Paul Emil Hugo Cantor


Kaiser-Friedrich-Ring 65 Wiesbaden, Judenhaus, Judenhäuser Wiesbaden, Bernhard Scheidt, Rosa Scheidt Fechheimer, Minna Scheidt Kahn, Isaak Kahn, Luise Scheidt Kaufmann, Abraham Alfred Kaufmann, Frieda Wolf, Sally Wolf, Paula Helene Wolf Kassel, Julius Kassel, Ilse Betty Kassel, Friedel Scheidt Oppenheimer, Louis Oppenheimer, Eleanor Morris, Hugo Kaufmann, Helga Simon Kaufmann, Emma Scheidt Essinger, Julius Essinger, Rolf Essinger, Otto Essinger, Anna Essinger, Siegmund Scheidt, Anna Scheidt Frank, Otto Frank, Helmuth Friedrich Frank, Edith Margot Frank,Bertha Berta Scheid Blütenthal, Davis Blütenthal, Simon Frank, Therese Frank Müller, Moses Max Frank, Anna Simon Frank, Leonie Frank Landsberg, Peter Kurt Frank, Judith Eva Landsberg, Lea Landsberg, Jenny Johanna Scheidt, Felix Kaufmann, Juden Wiesbaden, Klaus Flick
Das ehemalige Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 65 heute
Eigene Aufnahme
Kaiser-Friedrich-Ring 65 Wiesbaden, Judenhaus, Judenhäuser Wiesbaden, Bernhard Scheidt, Rosa Scheidt Fechheimer, Minna Scheidt Kahn, Isaak Kahn, Luise Scheidt Kaufmann, Abraham Alfred Kaufmann, Frieda Wolf, Sally Wolf, Paula Helene Wolf Kassel, Julius Kassel, Ilse Betty Kassel, Friedel Scheidt Oppenheimer, Louis Oppenheimer, Eleanor Morris, Hugo Kaufmann, Helga Simon Kaufmann, Emma Scheidt Essinger, Julius Essinger, Rolf Essinger, Otto Essinger, Anna Essinger, Siegmund Scheidt, Anna Scheidt Frank, Otto Frank, Helmuth Friedrich Frank, Edith Margot Frank,Bertha Berta Scheid Blütenthal, Davis Blütenthal, Simon Frank, Therese Frank Müller, Moses Max Frank, Anna Simon Frank, Leonie Frank Landsberg, Peter Kurt Frank, Judith Eva Landsberg, Lea Landsberg, Jenny Johanna Scheidt, Felix Kaufmann, Juden Wiesbaden, Klaus Flick
Lage des ehemaligen Judenhauses
Belegung des Judenhauses Kaiser-Friedrich-Ring 65

 

 

 

 

 

 


Im Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 65 wohnte etwa für ein Jahr Paul Emil Ludwig Cantor, über den es aber nur wenige Informationen gibt. Das ist umso erstaunlicher, als er einer sehr bedeutenden Mainzer Familie entstammte, die sich in vielfältiger Weise im wirtschaftlichen, aber auch im sozialen Leben der Nachbarstadt hervorgetan hat. Lazarus Cantor, der sich als erster in der Domstadt niedergelassen hatte, kam ursprünglich aus dem nordhessischen Rhina im ehemaligen Kreis Hünfeld, das heute dem Kreis Hersfeld-Rotenburg zugehörig ist. Es handelt sich dabei um einen Ort nicht nur mit einer langen jüdischen Tradition, sondern Rhina war in preußischen Zeiten der einzige Ort im gesamten Königreich, der eine jüdische Bevölkerungsmehrheit besaß. Der berühmteste Sohn dieser Gemeinde ist sicher der Maler und Direktor des Frankfurter Städel Felix Nussbaum, dessen ‚Selbstbildnis mit Judenpass’ inzwischen ikonografische Bedeutung erlangt hat.

Stammbaum der Familie Canto
Stammbaum der Familie Cantor aus Mainz
GDB

Lazarus Cantor hatte seine Heimatgemeinde bereits im Alter von etwa 22 Jahren verlassen und war nach Kreuznach gezogen, wo er 1812 erstmals gemeldet war.[1] Familiärer Hintergrund für diesen Wohnungswechsel war vermutlich die Herkunft seiner Mutter, die aus dem etwa 20 km von Kreuznach entfernten Obermoschel stammte und die erst durch die Eheschließung mit Lazarus’ Vater Emanuel Lazarus Cantor nach Nordhessen verschlagen wurde. Lazarus nahm auch nicht die Bürgerschaft von Kreuznach, sondern 1823 zunächst die von Obermoschel an, wo er damals zwischenzeitlich vermutlich auch mit seiner späteren Frau Ottilie / Ottilla Sophia Haymann lebte. Noch vor ihrer Heirat hatte er mit ihr – wie die beiden bei ihrer Eheschließung am 5. Juni 1823 bekundeten – drei Kinder gezeugt, die nun als ehelich anerkannt wurden. Die erste Tochter, Josephine war bereits am 12. April 1819 noch in Kreuznach zur Welt gekommen, die zweite Tochter Amalia am 15. oder 16. März 1821 dann in Obermoschel. Das dritte Kind war vermutlich Rosalie, die laut Fink am 5. Februar 1923 ebenfalls in Obermoschel geboren wurde.[2]
Spätestens mit der Eheschließung stieg Lazarus Cantor auch in das Weinhandelsgeschäft der Familie seiner Frau ein. Zunächst war er als Commissionär bei Fanny Haymann, der Witwe von David Haymann, angestellt. Dessen Schwester Ottilie, geboren am 14. März 1802 als Tochter von Isaac Haymann und Jette, geborene Scheuer, wurde 1823 dann auch seine offizielle Lebenspartnerin. In Kreuznach kamen dann auch die weiteren Kinder Emil, Hermann, Hugo und Friedrich zur Welt: Emil am 19. Januar 1825, Hermann am 19. August 1827, Hugo am 14. Oktober 1828 und Friedrich am 19. Januar 1833.[3] Die Wahl der Namen für die Kinder legt nahe, dass man den jüdischen Hintergrund der Familie möglichst nicht allzu offen zeigen wollte. In der folgenden Generation wurde dieser Bruch mit den konfessionellen und kulturellen Wurzeln noch deutlicher, insofern die Wahl der Partner sowohl aus dem protestantischen wie auch dem katholischen Milieu gesucht wurden und die jeweiligen Kinder getauft und christlich erzogen wurden.[4]
Lazarus Cantors Schwiegervater Isaac Haymann hatte zusammen mit seinem Kompagnon Beckard einen Großhandel für Wein und Ellenwaren aufgebaut, der im gesamten westdeutschen Raum, in den Regierungsbezirken Düsseldorf, Arnsberg, Münster und Aachen, aktiv war. Über ihn ist in einer Akte aus dem Jahr 1829 notiert: „Hat meisten Kenntnisse wegen seiner Familienverbindungen und auch den meisten Einfluss in der Gemeinde.“[5] Er wurde mit der Vertretung in Düsseldorf betraut, wo er vermutlich auch zeitweise lebte.

Nach dem Tod von Isaac Hayum / Haymann am 16. Juli 1846 übernahm sein Schwiegersohn das Geschäft und damit auch dessen gesellschaftliche Stellung. 1848 heißt es in einer Akte, „C[antor] ist einer unserer reichen Gemeinde-Mitglieder, sein Geschäft geht sehr gut. 1846 hat er eine sehr bedeutende Erbschaft seines verstorbenen Schwiegervaters angetreten.“[6] Aber in dieser Zeit des Vormärz mit all seinen sozialen und politischen Spannungen brachen gerade im ländlichen Raum auch überall antisemitische Ressentiments hervor. So hatte es schon 1840 Einsprüche gegen eine Niederlassung von Lazarus Cantor in Obermoschel mit der Begründung gegeben, dass „die Zulassung von neuen Ansiedlungen jüdischer Familien als für den allgemeinen bürgerlichen Wohlstand schädlich betrachtet werden müsse“.[7] Vermutlich blieb die Familie dann doch in Kreuznach, wo sie nicht nur anerkannt, sondern in einem Viertel unter ihresgleichen sich wohl auch sicherer fühlte. Kürzlich hat Dr. Martin Senner in den Bad Kreuznacher Heimatblättern ein sehr detailliertes Bild dieses jüdischen Lebensraums in Kreuznach in der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts gezeichnet. Zwar gab es kein Ghetto mit Mauern, aber Straßen, gerade um den Marktplatz herum, die vorrangig von Juden bewohnt wurden. So auch die untere Mühlenstraße, in der nach Senner fast in jedem Haus eine jüdische Familie wohnte – darunter im Haus mit der Nummer 891/25 auch die des Weinhändlers Lazarus Cantor.[8]

Es waren aber auch die Jahre, in denen sich Kreuznach zu einer bedeutenden Kurstadt entwickelte und immer mehr illustre Gäste in die Stadt kamen und den Luxus eines Kuraufenthalts genießen wollten. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass die Familie Cantor sich auf diese neue Nachfrage einstellte und neben der alten Weinhandlung eine „Schaumweinkellerei E. &. F. Cantor“ gründeten, die 1852 erstmals erwähnt wird.[9] Hinter dem Kürzeln „E& F“ verbergen sich die Vornamen der beiden Söhne von Lazarus und Ottilie Cantor, nämlich Emil und Friedrich, die sich mit ihrer eigenen Firma wirtschaftlich unabhängig von ihrem Vater machten.
1860 verließen die Eltern mit ihren Söhnen Kreuznach, und ließen sich sicher nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen in Mainz nieder, einem der damals bedeutendsten Weinhandelszentren in Deutschland. 1864 wurde der Sitz der Firma nach Weisenau in den heute eingemeindeten Vorort von Mainz verlegt.[10]
Die Töchter von Lazarus und Ottilie Cantor waren zu diesem Zeitpunkt durch Eheschließungen bereits aus Kreuznach abgewandert. Die älteste Josephine war bereits 1941 nach Gießen gezogen, um dort Simon Landauer zu heiraten. Die beiden waren die Eltern von der am 1. Juli 1847 in Gießen geborenen Caroline Landauer, die wiederum die Ehefrau von Moritz Salomon Hess aus Bockenheim bei Frankfurt wurde.[11] Aus dieser Ehe waren dann 5 Kinder hervorgegangen. Das zweitjüngste war Albert Heinrich Hess, geboren am 20.September 1875 in Frankfurt. Albert Heinrich Hess wurde durch seine Ehe mit der Wiesbadenerin Erna Kahn, Tochter von Julius und Aurelie Kahn, Mitglied eines der bedeutendsten jüdischen Familienverbände in Wiesbaden. Die verwitwete Aurelie Kahn war zuletzt bis zu ihrem Tod am 15. Februar 1942, kurz vor Beginn der Deportationen in Wiesbaden, Bewohnerin des Judenhauses Adolfsallee 30.[12]

Amalie, die zweitälteste Tochter, heiratete nach Mainz. Mit ihrem Ehemann Emil Friedberg, geboren am 29. Oktober 1818 hatte sie die drei Kinder, Eugenia Albertina, Otto Sigismund und Emma Zerline, die zwar alle in Mainz geboren wurden, aber später von dort wegzogen. Eugenia war am 28. Oktober 1850 als erste in Mainz geboren worden,[13] was bedeutet, dass auch ihre Mutter noch vor der Mitte des Jahrhunderts ihre Heimatstadt Kreuznach verlassen haben wird.

Rosalie wurde durch ihre Ehe mit Adam Adolph Brach, der am 14. Juli 1815 im saarländischen Saarlouis geboren worden war,[14] Bürgerin dieses Grenzlandes zu Frankreich. Sie wird schon vor der Mitte des Jahrhunderts Kreuznach verlassen haben, Clemetine / Clemence, das erste der insgesamt sieben Kinder des Paares, wurde am 18. Februar 1848 bereits in Nalbach bei Saarlouis geboren.[15] Bei den folgenden sechs Kindern des Paares gibt es verschiedene Verbindungen nach Wiesbaden. So verstarb dort am 6. Juli 1927 die 1849 in Saarlouis geborene Zerline / Lina Müller, die zweitälteste Tochter von Rosalie und Adam Brach, im Alter von 78 Jahren. Seit wann die Witwe von Ernst Müller in Wiesbaden gewohnt hatte – ihre letzte Adresse war die Gartenstr. 3 -, ist nicht bekannt.[16] Die Todesnachricht wurde dem Standesamt von ihrem Bruder Emil, geboren am 15. August 1853 ebenfalls in Saarlouis, überbracht. Der ledig gebliebene Bruder, der in der Wilhelmstr. 56 wohnte und, wie es in dem Eintrag heißt, Fabrikant war, verstarb am 20. Mai 1936 im Alter von 81 Jahren im Wiesbadener Krankenhaus Paulinenstift.[17].
Rosalie Brach selbst verstarb am 15. Mai 1887 in Saarbrücken, ihr Ehemann am 28. Dezember 1896 in Metz, das damals noch zum Deutschen Reich gehörte.[18]

 

Emil, der älteste Sohn von Lazarus und Ottilie Cantor, der am 22. November 1853 in Kreuznach Rosalie Hirsch, die Tochter des dortigen Frucht- und Spezereihändlers Jonathan Hirsch aus seiner zweiten Ehe mit Eva Feist geheiratet hatte,[19] zog mit seinen ersten drei Kindern Otto Julius, Caroline Louise und Anna Pauline, die zwischen 1855 und 1858 alle noch in Kreuznach zur Welt gekommen waren, nach Mainz. Dort wurde am 12. März 1860 noch Maria Eugenie geboren, woraus zu schließen ist, dass der Umzug am Ende des Jahrzehnts stattgefunden haben muss.

 

Die drei Kinder, die aus der Ehe des jüngsten Sohns Friedrich Cantor mit Charlotte Fanny Hirsch aus Bingen hervorgegangen waren, kamen dagegen alle in Mainz zur Welt. Die älteste Alice Ottilie, geboren am 22. Juni 1868 war später mit dem aus Magdeburg stammenden Fabrikanten Emil Daniel Kahle verheiratet,[20] ihr jüngerer Bruder Ernst, geboren am 19. April 1869, verstarb schon mit nur vier Jahren.[21] Zuletzt kam am 23. Dezember 1875 Alfons Markus zur Welt, der aber nur Alfred genannt wurde.[22]

In Mainz hatte sich die nach dorthin verlegte Sektkellerei von Emil und Friedrich Cantor inzwischen etabliert.[23] Nach dem Tod von Emil Cantor im Jahr 1897 [24] war sie kurzfristig in der alleinigen Hand seines Bruders Friedrich. Nach dessen Tod im folgenden Jahr,[25] war Alfred als Gesellschafter in die inzwischen zur O.H.G. umgewandelten Firma eingetreten und war später, nach Auflösung dieser Rechtsform, zum alleinigen Inhaber geworden. Die Verbindung zum früheren Mitinhaber, dem Onkel Emil Cantor blieb dadurch erhalten, dass Alfred dessen Enkelin Emilie Georgine Rosi Dielmann heiratete. Die jüngste Tochter von Emil und Rosalie Cantor, Anna Pauline, hatte den aus Frankfurt a. M. stammenden evangelischen Carl Richard August Dielmann geheiratet und Emilie war deren am 3. August 1881 geborene Tochter.[26] Auch ihre Mutter war inzwischen evangelisch getauft worden und so war es eine Selbstverständlichkeit, dass auch Annaliese in diesem Glauben erzogen wurde.[27] Das hielt sie aber nicht davon ab, im Alter von 28 Jahren 1930 den katholischen Weingroßhändler Walther Geisse aus Winkel im Rheingau zu heiraten, wo die Familie dann nach der Geburt ihrer beiden Söhne auch lebte.[28]

Kennkarte für Alfred Cantor
https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0254.pdf
Emilie Cantor
Kennkarte für Emilie Cantor
https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0747.pdf

In der Zeit nach 1933, in der es an Absurditäten keinen Mangel gab, wurde dann aus der Familie von Alfred und Emilie Cantor, die sich nie als jüdische begriffen hatte, eine jüdische Familie und die Sektkellerei, die einmal – wenn man so will – jüdische Wurzeln hatte, erscheint stattdessen nun als ein arisches Unternehmen. Die Sektkellerei „E & F Cantor“ wurde durch die Namensänderung in „Sektkellerei Burg Weisenau G.m.b.H.“ äußerlich entjudet wurde, während die Protestanten Alfred und Emilie / Emmy und ihre Tochter Annaliese sich die Zwangsnamen Sara bzw. Israel zulegen mussten. Zwar legte Emilie Cantor gegen ihre Einordnung als Jüdin sogar erfolgreich Widerspruch ein, da sie nach NS-Terminologie als „Halbjüdin“ einzustufen war, aber das hielt die Gestapo nicht davon ab, sie und auch ihre Tochter wie alle anderen Juden zu verfolgen. Den beiden Söhnen von Annaliese und Walther Geisse, die formal noch weniger als „Halbjuden“ waren, wurde „angesichts des hohen jüdischen Anteils in der Blutzusammensetzung“ die Aufnahme in die Geisenheimer Oberschule verweigert. Beide kamen bei Freunden der Familie in Heidelberg unter und konnten an der Bergstraße eine Privatschule besuchen, was ihnen vermutlich das Leben rettete.[29]

Haftkarte für Alfred Cantor
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Nicht so die Großeltern. Ende 1941 mussten sie zunächst ihre Wohnung in der Rheinallee verlassen. Über die zurückgelassene Einrichtung – sie hatten jetzt nur noch eine sehr kleine Wohnung in der Bahnhofstr. 13 – fielen sofort die deutschen „Volksgenossen“ her.[30] Nicht klar ist, ob diese Zwangsumsiedlung im Zusammenhang mit der Inhaftierung stand, die die Gestapo angeordnet hatte, weil das Paar ohne Judenstern angetroffen worden war und sich zudem wohl geweigert hatte „jüdische Schmucksachen“ abzuliefern.[31] Im Februar 1942 brachte man sie in das zum Judenhaus umgewandelte Jüdische Krankenhaus, das zugleich als Sammelstation für die beginnenden Deportationen diente. Es blieb ihnen jedoch verwehrt, diesen letzten Weg gemeinsam zu gehen.

Deportationsliste mit Emilie Cantor
https://collections-server.arolsen-archives.org/H/Ous_partitions/29/@Maint/ac/qv/lt/001.jpg

Am 6. März 1942 wurde Alfred Cantor unter der Häftlingsnummer 7473 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert, wo er 16. März, somit schon nach zehn Tagen, angeblich an „Herzsuffizienz“ (sic!) verstarb.[32]

Seine Frau wurde fünf Tage nach seinem Tod, von dem sie nichts erfahren hatte, in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück verbracht. Auf der Deportationsliste ist sie fälschlicherweise als „Volljüdin“ bezeichnet und als „polit“ – Häftling kategorisiert, was vermutlich auf der Anzeige wegen Nichttragens des Judensterns beruhte. Im Oktober 1942 brachte sie ein Transport von Ravensbrück in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie am 8. des Monats ermordet wurde. Der Tochter hatte man den Tod in Auschwitz verschwiegen und Ravensbrück als Sterbeort mitgeteilt.[33]

Annaliese Geisse Cantor
Portrait von Annaliese Geisse, geb. Cantor
https://www.ancestry.de/mediaui-viewer/tree/54664216/person/122064007448/media/56ec76d4-16fa-436f-99de-eae26e094259

Schrecklich müssen die letzten beiden Jahre für ihre Tochter Annaliese gewesen sein, nicht nur wegen der Verfolgung durch den NS-Staat, sondern auch, weil ihr Mann, der inzwischen alles versuchte, um sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, ihr das Leben zu Hause zur Hölle machte. In verschiedenen Briefen an Freundinnen hat sie von diesen Qualen berichtet.[34] Die eingereichte Scheidung wurde aber nicht genehmigt, weil man vermutete, dass es Walther Geisse nicht wirklich um die Trennung von seiner jüdischen Frau ging. Von der hätte er sich schon bald nach 1935, nach Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, problemlos trennen können. Wer damit aber länger als fünf Jahre wartete, der musste andere als ideologische Gründe haben, beschied das Frankfurter OLG im Juli 1942.[35]
Als man nach den großen Deportationen in Deutschland begann, auch die jüdischen Lebenspartner aus „Mischehen“ der Mordmaschinerie zuzuführen, wurde auch Annaliese Geisse verhaftet und zunächst nach Frankfurt in das „Arbeitserziehungslager Heddernheim“ verbracht.[36] Unter unmenschlichen Bedingungen mussten die bis zu 10000 Insassen, darunter viele Kriegsgefangene, in Heddernheim für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten. Viele fielen der „Vernichtung durch Arbeit“ zum Opfer, nicht aber Annaliese Geisse. Sie musste man am 5. September 1943 nach Auschwitz bringen und in einer der Gaskammern umbringen.[37] Nach dem Krieg gab es den Verdacht, dass der eigene Ehemann, Mitglied der DAF und der NSV, mitverantwortlich für diese Deportation in den Tod gewesen sein könnte. Nachzuweisen war das allerdings nicht.[38]

In Winkel liegen vor dem Haus in der Hindenburgstraße seit 2013 drei Stolpersteine, die an die ermordete Anneliese (sic) und ihre beiden überlebenden Söhne Reinhard und Wolfgang Geisse erinnern.

 

Einen ganz anderen beruflichen Weg als seine beiden Brüder Emil und Friedrich hatte Hugo Cantor, der Vater des Judenhausbewohners Paul Emil, eingeschlagen. Er war wie seine Brüder zunächst ebenfalls Kaufmann und Weinhändler geworden und besaß nach dem Umzug der Familie nach Mainz sogar eine eigene Weinhandlung, zunächst in der Mitternachtsgasse 1, später dann in der Breidenbacher Str. 19.[39] Wohl noch in der Zeit vor dem Umzug unternahm er 1857 im Alter von 29 Jahren eine erste Reise nach England.[40] Zu welchem Zweck diese Reise diente, ist nicht bekannt, aber vermutlich ging es um Kundschaftspflege auf diesem für deutsche Weinhändler wichtigen Markt.

Nachdem die Familie in Mainz sesshaft geworden war, heiratete der inzwischen 37jährige Hugo am 1. Oktober 1866 dort die aus Köln stammende Emma Josephine Kaufmann, geboren am 26. Dezember 1844. Sie war die Tochter des Kölner Kaufmanns und Gutsbesitzers Markus Kaufmann und seiner Frau Friederike, geborene Scheuer.[41]

Familienregister Cantor
Familienregistereintrag für Hugo Cantor,  Mainz Stadtarchiv 1324

Wohl vor dem Hintergrund der Geburt des ersten Kindes zog das Ehepaar 1870 in die Breidenbacher Str. 19, wo dann am 11. September der Sohn Ludwig Max Hugo geboren wird.[42]
Bald nach dessen Geburt, unternahm der Vater noch einmal eine Reise nach England, über deren Dauer aber nichts bekannt ist. Die Reise ist deshalb bekannt, weil genau zu diesem Zeitpunkt 1871 in England eine Volkszählung durchgeführt wurde, bei der er als Gast der Familie Shafford in St. Pancras erfasst wurde. Sein Beruf ist in den Unterlagen noch mit „Wine Grower & Landowner“ festgehalten.[43]

Nach seiner Rückkehr aus England wurden dem Paar vier weitere Kinder geboren. Am 13. April 1872 folgte auf Ludwig die erste Tochter Anna Ottilie Amalie, drei Jahre später, am 18. Januar 1875, eine weitere Tochter, die den Namen Maria Friederike Josephine erhielt. Danach bekam das Paar noch zwei Söhne, zunächst Paul Emil Hugo am 13. Januar 1876 und dann am 17. November 1877 kam noch Ernst Hermann zur Welt.[44]

Während dieser Zeit, in der das Familienleben sich allein durch die Geburt der Kinder verändert haben wird, orientierte sich Hugo Cantor auch beruflich neu. Zwar blieb die Weinhandlung in der Breitenbacher Straße, die auch weiterhin seine Wohnanschrift war, bestehen, aber in den Adressbüchern erscheint er erstmals 1874 als „Kaufmann, Besitzer einer Fabrik zur Erzeugung künstlichen Eises, Ziegelei und Thonwaaren.“ Die Fabrik – welche ist nicht gesagt – war in der Rheinallee 19 angesiedelt.[45]

Mitglieder der Familie Cantor im Mainzer Adressbuch 1876

Die Eisfabrik war die eigentlich innovative Neuausrichtung. Suder vermutet, dass die Hugo Cantor durch seine Brüder dazu animiert worden sein könnte, die zusammen mit der Sektkellerei Henkell und anderen Unternehmen an der Weltausstellung 1862 in London teilgenommen hatten, auf der ein Apparat des Franzosen Carré zu maschinellen Erzeugung von Eis vorgestellt worden war.[46] Dass die Sekterzeuger an einem solchen Gerät Interesse hatten, liegt nahe, schmeckt Sekt doch tatsächlich nur, wenn er kalt serviert werden kann. Darüber, wie erfolgreich er mit seiner Fabrikation tatsächlich war, liegen keine Informationen vor. Zwar schreibt Suder, dass der Eishandel in den folgenden beiden Jahrzehnten Hugo Cantors wichtigster Geschäftsbereich geblieben sei, er sogar den Weinhandel aufgegeben und an einen Otto Freiberg abgegeben habe, aber Belege dafür liefert er nicht. Möglicherweise war die Konkurrenz, die durch die 1879 von mehreren Gesellschaftern, darunter auch Carl von Linde, der ebenfalls ein Patent auf eine solche Maschine hielt, gegründete Eismaschinen Fabrik in Wiesbaden zu groß bzw. finanziell zu stark, sodass Cantor sich aus diesem Geschäft wieder zurückzog. Stattdessen verlagerte er sein unternehmerisches Engagement auf die Herstellung von Blei-, Zinn- und Tonrohren, für die es in den städtischen Zentren, in denen man damals begann die Infrastruktur systematisch auszubauen, einen erheblichen Bedarf gab. Um 1900 wurde die Eisfabrikation gänzlich aufgegeben und wenige Jahre danach, am 1. März 1905, verstarb der in verschiedenen Sparten so rege Unternehmer im Alter von 76 Jahren in Mainz.[47] Seine Frau Emma war bereits seit mehr als zehn Jahren tot. Die damals 46jährige war am 15. April 1891 ebenfalls in Mainz zu Grabe getragen worden.[48]

Was aus der Firma nach dem Tod ihres Gründers wurde, ist nicht bekannt. Zuletzt soll der jüngste Sohn Ernst Prokura besessen haben. Er hatte nach seinem Abitur eine kaufmännische Lehre abgeschlossen, später dann die elterliche Firma verlassen, um Mitarbeiter der ‚Victoria-Versicherung’ in Mainz zu werden.
Thomas Schnitzler hat dieser einst so bedeutenden, aber heute fast vergessenen Persönlichkeit der Stadt Mainz einen umfassenden Artikel gewidmet und dessen Bedeutung für die Mainzer Turnerschaft aufgearbeitet.[49] Über 30 Jahre, von 1911 bis 1933, war er der Vorsitzende des 1817 gegründeten Traditionsvereins, der ganz im Sinne des „Turnvater“ Jahn über das gesamte 19. Jahrhundert nicht nur die körperliche Ertüchtigung der Deutschen, respektive der Mainzer Bürger und sogar Bürgerinnen, sondern auch die politischen Ziele eines vereinten Deutschland programmatisch vertrat. Die Turnerbewegung sollte auch im Verständnis von Ernst Cantor zudem die Wehrkraft des Volkes fördern und mehr noch, sie sollte– in den Worten des Turnvaters Jahn – die Anhänger „auch zu sittlichen Menschen und zur Vaterlandsliebe erziehen“. Selbstverständlich gehörte Ernst Cantor zu denjenigen, die sich bei Kriegsausbruch 1914 sofort freiwillig zum Dienst an der Waffe meldeten.

Über viele Jahre hinweg war Ernst Cantor nicht nur selbst aktiver Sportler, sondern auch Autor programmatischer Schriften, in denen er sich u. a. für einen breiten Volks- statt einem erfolgsorientierten Spitzensport einsetzte. Auch als Funktionär in verschiedenen Gremien und als Schiedsrichter bei großen Wettkämpfen erwarb er sich einen Ruf, der ihn zu einer führenden Persönlichkeit des Verbandes werden ließ.

Wenn er aber offensichtlich kein Problem darin sah, dass sein Vorbild Jahn zu den größten antisemitischen Hetzern des vergangenen Jahrhunderts zählte, dann zeigt das einmal mehr, die nur mehr geringe Verbundenheit der assimilierten Familie Cantor mit ihren jüdischen Wurzeln. Ernst Cantor lehnte auch die eigenständige jüdische Sportbewegung ab, die, angesichts des immer wieder aufflammenden Antisemitismus im traditionellen Deutschen Turnerbund, vielerorts damals eigene Vereine zu gründen begann. In sportlichen Erfolgen von Juden in „deutschen“ Vereinen sah er hingegen ein wirkungsvolles Mittel der Integration und die Chance, dem traditionellen Klischee vom kraftlosen und ängstlichen Juden zu begegnen.

Ernst Cantor
Kennkarte für Ernst Cantor
https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0819.pdf

1933 wurde auch Ernst Cantor wieder zum Juden. Und es war gerade der Deutsche Turnerbund, der, wie Schnitzler detailliert beschreibt, zum Vorreiter der judenfeindlichen Politik der neuen Regierung wurde. In vorauseilendem Gehorsam wurden alle jüdischen (und marxistischen) Mitglieder des Verbandes noch in der ersten Hälfte 1933 ausgeschlossen. Auf Ausnahmen bei Frontkämpfern, die sogar der Staat bei den ersten Säuberungen seiner Beamtenschaft noch verschont hatte, verzichtete man.
Was die Enthebung von seinen Ämtern und der erzwungene Ausschluss aus dem Verein für den ledigen Ernst Cantor bedeutete, für den die Turnerschaft, wie Schnitzler betont, quasi ein Familienersatz war, kann man nur erahnen. Auf eine schriftliche Reaktion auf diese Maßnahme hatte Cantor entweder verzichtet oder sie ist nicht erhalten geblieben.

Die Exkommunikation aus dem Verband war ohnehin erst der Beginn seiner Leidensgeschichte. Dem Bann der Turnerschaft folgte bald auch das Ende seiner beruflichen Karriere. Die „Victoria-Versicherung“, die damals größte Versicherung in Deutschland, galt wegen ihres jüdischen Vorsitzenden Emil Herzfelder und anderer jüdischer Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter als jüdisches Unternehmen und geriet beim Boykott im April 1933 sofort ins Visier der Nationalsozialisten. Die NS-Betriebsobleute forderten die sofortige Entlassung von jüdischen Angestellten, was aber von der Unternehmensleitung damals abgelehnt wurde. Ungeachtet dessen wurden dann doch noch im gleichen Jahr viele jüdische Mitarbeiter entlassen oder zumindest versetzt.[50] Wann Ernst Cantor, der in Mainz die Stellung eines „Subdirektors“ innehatte seinen Arbeitsplatz verlor, ist nicht bekannt, auch nicht, ob er danach eine andere Arbeit aufnahm oder im Weiteren von seinen Ersparnissen leben musste.

Der nächste Verlust, den er zu ertragen hatte, war der seiner bisherigen Wohnung. Seit den zwanziger Jahren hatte er mit seiner Schwester Anna in der Hafenstr. 21 gewohnt. Wann sie diese Wohnung verließen bzw. verlassen mussten, ist nicht klar. Metzler schreibt, dass dies aufgrund der neuen Mietgesetze geschah, die im April 1939 verabschiedet wurden und den Mieterschutz für Juden weitgehend aufhoben. Das ist nicht unmöglich, scheint aber eher unwahrscheinlich, weil sie bereits im folgenden Monat Mai zum Zeitpunkt der Volkszählung im Haus Horst-Wessel-Platz 11 wohnten.[51] Zumindest in Wiesbaden gelang es nicht, die Umsiedlungen in so kurzer Zeit zu realisieren. In dem Haus verbrachten die beiden Geschwister die folgenden Monate. Vor ihrer Deportation hatten sie allerdings noch mindestens einmal umziehen müssen.

Paul Cantor
Kennkarte für Paul Cantor
https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0207.pdf

Im November 1940 kam dann auch ihr ebenfalls lediger Bruder Paul hinzu. Ob der Umzug erzwungen war, wie Schnitzler schreibt,[52] ist nicht zu belegen, aber auch nicht ausgeschlossen. Allerdings versuchten angesichts der wachsenden Bedrohung in dieser Zeit Familienangehörige oft eine gemeinsame Wohnung zu finden, zumal dann, wenn sie allein stehend waren.

Ummeldung Paul Cantor
Paul Cantor meldet der Devisenstelle seinen Umzug von Wiesbaden nach Mainz
HHStAW 519/3 8523 (30)

Paul Cantor muss mindestens die letzten eineinhalb Jahre zuvor in Wiesbaden gewohnt haben. Leider enthält seine Gestapokarteikarte keinen Eintrag, seit wann er in der Stadt auf der anderen Rheinseite lebte und auch im Hessischen Hauptstaatsarchiv liegt nur eine sehr dünne und wenig aussagekräftige Akte vor. Der erste Beleg für seine Anwesenheit in Wiesbaden ist die Kennkarte, die am 22. Februar 1939 vom dortigen Polizeipräsidenten ausgestellt wurde.[53] Allerdings enthält sie keine Wohnanschrift. Bei der Volkszählung im Mai des gleichen Jahres war er dann schon mit der Anschrift Kaiser-Friedrich-Ring 65 gemeldet, wo er eine Wohnung im Erdgeschoss, das auch von den Eigentümern Frank bewohnt wurde, angemietet hatte. Im Wiesbadener Adressbuch von 1938, dem letzten Vorkriegsadressbuch, und auch in den vorangegangenen Ausgaben ist sein Name nicht enthalten, was bedeuten würde, dass er wahrscheinlich frühestens im Laufe des Jahres 1938 eingezogen war. Wo er die Jahre zuvor verbracht hatte, ist nicht bekannt. Möglicherweise ist ein Konto bei der ‚Handels- und Gewerbebank’ in Heilbronn, das er während seines Aufenthalts in Wiesbaden noch besaß, ein Hinweis auf eine frühere berufliche Tätigkeit bzw. Wohnung im Raum Heilbronn. Neben diesem Konto unterhielt er ein weiteres bei der Filiale der Dresdner Bank in Wiesbaden, aber keines in Mainz, was vermuten lässt, dass er dort zuletzt nicht gelebt hatte. Die beiden Konten wolle er beibehalten, schrieb er der Devisenstelle am 23. November 1940, als er der Behörde in Frankfurt seinen Umzug nach Mainz meldete.

Dieses Schreiben ist eines von insgesamt nur drei Schriftstücken einer ursprünglich umfangreicheren Devisenakte, die bei der Devisenstelle Frankfurt angelegt wurde.[54] Alle Aktenstücke, deren Zählung mit der Seite 28 beginnt, waren in der letzten Novemberwoche des Jahres 1940 entstanden. Da mit dem Umzug nach Mainz nun die entsprechenden Behörde in Darmstadt zuständig war, wurden die ersten 27 Seiten der Akte am 26. November nach Darmstadt abgegeben, wie in der Akte selbst vermerkt.[55]

Paul Cantor
Schenkung von Paul Cantor an seinen Neffen Hans Cantor
HHStAW 519/3 8523 (31)

Am 28. November teilte die Devisenstelle der Dresdner Bank mit, dass die am 15. April 1940 erlassene Sicherungsanordnung wegen des Umzugs aufgehoben werde,[56] was nur bedeutete, dass eine entsprechende Nachfolgeverfügung nun von Darmstadt erlassen wurde. Bemerkenswert ist der in dem Schreiben festgehaltene bisherige Freibetrag von Paul Cantor. Er betrug 800 RM, was außergewöhnlich hoch ist und auf ein relativ großes Vermögen des Kontoinhabers schließen lässt. Eine kleine Notiz, die auf die Innenseite des Aktendeckels geklebt wurde, enthält einen weiteren Hinweis auf seine Vermögensverhältnisse. Paul Cantor hatte ein Jahr zuvor am 15. November 1940 offensichtlich mit Zustimmung der Devisenstelle seinem Neffen Hans Cantor einen Betrag von 75.000 RM geschenkt. Ob es sich tatsächlich um eine Schenkung handelt, ist jedoch nicht sicher. Der Empfänger Hans war der Sohn von Pauls ältestem Bruder Dr. Ludwig Max Cantor, der in Berlin in einer sogenannten „Mischehe“ lebte. Hans war somit „Mischling I. Grades“. In dieser Übertragung hatte man wahrscheinlich 1940 noch eine relativ sichere Möglichkeit gesehen, das Vermögen über die Zeit bis zum Kriegsende und dem Zusammenbruch des Regimes zu retten, um dann wieder darauf zurückgreifen zu können. Sollte dies der Plan gewesen sein, so war ihm kein Erfolg beschieden. Lange vor dem Beschluss auf der Wannseekonferenz hatte mit dem Beginn des Krieges und den brutalen Vorgehen der Einsatzgruppen im östlichen Kriegsgebiet der Massenmord an den Juden begonnen, der dann ab Herbst 1941 mit den Transporten in den Osten nur eine neue, organisierte Form annahm.

Es ist nicht bekannt, aber eher wahrscheinlich, dass alle drei Geschwister zuletzt noch versuchten, Deutschland zu verlassen. Die Hoffnung setzten sie wohl auf ihre in Schweden verheiratete Schwester Maria, dem einzigen Kind von Hugo und Emma Cantor, das die Zeit des Nationalsozialismus überlebte. Sie hatte am 19. April 1905 den schwedischen Redakteur August Ahmann aus Gothenburg / Göteborg geheiratet.[57] Der am 17. März 1869 in Umea geborene Kaufmannssohn war evangelischer Konfession. Zwar fand die Hochzeit in Mainz statt, aber Maria Cantor hatte zu diesem Zeitpunkt ihre Heimatstadt bereits verlassen und wohnte in Berlin. Sie muss wie einige ihrer Brüder eine höhere Schule und zumindest eine weitere Ausbildung, vielleicht sogar ein Studium, absolviert haben, denn in der Heiratsurkunde wird ihr Beruf mit Lehrerin angegeben. Nicht nur das ist eher außergewöhnlich, sie scheint auch schon längere Zeit mit ihrem Partner zusammengelebt und mit ihm sogar bereits ein gemeinsames Kind gehabt zu haben. Das belegt ein Eintrag im Sterberegister von Göteborger, wo sich das Paar nach der Heirat niedergelassen hatte. Dort war am 12. April 1906 Karl Hugo, Sohn des Redakteurs August Ahman und der Maria Frederika Josefina Cantor, im Alter von 6 Jahren, 4 Monaten und 9 Tagen verstorben.[58] Sie waren damals gerade erst ein Jahr verheiratet. Ein Jahr nach dessen Tod wurde dem Paar mit Sven Olof Paul am 22.3. 1907 ein weiterer Sohn geboren.[59]

Aus heutiger Sicht fragt man sich natürlich, wieso die in Deutschland zurückgebliebenen Cantor-Geschwister diese Möglichkeit nicht schon früher genutzt hatten. Viele erkannten erst spät, als das Leben schon unmittelbar bedroht war, dass der Verlust des Vermögens und der kulturellen Bindungen das geringere Übel gewesen wäre. Zumindest für Ernst ist belegt, dass er noch versuchte, nach Schweden zu emigrieren. Die Bürgschaft seiner Schwester, die dem Ausreiseantrag beizufügen war, erreichte ihn allerdings nicht mehr.[60]

Das erste Opfer der systematischen Deportationen aus der Familie Cantor wurde der einstmals in Mainz so hoch geachtete Ernst Cantor.[61]

Sein Name stand auf der Liste des ersten großen Transports aus Mainz, der die Stadt am 25. März 1942 verließ.[62] Ob er damals noch im Haus am Horst-Wessel-Platz wohnte, wie Schnitzler schreibt, ist eher unwahrscheinlich. Auf der Deportationsliste ist seine Adresse mit Friedrichstr. 14 in Mainz-Gonsenheim angegeben. Schon am 9. des Monats hatte der Vertreter der Reichsvereinigung eine Liste aller Mainzer Juden, „einschließlich Rassejuden“, an die Gestapo zu übermitteln, die dann als Grundlage für die eigentliche Deportationslist diente. Insgesamt bestand der Transport aus 1000 Menschen, darunter 466 aus Mainz, die übrigen aus Rheinhessen, den kreisen Bingen und Worms. Weitere kamen auf der Zwischenstation in Darmstadt aus dem südhessischen Raum hinzu.[63] Eigentlich sollten die betroffenen Jüdinnen und Juden erst drei Stunden bevor sie von der Gestapo aus ihren Wohnungen abgeholt wurden, über ihre anstehende Deportation informiert werden. Aber offensichtlich waren die Pläne durchgesickert, weshalb sich eine Reihe der Gelisteten in ihren letzten Stunden zur Flucht in den Tod entschlossen.

Straße im Ghetto von Piaski
https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/photo/deserted-street-in-sighet-marmatiei

Mit 50 RM, einem gepackten Koffer und einem selbst gemalten Schild mit ihrem Namen, der Kennnummer und ihrem Geburtsdatum um den Hals gehängt wurden sie an den Sammelort geführt. Als besonderen Zynismus muss es Ernst Cantor empfunden haben, dass man dafür die Turnhalle der Mainzer Feldbergschule ausersehen hatte. Von hier aus mussten sie in Nacht zum Mombacher Bahnhof gehen, wo der Sonderzug ‚Da 14’ auf sie wartete – ein Zug, der auf der Hinfahrt russische Zwangsarbeiter nach Deutschland transportiert hatte. Die zwei Tage dauernde Fahrt ging nach Piaski, einem Ghetto in der Nähe von Lublin in Polen, das zu einem Durchgangslager für Juden aus dem Deutschen Reich und dem sogenannten ‚Protektorat Böhmen und Mähren’ umfunktioniert wurde, nachdem man die dort ursprünglich wohnenden polnischen Juden ermordet hatte. Das gleiche Schicksal war auch den aus Deutschland heran gekarrten Juden zugedacht. Allerdings sollte zunächst noch ihre Arbeitskraft soweit als möglich verwertet werden. Es gelangten sogar anfangs noch einige Postkarten von Deportierten aus dem Lager nach Mainz, in denen aber über die wirklichen Zustände nicht berichtet werden konnte. Zudem hatten die Postkarten in Mainz bei der Gestapo abgegeben werden müssen, wie eine Notiz im Tagebuch der Jüdischen Gemeinde festgehalten hat. [64] Anfang Mai 1942 wurde der Postverkehr von der Gestapo dann gänzlich unterbunden.[65] Die meisten der Deportierten verreckten schon in Piaski unter den dort herrschenden unmenschlichen Lebensbedingungen. Die Überlebenden wurden nach und nach in eine der nahe gelegenen Mordfabriken Belcec oder Sobibor überführt und umgebracht. Wo und wann Ernst Cantor ums Leben kam, ist nicht bekannt.

 

Auch für die beiden zurückgebliebenen Geschwister verschärfte sich die Lage von Tag zu Tag. Auch sie waren betroffen von den reichsweiten Einschränkungen, mit denen den Juden das Leben immer unerträglicher gemacht werden sollte, wie etwa die Reduzierung der Lebensmittelzuteilungen oder neue Bestimmungen zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Immer wieder fanden Umsiedlungen innerhalb des Mainzer Stadtgebietes oder auch Verhaftungen statt. Im Juni 1942 war auch Paul Cantor „wegen Umgangs mit Ariern“ verhaftet worden.[66] Was konkret der Anlass war, ist nicht bekannt, auch nicht die Dauer der Inhaftierung, aber offensichtlich durfte er zunächst in Mainz bleiben und wurde nicht, wie so viele andere wegen kleinster „Vergehen“ individuell in ein KZ überführt.

Am 12. und 13. August waren die Mainzer Altstadt und das Bahnhofsviertel von schweren Luftangriffen betroffen. 150 Jüdinnen und Juden wurden dadurch obdachlos und mussten notdürftig untergebracht werden. Eine weitere Bombennacht vom 24. auf den 25. August zerstörte neben vielen Wohnungen auch das Israelitische Krankenhaus in der Adam-Karrillon-Str. 13. Ob Anna und Paul Cantor von einem der Angriffe betroffen waren, ist nicht bekannt. Aber auch sie mussten noch einmal umziehen – vielleicht auch aus reiner Schikane.[67] Als man die beiden für den Transport abholte, der Mainz am 27. September verließ, wohnten sie nicht mehr am Horst-Wessel-Platz, sondern in der Adolf-Karrillonstr. 74.

Auch diesmal war der anstehende Transport, der euphemistisch als „Wohnsitzverlegung nach Theresienstadt“ nur notdürftig getarnt war, frühzeitig bekannt geworden. Schon Mitte August hatte die Vertretung der ‚Reichsvereinigung’ in Mainz der zuständigen Gestapostelle in Darmstadt eine Liste zu übermitteln, in der neben anderen hauptsächlich alle dort noch lebenden Juden über 65 Jahren und jüdische allein stehende Mischlinge aufgeführt sein sollten.[68] Erneut entfachten diese bürokratischen Vorbereitungen eine Selbstmordwelle. Allein in den Tagen vom 6. bis zum 16. September registrierte die Jüdische Gemeinde 12. Selbsttötungen.[69]

Zuletzt beinhaltete die Deportationsliste für den 27. September insgesamt 1288 Namen, Jüdinnen und Juden aus der gesamten Rhein-Main-Region von Offenbach, Friedberg bis Bingen, darunter 453 aus Mainz. Diesmal waren sie in der Turnhalle der Goetheschule, die unweit des Bahnhofs gelegen ist, gesammelt worden. Dort hatten sie die sogenannten „Heimeinkaufsverträge“ abzuschließen, die den Unterzeichnern ein sorgenfreies Leben im Altersghetto zusicherten, letztlich aber nichts anders als ein getarnter Raubzug der SS war, um sich selbst einen Anteil am Beutezug des NS-Staates zu sichern.

Dep Paul Cantor
Karteikarte von Paul Cantor aus Theresienstadt mit seinem Todestag
https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014202/0007/130931875/001.jpg

In Theresienstadt, das der Zug mit der Bezeichnung ‚Da 520’ am 28. September erreichte, erwartete sie alles andere als ein sorgenfreies Leben Dort wartete nur Hunger, Krankheit und Tod auf sie. Paul Emil Hugo Cantor überlebte Theresienstadt nicht einmal vier Wochen. Er verstarb dort am 22. Oktober 1942. Zwar ist die Todesursache nicht bekannt, aber Mord war es in jedem Fall. Seine Schwester Anna ertrug die Leiden wesentlich länger. Ihr Todestag ist mit dem 11. Mai 1944 angegeben.[70]

Stolpersteine Cantor MainzStolpersteine Cantor MainzStolpersteine Cantor Mainz

 

 

 

Stolpersteine für die drei zuletzt in Mainz wohnenden Geschwister Cantor in der Breitenbacher Str. 19
http://www.beer-mainz.de/Stolpersteine-Mainz/Mainz-Altstadt,-Strassen-A-bis-Ka

Der älteste Bruder Ludwig Max Hugo starb nicht in einem der Lager im Osten, sondern in Berlin, wo er die längste Zeit seiner beruflichen Laufbahn verbracht hatte. Nach dem Besuch der höheren Schule in Mainz hatte er vermutlich an der „Färberei- und Appreturschule“ in Krefeld ein Chemiestudium absolviert und dieses 1892 an der Universität Erlangen mit einer Promotion abgeschlossen, die er seinem Vater Hugo Cantor widmete.[71] Bei der Eheschließung seiner Schwester Anna 1905, bei der er mit seinem Bruder Ernst als Trauzeuge fungierte, lebte er mit seiner Familie noch nicht in Berlin, sondern in Dessau. Er hatte seine eigene Familie am 3. Juli 1900 in Frankfurt, dem Wohnort seiner Braut, gegründet. Die am 10. April 1873 im nahen Offenbach geborene Ida Wilhelmine Kopp war die Tochter des Rentiers Friedrich Jakob Kopp und seiner Frau Wilhelmine Auguste, geborene Schellmann. Dass die Braut aus einem protestantischen Elternhaus kam, war in der Familie Cantor, wie auch andere Eheschließungen zeigen, offensichtlich kein Problem.[72] Ludwig Cantor selbst war inzwischen zur evangelischen Kirche übergetreten, wie man der Heiratsurkunde entnehmen kann. Auch der am 14. April 1901 geborene Sohn Hans wurde evangelisch getauft und erzogen. Da er in Offenbach zur Welt gekommen war, kann man davon ausgehen, dass das Paar nach der Heirat zunächst in der Geburtsstadt der Mutter lebte.[73]

Es ist nicht bekannt, wann der promovierte Chemiker von der damaligen Weltfirma IG-Farben eingestellt wurde, aber bei ihr war er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1929 tätig und hatte dem Unternehmen, dessen unheilvolle und widerwärtige Rolle im Nationalsozialismus inzwischen hinlänglich bekannt ist, zuletzt als Prokurist gedient. Sein Umzug nach Berlin stand möglicherweise im Zusammenhang mit seiner dortigen Anstellung. Kurzzeitig hatte die Familie zunächst im Stadtteil Schöneberg gewohnt, war dann 1913 nach Zehlendorf in die Limastr. 2 gezogen, wo sie bis zum Jahr 1943 blieb.[74]

Die in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen lebende Familie konnte auch ihrem Sohn eine akademische Ausbildung finanzieren. Nach seinem Abitur an einem humanistischen Gymnasium hatte er sich für ein Studium der  Rechtswissenschaften entschieden und nach dem Referendariat am 8. Oktober 1926 sein Assessorenexamen bestanden. Unmittelbar danach wurde er als „besoldeter Hilfsrichter“ eingestellt, wie er in einem biographischen Abriss selbst formulierte.[75]
Da er 1933 als einziger in der Familie noch einer Erwerbstätigkeit nachging, war er dann auch derjenige, der – obwohl „Halbjude“ – von den diskriminierenden Maßnahmen des NS-Staates betroffen wurde. Am 31. Oktober 1933 wurde er aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ohne Versorgungsbezüge aus dem Staatsdienst entlassen. Anfänglich konnte er noch mit verschiedenen Beschäftigungen, etwa in einem Unfallbüro oder als Testamentsvollstrecker, zu seinem Lebensunterhalt beitragen. Nach einer längere Phase der Arbeitslosigkeit wurde er im Juni 1941 – fast schon ein Wunder – als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der ‚Revisions- und Treuhandgesellschaft Rudolf Völz & Co.’ eingestellt.

Kurz darauf rollten die ersten Züge von Berlin und anderen Städten des Reiches nach Litzmannstadt, nach Minsk oder Kowno. Die geplante Vernichtung des europäischen Judentums hatte begonnen. Aber bald mussten auch die Bewohner der deutschen Großstätte erfahren, welche Konsequenzen ihre Unterstützung der nationalsozialistischen Bewegung für sie selbst hatte. 1943 war es der britischen Royal Air Force endlich möglich, auch Berlin ohne allzu große eigene Verluste zu erreichen und massive Zerstörungen in der Stadt anzurichten. Für Die Familie von Ludwig Cantor, die bis zuletzt ein gemeinsames Zuhause besaß, hatte das die fatale Folge, dass sie ihre langjährige Wohnung auf Befehl der Gestapo innerhalb einer Woche zu verlassen hatte, um Platz für Ausgebombte zu schaffen. Sie wurden – wie Ida Cantor im Entschädigungsverfahren angab – in eine in der Alten Schönhauser Str. 58 gelegene 2-Zimmerwohnung „eines vollständig verkommenen Hauses zwecks Konzentrierung jüdisch Versippter umgesiedelt“.[76] Einen großen Teil ihres wertvollen Mobiliars hätten sie damals verschleudern, verschenken oder gar stehen lassen müssen, weil es dafür keinen Platz in der neuen Behausung gab. Am 22. November 1943 wurden sie dann in diesem Haus selbst Opfer des alliierten Bombardements.
Da die Betreuungsstelle für Ausgebombte sich nicht für Juden zuständig fühlte, habe nur sie mit ihrem Sohn eine Notunterkunft gefunden, ihr Mann sei kurzfristig im Jüdischen Krankenhaus aufgenommen worden. Eine arische Familie habe ihnen dann doch noch Räume zur Verfügung gestellt, sodass sie dann doch zumindest für einige Zeit – es waren nur noch drei Monate – wieder zusammen bleiben konnten. Die weiteren Ereignisse schilderte Ida Cantor im Entschädigungsverfahren folgendermaßen:

Sterbeeintrag für Ludwig Max Hugo Cantor
Sterberegister Berlin 825 / 1944

Im Februar 1944 verlangte die NSDAP die umgehende Räumung dieses Notquartiers. Trotz aller eigenen Bemühungen und Unterstützung auch durch die Reichsvereinigung der Juden, der mein Ehemann nicht angehörte, ist es uns nicht gelungen, ein anderweitiges Unterkommen zu finden. Um zu verhindern, dass wir seineswegen obdachlos auf die Strasse gesetzt werden (die Partei hatte bereits Zwangsräumung angedroht, obwohl ordnungsgemäsige Einweisung durch das Quartier- und Wohnungsamt erfolgt war), um uns vor einer Verbringung in ein Konzentrationslager zu bewahren und um uns eine weitere Lebensmöglichkeit zu geben, hat sich mein Mann für seine Familie geopfert und sich am 17.2.44 das Leben genommen.“[77]

Der am 25. Februar 1944 ausgefertigte Polizeibericht, beinhaltete noch weitere Details zum Ablauf der Ereignisse, weist aber natürlich jede Verantwortung zurück:
Die im jüdischen Krankenhaus durchgeführten Ermittlungen ergaben folgendes: Cantor hatte auf der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, die im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischenstr. ihre Büroräume hat, zu tun. Nach Erledigung seiner Angelegenheit verliess er die Büroräume etwa um 10 Uhr. Etwa um 10.15 Uhr wurde C durch einen Angestellten des jüdischen Krankenhauses auf der Toilette liegend gefunden, er gab noch schwache Lebenszeichen von sich. Auf dem Transport in ein Untersuchungszimmer verstarb er. Der die Untersuchung leitende Arzt stellte einwandfrei fest, dass sich an den Lippen und im Munde Pulverreste befanden, die nach näherer Untersuchung sich als Cyancalireste herausstellten. Da C. Chemiker gewesen ist. ist mit Sicherheit anzunehmen, dass er sich dasselbe nicht besonders besorgen brauchte, sondern es noch in seinem Besitze hatte. In diesem Falle dürfte also schon ein fremdes Verschulden bezüglich der Aushändigung des Giftes nicht in Frage kommen.
Auch betr. Selbstmordes kann mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, dass ein fremdes Verschulden nicht vorliegt. Es konnte ermittelt werden, dass C. schon früher des Öfteren sich darüber geäussert hat, seinem Leben ein Ende zu machen. Als Grund gab er an, dass es für einen Juden keinen Zweck mehr habe, in Deutschland zu leben. Der Anstoss zu seiner Handlungsweise dürfte jedoch in dem Umstand sein, dass C. gelegentlich eines Terrorangriffes seinen gesamten Besitz verloren hat. Das Haus Schönhauserstr.
58. in dem sich seine Wohnung befand, brannte vollkommen aus. In der Zeit vom 23.11. bis 1.12.43 war er in der ebenfalls im jüd. Krankenhaus befindlichen Notunterkunft in der Lorthingerstr. 82 zugewiesen. Während seines Aufenthaltes im Krankenhaus äusserte er sich wiederum mehrfach. dass es nun keinen Zweck mehr habe, zu leben. Seine diesbezüglichen Äusserungen waren derart eindringlich, dass niemand daran zweifelte, dass er seine Absicht in die Tat umsetzen würde.“ [78]
Fremdverschulden wird auf die Frage, woher das Gift kam verkürzt, und der Verlust der Wohnung und der Habe als Folge eines alliierten „Terrorangriffs“ abgetan.

Die Witwe und ihr Sohn mussten dann doch aus der Wohnung ausziehen, obwohl die Parteistellen die Räumung nicht weiter verfolgten, aber die Vermieterin, die nach Ida Cantors Aussage keineswegs Gegnerin des Nationalsozialismus war und noch mehr die übrigen Hausbewohner hätten sie aus dem Haus heraus gedrängt.

Hans Cantor wurde als „Halbjude“ im November 1944 noch zur Zwangsarbeit für die „Organisation Todt“ herangezogen. Darüber, wo er eingesetzt wurde, macht er in dem Verfahren keine Angaben. Vier Wochen vor Kriegsende wurde er entlassen. Nach dem Krieg machte Hans Cantor Karriere in der Berliner Justiz, war 1950 Staatsanwalt im ersten Sobiborverfahren, das mit der von ihm geforderten Todesstrafe für den Angeklagten Erich Bauer endete. Das Verfahren, das noch auf Grundlage alliierter Rechtsgrundsätze zur Bewältigung der nationalsozialistischer Gräueltaten geführt worden war, hatte diesen Urteilsspruch noch ermöglicht. Da im Grundgesetz die Todesstrafe aber inzwischen aufgehoben war, wurde das Urteil nicht vollstreckt, sondern in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt.[79]

Wann Ida und ihr Sohn Hans verstarben, konnte nicht ermittelt werden.

 

Veröffentlicht: 28. 07. 2022

 

 

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Anmerkungen:

[1] Auch zu den folgenden Angaben siehe Fink, Jüdische Familien in Kreuznach, S. 24 f.

[2] In ihrem Sterbeeintrag, den ihr Neffe Karl Brach beim Standesamt Saarbrücken 1887 veranlasst hatte, ist ihr Alter mit 72 Jahren und ihr Geburtsort mit Kreuznach angegeben. Die Angabe von Fink beruht allerdings auf den Angaben des Standesamts Obermoschel und ist vermutlich sicherer als die Erinnerung eines Neffen. Siehe zu dessen Angaben Sterberegister Saarbrücken 101 / 1887. Bei Ancestry ist als Geburtsdatum sogar der 10.3.1830 in Nalbach bei Saarlouis angegeben, was sicher nicht richtig ist, siehe https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/54664216/person/122050945898/facts. (Zugriff: 30.7.2022). Möglicherweise wurde bei Ancestry Lazarus und Ottilla auch eine andere Rosalie als Kind zugeordnet.

[3] Fink, Jüdische Familien in Kreuznach, S. 24 und 38. Von Hermann hieß es in einer Nachricht der Kreuznacher Zeitung vom 9.1.1852: „Militärpflichtiger, der ausgeblieben!“ Zit. nach ebd. Vermutlich war er gefallen oder zumindest verschollen. Welchen historischen Hintergrund sein Tod hatte, ist nicht bekannt.

[4] Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 310 f.

[5] Fink, Jüdische Familien in Kreuznach, S. 38

[6]. Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 310.

[7] Ebd.

[8] Senner, Kreuznachs Juden im Vormärz, S.

[9] Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 310.

[10] Ebd..

[11] Heiratsregister Frankfurt 739 / 1868.

[12] Siehe unter diesem Link auch den umfassenden Stammbaum der Familie Kahn.

[13] Geburtsregister Mainz 1067 / 1847. Otto war am 9.3.1850 geboren worden, ebd. 243 / 1850 und Emma Zerline am 14.3.1853, Heiratsregister Frankfurt 1023 / 1873.

[14] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61110/images/43079_deztab%5E97-00301?pId=1500483092. (Zugriff: 30.7.2022). Die Ehe war am 26.7.1847 geschlossen worden. https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61110/images/43079_deztab%5E97-00383?pId=1509484949.  (Zugriff: 30.7.2022).

[15] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61110/images/43079_deztab%5E97-00300?pId=1500483083. (Zugriff: 30.7.2022).

[16] Sterberegister Wiesbaden 847 / 1927.

[17] Sterberegister Wiesbaden 1103 / 1936.

[18] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/54664216/person/122050945898/facts und https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/54664216/person/122050945897/facts. (Zugriff: 30.7.2022).

[19] Fink, S. 44, dazu Familienregister Mainz 12242, wo die Geburtstage und –orte der Kinder dokumentiert sind.

[20] Heiratsregister Mainz 254 / 1890.

[21] Sterberegister Mainz 1383 / 1873.

[22] Geburtsregister Mainz 2137 / 1875.

[23] Die folgende Darstellung über das Schicksal der Nachkommen von Friedrich und Charlotte Cantor sowie der Sektkellerei basiert im Wesentlichen auf dem Aufsatz von Reinhard Frenzel, Das Los der Annaliese Geisse, geb. Cantor und das Ende der Weisenauer Sektkellerei E.&F.Cantor, in: Spuren unter Asche, Mainz 2016, S. 309-326. Hier findet man die relevanten Quellen und auch Faksimiles von wichtigen Dokumenten.

[24] Sterberegister Mainz 10 / 1897. Der Todestag war der 1.6.1897.

[25] Sterberegister Mainz 1346 / 1998. Sein Todestag war der 9.9.1898.

[26] Heiratsregister Frankfurt 134 / 1901.

[27] Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 310.

[28] Zwar wurde Reinhard, der ältere Sohn des Paares am 25.11.1931 in Wiesbaden geboren, aber zumindest nach den Wiesbadener Adressbüchern hatten sie nie auf der rechten Rheinseite gewohnt. Der zweite Sohn Wolfgang kam 1934 dann auch wieder in Mainz zur Welt, siehe ebd. 311.

[29] Ebd. S. 316.

[30] Ebd. S. 315.

[31] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01010503/0241/52419304/001.jpg. (Zugriff: 30.7.2022).

[32] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01010503/0241/52419306/001.jpg. (Zugriff: 30.7.2022). Ob die Asche, die über die Polizeistelle Mainz an seine Tochter Annaliese in einer Urne geschickt worden war und die von Walther Geisse im Garten des dortigen Hauses beigesetzt wurde, tatsächlich die von Alfred Cantor war, wird man mit Fug und Recht bezweifeln dürfen. Siehe Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 316.

[33] https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11482658&ind=1. (Zugriff: 30.7.2022). Dazu Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 316.

[34] Siehe Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 318 ff.

[35] Ebd. S. 318.

[36] Zu diesem Lager siehe Gedenkstätten, S. 297 f.

[37] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de873061. (Zugriff: 30.7.2022).

[38] Siehe dazu detailliert Frenzel, Annaliese Geisse, geb. Cantor, S. 321 ff.

[39] Stadtarchiv Mainz ZGS/E3-17.

[40] Suder, Eis, S. 23.

[41] Heiratsregister Mainz 197 / 1866.

[42] Geburtsregister Mainz 1448 / 1870. Anders als bei Suder hat im Geburtseintrag das Haus die Nummer 268, was aber sicher nur auf einer alten Zählung beruht und identisch mit dem Haus ist, das heute die Nummer 19 trägt.

[43] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/27438226:7619. (Zugriff: 30.7.2022).

[44] Zu den Geburtsangaben siehe das Familienregister Mainz 13243.

[45] Adressbuch Mainz 1874. Welche Bedeutung die Ziegelei und Tonwarenfabrik hatte, ist nicht bekannt. Interessant ist allerdings – aber das würde weiterer intensive Nachforschungen bedürfen -, dass der angeheiratete Neffe von Hugo Cantor, Albert Hess, später in die bedeutende Dotzheimer Ziegelei Eichbaum einheiratete. Salomon Eichbaum, der Gründer der Firma, stammte aus Mainz, siehe dazu oben die die Ausführungen zur Familie von Aurelie Kahn.

[46] Suder, Eis, S. 23

[47] Sterberegister Mainz 285 / 1905. Fälschlicherweise wird als sein Sterbedatum von Suder der 5. Mai 1905 angegeben, Suder, Eis, S. 24.

[48] Sterberegister Mainz 479 / 1891.

[49] Schnitzler, Thomas, „Gewissenhaft und treudeutsch“ – Ernst Cantor – Leben und Wirken eines Turnvereinsvorsitzenden aus Mainz, der Opfer der Rassenverfolgung wurde, in: Jb. Für westdeutsche Landesgeschichte 2007, S. 457-485. Nur nebenbei sei erwähnt, dass Ernst Cantor als Sekretär auch aktives Mitglied im Mainzer Karnevalsverein war, siehe https://www.dilibri.de/stbmz/content/pageview/2030774. (Zugriff: 30.7.2022).

[50] Zur „Victoria-Versicherung“ in der NS-Zeit siehe https://www.uni-mannheim.de/media/Universitaet/Dokumente/C_Abschlussbericht_Projekt_Hamann.pdf (Zugriff: 30.7.2022).

[51] https://www.mappingthelives.org/bio/57b53102-b754-47d7-b098-f51a4001335f und https://www.mappingthelives.org/bio/5c0de3fc-758b-4d10-80a3-f8da397cec9c, (Zugriff: 30.7.2022).

[52] Schnitzler, Ernst Cantor, S. 474 f.

[53] https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0207.pdf. (Zugriff: 30.7.2022).

[54] HHStAW 519/3 8523.

[55] Ebd. (29).

[56] Ebd. (28).

[57] Familienregister Mainz 13243, dazu Heiratsregister Mainz 189 / 1905. Im Geburtsregister Mainz 116 / 1875 und auch im Heiratseintrag ist ihr erster Vorname mit Marie angegeben, im Familienregister dagegen mit Maria.

[58] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/754302390:60492. (Zugriff: 30.7.2022).

[59] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/301271763:2262, (Zugriff: 30.7.2022).

[60] Schnitzler, Ernst Cantor, S. 475. Schnitzler macht dazu keine genaueren zeitlichen Angaben. Das Ausreiseverbot für Juden bestand seit dem 23.10.1941.

[61] Der Ausschnitt aus der Deportationslist ist bei Schnitzler selbst auf S. 475 abgedruckt. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass das Haus am Horst-Wessel-Platz 11 ein Judenhaus war, wie er schreibt. In Auf den Spuren des Nationalsozialismus in Mainz, wo die Judenhäuser auf S. 27 f. aufgeführt sind, ist die Adresse nicht genannt. Durchsucht man die beiden Deportationsliste vom 27. und 30.91942 taucht diese Adresse ebenfalls nicht auf, was für ein Judenhaus doch sehr verwunderlich wäre..

[62] Bei Bömelburg, Vom Antisemitismus zum Völkermord, S. 105 wird der Transport fälschlicherweise mit dem Datum 20. März verbunden, siehe dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 186.

[63] Siehe zu diesem Transport Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 186 f. In Tagebuch einer jüdischen Gemeinde, S. 70 f. sind die Deportierten genauer nach Alter und Berufsstand aufgeschlüsselt. Allerdings ist hier das Abfahrtsdatum mit dem 20.3. falsch angegeben, worauf Gottwaldt / Schulle aufmerksam macht.

[64] Tagebuch einer jüdischen Gemeinde, S. 74. Ein Faksimile einer solchen Postkarte ist bei Brüchert, Rassenwahn, S. 85 abgedruckt. Kingreen hat die Lebensbedingungen im dortigen Ghetto anhand solcher überlieferter Postkarten und anhand der Berichten von Überlebenden umfassend beschrieben, siehe Kingreen, „Wir werden darüber hinwegkommen“, S. 101-103. Zum Transport selbst siehe Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen. S. 187. Verschiedene Mainzer Verwandte von Wiesbadener Judenhausbewohnern befanden sich auch auf diesem Transport, so etwa Ernst Kleeberg oder Bertha und Meta Abt aus der Familie Kahn-Hut, die beide Verwandte im Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 65 hatten, in dem auch Paul Emil Cantor gewohnt hatte. Hier sind auch weiterführende Information zu Piaski dargelegt. Umfassend hat auch Schnitzler die Umstände des Transports beschrieben, siehe Schnitzler, Ernst Cantor, S. 474-478.

[65] Bömelburg, Vom Antisemitismus zum Völkermord, S. 106.

[66] Tagebuch einer jüdischen Gemeinde, S. 77.

[67] Im Tagebuch gibt es eine Notiz vom 18.8., in der es heißt, das Cantor in Gonsenheim ihre Wohnung räumen mussten, Allerdings ist nicht gesagt, um welche Familienmitglieder es sich handelte, siehe ebd. S. 83.

[68] Ebd. 82.

[69] Ebd. S. 85. Bömelburg gibt die Zahl von 20 Selbsttötungen an, verweist aber zurecht auf die hohe Dunkelziffer gescheiterter Versuche, Siehe Bömelburg, Vom Antisemitismus zum Völkermord, S. 107 f.

[70] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/7711-paul-cantor/ und https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/7709-anna-cantor/. (Zugriff: 30.7.2022).

[71] Nach den Recherchen der Stolperstein-Initiative Teltow-Zehlendorf erschien sein Name in einer Liste promovierter Studenten, die die Schule anlässlich ihres 150jährigen Bestehens veröffentlicht hatte. https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/4571. (Zugriff: 30.7.2022).

[72] Heiratsregister Mainz 1303 / 1900.

[73] https://www.mappingthelives.org/assets/background-blured.png. (Zugriff: 30.7.2022).

[74] Die Jahresangabe 1913 stammt von Ida Cantor, Stadtarchiv Mainz ZGS/ E 3, 17.

[75] Ebd.

[76] Ebd.

[77] Ebd., dazu Sterberegister Berlin 825 / 1944.

[78] Ebd. Zit. nach Landesarchiv Berlin A 38249.
Abweichend vom Polizeibericht und auch von der Aussage seiner Ehefrau schreibt die Stolpersteininitiative, dass Max Cantor „wahrscheinlich (…) Anfang 1944 Kenntnis von seiner bevorstehenden Deportation erhielt“ und deshalb seinem Leben ein Ende gesetzt habe. Auch habe der Selbstmord nicht im Jüdischen Krankenhaus stattgefunden, sondern er sei erst anschließend dorthin gebracht worden. Man habe ihn zunächst retten wollen um ihn dann deportieren zu können. Einen Beleg für diese eher fragwürdigen Vermutungen wird in dem kurzen text nicht geliefert. Siehe

[79] https://www.rav.de/publikationen/rav-infobriefe/infobrief-114-2017/der-westberliner-sobibor-prozess-1949/1950. (Zugriff: 30.7.2022). https://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/4571. (Zugriff: 30.7.2022).