt benötigte sie als Alleinstehende 220 RM. Die vergleichsweise hohe Summe resultierte daher, dass sie – wie auf der Vermögenserklärung vermerkt – ihre Zimmer für 190 RM mit „Vollpension“ gemietet hatte.[14] Sie wohnte damals bei dem Ehepaar Haas in Untermiete.[15] Als gegen sie eine Sicherungsanordnung erlassen wurde, bat ihr Vormund um einen Freibetrag von 275 RM, der tatsächlich auch gewährt wurde.[16]

Nicht klar ist, ob in dem genannten Vermögen bereits die ihr zustehende Summe aus einem Hausverkauf enthalten war, der im März 1940 von der Devisenstelle genehmigt wurde.[17] Es handelte sich um einen Grundbesitz im Außenbereich von Wiesbaden im Wert von 21.000 RM. Der Betrag wurde an acht verschiedene Empfänger in unterschiedlicher Höhe verteilt. Neben Johanna Wolf, die 1.552 RM, also weniger als ein Zehntel, davon erhalten sollte, waren für ihren Stiefbruder Benno 2.639 RM veranschlagt. Es handelte sich dabei um Hypothekenansprüche, die die beiden Geschwister geerbt hatten. Natürlich flossen die jeweiligen Beträge auf gesperrte Konten. Neben den Anteilen der eigentlichen Verkäufer, ein Josef Simon und die Firma Heinrich Werner o.H.G., beanspruchten die Finanzbehörden mit 5.111 RM sogar den größten Teil des Gesamtbetrages.[18]

Ihr relativ großes Vermögen schütze Johanna nicht davor, zur Zwangsarbeit herangezogen zu werden. Am 22. Oktober 1941 bat Dr. Guthmann die Devisenstelle, man möge seinem „Mündel“ doch erlauben, ihren wöchentlichen Lohn von 18,- bis 20,- RM in bar entgegennehmen zu dürfen.[19] Ab dem ersten Oktober 1941 war sie als Hilfsarbeiterin bei der Deutschen Reichsbahn im Wiesbadener Betriebswagenwerk angestellt. Ihr bisheriger Freibetrag wurde zum 1. November auf 200 RM herabgesetzt. Das war die letzte Nachricht, die Johanna Wolf von der Behörde erhielt. Im Dezember 1942 hatte diese noch einmal einen Brief an sie geschickt, der aber ungeöffnet wieder zurückgesandt wurde, woraufhin die Devisenstelle eine erneute Aufforderung an sie schickte, binnen drei Tagen der Behörde Veränderungen in ihren Verhältnissen, etwa eine neue Adresse, zu melden. Als sie auch darauf keine Antwort erhielt, wandte man sich an das Wiesbadener Einwohnermeldeamt. Von diesem erfuhr die Behörde am 12. Dezember 1942, dass die Gesuchte am 10. Juni 1942, also vor einem halben Jahr, „nach dem Osten evakuiert“ worden war.[20] Es verwundert immer wieder, wie lückenhaft die Kommunikation zwischen den verschiedenen Kontrollinstanzen in diesem totalitären Staates tatsächlich noch war.

Am 10. Juni 1942 waren etwa 380 Wiesbadener Juden zunächst nach Frankfurt gebracht worden, wo sie die Nacht in der Großmarkthalle verbringen mussten. Am nächsten Tag fuhr der Transport, der jetzt etwa 1250 Menschen aus verschiedenen hessischen Orten und Städten umfasste, nach Lublin. Nur 188 arbeitsfähige Männer wurden an der dortigen Rampe zum Arbeitseinsatz beim Bau des KZ Majdanek selektiert. Die anderen verloren vermutlich schon wenige Tage später ihr Leben in den Gaskammern von Sobibor.[21] Der genaue Todestag von Johanna Wolf ist nicht bekannt.

 

In Sobibor wurde auch ihre Cousine Sophie Karlebach ermordet. Sie war am 10. Dezember 1909 in Wiesbaden geboren worden. Ihre Mutter Martha Mina Wolf war die Schwester ihres Vaters. Die am 2. Januar 1878 geborene Martha hatte am 15. November 1901 in ihrer Heimatstadt Wiesbaden den 31jährigen Kaufmann Ludwig Karlebach aus Obergrombach in Baden geheiratet. Als Sophie geboren wurde, wohnten die Karlebachs auch in der Große Burgstr. 6, dem Haus, in dem auch Johanna ihre Kindheit verbracht hatte. Die Mutter von Sophie war bereits am 5. Februar 1934 verstorben, ihr Vater wurde in Theresienstadt ermordet.[22]

 

Überlebt hat ein weiterer Cousin von Johanna. Felix Otto Dührenheimer war der Sohn von Johanna, der ältesten Schwester von Arnold Wolf, die mit dem promovierten Juristen Albert Dührenheimer aus Neidenstadt bei Heidelberg verheiratet war.[23] Felix selbst war am 25. Oktober 1898 in Mannheim geboren worden,[24] hatte aber nach seiner Schul- und Studienzeit am 15. Mai 1924 in Wiesbaden in der Wilhelmstr. 34 eine Arztpraxis eröffnet.[25] Zu den Patienten seiner Fachpraxis für Neurologie und Psychiatrie zählten neben Wiesbadenern auch viele, die als Kurgäste aus dem In- und Ausland in der Stadt weilten, darunter Briten, Amerikaner, sogar Südafrikaner. Neben der großen Zahl von Privatpatienten, versorgte er als approbierter Arzt auch viele Kassenpatienten in seiner gut gehenden Praxis. Gegenüber der Entschädigungsbehörde konnte er glaubhaft darlegen, dass er vor der NS-Zeit ein jährliches Einkommen von etwa 15-20.000 RM gehabt habe.[26] Sein Vermögen war bis zum Beginn der Verfolgung auf mehr als 50.000 RM angewachsen.

Dass ein Psychiater mit dem Anspruch seelisch Kranken helfen zu wollen, zumal dann, wenn er Jude war, in das Visier der Nazis geraten musste, erklärt sich von selbst, favorisierten deren Anhänger doch gänzlich andere Methoden, um dieses „Problem“ aus der Welt zu schaffen. Ohnehin sahen die Nazis in diesem medizinischen Fachbereich weitgehend eine „verjudete Wissenschaft“, auch dann, wenn die Ärzte bei ihrem therapeutischen Bemühen nicht den Lehren Freuds folgten. So verwundert es auch nicht, dass an dem für den 1. April 1933 ausgerufenen Boykottag auch die Praxis von Dr. Dührenheimer von SA-Leuten umstellt und die Patienten tyrannisiert und verängstigt wurden. Nicht nur die Approbation wurde ihm an diesem Tag entzogen, auch die Privatpraxis ging seit dem kontinuierlich zurück,[27] sodass Dr. Dührenheimer sich entschloss, Deutschland zu verlassen.

Als die Behörden davon erfuhren, wurde die Devisenstelle in Frankfurt am 28. Juli 1938 von der Zollfahndungsstelle Mainz beauftragt, seine Konten zu sichern.[28] Es bestehe der Verdacht, „dass er plötzlich unangemeldet auswandert und Vermögenswerte entgegen den Devisenbestimmungen ins Ausland verbringt“, – so die allgemeine Formulierung, mit der alle etwas wohlhabenderen Juden damals unter Generalverdacht gestellt wurden.

Dr. Felix Dührenheimer hatte vor seiner Ausreise alle Auflagen penibel erfüllt, um unter Zurücklassung seiner Vermögenswerte wenigstens das nackte Leben retten zu können. Seine Vermögen im August 1938 wurde mit 51.000 RM veranschlagt, darin enthalten Wertpapiere wie auch das Betriebsvermögen der Praxis. Davon war zunächst die für das Jahr fällige Vermögensteuer in Höhe von 205 RM zu zahlen – eine Forderung, die zwar prinzipiell jeden traf, allerdings waren Juden durch Einschränkungen bei Freibeträgen und Abschreibungen gegenüber Nichtjuden diskriminiert.[29] 450 RM hatte er für in der letzten Zeit in Deutschland erworbene Güter als sogenannte Dego-Abgabe an die Deutsche Golddiskontbank abzutreten,[30] Diese Abgabe betraf Güter, die in der letzten Zeit in Deutschland gekauft worden waren und ins Ausland mitgenommen werden sollten. Sie waren, wie das gesamte Umzugsgut, zunächst dem Zoll zur Begutachtung vorzulegen. Weiterhin musste er die Reichsfluchtsteuer in Höhe von 13.737 RM zahlen[31] und, obwohl er nach eigenen Angaben zur Zeit der Pogromnacht nicht mehr in Deutschland lebte, wurde auch er zur „Sühneleistung“ mit insgesamt 8.475 RM herangezogen. Er hatte – so gab er im Entschädigungsverfahren an – Deutschland im August 1938 verlassen.[32] Im März 1939 wurden von einer Wiesbadenerin noch Edelmetalle bei der Städtischen Pfandleihe im Auftrag von Felix Dührenheimer abgegeben, für die die Frau etwa 50 RM erhielt. Er selbst befände sich – so eine Anmerkung auf der Quittung – „z.Zt. in Amerika“.[33]. Im Mai des gleichen Jahres wurden dann noch 270 RM zugunsten der Jüdischen Kultusgemeinde, d.h. faktisch der SS, von seinem Konto abgebucht. Es handelte sich hierbei um eine Pflichtabgabe, die jeder Jude angeblich zur Versorgung der Zurückgebliebenen, tatsächlich aber zur Finanzierung von deren Vernichtung zu leisten hatte. Das am Jahresbeginn 1943 verblieben Vermögen von 4.232 RM[34] eignete sich der Staat an, nachdem schon Ende März 1939 die Sicherungsanordnung aufgehoben worden war und das Konto ab dieser Zeit als „Auswandererguthaben“ geführt wurde.[35]

In den USA musste Dr. Felix Dührenheimer noch einmal seine Examina ablegen, um dort als Arzt arbeiten zu können. In New York ließ er sich nieder und eröffnete hier auch eine neue Praxis. Am 14. August 1941 ging er eine Ehe mit Elsa Henschke aus Danzig ein. [36] Möglicherweise war die geplante Heirat der konkrete Anlass dafür, dass er am 2. Januar 1940 seinen Nachname in Durham ändern ließ.[37] Diese Änderung markiert aber auch und wohl vor allem den nur zu verständlichen Bruch mit seiner alten Heimat, in der so viele seiner Familienmitglieder hingemordet worden waren. In der von ihm neu gegründeten Familie wurden zwei Kinder geboren, vielleicht nicht wissend, welche lange Tradition jüdischen Lebens in ihnen verkörpert war. Felix Otto Durham starb am 7. Februar 1977 in San Diego in Kalifornien.[38]

Stand: 20. 12. 2019

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.

[2] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 963 / 1921. Die Familie wohnte zu dieser Zeit in der Nikolasstr. 26.

[3] Im März 1940 genehmigt die Devisenstelle Frankfurt die Übertragung von Zinserträgen im Wert von 2.639,10 RM auf sein gesperrtes Auswandererguthaben bei der Deutschen Bank, Wiesbaden. Er selbst befand sich zu dieser Zeit in Shanghai, siehe HHStAW 519/3 5596 (2).

[4] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 762 / 1922.

[5] Benno wohnte laut Jüdischem Adressbuch 1935 im Grünweg 4, wo auch sein Cousin Felix, der Sohn von Albert und Johanna, geborene Wolf, damals angeblich lebte. Siehe dazu Anm. 25.

[6] Geburtsregister der Stadt Frankfurt 3914 / 1904.

[7] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1829 / 1935.

[8] Die folgenden Ausführungen beruhen weitgehend auf dem Aufsatz von Fogel, Heide, Das Heim ‚Isenburg’ der Bertha Pappenheim, veröffentlicht online unter http://www.imdialog.org/bp2017/02/fogel.pdf. (Zugriff: 2.5.2019) und auf den Inhalten der Gedenkseite für dieses Heim, siehe https://gedenkbuch.neu-isenburg.de/. (Zugriff: 2.5.2019). Hier ist auch weiterführende Literatur zum Haus und zur Gründerin zu finden. Sie selbst war kurz vor der Aufnahme von Johanna am 28.5.1936 verstorben.

[9] Ebd.

[10] HHStAW 519/3 5596 (4).

[11] Zum Schicksal von Berthold Guthmann und seiner Familie siehe oben im Kapitel zum Judenhaus in der Bahnhofstr. 25. Dessen etwa gleichaltrige Tochter Charlotte erwähnt Johanna in ihren Erinnerungen an keiner Stelle, was vermuten lässt, dass sie keinen engeren Kontakt hatten.

[12] In den Frankfurter Adressbüchern dieser Jahre ist sie nicht zu finden. Die Entlassung ist in einer Liste der Kriminalabteilung von Neu Isenburg eingetragen, in der neben dem Austrittsdatum aus dem Heim auch die politische Haltung der Entlassenen vermerkt ist. Bei Johanna, wie auch bei allen anderen Namen auf der Liste, ist bezüglich ihrer Einstellung zum NS-Staat „neutral“ vermerkt. Stadtarchiv Neu Isenburg 000-23.

[13] HHStAW 519/3 5996 (8).

[14] Ebd.

[15] Ebd. (4). Zur Familie Haas siehe oben.

[16] Ebd. (5, 6, 9).

[17] Ebd. (2).

[18] Ebd., auch (10). Neben den Genannten hatte auch ein Isidor Pappenheimer auf einer Hypothek beruhende Ansprüche. Pappenheimer war inzwischen nach Palästina ausgewandert. Ob er und möglicherweise auch die anderen Anspruchsberechtigten in einer verwandtschaftlichen Beziehung zur Familie Wolf standen, konnte nicht ermittelt werden.

[19] HHStAW 519/3 5996 (11). Der Antrag wurde positiv beschieden.

[20] Ebd. (14, 15).

[21] Siehe Gottwaldt / Schulle, Deportationen, S.  214 und Kingreen, Gewaltsam verschleppt, S. 172 ff.

[22] Siehe zu Sophie Karlebach und ihren Eltern oben

[23] Albert Dührenheimer war am 24.8.1856 als Sohn des Kaufmanns Feist Dührenheimer und seiner Frau Minna, geborene Oppenheimer, geboren worden. Sie lebten zuletzt in Mannheim. Seine Frau Johanna Wolf war am 24.5.1874 in Wiesbaden geboren worden, wo auch die Ehe am 18.11.1897 geschlossen worden war. Angaben laut Genealogischer Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.

[24] HHStAW 518 73902(21). Wie lange die Eltern in Mannheim wohnten ist nicht bekannt, auch nicht, wann und wo Albert Dührenheimer gestorben ist. Johanna Dührenheimer verstarb am 31.7.1927 in Wiesbaden, wohnhaft im Grünweg 4, Sterberegister der Stadt Wiesbaden 954 / 1927.

[25] Im selben Jahr ist er auch erstmals im Wiesbadener Adressbuch registriert. Gewohnt hatte er zunächst in der Große Burgstr. 6, in der auch die Eltern seiner Frau lebten. Laut Wiesbadener Adressbuch  wohnte er 1927 im Grünweg 4, dem Haus, in dem auch seine Mutter 1927 verstarb. Diese Adresse ist für ihn, wie auch für seinen Cousin Benno Wolf, ebenso im Jüdischen Adressbuch von 1935 angegeben. Nach den Eintragungen in den Wiesbadener Adressbüchern wohnte Dr. Dührenheimer aber seit Beginn der 30er Jahre bis zu seiner Emigration in der Bierstadter Str. 34.

[26] HHStAW 518 73902 (44).

[27] Ebd. (44). Sie betrugen zuletzt, 1938, weniger als 3.000 RM. Zu den Ereignissen am 1.4.1933 ebd. (47).

[28] HHStAW 519/3 12384 (4).

[29] Meinl / Zwilling, Legalisierter Raub, S. 37-40.

[30] HHStAW 518 73902 (40).

[31] Ebd. (83, 12 f)

[32] Über eine Generalbevollmächtigte Anne Turnbull in Frankfurt war es ihm mit Genehmigung der Devisenstelle aber sogar im November 1938 noch möglich Wertpapiere aus seinem Depot „zur Bestreitung laufender Unkosten“  zu verkaufen, siehe 519/3 12381 (10). Was damit bezahlt wurde, womöglich die letzten Raten der Judenvermögensabgabe, geht aus dem Schreiben nicht hervor. Vielleicht waren es auch noch fällige Rechnungen. Wenn Felix Dührenheimer tatsächlich damals schon im Ausland war, wird er dieses Geld auf jeden Fall nicht zu seiner freien Verfügung erhalten haben.

[33] HHStAW 518 73902 (35).

[34] Ebd. (37).

[35] HHStAW 519/3 12381 (11, 12). In den Aufzeichnungen der Deutschen Bank, die das Konto führte, heißt es am 17.2.1943 unter Nennung der veräußerten Wertpapiere: „Ausgang an Deutsche Reichsbank, Berlin, Wertpapierabteilung aufgrund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 25.11.1941 – Einziehung und Verwertung jüdischen Vermögens lt. Finanzamt Wiesbaden  – Vermögensverwertungsstelle (…).“HHStAW 518 73902 (13,  dazu 11). Das Bankfach wurde am 29.12.1942 „auf Veranlassung des Finanzamts Wiesbaden und im Einverständnis mit dem Generalbevollmächtigten (…) gewaltsam geöffnet. Der Safe war völlig leer.“ Ebd.

[36] Ebd. (5) und Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.

[37] HHStAW 518 73902 (22 f.).

[38] Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.