Auch die Geschwister Melanie Kleineibst und Clothilde Isaar, geborene Kleineibst, verbrachten gegen Ende ihres Lebens noch eine kurze gemeinsame Zeit in der Alexandrastr. 6.
Ihre Familie väterlicherseits stammte aus Braunfels an der Lahn und, wenn man noch weiter zurückgeht, ursprünglich aus Kleineibstadt im Fränkischen, womit sich auch der etwas eigentümliche Name erklärt. Von dort war der Urgroßvater Marcus Kleineibst als Rabbiner nach Nassau gekommen, wo er in Weilburg, Greifenstein und Braunfels sein Lehramt ausübte. Zumindest seine Frau Marianne, geborene Joseph, lebte aber weiterhin in Braunfels, wo auch die Kinder geboren wurden. [1] Eines davon war Siegmund Kleineibst, der mit seiner Frau Auguste, geborene Kaufmann, zu den angesehensten Kaufleuten der Region gehörte. [2] Auguste stammte aus Schotten im Vogelsberg. Sie war die jüngste Tochter von Samuel und Therese Kaufmann, geborene Lorsch [3] und damit auch die jüngere Schwester von Samuel Kaufmann, dem Vater von Sally Kaufmann, der später auch in Wiesbaden wohnte. Bevor er deportiert wurde, lebte er etwa ein Jahr im Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 43.
Siegmund und Auguste Kleineibst hatten acht Kinder, u. a. den am 7. Februar 1852 geborenen Eduard,[4] der Vater der beiden Schwestern Karolina Clothilde und Melanie Kleineibst. Vier der Kinder von Siegmund und Auguste Kleineibst, nämlich Karl, Caroline, genannt Lina, Max und Hugo blieben ledig und in Braunfels wohnen. Sie waren bis 1933 völlig integriert in das kleinstädtische Leben. Am Markplatz 5 lag ihr Laden, ein wunderschöner, von ihnen erweiterter Fachwerkbau.[5] Aber mit dem 30 Januar begann auch in Braunfels, wo zu Beginn der NS-Zeit noch etwa 10 jüdische Familien lebten, die Ausgrenzung der bisherigen Mitbürger. Inwiefern auch die verbliebenen Mitglieder der Familie Kleineibst unmittelbar betroffen waren, lies sich nicht ermitteln. Karl Kleineibst, der um 1850 geboren worden war, starb am 1. November 1935 an Altersschwäche.[6] Er hatte gerade noch die rechtliche Ausgrenzung der jüdischen Bürger aus staatlichen Gemeinschaft erdulden müssen. Die ledige Lina, die offenbar sehr gute Kontakte zur Familie ihrer Schwester Marianne, verheiratete Wollf, in Koblenz pflegte,[7] verstarb ebenfalls 85jährig am 10. Oktober 1939, also zu Beginn der schlimmsten Verfolgungsphase. Ihr Bruder Hugo wurde sogar noch ein Jahr älter. Als er am 6. Februar 1942 starb, hatten die Deportationen aus dem so genannten Altreich bereits begonnen. In Arolsen ist vermerkt, dass die Ursache seines Todes nicht bekannt sei.[8]
Hugo Kleineibst, geboren am 26. April 1864, und damit das jüngste der vier in Braunfels verbliebenen Geschwister, musste noch die schreckliche Erfahrung der Deportation machen. Am 28. August 1942 wurde er mit vielen anderen älteren Juden aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden nach Frankfurt in die Großmarkthalle gebracht. Von dort verließ am 1. September ein Zug die Stadt, mit dem auch fast alle damals noch in Wiesbaden lebenden Juden nach Theresienstadt deportiert wurden. Nur etwa drei Wochen überlebte Hugo in der böhmischen Stadt, die den Juden angeblich zum Geschenk gemacht worden war. Terezin war kein Vernichtungslager, aber gestorben wurde auch dort. Fast 150000 Menschen waren bis 1945 in dem dortigen Ghetto zusammengepfercht worden, fast 35000 kamen dort zu Tode. Viele rafften Krankheiten und Seuchen hin, viele verhungerten einfach, andere wurden Opfer von willkürlichen Gewaltaktionen. Manche waren so verzweifelt, dass sie sich selbst das Leben nahmen. So auch Hugo Kleineibst. Am 25. September wurde er mit einem Strang um den Hals tot aufgefunden.[9]
Die anderen Geschwister hatten ihre Heimat an der Lahn schon früher verlassen. Der am 21. Januar 1854 geborene Hermann führte eine Apotheke in Nürnberg. Ob er eine eigene Familie gegründet hatte, ist nicht bekannt, aber eher unwahrscheinlich, denn in seinem Testament, das er am 20. September 1936 in Nürnberg aufgesetzt hatte, wurden nur Mitglieder aus seiner Braunfelser Familie bedacht.[10] Er verstarb in Nürnberg am 6. März 1937, wurde aber in Burgsolms in einem Doppelgrab mit seinem zwei Jahre zuvor verstorbenen Bruder Karl beigesetzt.[11]
Emilie Kleineibst heiratete am 10. Dezember 1888 in Braunfels den Katholiken Johann Friedrich Vier.[12] Ihnen wurden die drei Kinder Hans, Elisabeth und Anna geboren, die als Halbjuden die Nazizeit in Deutschland überlebten.
Marianne Kleineibst, verheiratetet mit dem Weinhändler Ferdinand Wollf aus Koblenz, starb 1936 im hohen Alter von fast 90 Jahren, während ihr Mann schon 1881 zu Grabe getragen worden war. So erlebten beide nicht mehr das tragische Ende ihrer Kinder. Die drei Töchter Rosalie, Klara und Frieda waren alle drei bereits verwitwet als sie sich jeweils unabhängig voneinander zu Beginn der vierziger Jahre angesichts ihrer anstehenden Deportation das Leben nahmen.[13] Auch die beiden Söhne suchten den Freitod. Max erhängte sich am 20. Januar 1942 in Dresden im Haus seines Bruders Julius Ferdinand, das man damals ebenfalls in ein Judenhaus umgewandelt hatte. Dieser Bruder Julius, ehemals Chefredakteur und Miteigner der ‚Dresdner Neuesten Nachrichten’, eine zentrale Figur im Kulturleben der Weimarer Republik, beging bald darauf am 27. Februar 1942 zusammen mit seiner Frau Sophia, geborene Gutmann, in Dresden ebenfalls Selbstmord.[14] Nur den beiden Kindern von Frieda, die mit Johann Konrad Adolf Wolff (!) verheiratet war, Ilse und Alexander Wolff (!), gelang die Flucht aus Deutschland. Sie überlebten im afrikanischen Exil.
Das Kind von Siegmund und Auguste Kleineibst, das den Bezug zu Wiesbaden herstellt, war der am 7. Februar 1852 geborene Eduard. Am 29. Juni 1881 schlossen er und Johanna Jessel, ebenfalls Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie, in Weilburg die Ehe. Ihr Vater war Carl Josef Jessel aus Weilmünster, die Mutter Mina Jessel, die auch den Mädchenname Jessel trug.[15]
Das Paar hatte drei Kinder, aber auch hier bleiben gewisse Unklarheiten, denn die älteste Tochter Clothilde wurde bereits am 31. August 1875, also rund sechs Jahre vor der Heirat der Eltern in Graurheindorf, heute ein Stadtteil von Bonn, geboren. Laut Eintrag im dortigen Geburtsregister wurde die Geburt noch am gleichen Tag von der Hebamme, der Ehefrau des örtlichen Metzgers, in der Bürgermeisterei gemeldet. Als Zeugen unterschrieben ein „Krankenmädchen“ und eine Schwester. Das Kind, ein „Bastard“, sei im Haus Nr. 100/2 zur Welt gekommen. Der Name des Vaters ist nicht eingetragen und insofern muss offen bleiben, ob Eduard Kleineibst der leibliche Vater von Clothilde war.[16]
Er war nach Auskunft des Bonner Archivs zu dieser Zeit dort nicht gemeldet[17] und auch für die Mutter Johanna Jessel ist im Register als Wohnort Weilburg angegeben. Was Johanna Jessel veranlasst haben könnte, extra nach Graurheindorf zu reisen, um dort mit ihrem Kind niederzukommen, lässt sich nicht mehr klären. Vielleicht war es die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung, die sie zu diesem Schritt bewogen hatte, aber auch das muss offen bleiben, weil nicht bekannt ist, wann sie mit ihrem unehelichen Kind wieder zurück nach Weilburg reiste.
Im Heiratsregister wurde bei der Eheschließung mit Eduard Kleineibst 1881 der Vermerk aufgenommen, dass dieser Clothilde „als von ihm erzeugt anerkennt“.[18] Diese unpräzise Formulierung lässt sowohl die Möglichkeit zu, dass er tatsächlich der leibliche Vater von Clothilde war, als auch die weitere, dass er mit der Heirat die uneheliche Tochter seiner Frau und eines unbekannten Vaters als ehelich anerkannte.
Die zweite Tochter Melanie und der Sohn Richard, geboren am 14. August 1883 bzw. am 30. Juni 1886, kamen in Weilburg zur Welt.[19] Die Familie sei nicht religiös gewesen, habe aber den Bezug zur jüdischen Kultur dennoch nicht verloren, schrieb später Wolfgang Wasow, der Sohn von Richard Kleineibst, in seinen bereits zitierten Erinnerungen.[20]
Laut den Akten war Eduard Kleineibst von Beruf Kaufmann, der nach Erinnerung seines Enkels ursprünglich im Textilhandel tätig gewesen sein soll.[21] Ab Februar 1893 führte er aber in Weilburg eine Agentur, genauer: eine Unteragentur, des „Norddeutschen Lloyd Bremen“ und war mit der Vollmacht ausgestattet, in dessen Namen Verträge für Überfahrten in alle überseeischen Länder, die die Reederei damals anlief, also nach Australien, Amerika und Ostasien, abzuschließen. Angesichts der großen Zahl von Auswanderungen in dieser Zeit war das sicher eine recht lukrative Tätigkeit. Im März 1914, nach etwa 20 Jahren, legte er die Vertretung möglicherweise aus Altersgründen nieder.[22]
Im Jahr 1915 erschien er dann erstmals im Wiesbadener Adressbuch, zunächst mit der Adresse Schwalbacher Str. 15. Später, bis 1931, lebte er dann mit seiner Frau und der ledigen Melanie in der Seerobenstr. 4. Vermutlich war der Tod seiner Frau im Jahr 1931 der Grund dafür, dass er erneut seine Wohnung wechselte. Ab diesem Zeitpunkt wohnte der inzwischen ebenfalls kranke Witwer mit seiner Tochter in der Taunusstr. 79, wo Melanie den Haushalt des Vaters bis zu seinem Tod führte. „Weil sie ihren Vater während dessen langwierig-schweren Krankheit in aufopfernder Weise gepflegt hat“ wurde sie später von ihrem Onkel Hermann, dem Apotheker in Nürnberg, dadurch belohnt, dass er in seinem Testament ihr den Anteil vermachte, der eigentlich ihrem 1886 geborenen Bruder Richard zugestanden hätte. [23] Richard wurde sogar explizit vom Erbe ausgeschlossen.[24] Auch im Testament der Tante Lina Kleineibst wird Richard nicht erwähnt. [25] Die Gründe dafür sind nicht bekannt, aber man kann Vermutungen anstellen.
Richard scheint den Kontakt mit der Familie schon relativ früh abgebrochen zu haben. Er galt nach dem Zweiten Weltkrieg bei den Verwandten als verschollen,[26] obwohl er in seinem Schweizer Exil die Nazizeit überlebt hatte, sogar unter einem Pseudonym journalistisch tätig war. Möglicherweise ging die Tante Lina bei ihrem Tod am 10. Oktober 1939 davon aus, dass Richard ohnehin, sollte er noch am Leben sein, an seinen Erbteil nicht würde herankommen können. Der wahrscheinlichere Grund für seine Nichtberücksichtigung scheint aber ein anderer zu sein, denn die Formulierung seines Onkels Hermann im Testament „soll nichts erhalten“ klingt eher nach bewusster Bestrafung. Richard hatte nämlich noch vor seinem Abitur die Schule verlassen. Weil der Vater ihm angeblich die Finanzierung eines Studiums verweigerte, war nach Frankfurt gezogen und hatte dort und auch in Paris als kaufmännischer Angestellter gearbeitet. In der französischen Hauptstadt hatte er eine kurze Liaison mit Alma Thal, einer aus Russland geflohenen Sozialistin, mit der er den gemeinsamen Sohn Wolfgang zeugte.[27]. Erst 1909 holte er sein Abitur nach und studierte Philologie. Seine akademische Ausbildung schloss er 1915 mit einer Promotion über Lichtenberg ab.
Wann und wo Richard seine aus Limburg stammende spätere Frau Claire Lepère kennenlernte, wusste sein Sohn, der ihn bis ins sechste Lebensjahr für einen Onkel oder auch Bekannten seiner Mutter hielt, später nicht mehr zu sagen.
Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Richard politisiert worden.[28] 1919 gehörte er dem Vorstand des Freiburger Arbeiter- und Soldatenrats an, trat zunächst in die SPD ein, gehörte aber dann 1931 zu den Mitbegründern der weiter links stehenden ‚Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands’, der SAPD, in der später auch Willy Brandt aktiv war. Richard Kleineibst engagierte sich hier im Parteivorstand, leitete aber auch die SAZ, die ‚Sozialistische Arbeiterzeitung’, und war auf der obersten Ebene in die Diskussionen um die Positionierung der neuen Partei angesichts des aufkommenden Faschismus involviert.[29] In Berlin und der Oberlausitz war er in verschiedenen Redaktionen journalistisch tätig, zuletzt bei der Deutschen Friedensgesellschaft, wo er Herausgeber der Zeitschrift „Das andere Deutschland“ wurde. Beim Machtantritt der Nazis emigrierte er – als linker Pazifist und Jude notgedrungen sofort – über die Tschechoslowakei in die Schweiz, wohin er seit Langem wichtige Kontakte gepflegt hatte. Dort publizierte er weiterhin Bücher und Aufsätze unter falschem Namen zu politischen und kulturellen Themen.[30] 1939 wurden ihm, seiner Frau Claire und dem Sohn Wolfgang die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen.[31]
Richard und seine Frau blieben auch während der Kriegsjahre in der Schweiz, immer in der Angst, Hitlers Truppen könnten auch eine Invasion in ihr Exilland starten. Aus Angst davor hatten sie sich sicherheitshalber auch ein Visum für die USA beschafft, von dem sie aber keinen Gebrauch machten. Eine Pistole und Gift für den äußersten Fall lagen in einem Versteck immer bereit.[32]
Es spricht somit einiges für die Vermutung, dass Richard mit seinen politischen Positionen und seinem nicht akzeptierten Lebenswandel, den sein Sohn Wolfgang später aus der Distanz mit einigem Unverständnis beschreibt, zumindest bei einigen Mitgliedern der Familie in Ungnade gefallen war.
Weitaus weniger als über den bekannten Bruder weiß man über die beiden Schwestern Clothilde und Melanie. Auch Wolfgang Wasow konnte zu ihnen wenig sagen. „My father had two older sisters. I hardly ever saw them. Both were eventually killed by the Nazis.“[33] Dies ist, von einer weiteren Anmerkung abgesehen, der einzige Satz der Erinnerungen, in dem seine Tanten überhaupt Erwähnung finden. Die Tatsache, dass ihm in der 1986 erschienenen Biografie noch immer ihr späteres Schicksal unbekannt war, zeugt von der Distanz, die auch später zwischen dem Bruder und der übrigen Familie Kleineibst geherrscht haben muss.
Clothilde, die Ältere der beiden Schwestern, hatte am 14. November 1904 in Weilburg Markus Alfred Isaac / Isaar geheiratet.[34] Aus einem Brief, den Clothilde am 5. November 1939 an das Finanzamt Wiesbaden schrieb, um den Erlass der fünften Rate der Judenvermögensabgabe zu erreichen, erfährt man einige wenige biographische Daten aus ihrem Leben.[35] Sie schrieb darin, dass sie mit ihrem Mann etwa seit 1904 in Paris gelebt und dort eine Schuhfabrik besessen hatte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs seien sie vor die Alternative gestellt worden, das Land zu verlassen oder die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sie seien unter Verlust ihrer gesamten Habe nach Deutschland zurückgekehrt und in Berlin ansässig geworden. Die Vergütung, die sie vom Reichsentschädigungsamt erhielten, sei für die Behandlung ihres an Krebs erkrankten Mannes aufgebraucht worden. Sie habe als Redakteurin bei einer Schuhfachzeitschrift eine Anstellung gefunden, durch die sie die Familie unterhalten konnte. Zur Familie gehörte auch die Tochter Simone, die am 23. Januar 1909 noch in Paris geboren worden war.[36] Als ihr Mann im Oktober 1919 verstarb, lebte die Familie in Frankfurt.[37] Ab diesem Zeitpunkt war sie mit ihrer damals elfjährigen Tochter auf sich allein gestellt. Mit einer Tätigkeit beim „Bund der Auslandsdeutschen“ konnte sie nach eigenen Angaben den nötigen Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter verdienen.
1935 erscheint Clothilde Isaar erstmals in den Wiesbadener Adressbüchern. Wann genau sie nach Wiesbaden kam, ist aber nicht bekannt. Ihre erste noch vorhandene Einkommensteuererklärung aus Wiesbaden war für das Jahr 1937, allerdings abgegeben erst im März 1939. Darin gab sie an, arbeitslos zu sein, früher aber in Berlin als Büroangestellte gearbeitet zu haben. Sie lebte in Wiesbaden zunächst in der Pension „Venetia“ in der Taunusstr. 71, unweit der Wohnung ihrer Schwester und ihres Vaters. Bereits 1933 war ihre Tochter Simone, verheiratete Davidsohn, nach Palästina ausgewandert. Ob sie noch in Deutschland oder erst in Palästina geheiratet hatte, konnte nicht geklärt werden.[38]
Möglicherweise zog Clothilde nach dem Tod des Vaters, der am 28.November 1936 im Alter von 84 Jahren verstarb,[39] zu ihrer Schwester. Inwieweit sich ihre finanziellen Verhältnisse inzwischen gebessert hatten, ist nicht eindeutig zu sagen. Im späteren Entschädigungsverfahren, das Johann Friedrich Vier, der Mann ihrer Tante Emilie, nach dem Krieg in die Wege geleitet hatte, trug der Anwalt der Antragsteller vor, die beiden Schwestern hätten in einer sehr gut eingerichteten Wohnung gelebt. Selbst in der Alexandrastr. 6 hätten sie die Möbel und andere wertvolle Einrichtungsgegenstände noch besessen.[40] Daneben sollen beide über ein erhebliches Vermögen verfügt haben, das sie im Wesentlichen verschiedener Erbschaften zu verdanken gehabt hätten.[41]
In ihrer Vermögenserklärung, die Clothilde Isaar im Zusammenhang mit der Berechnung der Judenvermögensabgabe abgeben musste, bezifferte sie ihr Vermögen auf 30.000 RM. Ein kleiner Anteil von etwa 350 RM bestand in Grundvermögen, ihr Anteil am Haus des Onkels in Braunfels, von dem sie nach dessen Tod am 8. März 1937 ein Achtzehntel des Erbes erhalten hatte.[42] Der Hauptteil waren Wertpapiere, zumindest gab sie 1940 an, 9.000 RM in Form solcher Papiere zu besitzen.[43] Inzwischen waren 6.000 RM des ursprünglichen Besitzes als Judenvermögensabgabe in die Hand des Fiskus gelangt. Am 29. Februar 1940 wurden ihre Konten durch die Devisenstelle gesichert und sie konnte jetzt nur noch über einen Freibetrag von 275 RM monatlich verfügen. Das Geld dafür stammte aus einer Rente von 100 RM, die sie seit Oktober 1937 bezog, und aus den Erträgen der Wertpapiere.[44] Krankheitsbedingt sei sie nicht mehr fähig schwer zu arbeiten, schrieb sie in dem bereits zitierten Brief an das Finanzamt Wiesbaden. Die Bitte, ihr die 5. Rate der Judenvermögensabgabe wegen der finanziellen Notlage zu erlassen, ist mit großer Sicherheit abgelehnt worden.
Letztlich blieb das auch gleichgültig, denn der Staat eignete sich am Ende ohnehin das gesamte Vermögen an. Auch Clothilde wurde wie viele andere zuletzt getäuscht oder genötigt einen Heimeinkaufsvertrag für einen angeblich umsorgten Lebensabend in Theresienstadt abzuschließen. 6.000 RM aus dem Verkauf ihrer Wertpapiere flossen zwei Wochen nach ihrer Deportation am 15. September 1942 auf das Sonderkonto ‚H’ der ‚Reichsvereinigung der Juden Deutschlands’ beim ‚Bankhaus Heinz Thecklenburg’ in Berlin, der Bank, die für diese spezielle und besonders zynische Form des Raubs zuständig war.[45] Während dieses Raubgut in die Hände der SS gelangte, „verfielen“ die übrigen, wenig mehr als 6.000 RM nach ihrer Deportation der Finanzverwaltung des Deutschen Reichs.[46]
Auch Melanie Kleineibst „verfügte“ bis zuletzt über ein mehr als 33.000 RM umfassendes Vermögen,[47] das – so ist mit Gewissheit anzunehmen, wenngleich kein amtlicher Beleg mehr dafür vorhanden ist – durch die Devisenstelle Frankfurt gesichert worden war. Auch ihr wird ein ähnlicher Betrag zur freien Verfügung gestanden haben, wie ihrer Schwester. Das Vermögen muss zuvor noch um einige tausend Reichsmark höher gewesen sein, da 1940 die Judenvermögensabgabe bereits gezahlt war. Nachgewiesen ist dafür ein Betrag von 8.500 RM, den sie durch den Verkauf von Wertpapieren aufgebracht hatte.[48] Das verbliebene Vermögen eignete sich der Staat mittels Vermögenseinzug nach der Deportation an.
Bevor dies geschah kam es allerdings zu einer Veränderung in der Wohnsituation der beiden. Clothilde muss im Laufe des Jahres 1939 aus nicht bekannten Gründen wieder aus der gemeinsamen Wohnung in der Taunusstr. 79 ausgezogen sein. Der bereits mehrfach zitierte Brief an das Finanzamt, datiert mit dem 5. November 1939, trägt den Absender Taunusstr. 71, ihre ehemalige Adresse. Auch auf der Gestapo-Karteikarte ist dieser Umzug, allerdings ohne Datum, aber mit dem Hinweis „bei Viney“ – so hieß die Eigentümerin der Pension – vermerkt. Dieser Umzug vor 1940 kann kaum durch behördliche Anordnung erzwungen worden sein, schon gar nicht, wenn es sich um eine private Pension handelte. Anders bei ihrer Schwester, die am 2. Oktober 1940 in das Judenhaus in der Alexandrastr. 6 einziehen musste. Hier erhielt sie ein Zimmer in einer Wohnung im zweiten Stock, die sie sich mit den Geschwistern Schartenberg, die kurz zuvor, nämlich am 21. September eingezogen waren, teilen musste.[49]
Bevor die beiden Schwestern deportiert wurden, war Clothilde schon einmal in die Fänge der Staatsgewalt geraten. Man hatte sie wegen eines Verstoßes gegen die Vorschrift über das Tragen des Judensterns für eine unbestimmte Zeit in das Polizeigefängnis in Wiesbaden eingeliefert. Die konkreten Hintergründe dieser Strafaktion sind leider nicht bekannt. Ihre Schwester Melanie meldete die Verhaftung am 28. Februar 1942 dem Wiesbadener Finanzamt, um die verspätete Abgabe der Einkommensteuererklärung von Clothilde zu entschuldigen.[50] Es könnte sein, dass sie nach ihrer Freilassung in das Judenhaus zu ihrer Schwester kam, denn am 12. März 1942 soll sie laut Gestapo-Kartei in die Alexsandrastraße eingezogen sein, wo sie vermutlich ein gemeinsames Zimmer hatten.[51] Demnach hätte die Haftzeit etwa zwei Wochen betragen.
Es blieben den Schwestern noch drei gemeinsame Monate im Judenhaus, bevor zunächst Melanie den Weg in die Vernichtung antreten musste. Dies geschah am 10. Juni 1942. Lublin war zuvor nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg in das Vernichtungslager Sobibor, wo sie unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde.
Auch die Mitbewohnerinnen Rosa und Ricke Schartenberg waren unter den Opfern dieses Transports, an ihrer Stelle zog Lina Rau in die Wohnung im zweiten Stock ein.
Clothilde Isaar wurde noch ein Vierteljahr Aufschub gewährt. Am 27. Juni erreichte sie noch ein Telegramm ihrer Tochter aus Palästina, versandt über das britische Rote Kreuz und beschränkt auf 25 Worte. Was soll man in 25 Worten schreiben, angesichts dessen, was alles mitzuteilen, zu teilen gewesen wäre ?
„Meine Lieben – Nachricht erhalten. Uns geht es gut. Antwortet sofort. Schreibt mir alle drei Monate. Ich werde dasselbe tun. Zwischenraum sonst so lang. Alles Gute – Kuesse.“[52]
Vermutlich wusste die Tochter die damalige Adresse ihrer Mutter nicht sicher, denn das Telegramm war eigentlich an die Tante Melanie adressiert, die zu diesem Zeitpunkt aber bereits tot war.
Der Wunsch der Tochter ließ sich wohl nicht realisieren. Nur eine Postkarte der Mutter an Simone ist in den Akten erhalten geblieben, geschrieben am 28. August 1942, dem Tag an dem sich diejenigen, die für den Transport am 1. September vorgesehen waren, in der Synagoge einzufinden hatten. Man könnte meinen, dass zumindest eine vage Hoffnung auf ein mögliches Wiedersehen in diesen Abschiedsworten durchschimmert:
Liebstes !
Daß du gesund, ist für mich lebenswert. Meine Sehnsucht dich wiederzusehen verstärkt sich täglich. Vom Dasein verlange ich nur dich.
Küsse Mutter[53]
Wenn dem so war, dann war es eine trügerische Hoffnung. Der Transport XII/2-704 mit der Zugnummer ‚Da 509’ brachte sie, ihr war die Transportnummer 704 zugeteilt worden, am 1. September nach Theresienstadt. Nur vier Wochen später, am 29. September, wurde sie mit dem Transport ‚Bs-1661’ und etwa 2.000 weiteren Opfern nach Treblinka in die Gaskammern geschickt.[54]
Veröffentlicht: 21. 11. 2017
Letzte Revision: 19. 07. 2021
Anmerkungen:
[1] Zu Marcus / Mordechai Kleineibst, geboren 1777, gestorben am 24.7.1854, siehe Schmidt, Jüdische Friedhof Braunfels, S.33, Eintrag 47, dazu https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/13795.. (Zugriff: 23.1.2021). Die Inschrift des Grabes von Marcus Kleineibst lautet:
Hier ruht
der Gelehrte, ein Liebhaber der Wissenschaft und Freund der Philosophie:
unser Lehrer und Meister, Herr Mordechai Kleineibst, das Andenken des Gerechten zum Segen. Er wurde geboren am Freitag, am 1. Chanukkafeiertag 538 n.d.k.Z. (= 25.12.1777, allerdings ein Donnerstag)
und er ging ein in seine Welt am Montag, den 28. Tamus 614 n.d.k.Z. (= 24.7.1854)
Seine Seele sei eingebunden im Bunde des Lebens.
Im Jahre 562 (= 1801/02) wurde er ernannt zum Lehrer
und Richter für jene Orte im Bezirk
Nassau und im Bezirk Wetzler.
Und dieses Amt hatte er inne, bis daß er starb
alt und satt an Jahren
Die Inschrift des Grabes seiner Frau Marianne/ Miriam – https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/xsrec/current/1/sn/juf?q=YToxOntzOjI6InhzIjthOjI1OntzOjY6InBlcnNvbiI7czo0MDoiSm9zZXBoLCBNYXJpYW5uZSB2ZXJoZWlyYXRldGUgS2xlaW5laWJzdCI7czo1OiJ6ZWl0MSI7czowOiIiO3M6NToiemVpdDIiO3M6MDoiIjtzOjU6ImFsdGVyIjtzOjA6IiI7czoxMDoiZ2VzY2hsZWNodCI7TjtzOjU6ImJlcnVmIjtzOjA6IiI7czo4OiJmdW5rdGlvbiI7czowOiIiO3M6ODoiZnJpZWRob2YiO047czozOiJvcnQiO3M6MDoiIjtzOjU6InNhY2hlIjtzOjA6IiI7czo4OiJtYXRlcmlhbCI7TjtzOjEwOiJzcHJhY2hlX3ZzIjtOO3M6MTA6InNwcmFjaGVfcnMiO047czoxNDoic3ByYWNoZV9zb2NrZWwiO047czo2OiJicmVpdGUiO047czo1OiJob2VoZSI7TjtzOjU6InRpZWZlIjtOO3M6MTE6InBsYXR6aWVydW5nIjtOO3M6NzoienVzdGFuZCI7TjtzOjEwOiJncmFibnVtbWVyIjtOO3M6Mzoib2t6IjtOO3M6MjoiaWQiO047czo5OiJiaWxkZGF0ZWkiO3M6MToiMCI7czoxMDoidHJ1bmtpZXJlbiI7czoxOiIwIjtzOjU6Im9yZGVyIjtOO319, geboren um 1776 als Tochter von Simon Joseph in Braunfels, gestorben am 25.7.1820, lautet:
Hier ruht
die geachtete Frau: Miriam, Ehefrau des
Herrn Mordechai Kleineibst
aus Braunfels. Sie starb am Dienstag,
und wurde begraben am Mittwoch, den 15.
Aw 580 n.d.k.Z. (= gest. 25.7.1820). Ihre Hülle möge im Guten wohnen,
und ihre Seele sei eingebunden im Bunde
des Lebens mit der Seele Saras, Rachels und Leas,
und mit den anderen gerechten Männern und Frauen
im Garten Eden, Amen.
Entgegen dem hier angegebenen Geburtsname von Marianne Kleineibst ist im Sterbeeintrag ihres Sohnes Siegmund, Sterbeeintrag Braunfels 30 / 1887, der dem Amt von ihrem Enkel Karl Kleineibst überbracht wurde, ihr Geburtsname mit Kaufmann angegeben. Möglicherweise handelt es sich hier aber auch um eine Verwechslung, denn Siegmund Kleineibsts Frau Auguste war eine geborene Kaufmann.
Marcus Kleineibst ging nach dem Tod seiner Frau Marianne eine weitere Ehe ein. Er ist mit größter Wahrscheinlichkeit identisch mit dem im ‚Adressbuch der Kaufleute und Fabrikanten von ganz Deutschland so wie der Haupt-, Handels- und Fabrikorte des übrigen Europa und der anderen Weltteile’, Nürnberg 1833, S. 292 genannten Marcus Kleineibst, der in dieser Zeit in Braunfels einen Handel mit „Spezereien“ betrieben haben soll. Zit. nach: Die Juden und die jüdischen Gemeinden Preussens in amtlichen Enqueten des Vormärz, bearb. Von Jehle, Manfred, Teil 1, Enquete des Ministeriums des Inneren und der Polizei über die Rechtsverhältnisse der Juden in den preußischen Provinzen 1842 – 1843: Berlin, Provinzen Brandenburg, Preußen, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen, Westphalen, München 1998, S. 1403 f.
[2] HHStAW 518 38013 (25) und HHStAW 469733 4764 (7) Geburtsurkunde der Töchter Karolina / Lina und Melanie, in denen die Namen der Eltern genannt werden. Dass sie auch die Eltern der übrigen Kinder waren, kann aus den weiteren Erbscheinen geschlossen werden. Siegmund Kleineibst war am 19.7.1812 geboren worden, er verstarb am 6.9.1887.
[3] Der Name ihrer Eltern ist in ihrem Sterbeeintrag des Standesamts Braunfels 14 / 1907 mit Jakob Kaufmann und Therese Kaufmann, geborene Lorsch aus Schotten angegeben. In Schotten ist allerdings ein Ehepaar mit diesen Namen nicht bekannt, siehe Schmidt, Jüdische Friedhof Braunfels, S. 61, Eintrag 121. Laut Müller, Juden in Schotten, S. 54, Eintrag 107.9 gab es aber eine Gusta / Auguste Kaufmann, Tochter von Samuel und Roese / Rese Kaufmann, geborene Michel, die als Auguste Kleineibst in Burghaun bei Fulda verstorben und begraben sein soll. Letzteres ist wegen einer Verwechslung von Burgsolms mit Burghaun in jedem Fall falsch. Problematisch bleiben die Unterschiede in der Namensnennung der Eltern.
Roese / Rese Michel – so im Buch von Müller benannt – hätte nach alter patronymischer Namensgebung eigentlich Roese, Tochter des Salomon, heißen müssen. Dieser war wiederum der Sohn von einem Michel, hieß also Salomon Michel. Die verkürzte Benennung der Tochter mit Roese Michel statt Roese Salomon ist insofern nicht korrekt, zumal der Name Michel nicht zum festen Familienname der Gelnhausener Familie wurde. Dass aber mit Roese, Rese und Therese der gleiche Vorname gemeint ist, liegt auf der Hand. Größere Probleme bereitet der Unterschied im Nachnamen, auch dann, wenn man statt Michel, Salomon einsetzen würde. Der im Sterbeeintrag angegebene Name Therese Lorsch erklärt sich vermutlich dadurch, dass zwischen Eheschließung und Tod auch in ihrem Heimatort Gelnhausen die Juden feste Familiennamen annehmen mussten und die Familie dort diesen Namen, der dort zu einem sehr häufig auftretenden Namen wurde, gewählt hatte. Bei dem falschen Vornamen des Vaters, Jacob statt Samuel, wird es sich vermutlich – wie schon bei der Namensverwechslung beim Tod Marianne Kleineibst – um eine Namensverwechslung gehandelt haben. Jacob Kaufmann war ein älterer Bruder von Guste. Trotz dieser Unklarheiten sprechen die Indizien dafür, dass Therese Kaufmann, geborene Salomon, und Samuel Kaufmann die Eltern der in Braunfels verstorbenen und in Burgsolms begrabenen Auguste Kleineibst, Ehefrau von Siegmund Kleineibst, waren. Siehe dazu auch die Ausführungen im Kapitel zu Sally Kaufmann, Bewohner des Judenhauses Kaiser-Friedrich-Ring 43.
[4] Heiratsregister Braunfels 32 / 1881.
[5] Dies kann man aus einer Episode schließen, von der in der „Turm-Postille“ Nr. 101, Publikation des Stadtmuseums Obermühle, berichtet wird. Die Söhne Hugo und Max, die „Kleineibste Buwe“, gehörten wohl zur Runde der Stammgäste im örtlichen Solmser Hof, den auch andere Juden des Öfteren frequentierten. Hier traf sich aber ebenfalls der Kriegerverein und gemeinsam wurde alljährlich Kaisers Geburtstag gefeiert. „Turm-Postille“ der Heimatkundlichen Arbeitsgemeinschaft Braunfels e.V. Nr. 101 S. 8, in dem es um die Geschichte des Solmser Hofs geht.
Das heute noch existierende damalige Geschäftshaus am Markt ist aufgenommen in die Liste der Kulturdenkmäler Hessens, siehe http://denkxweb.denkmalpflege-hessen.de/44476/. (Zugriff: 18.11.2017).
[6] Sterberegister Braunfels 14 / 1935, dazu Schmidt, Jüdische Friedhof Braunfels, S.62, Eintrag 123.
[7] Auf einer nach dem Krieg erstellten Liste werden als Verwandte der Verstorbenen neben ihrem Bruder Hugo nur die Kinder ihrer Schwester Marianne, die mit Ferdinand Wollf in Koblenz verheiratet war, aufgeführt, siehe https://collections.arolsen-archives.org/archive/2-1-1-1_02010101-oS/?p=1&doc_id=70356214. (Zugriff: 23.1.2021).
[8] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61758/images/0188_70476676_1?treeid=&personid=&hintid=&queryId=d0653518aa37a60bde2612b3c9553f90&usePUB=true&_phsrc=Ekt1326&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=8098450. (Zugriff: 23.1.2021)
[9] https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11564008&ind=1. (Zugriff: 23.1.2021)
[10] HHStAW 518 37988 (33).
[11] Schmidt, Jüdische Friedhof Braunfels, S.62, Eintrag 123
[12] Heiratsregister Braunfels 14 / 1888.
[13] Frieda Emma, geboren am 14.9.1876, verheiratet mit Johann Konrad Adolf Wolff, tötete sich am 27.7.1942 in Koblenz. Klara, geboren am 30.8.1874 in Koblenz, verheiratet mit dem katholischen Franz Theodor Müller, ebendort am 30.8.1942 und Rosalie, ihre Zwillingsschwester, verheiratete Pfeiffer, noch am 12.3.1944 in Berlin. Siehe Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz.
[14] Sophia verstarb am 28. Februar, einen Tag nach ihrem Mann. Victor Klemperer, der mit Julius Wollf befreundet war, notierte in seinem Tagebuch zum einen dessen Entlassung 1933 und am 1. März 1942 auch dessen Freitod wenige Tage zuvor: „Der Professor Wollf, Julius Ferdinand von den ‚Dresdner NN’, mein Freund, hat nach mehreren Hausdurchsuchungen mit seiner Frau Selbstmord begangen. Er soll freilich am Erblinden gewesen sein.“ Angesichts dieser knappen Notiz könnte man meinen, Tod, gar Selbsttötung, sei zu etwas Alltäglichem geworden. Klemperer, Victor, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1945, 2 Bde., Berlin 1995, Bd1. S. 15 f. und Bd 2. S. 35.
Zu den Lebensdaten der Geschwister siehe die Residentenliste der Stadt Koblenz, Stadtarchiv Koblenz StAK DB 6, die Sterbedaten finden sich im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz, hier ist allerdings für Julius Ferdinand und Sophia Wollf fälschlicherweise als Sterbedatum der 1.3.1942 angegeben. In den Urkunden des Amtsgerichts Dresden, Bestand 11045 sind unter der Nr. 1.4865 die beiden Sterbeurkunden mit dem Datum 27. bzw. 28.2. 1942 enthalten. Die Kopien der Urkunden verdanke ich Herrn Atanassow, der in Dresden über die Familie von Ferdinand Wolff und Marianne, geborene Kleineibst, der Tante von Richard Kleineibst, forscht. In seinem Verlag ist mittlerweile eine umfassende Biographie über Julius Wollf erschienen: Fritzsche, Jens, Julius Ferdinand Wollf. Suche nach einem Ausgelöschten, Dresden 2019.
[15] Heiratsregister der Stadt Weilburg 1881 Blatt 32. Falsch ist die Aussage im Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse zu den Geschwistern Kleineibst, dass diese keine jüdische Mutter gehabt hätten, also Halbjuden gewesen seien. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung mit der Familie von Eduards Schwester Emilie Vier vor. Auf Grund der Tatsache, dass Johann Friedrich Vier kein Jude war, galten die drei Kinder Hans, Elisabeth und Anne als Mischlinge 1. Grades. Siehe das Erinnerungsblatt: http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Isaar-Kleineibst.pdf. (Zugriff: 18.11.2017).
[16] Geburtenbuch Bonn, Register-Nr. 1875 / 760, Band 1.
[17] Der Enkel Wolfgang Wasow meinte, dass sein Großvater möglicherweise vor der Ehe mit Johanna Jessel in Rheindorf verheiratet war und Clothilde aus dieser Ehe stammte, aber diese Möglichkeit ist durch die aufgefundene Geburtsurkunde von Clodhilde ausgeschlossen. Siehe Wasow, Wolfgang, Memories of Seventy Years: 1909 to 1979, o.O., o.J., S. 6. Es handelt sich bei diesem Werk um eine mehr als 400 Seiten starke Autobiografie, die mit großer Offenheit nicht nur die familiären Beziehungen und die eigene Biographie in einer durch vielfältige Umbrüche der Zeit geprägten Adoleszenz offenlegt, sondern darüber hinaus aus der Sicht eines Betroffenen den Wandel von der Weimarer Republik zur NS-Diktatur im alltäglichen, besonders aber im schulischen und akademischen Leben beschreibt. Zugleich gewährt diese Schrift Einblick in viele, gelungene wie auch gescheiterte Emigrationsschicksale. Die Autobiografie von Wolfgang Wasow ist nicht veröffentlicht. Sie wurde uns von den Enkeln von Richard Kleineibst freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
[18] Heiratsregister der Stadt Weilburg 1881 Blatt 32. Der gleiche Eintrag findet sich auch in der Geburtsurkunde von Clothilde , siehe Geburtenbuch Bonn, Register-Nr. 760/1875, Band 1. Er wurde dort am 14.2.1939 nachgetragen.
[19] Für Melanie Geburtsregister Weilburg 106 / 1883, für Max Richard 32 / 1886. Auch hier macht das Erinnerungsblatt des Aktiven Museum Spiegelgasse leider falsche Angaben. Eduard und Johanna Kleineibst hatten nur drei Kinder, nicht sechs, wie dort angegeben. Die Eltern von Eduard hatten sieben Kinder, d.h. Eduard hatte sechs Geschwister – vielleicht rührt daher der Irrtum.
[20] „The family was Jewish, but they were almost as far removed from cultural and religious Jewish traditions as my mother’s milieu. Not quite, though. From time to time my father surprised me by his knowledge of Jewish ritual, Yiddish expressions an ethic Jewish jokes,” schreibt Wolfgang Wasow über die Familie seines Vaters Richard Kleineibst. Wasow, Memories, S. 6.
[21] Ebd. S. 6.
[22] HHStAW 405 7743 passim.
[23] In der Literatur und auch in HHStAW 518 38015 (9) wird das Geburtsdatum mit dem 30.6.1886 angegeben, in verschiedenen Akten werden aber auch andere Angaben gemacht, so z.B. der 23.3.1886 in HHStAW 518 38014 (65) oder der 30.3.1886 in HHStAW 518 38015 (38 und 51).
[24] HHStAW 518 37988 (33).
[25] HHStAW 518 38013 (11).
[26] HHStAW 518 38015 (4).
[27] Wolfgang wurde am 25.7.1909 in Vevey geboren, später nach der Heirat seiner Mutter Alma mit Eduard Wasow für ehelich erklärt und trug seitdem dessen Nachname. Als Wolfgang Wasow machte er später in den USA Karriere als Professor für Mathematik. Er starb dort im September 1993. Seiner Mutter, die sich zunächst im Spanischen Bürgerkrieg engagiert hatte, gelang ebenfalls die Flucht über Frankreich, Mexiko in die USA, wo sie 1950 verstarb. Über ihren Werdegang und auch ihren familiären Hintergrund gibt ihr Sohn in seinen Erinnerungen umfassend Auskunft, siehe Wasow, Memories. Hier ist auch ein sehr beeindruckender Brief abgedruckt, in dem Alma ihrer Schwägerin Claire, der Frau von Richard, über die letzten Tage in der von den Faschisten belagerten Stadt Barcelona und über ihre Flucht nach Frankreich berichtete. Ebd. S. 255 ff. Mit ihr war auch Holger Lepère, ein Halbbruder von Wolfgang, als Soldat der Internationalen Brigaden nach Spanien gegangen. Außer Holger gab es noch weitere Stiefgeschwister. Richard und Alma Wasow blieben, vermittelt über das gemeinsame Kind Wolfgang, aber auch dadurch, dass Alma später den Bruder von Richards Frau Claire, Herbert Lepère, heiratete, im weiteren Leben in persönlichem und brieflichem Kontakt.
[28] In einem Interview das 1972 von Jean Stock geführt wurde, sagt er dazu: „Der Beginn meiner ,politischen Laufbahn’ fiel praktisch zusammen mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Wohl war ich auch vor dem Krieg politisch interessiert und stand gesinnungsmäßig links, war aber keiner Partei beigetreten. Der Kriegsausbruch und der tolle Jubel der Bevölkerung von Berlin, wo ich wohnte, entsetzten mich schon damals. Später kamen dazu die Erlebnisse ‚im Graben’. All das zwang mich geradezu, politisch aktiv zu werden. Der existenzialistische Begriff des ‚Hineingeworfenseins’ passt da ganz gut.“ In dem Interview erfährt man weitere interessante Details aus seinem Leben in der Emigration, u.a. dass er mit dem ebenfalls zur Emigration gezwungenen bedeutenden italienischen Autor Iganzio Silone in engem Kontakt stand. Institut für Zeitgeschichte München ZS-3025-1. Eine Kopie dieses Interviews verdanke ich Herrn Atanassow aus Dresden.
[29] Die Partei lässt sich im damaligen Parteienspektrum grob zwischen SPD und früherer USPD verorten. Die Positionen, die Dr. Richard Kleineibst innerhalb der SAPD vertrat – Arno Drechsler, der eine Geschichte der SAPD geschrieben hat, bezeichnet sie als „pazifistisch“ – war eher gemäßigt. Zwar unterstützte er zunächst auch die aussichtslose Kandidatur von Thälmann zum Reichspräsidenten, trat dann aber vehement für eine ‚Einheitsfont’ der Linken ein. Auch lehnte er Gewalt als Form des Widerstands ab. Strategisch ging er davon aus, dass Hitler die gemachten Versprechen nicht würde halten können und seine Macht bald wieder verlieren würde. Ein zentrales Anliegen war ihm, die Diskussions- und Meinungsfreiheit in der Partei gegen leninistische Strömungen zu verteidigen. In seinem Schweizer Exil näherte er sich wieder der Sozialdemokratie an. Umfassender zu seiner Position in der politischen Auseinandersetzung innerhalb der SAP, siehe Drechsler, Hanno, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik, Erlangen 1971, i. B. S. 203 – 238.
[30] Zu seiner Biographie und seinem literarischen Schaffen siehe auch die Kurzfassungen im Historischen Lexikon der Schweiz http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D28030.php. (Zugriff: 18.11.2017). und im Exilarchiv
http://www.exilarchiv.de/DE/index.php?option=com_content&task=view&id=638&Itemid=1 (Zugriff: 18.8.2016). Sein bekanntestes Pseudonym war Klaus Bühler, unter dem 1938 auch sein wichtigstes Werk „Englands Schatten über Europa“ erschienen war. Falsch ist allerdings die Angabe im Historischen Lexikon der Schweiz, in dem Claire Lepère zur Frau von Eduard Kleineibst, dem Vater ihres Mannes Richard, gemacht wird.
[31] Deutscher Reichsanzeiger Nr. 143 vom 24.6.1939 Liste 121. Zit. nach Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933-1945 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen. Bd. 1. Chronologische Sortierung, Hg. Hepp, Michael, S. 184. Fälschlicherweise wurde der Sohn mit dem Nachnahme Kleineibst vermerkt. Sein Geburtsname war bekanntlich Thal, 1939 hieß er aber schon Wasow. Er war im Übrigen nicht mit einem seiner Elternteile ausgewandert, sondern 1933 allein über Frankreich und Italien, nachdem er im selben Jahr in Göttingen noch sein Examen abgeschlossen hatte. Kurz bevor er 1939 in die USA emigrierte, heiratete er in England Gabriele Bernhard, mit der er dann sein neues Leben in den Vereinigten Staaten begann. Siehe Wasow, Memories, S. 203 ff.
[32] Wasow, Memories, S. 272. Richard starb im April 1976 in Zürich, seine Frau Claire war nach Angaben von Wolfgang Wasow bereits im Winter 1956/57 verstorben, ebd. S. 332.
[33] Wasow, Memories, S. 6.
[34] Heiratsregister Weilburg 29 / 1904. Isaar ist die „entjudete“ Form von Isaac, wie die Familie eigentlich hieß. Seine Eltern waren der in Frankfurt lebenden Kaufmann Max Isaac und seine Frau Emilie, geborene Jüdell. In dem Heiratseintrag ist auch der Name des Sohnes noch mit Isaac angegeben. Ob die zu einem nicht bekannten Zeitpunkt vorgenommene Umbenennung eine bewusste Distanzierung vom Judentum darstellte oder ob ihr nur Zweckmäßigkeitsüberlegungen zugrunde lagen, ist ungewiss. Die Tochter Simone scheint den alten Namen wieder angenommen haben, jedenfalls wird sie in den späteren Akten der Entschädigungsbehörde wieder mit dem Namen Isaac oder Isaak bezeichnet.
[35] HHStAW 685 318 (13).
[36] HHStAW 518 37987 (10).
[37] Der damalige Wohnort Frankfurt ergibt sich aus einer Frage in der Vermögenserklärung von 1938. Wenn der Steuerzahler am 1.1.35 verwitwet war, hatte er anzugeben, wo der letzte Wohnsitz des Verstorbenen war und ob die Witwe zu dieser Zeit noch mit ihm zusammen gelebt hatte. HHStAW 685 318 (3, neue Paginierung).
[38] HHStAW 518 38105 (14). Zumindest gibt Clothilde Isaar in ihrer ersten in Wiesbaden abgegebenen Steuererklärung von 1937 an, dass die Tochter „jetzt verheiratet“ sei. HHStAW 685 318 (1).
[39] Sterbe Register der Stadt Wiesbaden .Nr. 1741/1936.
[40] HHStAW 518 37897 (12 f.).
[41] HHStAW ^685 318 (11) Clothilde Isaar meldet dem Finanzamt Wiesbaden, dass sie aus der Erbschaft ihrer Tante Lina 4.211 RM erhalten habe.
[42] HHStAW 685 318 (2). Er hatte allerdings bestimmt, dass die Nutznießung erst nach dem Tod seiner Geschwister Max, Lina und Hugo eintreten dürfe, was faktisch bedeutete, dass sie davon keinen Nutzen mehr hatte, der Betrag aber dennoch zur Berechnung der Judenvermögensabgabe herangezogen wurde.
[43] Nach einer Aufstellung der Dresdner Bank, Stand 31.12.1940, waren es sogar 12.606 RM, siehe HHStAW 685 318 (14).
[44] Ebd. (14).
[45] Adler, Theresienstadt, S. 62.
[46] HHStAW 518 37987 (73 f.) Hier eine genaue Auflistung der Transaktionen.
[47] HHStAW 518 38015 (19, 20)
[48] HHStAW 518 38015 (52)
[49] Unbekannte Liste X3. Hier ist sogar der Mietpreis von 35,49 RM für das Zimmer eingetragen. Zu Schartenbergs siehe unten.
[50] HHStAW 685 318 (29) Laut IST-Arolsen war der Strafbefehl zwei Tage bevor Melanie den Brief an das Finanzamt sendete ergangen, also am 26.2.1942. HHStAW 518 37987 (17).
[51] In der unbekannten Liste X3 heißt es bei Kleineibst, Melanie „Teilwohnung mit Isaar & Schartenberg“.
[52] HHStAW 518 37987 (20).
[53] HHStAW 518 37987 (21).
[54] HHStAW 518 37987 (23) und http://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4842131&ind=1. (Zugriff: 20.11.2017). Der Tag des Transports gilt auch als Todestag von Clothilde Isar. Zunächst war ihr Todestag vom Amtgericht Braunfels fälschlicherweise auf den Tag des Transports von Wiesbaden nach Theresienstadt, also auf den 1.9.42 festgelegt worden, was sich angesichts des nachweisbaren Weitertransports am 29.9.1942 als definitiv falsch erwiesen hat. Im Entschädigungsverfahren beanspruchte der Clothilde vertretenden Anwalt, dass auch ihr Todestag, wie bei all denjenigen Holocaustopfern, für die kein amtlicher Todesnachweis vorliegt, als Todestag der 8.5.45 bestimmt werden solle. Fälschlicherweise bezog sich der Anwalt dabei auch auf die Schwester Melanie, „die mit der Verfolgten deportiert“ worden sein soll und für die auch der 8.5.45 als Todestag angenommen worden sei. Die beiden Schwestern waren aber unterschiedlichen Transporten zugeordnet. Auf Grund der Tatsache, dass alle Teilnehmer des Transports in Sobibor unmittelbar nach Ankunft vernichtet wurden, wurde eine Entschädigung für den Verlust an Freiheit von Clothilde Isaar nur bis zum 31.9.1942 anerkannt und der Tochter als Erbin zugestanden. Siehe dazu HHStAW 518 37987 passim.