Johanna Windmüller


Hirschkind, Dora
Das Judenhaus in der Albrechtstr. 13 heute
Eigene Aufnahme
Judenhaus Wiesbaden, Liebmann, Albert
Lage des ehemaligen Judenhauses Albrechtstr. 13
Albrechtstrf. 13, Judenhaus, Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Albrechtstr. 13

 

 

 

 

 

 


Lavy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller
Stammbaum der Familie Windmüller
GDB

Als Letzte kam am 14. April 1942 die Witwe Johanna Windmüller in die Albrechtstr. 13. Ursprünglich stammte sie aus dem Städtchen Bünde in der Nähe von Herford in Westfalen. Hier war sie am 18. Juni 1858 als Tochter von Leser Gans / Ganz geboren worden. Während über ihren familiären Hintergrund sonst nichts bekannt ist, auch den Namen der Mutter weiß man nicht, reicht die Familienchronik ihres Mannes Levi oder Louis Windmüller zurück bis in das 17., möglicherweise sogar in das 16. Jahrhundert.[1] Johanna und Louis heirateten am 1. Dezember 1880 in Bünde, dem Heimatort der Ehefrau.[2]

Levy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller
Isaac Abraham Windmüller
https://www.ancestry.de/mediaui-viewer/collection/1030/tree/172596833/person/252242773237/media/2b58cd46-4405-42ea-8340-d7df387bc390?_phsrc=Ekt1226&usePUBJs=true
Levy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller, Frieda Levy, Judenhaus Albrechtstr. 13, Wiesbaden
Johanna Channa Windmüller, geborene Jacobson
https://www.ancestry.de/mediaui-viewer/collection/1030/tree/172596833/person/252242773207/media/1811b23e-d54a-4356-83b7-d62ddb09ef41?_phsrc=Ekt1229&usePUBJs=true

1872 hatte Levi Windmüller sein Abitur abgelegt und anschließend ein Medizinstudium aufgenommen, das er mit einer Promotion zum Dr. med. abschließen konnte. Im westfälischen Neviges, wo das Paar lebte, praktizierte Louis, wie er sich selbst nannte, als Sanitätsrat, praktischer Arzt und Geburtshelfer. Aber auch politisch war Louis Windmüller zumindest auf kommunaler Ebene aktiv. Als Mitglied der „Freisinnigen Partei“, die zum fortschrittlichen Flügel des Liberalismus im Deutschen Kaiserreich zu zählen ist, war er zum Beigeordneten des Gemeinderats gewählt worden. Nach der Revolution legte er 1919 dieses Mandat nieder. Ob ihn dazu politische Gründe, sein Alter oder womöglich sein Gesundheitszustand veranlasst hatten, ist nicht bekannt. Er starb aber bald darauf am 21. August 1921 im Alter von 72 Jahren in Wuppertal Elberfeld.[3]

Levy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller
Seite aus den Windmueller-Family Collection mit der Seite über die Familie von Louis und Johanna Windmüller
https://archive.org/details/windmuellerfamilyf004/page/n89/mode/2up

In Neviges waren zuvor auch die beiden Söhne des Paares geboren worden, zunächst am 2. März 1883 Walter,[4] dann am 5. Juni 1886 Werner.[5] Walter trat in die Fußstapfen seines Vaters und studierte in Bonn, Würzburg, Berlin und Heidelberg Medizin, promovierte 1911 und übernahm noch im selben Jahr die Praxis des Vaters. Nach Briefen, auf die in der Familien-Chronik Bezug genommen wird, war Walter einer der Ersten, die sich noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Freiwillige gemeldet hatten. Vom 20. August 1914 bis zum Kriegsende im November 1918 diente er hauptsächlich als Truppenarzt an der Front. Nach Kriegsende wurde er vom Landrat beauftragt, die medizinische Versorgung der Bevölkerung des Kreises zu übernehmen. Am 14. November 1920 heiratete er in Sayn bei Koblenz die am 18. April 1891 dort geborene Else Jacoby. Die Ehe blieb kinderlos, aber die Tatsache, dass das Paar am 22. Juli 1930 von Bremerhaven aus zu einer Gesellschaftsreise zum Nordkap aufbrechen konnte, zeigt ihren gehobenen Lebensstandard.[6] Sein durchschnittliches Jahreseinkommen lag zwischen 25.000 RM und 40.000 RM.[7] Aber schon bald nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, kam es zu Konflikten mit der Partei und den Krankenkassen, weshalb das Paar am 30. August 1937 Neviges verließ und nach Köln zog.[8]

Adressbucheintrag Düsseldorf Mettmann 1931/32

Sein Bruder Werner absolvierte ein Pharmaziestudium und führte zunächst in Remscheid eine Apotheke.1926 ehelichte er Frieda / Friedel Levy, die am 21. Oktober 1902 in Danzig geboren worden war.[9] Im folgenden Jahr wurde ihnen am 15. Juni eine Tochter geschenkt, die den Namen Ursula / Ursel erhielt.[10] Auch Werner Windmüller wurde unter der NS-Diktatur zur Aufgabe seines Geschäfts gezwungen.[11]

Levy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller, Frieda Levy, Judenhaus Albrechtstr. 13, Wiesbaden
Johanna Windmüller, geborene Gans
https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM/photos4/hon/14223031.JPG

Über den Zeitpunkt, seit wann Johanna Windmüller Bürgerin der Stadt Wiesbaden war, machen die Quellen unterschiedliche Aussagen. So ist auf ihrer Gestapo-Karteikarte als Zugangsdatum der 28. Oktober 1926 festgehalten. Auf welcher Basis diese Datierung erfolgte, ist allerdings unklar, denn die Kartei selbst wurde erst 1938 angelegt. Im Gedenkbuch der Velberter Opfer des Nationalsozialismus ist ihr Umzug erst auf den 21. November 1933 datiert. Als ihre neue Adresse in Wiesbaden ist die Tannenbergerstr. 34 angegeben,[12] eine Straße in Biebrich, die bis Mai 1933 den Namen des Arbeiterführers Karl Liebknechts trug. Leider sind die städtischen Meldeunterlagen im Krieg zerstört worden, sodass eine gesicherte Zeitangabe bezüglich ihres Umzugs nach Wiesbaden nicht möglich ist.
Da sie zu einem nicht bekannten Zeitpunkt in die Sonnenberger Str. 24, in die Pension ‚Helene’ zog, ist es nachvollziehbar, wieso ihr Name nicht in den städtischen Adressbüchern verzeichnet ist. Nicht zu erklären ist aber, weshalb sie auch nicht in dem 1935 erschienen Jüdischen Adressbuch aufgeführt ist. Laut ihrer Gestapokarteikarte wechselte sie am 26. November 1938 ihr Quartier. Das Haus Leberberg 11a war ebenfalls eine Pension, die den schönen Namen ‚Internationales Fremdenheim’ trug. Ob die nur wenige Tage zuvor stattgefundene Reichspogromnacht der Grund für den Umzug war, man jüdische Bewohner in dem Haus nicht mehr dulden wollte, ist nahe liegend, aber nicht zu belegen.
Johanna Windmüller war eine recht vermögende Privatiere, die sich über die gesamte Zeit die Unterbringung in einer Pension leisten konnte, aber selbstverständlich auch die Begehrlichkeiten des klammen NS-Staates weckte.
Da waren zunächst die Immobilien. In der Vermögenserklärung, die abzugeben auch Johanna Windmüller mit Stand 27. April 1938 gezwungen wurde, gab sie das Haus Adolf-Hitler-Str. 72 in Neviges an, das Haus, in dem sie früher mit ihrem Mann und den Kindern gewohnt hatte. Es war 1935 mit einem Einheitswert von 14.900 RM taxiert worden.[13] Das ehemalige Einfamilienhaus war inzwischen zum Mehrfamilien-Mietshaus umgebaut worden und die Eigentümerin hatte es 1939 noch einmal aufwändig für 10.000 RM renovieren lassen. Um die Renovierung bezahlen zu können, hatte sie sogar bei ihrem Sohn Walter eine Hypothek über 8.000 RM aufgenommen und ins Grundbuch eintragen lassen.[14]
Den Akten des Entschädigungsverfahrens ist zu entnehmen, dass sie neben diesem Haus auch noch im Besitz zweier Häuser in Wuppertal-Elberfeld war, die sie in der oben genannten Vermögenserklärung aber nicht angegeben hatte. Es handelt sich um die zwei Gebäude in der Elberfelder Str. 21 und 72. Auch in späteren Vermögenserklärungen tauchen die nicht auf, wurden aber ihren Erben 1950 und 1951 zurückerstattet, nachdem das Deutsche Reich sich diese nach ihrer Deportation angeeignet hatte.[15]
Daneben besaß sie aber auch ein Wertpapierdepot in Höhe von etwa 35.000 RM [16] und Hypothekenforderungen, die nicht unbeträchtliche Zinserträge abwarfen. Goldpfandbriefe im Wert von 4.000 RM hatte sie noch 1937 gegen eine lebenslange Rente eingetauscht.[17]

Johanna Windmüller
Johanna Windmüller bittet vergebens um den Erlass der 5. Rate der Judensteuer
HHStAW 685 852b (18).

Als nach der Reichspogromnacht Johanna Windmüller zur Zahlung der Judenvermögensabgabe, der „Judensteuer“, herangezogen wurde, errechnete das Finanzamt Wiesbaden ein Gesamtvermögen von 36.700 RM – die beiden Häuser in Wuppertal fehlten in der Aufstellung ! Davon wurde die Hypothek ihres Sohnes abgezogen, sodass 28.000 RM zur Grundlage der Berechnung gemacht wurden. In vier Raten mit je 1.400 RM sollte sie zusammen 5.600 RM abgeben.[18] Um die Summe aufbringen zu können, musste sie sich von einem großen Teil ihrer Wertpapiere trennen.[19] Als im folgenden Jahr auch von ihr die zusätzliche 5. Rate gefordert wurde, bat sie darum, ihr diese doch bitte zu erlassen. Ihr Vermögen bestehe nur noch aus 13.500 RM. Sie stehe im 82sten Lebensjahr und müsse von den Einnahmen leben, die ihr Vermögen abwerfe. Das Gesuch wurde erwartungsgemäß abgelehnt. [20]

Inzwischen hatte sich ohnehin vieles in ihrem Leben verändert. Am 2. April 1939 war sie in die Rüdesheimer Str. 1 gezogen. Auch jetzt logierte sie in einer Pension, die von Emilie Conrady geführt wurde, vermutlich aber kostengünstiger als die bisherigen war, die allein wegen ihrer Lage in unmittelbarer Nähe zum Kurpark erheblich teurer gewesen sein dürften.

Johanna Windmüller Austritt aus Jüdischer Gemeinde
Johanna Windmüller erklärt ihren Austritt aus der Jüdischen Gemeinde
HHStAW 685 852a (9)

Über den Grund, weshalb sie 1938 aus der Israelischen Kultusgemeinde ausgetreten war, kann man nur Mutmaßungen anstellen. Diesen Schritt, der auch auf ihrer Gestapokarteikarte festgehalten wurde, vollzog sie laut einer Mitteilung des Amtsgerichts vom 1. Dezember 1938 an das Finanzamt Wiesbaden mit Wirkung zum 24. Dezember 1938. Es sieht fast so aus, aus  sei der Termin Weihnachten bewusst gewählt worden, aber welche Absicht damit verbunden gewesen sein könnte, ist nicht nachzuvollziehen. Eine Hinwendung zum Christentum kann es kaum gewesen sein, denn in der Steuererklärung von 1939 gab sie unter Glaubensbekenntnis „freireligiös“ an.

Johanna Windmüller Steuer
Der Finanzbeamte korrigiert den Eintrag von Johanna Windmüller auf ihrer Steuererklärung 1939
HHStAW 685 852a (17)

Der dicke Rotschrift des Steuerbeamten überschrieb diesen Eintrag mit „jd“ für Jude.[21] Für den NS-Staat war Jude keine Frage des religiösen Bekenntnisses, sondern der Rasse. Die etwaige Hoffnung, mit dem Austritt aus der Gemeinde den Repressionen der Nazis entgehen zu können, konnte nach der Verabschiedung der Rassegesetze daher wohl kaum noch ihr Motiv gewesen sein. Wahrscheinlicher sind dagegen Gründe weltanschaulicher Natur, zumal ja auch ihr verstorbener Ehemann als „Freisinniger“ kirchlichen Einrichtungen gegenüber eher eine distanzierte Haltung eingenommen hatte. Diese Skepsis mag noch dadurch bestärkt worden sein, als die Jüdischen Gemeinden nicht nur keinen Schutz vor den Angriffen des NS-Apparats leisten konnten, sie sich vielmehr für manchen sogar als Teil dieses Systems darstellten.

Auch wenn Johanna Windmüller vermutlich den Schritt ihrer beiden Söhne, Deutschland mit ihren Familien zu verlassen, begrüßte und unterstützte, bedeutete das jedoch für sie die zunächst wohl bedrückendste Veränderung in ihrem Leben. Von da an war sie allein den NS-Behörden ausgeliefert.

Levy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller, Frieda Levy, Judenhaus Albrechtstr. 13, Wiesbaden
Heiratsurkunde von Werner und Frieda Levy,
Heiratsregister Danzig 625 / 1926

Schon 1936 konnte Werner zunächst nach Jugoslawien und von da weiter nach Palästina flüchten. Genaueres ist nicht bekannt, aber offenbar hatten er und seine Frau Sympathien für die zionistische Bewegung und in Jugoslawien gab es Ausbildungslager, die auf eine Einwanderung nach Palästina vorbereiteten. Ob sie sich aber dort aufhielten, ist nicht bekannt.
In Palästina fanden sie in Kiryat Dialik bei Haifa eine neue Heimat. Die Siedlung war um diese Zeit von der RASSCO, einer im Rahmen des Haavara-Abkommens entstandenen Siedlungsgesellschaft, errichtet worden, mit dem Ziel besonders mittelständischen Migranten eine neue Heimat zu bieten.[22] Hier gründete Werner Windmüller wieder eine Apotheke, wobei er möglicherweise die notwendigen Anschaffungen mit Hilfe der für Palästinaemigranten günstigen Devisenregelungen des Haavara-Abkommens finanzieren konnte.
Nur wenige Jahre konnte er das Leben in seiner neuen Heimat genießen. Schon am 13. April 1951 verstarb er in Israel.
Die Tochter Ursula heiratete 1958 in Israel mit Peter Wisbrun, einen Jugendfreund aus Remscheid. Er war der am 27. November 1927 geborene Sohn von Gustav und Herta Wisbrun, die in ihrer Heimatstadt früher eines der führenden Textilgeschäfte besaßen. Die Eltern hatten ihren Sohn angesichts der immer bedrohlicheren Verfolgung als Elfjährigen im Dezember 1938 in ein Schweizer Kinderheim gebracht. Der ursprüngliche Plan, bald gemeinsam nach Palästina auszuwandern, scheiterte.

Patria
Der Untergang der ‚Patria‘ im Hafen von Haifa
https://en.wikipedia.org/wiki/Patria_disaster#/media/File:Sinking_of_the_Patria_(1940).jpg

Erst 1940 gelang es den Eltern in einem illegalen Transport über Wien und das Schwarze Meer sich Richtung Palästina auszuschiffen. Ihr Schiff war die berühmte „Patria“, der damals von den Briten die Anlandung dort verweigert wurde. Auf deren Geheiß sollten die Flüchtlinge an Bord nach einer langen und entbehrungsreichen Odyssee weiter nach Mauritius gebracht werden. Die militante, zionistische Hagana-Organisation wollte das verhindern. Der Sprengsatz, der nur ein Leck in das Schiff schlagen sollte, war falsch berechnet, sodass es in kürzester Zeit sank. Etwa 300 Menschen kamen dabei ums Leben, darunter auch Peters Schwester Suse.[23] Die übrige Familie überlebte zwar, wurde aber zunächst interniert. Nach all den Strapazen und dem Leid durch den Verlust der Tochter verstarb der Vater schon im folgenden Jahr. Als Peter Wisbrun 1945 endlich auch nach Palästina auswandern durfte, fand er nur noch seine Mutter vor. Sie wurde 1981 in Israel begraben.[24]
Als Ausdruck ihrer israelischen Identität, nahm Ursula Windmüller dort den Namen Esther an, als Familienname wählten sie und ihr Mann den Namen Ron statt Wisburn. Am 14. Oktober 1958 wurde in Haifa als erstes Kind des Paares Dorit, am 12. April 1961 dann Gad geboren.

Walter, der Arzt und ältere Bruder von Werner, konnte im Juli 1939 mit seiner Frau noch nach Südamerika auswandern.[25] Wie alle Emigranten war er zuvor von dem NS-Staat noch ausgeraubt worden. Nachdem er schon die Judenvermögensabgabe in Höhe von fast 25.000 RM bezahlt hatte, fiel dann auch noch die Reichsfluchtsteuer in Höhe von rund 6.700 RM an. Etwas mehr als 1.600 RM betrug die DEGO-Abgabe für neu erworbene Güter, die mit ins Ausland genommen werden sollten. Die Reisekosten selbst beliefen sich auf rund 3.000 RM – alles in allem nahezu 35.000 RM, die die Steuerbehörden ganz gesetzeskonform dem verfolgten Ehepaar abnahmen.[26] Über den Schaden, der ihm durch das Zurücklassen von Einrichtungsgegenständen zusätzlich entstand, kann hier nur spekuliert werden.
Vermutlich waren sie damals noch in der Hoffnung gegangen, in ihrem Exilland Uruguay irgendwie eine neue Arztpraxis wieder aufbauen zu können. Diese Hoffnung muss sich bald zerschlagen haben, aus welchen Gründen ist nicht bekannt. Vermutlich wurden die Abschlüsse aus Deutschland dort nicht anerkannt oder aber es fehlte ihm das nötige Kapital. Im Entschädigungsverfahren versicherte Walter Windmüller an Eides statt, dass er dort „kein anrechenbares eigenes Einkommen“ mehr gehabt habe.[27] Die Lebensumstände müssen für die beiden so schwierig gewesen sein, dass sich ihre Schwägerin Frieda, die in Israel durch ihre Zugehörigkeit zum Kibbuz abgesichert war, im Juli 1955 auf ihre eigenen Ansprüche bzw. die ihres verstorbenen Mannes zugunsten von Walter und Else Windmüller verzichtete.[28]
Aber noch bevor diese Verfahren zu Ende gekommen waren, verstarb Walter am 17. Januar 1957 in Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay.[29] Allerdings waren schon zuvor nicht unerhebliche Vorauszahlungen an das Ehepaar gezahlt worden, um deren Situation zu erleichtern.

Allem Anschein nach waren zumindest die drei Jahre, die Johanna Windmüller vor dem Einzug in das Judenhaus Albrechtstraße noch in der Rüdesheimer Str. 1 verbringen konnte, trotz aller Einschränkungen und Erniedrigungen im Alltag, eine relativ gute Zeit gewesen sein, zumindest scheint sie in ihrer Vermieterin, ganz offensichtlich eine Arierin, eine Freundin gefunden zu haben.

Ein Brief, den diese Frau Bässer 1947 an den emigrierten Sohn Walter Windmüller schrieb, ist Beleg dafür. Er ist zudem von besonderem Interesse, weil die Verfasserin hierin explizit bezeugt, dass der Umzug von Johanna Windmüller in das Judenhaus Albrechtstr. 13 am 14. April 1942 erzwungen war. Aber auch in anderer Hinsicht ist dieser Brief, in dem es primär um den letzten Abend vor der Deportation geht, ein wichtiges Zeitdokument, zum einen im Hinblick auf die Deportationen selbst, zum anderen aber auch für die Stimmung und Verarbeitungsmechanismen der Betroffenen unmittelbar nach dem Krieg. Er soll deshalb hier in Gänze zitiert werden:

Johanna WindmüllerWiesbaden 14.12.47

Sehr geehrter Herr Dr. Windmüller
Ich hatte vor einem Jahr bereits einen ausführlichen Brief an Sie geschrieben, doch da ich keine Str. wusste, hat dieser Sie wohl nicht erreicht. Habe nun durch den Herrn Petero Ihre Adr. eingeholt und möchte Ihnen von Ihrer Frau Mutter berichten. Ich nehme an, dass Fr. San. Rat Ihnen noch von ihrem Auszug von uns schrieb, da sie laut Vorschrift in eine jüd. Familie übersiedeln musste. Zu uns durfte sie nicht mehr kommen, so besuchte ich sie 2x in der Woche abends, wenn es dunkel wurde, und brachte ihr Brot, Kuchen, Gellee und Verschiedenes zum Essen, wovon ich wusste, ich mache ihr eine besondere Freude. Als die Nachricht kam, sämtliche Juden müssten aus Wbn raus, nahm sie das gar nicht tragisch, weil man ihr versicherte, sie kämen alle nach Wien in ein Damenstift. So half ich ihr einen gr. Koffer packen, mit all ihren schönsten Sachen, und in 2. gr. Wolldecken die Matratzen, Feder- und Bettzeug, so wie es Vorschrift war.

Johanna Windmüller
Brief von Frau Bösser
HHStAW 518 37646 (6)

Am letzten Abend, als ich bei ihr war, sprach sie ziemlich zuversichtlich, dass die Nazis ja doch den Krieg verlieren würden, und sie sowie die Tourkoffer (?) von Wien wieder zu mir zurück käme. Frau San. Rat. war ja immer ein Optimist. Von einem Sammellager aus ging, wie ich dann hörte, in aller Frühe der Zug nach Litzmannstadt (Polen) und von dem Ende der armen, armen Menschen hat man zur Genüge gehört.
Dies war nun der Wunsch Ihrer so geschätzten Frau Mutter Ihnen unser letztes Zusammensein zu berichten, im Falle ihr irgend etwas zustoßen würde. Die Sachwerte in dem jüd. Haus wurden ja alle von der Gestapo heraus geholt und versteigert. Ja Herr Dr. es waren schwere Zeiten, ich glaube bestimmt, dass Ihre Frau Mutter in ihrem hohen Alter in Litzmannstadt einen raschen Tod fand, anders war es bei meinem Mann, der von 1939 bis 42 in 3erlei Lagern gequält wurde, bis er 1942 in Buchenwald starb. Seine Urne habe ich mir hier her kommen lassen. Was man da an Seelenleid und Verbitterungen mitmachte, kann man nicht schildern.
5 Wochen nach dem Tod meines Mannes starb meine Mutter. Es war eine schlimme Zeit für mich. Gottlob ist trotz der üblen Zerstörungen in der Rüdesh. Str. unser Haus und meine Wohnung bis auf Schönheitsfehler heil geblieben. So heiratete ich 3 Jahre später einen Herrn, der mir in meinem Kummer stets zur Seite stand. Leider haben sich nun die Zeiten so verschlechtert, dass es heute ein trauriges Los ist in Deutschland zu leben. Die Pension habe ich aufgegeben, d.h. mein Mann u. ich dürfen nur 2 Zimmer bewohnen, die anderen habe ich noch vermietet, aber ohne Verpflegung. Es ist ja heute eine Not für uns 2 eine Malzeit auf den Tisch zu bringen bei 150 Gramm Margarine und 400 gr. Fleisch im ganzen Monat, kein Ei, keine Milch und keine Butter.
Hoffentlich haben Sie sich geehrter Herr Dr. gut eingelebt und erfreuen sich einer guten Praxis.
Grüßen Sie bitte Ihre Gemahlin freundl. von mir, und bestätigen Sie meinen Brief baldmöglich, und seien Sie vielmals gegrüßt von Ihrer
Emmy Bösser
[30]

Es war nur noch ein knappes halbes Jahr, das Johanna Windmüller in dem Judenhaus in der Albrechtstraße, in dem ihr ein Zimmer zur Verfügung stand, verbringen musste. Auch hatte sie, so kann man dem Brief entnehmen, auch wenigstens einen Teil ihres Mobiliars, das dann später zum Nutzen arischer Bürger vom Finanzamt verwertet wurde, zunächst noch mitnehmen können.

In den Genuss eines weiteren Vermögenswerts von Johanna Windmüller kam zuletzt auch noch ein Landwirt aus Neviges, der ihr dortiges Haus in der Adolf-Hitler-Str. 72 kaufte. Der Preis betrug 17.000 RM und lag damit nicht unbeträchtlich über dem letzten Einheitswert von 14.900 RM.[31] Selbstverständlich gelangte das Geld nicht mehr in ihre Hände, sondern zu einem beträchtlichen Teil in die der SS. Als Johanna Windmüller am letzten Sabbat des August 1942 sich wie etwa 350 weitere, zumeist ältere Jüdinnen und Juden in der Synagoge in der Friedrichstraße einzufinden hatte, wurde in einem letzten Akt vor der physischen Vernichtung den dort Versammelten das noch vorhandene restliche Vermögen geraubt. Wer noch mehr als 1.000 RM besaß, wurde gezwungen einen sogenannten „Heimeinkaufsvertrag“ abzuschließen, der vorgab, die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und sogar ärztliche Betreuung für die zu „Evakuierenden“ bis zu ihrem Lebensende zu gewähren. Das Geld wurde auf ein Konto eingezahlt, das die SS beim ‚Bankhaus Heinz, Tecklenburg und Co.’ eingerichtet hatte. Johanna Windmüller überwies dafür insgesamt etwa 8.1000 RM.[32] Ob sie an das Versprechen glaubte, ist ungewiss. Das übrige Vermögen fiel nach ihrem Tod dem Reichsfiskus in die Hände.

Deportation Wiesbaden 1.9.1942, Synagoge Friedrichstraße
Sammelstelle in der Synagoge Friedrichstraße am Vorabend der Deportation
HHStAW 3008/2 16554

Am Morgen des 1. September 1942 fuhr der Zug von einem Nebengleis des Hauptbahnhofs ab, das eigentlich für die Viehtransporte des nahe gelegenen Schlachthofs gedacht war, um über Frankfurt, wo weitere Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Regierungsbezirk Wiesbaden hinzukamen, sein Ziel zu erreichen.

Levy Louis Windmüller, Johanna Gas Ganz Windmüller, Walter Windmüller, Werner Windmüller, Ursel Windmüller
Page of Testimony für Johanna Windmüller in Yad Vashem
https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=5586635&ind=3

Johanna Windmüller war nicht nach Litzmannstadt gebracht worden, wie Frau Bässer meinte, schon gar nicht nach Wien, wie sie selbst zunächst hoffte, der Transport vom 1. September 1942, auf dem man ihr die Nummer 932 zugewiesen hatte, ging nach Theresienstadt. Aber – und das hatte die Freundin richtig vermutet – die Strapazen dieses Transports und das Lager selbst überlebte sie nur kurz. Nach nur drei Wochen verstarb sie am 24. September 1942.[33]

 

 

Veröffentlich: 16. 11. 2017

Letzte Änderungen: 16. 10. 2023

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Der Stammvater der heute weit verzweigten und in alle Welt zerstreuten Familie Windmüller, die ursprünglich im ostwestfälischen Raum um Beckum ansässig war, war der um 1680 geborene Levi Windmüller. Fünf Generationen später wurde am 8. April 1849 in Oelde wieder ein Levi Windmüller geboren. Er war das sechste von insgesamt acht Kindern des Kaufmanns Isaak bzw. Itzig Windmüller und seiner zweiten, am 4. Februar 1840 geehelichten Frau Johanna Jacobson. Die Angaben sind der Windmueller Family Chronicle, Richmond Virginia 1981, entnommen. Zur hier relevanten Generation siehe S. 122 f. Es lassen sich aber alle Verbindungen zurück zum Stammvater Levi Windmüller und auch zu den verschiedenen anderen Zweigen der Familie genau verfolgen. Der Großvater von Louis war der 1780 geborene Abraham Windmüller, dessen Vater der 1741 geborene Isaac Windmüller. Dessen Vater wiederum, der 1705 geborene Meyer Windmüller, war der Sohn des Stammvaters Levi. Die vom Leo-Baeck-Institut digitalisierte Chronik enthält nicht nur genealogische Daten, sondern auch Erinnerungen der zumeist emigrierten Familienmitglieder an ihre Eltern und Großeltern, außerdem auch Bilder zur Familiengeschichte. Siehe https://archive.org/details/windmuellerfamilyf004. (Zugriff: 10.10.2023).

[2] Ebd. S. 90. Zuvor war er kurz mit der Johannas Schwester Sara verheiratet, die aber bald nach der Hochzeit verstarb. Siehe http://www.blankgenealogy.com/histories/Biographies/Eichenberg/Windmuller%20Family%20Tree.pdf. (Zugriff: 10.10.2023).

[3] Siehe zur Biographie von Louis Windmüller Karl Friedrich Herhaus, Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasiums Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853-1937, Münster 2013 S. 13. http://www.arnoldinum.de/arnoldinum/files/stolpersteine_herhaus_25_02_2014.pdf. (Zugriff: 15.11.2017- inzwischen ist die Seite vom Netz genommen). Möglichweise hatte das Paar zuletzt in Elberfeld gelebt, zumindest besaßen sie hier zwei Wohngrundstücke, die nach dem Krieg zurückerstattet wurden, siehe HHStAW 518 37646 (4).

[4] Geburtsregister Neviges 98 / 1883.

[5] Windmueller Family Chronicle, S. 123.

[6] http://www.passagierlisten.de/. (Zugriff: 10.10.2023).

[7] HHStAW 518 37646 (19).

[8] https://www.bgv-velbert-hardenberg.de/cms/daten/Juden-im-Niederbergischen-Zweite-erweiterte-Auflage-2012.pdf. (Zugriff: 10.10.2023).

[9] Heiratsregister Danzig 625 / 1926. Ihre Eltern waren der Privatier Simon Levy und dessen Frau Cäcilie, geborene Saenger, die beide in Danzig wohnten.

[10] https://www.bgv-velbert-hardenberg.de/cms/daten/Juden-im-Niederbergischen-Zweite-erweiterte-Auflage-2012.pdf. (Zugriff: 10.10.2023). Nach Windmueller Family Chronicle, S. 123 wurde die Tochter in Remscheid geboren, die gleiche Angabe finden sich bei Herhaus, Arnoldinum, S. 14, anders in GENI, wonach die Tochter den Namen Esther erhielt bzw. vermutlich angenommen hat. Siehe https://www.geni.com/family-tree/index/6000000002678655032.

[11] Windmueller Family Chronicle, S. 209, dazu auch Herhaus, Arnoldinum, S. 13 f.

[12] https://www.velbert.de/gedenkbuch/suche/detailseite/?tx_gedenkbuch_gedenkbuch%5Bgedenkbuch%5D=125&tx_gedenkbuch_gedenkbuch%5Baction%5D=show&tx_gedenkbuch_gedenkbuch%5Bcontroller%5D=Gedenkbuch&cHash=218879386ae564b0a2f4d150be2ac8a3. (Zugriff: 15.11.2017).

[13] HHStAW 685 852b (1) und 519/3 852b (3).

[14] HHStAW 685 852a (12).

[15] HHStAW 518 37646 (4).

[16] Ebd. (17).

[17] HHStAW 519/3 852b (2).

[18] Ebd. (13).

[19] HHStAW 518 37646. (8).

[20] Ebd. (18).

[21] HHStAW 519/3 852a (17).

[22] Sonder; Trezip, Erkaufte Heimat, S. 4.

[23] Zur Katastrophe der ‚Patria’ siehe u.a. https://www.hagalil.com/archiv/2000/11/patria.htm. (Zugriff: 10.10.2023).

[24] Zum Schicksal der ehemaligen jüdischen Schülerinnen und Schüler des Leibniz Gymnasiums in Remscheid hat die Schule eine sehr umfassende Seite online gestellt, der auch die hier dargelegten Informationen zu Peter Wisbrun / Ron entnommen sind. Man findet dort auch einen Brief, den dieser 2011 an die Schule geschrieben hat. Siehe  https://www.leibniz-remscheid.de/wp-content/uploads/2016/09/Jahresschrift_2011.pdf. (Zugriff: 10.10.2023).

[25] HHStAW 518 37646 (19).

[26] Ebd. (20).

[27] Ebd. (21).

[28] Ebd. (28, 53).

[29] Ebd. (1).

[30] HHStAW 518 37646 (6-7).

[31] HHStAW 685 852b (29).

[32] HHStAW 518 37646 (9).

[33] Ihre Enkelin hat ihr in Yad-Vashem ein Erinnerungsblatt gewidmet, auf dem auch ein Bild von Johanna Windmüller zu sehen ist. http://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Windm%C3%BCller&s_firstName=Johanna&s_place=.