Am 3. August 1939, also ebenfalls zu einem Zeitpunkt, an dem es noch keine Judenhäuser in Wiesbaden gab, war auch die 63 jährige Klara Stern aus der Rüdesheimer Str. 38 kommend, in die Dotzheimer Str. 15 eingezogen. Unter ihrer bisherigen Adresse hatte sie zuletzt bei ihrer jüngsten Schwester Rosa gewohnt. Vermutlich war sie nach dem Tod von deren erstem Mann, dem Kaufmann Siegmund Sender, im September 1934 zu ihr gezogen.[1] Klaras Auszug aus der Rüdesheimer Straße fällt zeitlich zusammen mit der Wiederverheiratung der jüngeren Schwester, die sich am 8. August 1939 mit dem Kaufmann Emil Ludwig Landau neu verheiratete. Man kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass das der Grund für Klara Sterns Umzug gewesen sein wird und nicht eine Anordnung von Seiten des Wohnungsamtes oder der NSDAP.
In der Dotzheimer Str. 15 mietete sie ein Zimmer im Erdgeschoss des Hauses, wo auch Blumenthals wohnten. Da ihr Name in der erwähnten Liste der Hausverwaltung fehlt, ist es nicht ausgeschlossen, dass sie bei diesen einen Raum als Untermieterin bekommen hatte.
Klara Stern, geboren am 25. März 1875, war eines von sieben Kindern von Joseph und Franziska Stern, geborene Rapp. Als Beruf des aus Kleeberg stammenden Joseph Stern ist in den Geburtseinträgen der Kinder „Commissionär“ angegeben. In wessen Auftrag und mit welchen Waren er ursprünglichen diesen Handel betrieb, ist nicht bekannt.[2] Bei ihrer Geburt lebten die Eltern in der Mauergasse 13. Auch die anderen Kinder wurden in Wiesbaden geboren, allerdings waren die Eltern unterdessen mehrfach umgezogen. Eins der Kinder verstarb bereits 1878, bevor es das erste Lebensjahr vollendet hatte. Die älteste Tochter Bertha Brenna verschied ebenfalls vor dem Machtantritt der Nazis im Jahr 1930. Auch die Eltern erlebten diese Zeit nicht mehr.[3] Die Schicksale der übrigen fünf Kinder waren auf unterschiedliche Weise durch die Nazi-Herrschaft geprägt.
Dabei bleibt das Leben von Klara, die einzige der Geschwister, die in einem der Konzentrationslager im Osten umgebracht wurde, trotz der vorhandenen Entschädigungsakte weitgehend im Dunklen. Sie war unverheiratet geblieben und ob sie einen Beruf erlernt hatte, ist ebenfalls nicht gewiss. Auf ihrer Gestapo-Karteikarte ist „ohne Beruf“ eingetragen, was aber nur bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Erstellung nicht berufstätig war. Ihre Lebensumstände müssen sehr ärmlich gewesen sein. Als die Devisenstelle im Sommer 1940 auch für sie eine „JS-Mappe“ zur Kontrolle ihrer Finanzen anlegte, bat sie darum, wegen ihres geringen Vermögens von einer solchen Maßnahme abzusehen.[4] Dem beigefügten Formular kann man entnehmen, dass sie damals etwa 860 RM besaß, angelegt in Wertapieren. Neben der monatlichen Miete von 30 RM, gab sie für Lebensmittel und andere Ausgaben einen Bedarf von 40 RM an. Genau 70 RM wurden ihr daraufhin als Freibetrag bewilligt.[5] Wie sie mit diesen wenigen Mitteln in den folgenden zwei Jahren über die Runden kam, ist nicht bekannt. Von ihren Verwandten, die verstorben waren oder Deutschland verlassen hatten, konnte sie kaum mehr Hilfe erwarten, auch wenn diese sie hätten unterstützen wollen.
Am 1. September 1942 war sie mit ihren Mitbewohnern Lina und Joseph Blumenthal für den Transport in das sogenannte Altersghetto Theresienstadt vorgesehen. Klara war zu diesem Zeitpunkt bereits 67 Jahre alt und – wie auf ihrer Gestapo-Karteikarte vermerkt – krank und arbeitsunfähig. Am Abend zuvor hatten sie sich alle in der Synagoge in der Friedrichstraße einzufinden, nachdem sie ihre Wohnungen gemäß den genauen Anweisungen der Gestapo zurückgelassen hatten. Die einzigartigen Bilder dieser Zusammenkunft im Hof der Synagoge zeigen zutiefst verunsicherte und verängstigte Menschen. Da man von keinem derjenigen, die im Juni auf einen solchen Transport geschickt worden waren, noch jemals etwas hörte, werden viele eine Ahnung davon gehabt haben, was sie selbst zu erwarten hatten, nachdem sie am folgenden Morgen an der Schlachthoframpe des Bahnhofs die Waggons bestiegen, die sie nach Theresienstadt bringen sollten. Von den 365 Mitfahrenden starben 85 in Auschwitz, 74 in Treblinka und 200 noch in Theresienstadt selbst. Zu den Letzteren gehörte auch Klara Stern. Nach genau drei Wochen, die sie nach den Eintragungen der Todesfallanzeige wohl auf dem Dachboden des Gebäudes mit der Nummer 514 verbringen musste, verstarb sie am 22. September 1942 nach Angaben des dortigen Arztes an einem Darmkatarrh, eine Diagnose, die den gewaltsamen Tod nur unzulänglich kaschiert.[6]
Auch der Tod der an Diabetes erkrankten jüngeren Schwester Rosa, bei der Klara zuvor gewohnt hatte, die schon ein halbes Jahr nach ihrer zweiten Eheschließung im Januar 1940 verstarb, muss in Anbetracht des chronischen, kriegsbedingten Mangels an Insulin in diesem historischen Zusammenhang gesehen werden. Wenn man dann noch Jude war, hatte man absolut keine Chance an dieses lebenswichtige Medikament zu kommen. Auch dieser Tod hätte unter anderen Umständen vermutlich verhindert werden können.
Mitte Dezember 1930 war Rosa mit ihrem ersten Mann Siegmund Sender von Ludwigshafen nach Wiesbaden gekommen. Beide waren zu diesem Zeitpunkt 59 Jahre alt, krank, arbeitslos und verarmt.[7] Seit etwa einem halben Jahr lebten sie weitgehend von der Wohlfahrtsunterstützung und von Lebensmittel, die sie von den Verwandten erhielten. Gerade mal 250 RM hatten sie in dem letzten halben Jahr mit dem Provisionsvertrieb von Manufakturwaren noch selbst erwirtschaften können. Schon im folgenden Jahr starb Siegmund Sender an den Folgen eines Schlaganfalls.[8] Ihre zweite Ehe mit dem am 22. August 1879 in Breslau geborenen Emil Ludwig Landau wurde durch ihren Tod am 29. Januar 1940 nach nur eineinhalb Jahren beendet. [9]
Der erste, der von den Geschwistern in die Hände der Nazis geriet, war der jüngste Bruder Bertram Stern. Er hatte eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen und sich später weitgehend mit Immobilien- und Finanzgeschäften befasst. Möglicherweise konnte er dabei an das geschäftliche Engagement seines Vaters anknüpfen, hatte vielleicht auch schon in dessen Agentur mitgearbeitet und sich daran finanziell beteiligt.[10] Auch war er Mitbegründer der „Allgemeinen Effekten- und Kreditbank AG, Wiesbaden“, weshalb er sich selbst mitunter als Bankier bezeichnete. Aber die Geschäfte seiner verschiedenen Unternehmen scheinen nicht sehr gut gelaufen zu sein. Vermutlich auf Grund von Fehlspekulationen während der Inflation musste 1925 nach Angaben der Auskunftei Blum sein recht umfangreicher Immobilienbesitz zwangsversteigert werden. Auch weitere Versuche, u. a. auch die Gründung der „Immobilienverwaltungsgesellschaft AG“, die „IVAG“, waren gescheitert, sodass Bertram Stern am 9. Juli 1931 gezwungen war, einen Offenbarungseid zu leisten.[11] Unzweifelhaft wäre es ihm in den folgenden Jahren unter der NS-Diktatur nicht gelungen, seine wirtschaftliche Situation zu verbessern.
Schon unmittelbar nach der „Machtergreifung“ war er in Konflikte mit den Behörden geraten. Zunächst wurden ihm Verstöße gegen das Devisengesetz vorgeworfen, weshalb er zunächst in Karlsruhe, dann in Wiesbaden und Frankfurt für mehrere Wochen im Mai / Juni 1933 inhaftiert worden war. Zu einer Verurteilung in dieser Sache kam es aber genauso wenig, wie bei der näüchsten Anklage im September des gleichen Jahres wegen „Verächtlichmachung der Reichsregierung“. Allerdings führte auch diese zu einer erneuten, diesmal zweiwöchigen Untersuchungshaft.[12] Er soll gegenüber einem Bekannten geäußert haben, dass das Reichstagsgebäude von den Nazis selbst angezündet worden sei und die Mitglieder der Regierung Verbrecher seien. Da ihm diese Aussagen aber nicht nachgewiesen werden konnten, wurde er mangels Beweisen damals noch freigesprochen und aus dem Gerichtsgefängnis in Frankfurt entlassen.[13] Unmittelbar danach verließ er Deutschland und wanderte nach Palästina aus, ob freiwillig oder erzwungen spielt angesichts seiner ohnehin bedrohlichen Situation kaum eine Rolle.
Bertram Stern hatte vor der Ausreise in Wiesbaden in der Johannisberger Str. 1 gewohnt. Nach den Ermittlungen der Polizei, die im Rahmen des Entschädigungsverfahrens 1955 aufgenommen worden warten, soll er hier im zweiten Stock des Vorderhauses in zwei möblierten Zimmern als Untermieter logiert haben, allerdings nicht alleine, sondern „mit seiner Ehefrau und seinem Sohne.“[14] Wer diese Frau und wer dieser Sohn gewesen sein soll, ist nicht bekannt. Es muss auch angezweifelt werden, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, denn nach seiner Ankunft in Palästina heiratete Bertram, der inzwischen den Vornamen Baruch angenommen hatte, dort im Jahr 1935 die 35jährige Rivka Kaminsky.[15]
Das Paar lebte dort in den folgenden Jahren vermutlich in sehr bescheidenen Verhältnissen. Als Bertram / Baruch am 20. April 1953 in Jerusalem im Alter von 67 Jahren an Herzversagen starb, war er, so der etwas vage Eintrag in der Sterbeurkunde, von Beruf „Hauswirt“.[16] Da er kein Testament hinterlassen hatte, wurde sein Erbe, das im Wesentlichen aus den Entschädigungsansprüchen gegenüber dem deutschen Staat bestand, nach israelischem Recht zwischen seiner Frau und den noch lebenden Geschwistern geteilt.[17]
Auch der Bruder Leopold und die Schwester Paula konnten rechtzeitig in ein sicheres Exil entkommen, aber wie ihren Geschwister konnten sie nicht viel mehr als ihr Leben retten. Während Paula ebenfalls nach Israel auswanderte, erhielt Leopold für sich und seine Familie nach längeren Aufenthalten im europäischen Ausland 1940 das ersehnte Visum für die USA. Bis er aber dorthin gelangte, musste er mehrfach seinen Aufenthaltsort wechseln und diverse Auseinandersetzungen mit den deutschen Behörden ausfechten.
Für Leopold Stern bedeutete die Flucht einen völligen Bruch auf seinem bisher sehr erfolgreichen Lebensweg. 1903 hatte er die aus Albersweiler stammende Sophie Mayer geheiratet und in den folgenden Jahren waren dem Paar die beiden Kinder Kurt und Erna geschenkt worden. [18] Auch geschäftlich war der Kaufmann trotz kleiner Einkommenseinbußen recht gut über die ersten Jahre der Weltwirtschaftskrise hinweggekommen.[19] Die Wohnung im Haus Mauergasse 8, das dem Ehepaar ursprünglich gehörte, soll reich ausgestattet gewesen sein.[20] Hier war auch die Geschäftsadresse der 1902 gegründeten Firma„Wiesbadener Bettfedernhaus und Bettfedernfabrik – Inhaber Leopold Stern“, mit der ein recht stattliches Vermögen erwirtschaftet worden war:.[21] Aus gesundheitlichen Gründen gab er 1934 die Firma an seinen Schwiegersohn Leopold Präger ab, der am 28. August 1928 die Tochter Erna geheiratet hatte.[22] Leopold Stern hielt sich in den folgenden Jahren jeweils über mehrere Monate im Ausland auf, hauptsächlich in Italien und der Schweiz. Diese lange Abwesenheit aus Deutschland, die die Aufmerksamkeit der Finanzbehörden erregt hatte, begründete er diesen gegenüber mit den besseren klimatischen Bedingungen in diesen Ländern. Man kann aber davon ausgehen, dass er auch das politische Klima in Deutschland für seine diagnostizierte Herzerkrankung als keineswegs förderlich ansah.
Auch nach der Übertragung der Firma an seinen Schwiegersohn, hatte Leopold Stern als Vertreter für verschiedene Firmen, für die er Textilien, hauptsächlich Bettwaren, im gesamten süddeutschen Raum und im Rheinland verkaufte, noch einen durchschnittlichen Verdienst von 8-9 Tsd. RM im Jahr.[23] 1936 wurde er entlassen, weil – so seine Formulierung in einem Schreiben an die Entschädigungsbehörde 1954: „durch Verordnung der deutschen Regierung (Hitler) den Kaufleuten (Christen) verboten [wurde], von jüdischen Agenten oder Firmen zu kaufen. Die Geschäfte wurden von der Nazzi-Regierung (sic!) bedroht mit Strafen wenn Sie es fortführen würden. Die Christl. Firmen wurden aufgefordert Ihre jüd. Agenten zu entlassen.“[24]
Leopold Stern hatte daraufhin versucht, in den Nachbarländern, der Schweiz, Frankreich und den Benelux-Staaten, in seinem bisherigen Beruf zu arbeiten, jedoch ohne Erfolg. Die Familie lebte von den wenigen Mitteln, die sie zuvor ins Ausland transferiert hatte. Der größte Teil des Vermögens war aber in Deutschland gebunden, sodass sie bald auf die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen angewiesen war. Zudem wurde gegen Leopold Stern jetzt von der Zollfahndungsstelle Mainz ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung und Devisenvergehen angestrengt.[25] Es wurde ihm nicht nur unterstellt, illegal aus Deutschland ausgewandert zu sein,[26] sondern darüber hinaus die Zinserträge der ausländischen Papiere nie ordnungsgemäß versteuert zu haben. Aus diesen Gründen wurden schon 1938 Wertpapiere in Höhe der fälligen Reichsfluchtsteuer von ca. 17.000 RM gepfändet, zudem beschlagnahmte man das ganz Mobiliar in der geräumigen 5-Zimmerwohnung der Schlichterstr. 16, wo inzwischen die geschäftlichen Nachfolger, die Tochter Erna mit ihrem Mann Leopold Präger wohnten.[27]
1938 verließen Leopold Stern mit seiner Frau Sophie dann auch offiziell und „legal“ Deutschland, nachdem die fällige Reichsfluchtsteuer durch die Überlassung von Wertpapieren in Höhe von 15.000 RM abgegolten worden war. Die beschlagnahmten Möbel waren versteigert worden.[28] Von Holland aus, sie hatten zuletzt in Amsterdam gelebt, traten sie 1940 die Ausreise in die USA an, nachdem sie die erforderlichen Genehmigungen erhalten hatten. Dort konnte Leopold Stern zwar an seine frühere Tätigkeit anknüpfen, allerdings mit weitaus geringerem wirtschaftlichem Erfolg. Er und seine Familie lebten von dem kleinen Verdienst, den sie beim Ankauf von Federn aus Geflügelschlachtereien und deren Weiterverkauf erhielten. Seit 1946, Leopold war fast 70 Jahre alt, waren sie wieder auf die Unterstützung jüdischer Wohlfahrtsorganisationen angewiesen.[29]
Am 6. Februar 1956 verstarb Leopold Stern in Baltimore, seine Frau Sophie ebenfalls dort am 9. November 1959. Ob auch die Kinder Kurt und Erna mit ihrer Familie damals bei der Überfahrt dabei waren, konnte nicht ermittelt werden, aber auch sie lebten nach dem Ende des Krieges und der Naziherrschaft mit ihrem am 24. Juni 1932 noch in Wiesbaden geborenen Sohn Lutz Alexander in Baltimore.[30]
Leopold verstarb am 6.2.1956 in Baltimore, seine Frau Sophie am 9.11.1959 ebenfalls in Baltimore. Von den beiden Kindern Kurt und Erna ist bekannt, dass Erna noch in Wiesbaden am 30.8.1928 Leopold Präger geheiratet hatte. Die beiden wohnten laut Jüdischem Adressbuch 1935 in der Adolfsallee 52, sind dann später mit ihrem am 24.6.1932 geborenen Sohn Lutz Alexander auch in die USA emigriert und haben dort wie die Eltern von Berta in Baltimore gelebt.
Leopold hatte trotz der eigenen Not während der gesamten Zeit die nach Palästina emigrierte Schwester Paula finanziell unterstützt. Zwar schrieb Paula verschiedene Briefe an die deutschen Behörden, 1956 sogar an Adenauer persönlich, in denen sie ihre durch Krankheit und Geldmangel mehr als schwierige Situation im Exil schilderte, aber auf ihre eigene Lebensgeschichte ging sie darin nicht näher ein. Es ist daher auch nicht bekannt, wann sie selbst Deutschland verlassen[31] und wann und wo sie ihren zweiten Ehepartner Paul Zerwinsky kennengelernt und geheiratet hatte. Ihr erster Ehemann, Bruno Hirsch, mit dem sie am 6. Dezember 1923 noch in Wiesbaden getraut worden war, war schon drei Jahre nach der Hochzeit im Jahr 1926 verstorben. Aber auch der zweite Ehemann war zum Zeitpunkt der Entschädigungsverfahren nicht mehr am Leben. Am deutlichsten kommt ihre damalige Gefühlslage, besonders das Gefühl der Verlassenheit, in einem an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden gerichteten Brief vom 20. April 1956 zum Ausdruck:
„Ich bitte sehr, Ihre Excellenz, mir weiter zu helfen und mir alles was ich noch zu bekommen habe so bald es in der Kraft Sr. Excellenz steht zu überweisen. In meinem Alter ist doch noch jeder Tag ein Geschenk Gottes, hoffe ich doch mit Gottes Hilfe, dass Sr. Excellenz Herrn Bundeskanzler Adenauer mich alte kranke Frau weiter seine Güte erweist – Amen. Wäre meine geliebte selige Schwester Klara Stern am Leben geblieben, so hätten wir Beide reichlich zu leben gehabt. Da nun mein einziger Bruder Herrn Leopold Stern selig nun auch gestorben ist, bin ich ganz alleine von 6 Geschwistern übrig geblieben, stehe folglich einsam und verlassen da.“[32]
Nach dem Tod des Bruders war Paula nicht mehr in der Lage ihre Ansprüche gegenüber den Behörden noch durchzusetzen. Sie baute auf die „Güte“ der Verantwortlichen und konnte die Komplexität der Verfahren nicht mehr durchschauen. Im Januar 1957 schrieb sie noch einmal verzweifelt an das Regierungspräsidium:
„Wie meine Verhältnisse liegen, so weiss die Behörde, dass ich eine arme alte kranke Frau bin im 78ten Lebensjahr dauernd ärztliche Hilfe benötige, kein Geld habe. Man sagt mir allenthalben, dass ich Anspruch auf monatliche Altersrente habe und erhoffe ich untertänigst Herrn Regierungspräsident mir doch auf schnellstem Wege Hilfe zu leisten. Ich habe so viele Schulden gehabt, dass mein ganzes Geld dahin ist und ich vor einem Hungertode stehe.“[33]
Man beschied ihr, dass alle ihre Ansprüche, die sich auf die Entschädigung ihrer Schwester Klara bezogen, endgültig erledigt seien, sie möglicherweise noch Unterstützung von der ‚Claims-Conference’ erhalten könne.[34] Dass sie auch eigene Ansprüche gehabt hätte, erfuhr sie zu spät.
Auf der Rückseite des letzten Briefes in ihrer Akte, in dem die Entschädigungsbehörde bei ihr im September 1960 anfragte, welche Anträge sie noch zu stellen beabsichtige, sind einige Daten zu Wiedervorlage der Akte notiert. Das letzte Datum ist der 1. September 1961, darüber ist mit Bleistift die knappe Notiz „AStin [Antragstellerin – K.F.] verstorben“ vermerkt.[35] Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt.
Anmerkungen:
[1] Rosa Sender ist mit dieser Adresse im Jüdischen Adressbuch von 1935 eingetragen, für Klara fehlt dagegen ein Eintrag gänzlich. Ihr Mann, Siegmund Sender, geboren um 1884 im ostgalizischen Kolomea, war am 5.9.1934 in Wiesbaden verstorben, Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1934 / 1086.
[2] Nach Angaben der nicht immer zuverlässigen Auskunftei Blum hatte Joseph Blum sich bereits als Immobilienhändler und Hypothekenvermittler betätigt, somit eine Agentur gegründet, die später von seinem Sohn Bertram übernommen worden sein soll, siehe HHStAW 518 39025 (93).
[3] Der Vater, geboren am 25.8.1841, verstarb am 6.1.1917, die Mutter, die um 1884 in Bad Homburg geboren wurde, am 1.10.1914, siehe Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.
[4] HHStAW 519/3 8017 (3).
[5] HHStAW 519/3 8017 (4, 5).
[6] https://ca.jewishmuseum.cz/media/zmarch/images/3/2/0/9122_ca_object_representations_media_32015_large.jpg. (Zugriff: 21.10.2017).
[7] HHStAW 685 709 b (25). Laut polizeilicher Ummeldung war Siegmund Sender am 29.5.1884 in Kolema in Galizien geboren worden und galt als staatenlos.
[8] HHStAW 685 709 b (50).
[9] Die Ehe der Schwester fand schon nach einem halben Jahr wieder ein Ende, da Rosa am 29. Januar 1940 ihrer Diabeteserkrankung zum Opfer fiel. Zu Emil Ludwig Landau, der zuletzt im Judenhaus in der Hermannstr 26 wohnte und Opfer des Holocaust wurde, siehe unten..
[10] Am 24.4.1928 wurde der Kaufmann Bertram Stern als Inhaber der Firma ‚Josef Stern & Sohn’ in das Handelsregister eingetragen, siehe HHStAW 518 39025 (55).
[11] HHStAW 518 39025 (93). Es soll sich um die Häuser Kleine Webergasse 6, 13 und 9, Webergasse 12, Röderstr. 27 und Häfnergasse 3 gehandelt haben. Ein weiteres Unternehmen, die „Südwestdeutsche Grundstücksgesellschaft m.b.H.“, die er noch 1930 gegründet hatte, soll nach seinen Angaben von seiner Schwester Rosa Sender gezwungenermaßen „an einen Nazi Amtmann“ übertragen und später von Amtswegen gelöscht worden sein, ebd. (81). Laut Handelsregistereintrag wurde die Firma am 24.2.1936 zwar gelöscht, als Inhaber und persönlich haftender Gesellschafter war bis zu diesem Zeitpunkt aber noch immer Bertram Stern eingetragen, siehe ebd. (53).
[12] Siehe zu den verschiedenen Inhaftierungen HHStAW 409/3 4427 passim und HHStAW 518 39025 passim. Die genauen Daten der Inhaftierung sind nicht konsistent, eidesstattliche Erklärungen und behördliche Unterlagen weichen z.T. voneinander ab. Zunächst wurden behördlicherseits immer wieder Zweifel daran geäußert, ob er überhaupt inhaftiert gewesen sei. In einem offensichtlich speziellen Formular des Innenministeriums zu Beurteilung der Antragsteller in den Entschädigungsverfahren ist bei der Kategorie der Verfolgungsursache, wo politisch, rassisch, religiös zur Auswahl stand unter „rassisch“ dick mit rotem Stift unterstrichen „Nicht anerkannt“, obwohl er unzweifelhaft Jude war. Mit der gleichen roten Markierung ist bei der Frage nach der Zulässigkeit des Antrags das Wort „zweifelhaft“ hervorgehoben, siehe 518 39025 (3). Diese Beurteilung – leider nicht datiert – wurde ganz offensichtlich schon unmittelbar nach Eingang des Antrags auf Entschädigung vorgenommen, wie man aus der Ordnung der Akte schließen kann, zu einem Zeitpunkt also, zu dem noch keine Beweismittel erhoben worden waren.
[13] HHStAW 518 39025 (18, 73).
[14] HHStAW 518 39025 (34).
[15] HHStAW 518 39025 (56) Heiratsurkunde ausgestellt am 15.9.1935 in Jerusalem. Dennoch ging die Entschädigungsbehörde in ihrem Bescheid vom September 1955, in dem es um die Entschädigung für die Haftzeiten von Bertram Stern ging, davon aus, dass dieser zusammen mit der in der vorgenannten Quelle erwähnten Ehefrau nach Palästina ausgewandert sei, ebd. (67). Von dem Sohn ist darin allerdings keine Rede mehr. Die ‚United Restitution Organization (URO)’, die die Interessen der Stern vertrat, stellte demgegenüber klar, „dass die Antragstellerin [Rivka Stern, geb. Kaminsky – K.F.] ihren Ehegatten erst in Israel kennengelernt hat“, ebd. (87).
[16] HHStAW 518 39025 (68).
[17] HHStAW 518 39025 (23).
[18] HHStAW 518 899 (13), der Tag der Eheschließung war der 11.6.1903. Kurt war am 27.4.1904, Erna am 18.5.1905 geboren worden.
[19] Laut städtischem Steueramt lag sein Einkommen in den Jahren 1929 bis 1931 zwischen 22 und 32 Tsd. RM, 1931 ging es aber auf knapp 14.000 RM und danach auf Beträge zwischen 5 und 3 Tsd. zurück, siehe HHStAW 518 899 (18, 51).
[20] HHStAW 518 899 (8) und Stadtarchiv WI/3 983.
[21] Es soll Mitte der dreißiger Jahre noch bei etwa 60.000 RM gelegen haben und hauptsächlich aus in- und ausländischen Wertpapieren bestanden haben, siehe 519/3 8582 (15).
[22] Ebd. und Heiratsregister Wiesbaden 1928 / 650.
[23] HHStAW 518 899 (19, 20).
[24] HHStAW 518 899 (20).
[25] Siehe dazu 519/3 8582 passim.
[26] Tatsächlich hielt er sich seit Februar 1937 ständig im Ausland auf, war aber weiterhin in Wiesbaden gemeldet und zahlte hier auch weiterhin seine Steuern.
[27] Diese hatten ihre eigenen Möbel aus ihrer bisherigen Wohnung in der Adolfsallee 22 in der Schlichterstr. 11 untergestellt, wo ein Helmut Stern wohnte, welche verwandtschaftlichen Beziehungen zu diesen Sterns bestanden, konnte nicht geklärt werden.
[28] HHStAW 518 899 (15).
[29] HHStAW 518 899 (50). Als Entschädigung wurde ihm 1956 eine Rente und eine einmalige Entschädigung über etwa 5.000 DM zugestanden, ebd. (69 ff.).
[30] Erna Präger muss im Rahmen der von der Stadt Wiesbaden durchgeführten Besuchsprogramme ehemaliger jüdischer Mitbürger 1989 auch noch einmal nach Wiesbaden gekommen sein. Die Unterlagen darüber werden vom Stadtarchiv Wiesbaden leider unter Verschluss gehalten.
[31] In einem der Briefe schreibt sie allerdings, dass sie bis zum 54sten Lebensjahr deutsche Staatsbürgerin gewesen sei, was den Schluss zulässt, dass die 1879 Geborene im Jahr 1933 oder 1934 ausgewandert sein müsste, siehe 518 53032 (3).
[32] HHStAW 518 4303 (44). Auch an den im Brief erwähnten ehemaligen Bundeskanzler Adenauer hatte sie seinerzeit einen ähnlichen Brief geschrieben, siehe ebd. (49). Wenn Paula Stern hier von insgesamt 6 Geschwistern spricht, dann hat sie vermutlich den im Säuglingsalter verstorbenen Bruder Hugo nicht mehr mitgezählt. Klara Stern hatte ihre Schwester Paula per Testament als Alleinerbin eingesetzt, siehe HHStAW 518 4303 (33). Diese wiederum hatte das Erbe an ihren Bruder Leopold abgetreten, weil er sie in Israel unterstützt hatte und sich auch um die Entschädigungsangelegenheiten seiner Geschwister kümmerte, ebd. (6).
[33] HHStAW 518 4303 (57).
[34] HHStAW 518 4303 (61).
[35] HHStAW 518 4303 (71).