Julius und Martha Kahn, geborene Blumenthal, und ihre Geschwister


Juden Wiesbaden, Judenhäuser
Das ehemalige Judenhaus in der Hallgarter Str. 6
Eigene Aufnahme
Judenverfolgung Wiesbaden
Lage des ehemaligen Judenhauses Hallgarter Str. 6
Judenhaus Wiesbadaen, Judenäuser Wiesbaden, Juden Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Hallgarter Str. 6
Das Judenhaus Hallgarter Str. 6 früher
Mit Genehmigung M. Sauber

 

 

 

 

 


Im Haus lebte schon länger ein jüdisches Ehepaar, ebenfalls mit dem Familiennamen Kahn. Die beiden hatten zunächst in der Wallufer Str. 8 gewohnt, erscheinen erstmals im Wiesbadener Adressbuch von 1932/33 mit der Adresse der Hallgarter Str. 6.

Juden Wiesbaden, Judenhaus Hallgarter Str. 6, Judenhäuser Wiesbaden,
Stammbaum der Familie Kahn / Blumenthal
(GDB-PLS)

Julius Kahn, von Beruf Buchdrucker bzw. Schriftsetzer oder auch Buchbinder,[1] stammte aus dem heute zu Reichelsheim im Odenwald gehörenden Pfaffen-Beerfurth, wo er am 26. Mai 1892 geboren wurde. Hier hatte sich die Familie Kahn, wie auch einige andere jüdische Familien, im 18. Jahrhundert angesiedelt.[2] Es handelte sich zumeist um sehr arme Juden, die ganz traditionell im Viehhandel tätig waren. Die kleine Gemeinde bestand im 19. und frühen 20. Jahrhundert, der Zeit ihrer größten Ausdehnung, aus nie mehr als 10 bis 15 steuerpflichtigen Mitgliedern, insgesamt waren damals etwa 8 Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens. Aber das genügte um einen eigenen Vorsteher zu haben, der zeitweise auch als Lehrer und Schochet amtierte. Ihre ärmlichen Häuser waren im gesamten Ort verteilt, was als Indiz dafür angesehen werden kann, dass die jüdischen Mitbürger auch insgesamt in das dörfliche Leben integriert waren. Das Haus, das die Familie Löb / Kahn von Generation zu Generation weiter vererbt hatte, stand in der Pfalzstraße, dem heutigen Pfälzer Platz, und war 1821 von Salomon Löb erworben worden. Hintge Löb, die Tochter von Samuel und seiner Frau Hendel, heiratete einen aus Elmshausen stammenden Salomon Kahn. Das Paar übernahm das Haus im Jahr 1836. Ihr Sohn Joseph Kahn (I), geboren 1825, war der Vater des Buchbinders Joseph Kahn (II), der in seiner Gemeinde die wichtige Aufgabe des Vorbeters übernommen hatte. Verheiratet war er mit der um ein Jahr jüngeren Emma Jakob, mit der er insgesamt sechs Kinder aufzog. Das älteste war der später in Wiesbaden lebende Julius Kahn, der als Buchdrucker wie sein Vater beruflich mit der Herstellung von Büchern befasst war. Julius war am 25. Mai 1892 geboren worden. Ihm folgten die Schwestern Ida am 15. Januar 1894, Jenny am 2. Oktober 1895 und Hannchen am 2. April 1898. Am 17. März 1900 wurde der Bruder Jakob und am 25. Januar 1902 noch die Schwester Rosa geboren.[3]

Nur dem zweiten Sohn Jakob gelang es mit seiner Familie rechtzeitig Deutschland zu verlassen. Die übrigen überlebten die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur nicht.[4] Als im Gefolge des Attentats von Grynspan auf den Legationsrat von Rath es auch in Pfaffen-Beerfurth im November 1938 zu „spontanen“ Aktionen gegen die dort noch lebenden Juden kam, waren die Eltern bereits verstorben, der Vater am 26. März 1935, die Mutter 1937.[5] Sie mussten nicht mehr erleben, wie die örtlichen Funktionäre der SA und NSDAP die Häuser der alteingesessenen jüdischen Mitbürger demolierten, ihre Geschäfte plünderten und einzelne von ihnen auch körperlich misshandelten.[6] Bereits 1937 war die kleine jüdische Gemeinde aufgelöst worden, nachdem die meisten der ehemaligen Mitglieder weggezogen oder gar ausgewandert waren.[7]

Josef Kahn, Emma Kahn, Jenny Kahn, Ida Kahn, Hannchen Kahn, Jakob Kahn, Rosa Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Grabsteine von Joseph und Emma Kahn auf dem Judenfriedhof in Reichelsheim
Gemeindearchiv Reichelsheim

Auch Julius Kahn und seine Frau Martha, geborene Blumenthal, lebten zu dieser Zeit schon lange in Wiesbaden, wo sie am 4. Oktober 1923 geheiratet hatten.[8] Die gelernte Schneiderin war am 16. Juli 1890 in Holzhausen als jüngste von vier Töchtern des Ehepaars Joseph und Julia Blumenthal geboren worden.[9] Auch aus dieser alten, einst sehr regen jüdischen Gemeinde waren im Zuge der wachsenden Diskriminierung fast alle Mitglieder abgewandert und in die Städte gezogen. Auch die Eltern von Martha, Joseph und Julia Blumenthal, geborene Landau, hatten zumindest zuletzt bei den Kahns in der Hallgarter Str. 6 gewohnt, wo sie am 30. Juli 1930 und er am 20. August 1932 verstarben.[10]

 

Judenhäuser, Judenhaus, Wiesbaden, Hallgarter Str. 6
Julius Kahn gibt der Devisenstelle Auskunft über sein monatliches Einkommen
HHStAW 519/3 3291 (4)

Verlässliche Informationen über das kinderlos gebliebene Ehepaar Kahn gibt es erst ab den späten 30er Jahren, als Julius Kahn schon nicht mehr in seinem erlernten Beruf arbeiten konnte. Bei seiner Vermögenserklärung, die er im März 1940 abgeben musste, schrieb er, dass er kein Vermögen besitze und für etwa 30 RM Wochenlohn bei der Maschinenfabrik Scheid in Limburg arbeite.[11] Dass es sich hierbei um Zwangsarbeit handelte, ergibt sich schon aus diesem geringen Lohn.[12] Daneben erhielt er noch eine monatliche Kriegsbeschädigtenrente von 22,20 RM. Julius Kahn war, wie auch sein Bruder Jakob, dem Aufruf im Ersten Weltkrieg zur angeblichen Verteidigung des Vaterlandes gefolgt und hatte dabei ein Augenlicht eingebüßt.[13] Martha besaß ursprünglich eine Schneiderei in der Wallufer Str. 8, aber schon ab 1933 müssen die Erträge stark zurückgegangen sein, sodass auch sie kaum zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen konnte. 1938 wurde das kleine Atelier endgültig geschlossen.[14] Auf der 1939 erstellten Gestapo-Karteikarte ihres Mannes hatte man sie wegen eines Herzfehlers sogar als arbeitsunfähig eingestuft.

Nach Angaben ihrer Nichte Hilde Kahn-Cohen, der Tochter der Schwester Recha Mattauch, bewohnte das Ehepaar Kahn in der Hallgarter Str. 6 im ersten Stock eine 3-Zimmerwohnung mit Mansarde. Zumindest ein Zimmer davon hatten sie spätestens seit 1939 an Amalie Katz vermietet.[15] Das zusätzliche monatliche Einkommen von 38 RM aus Untervermietung hatten die beiden ordnungsgemäß bei ihrer Vermögenserklärung angegeben.[16]

Angesichts dieser mehr als dürftigen finanziellen Verhältnisse verzichtete die Devisenstelle vorläufig auf die Errichtung eines Sicherungskontos, „erlaubte“ sogar, dass Julius Kahn seinen Zwangsarbeiterlohn unmittelbar in bar entgegennehmen durfte.[17] Der gewährte Freibetrag von 250 RM war angesichts des monatlichen Einkommens geradezu ein Hohn.

Nicht richtig sind die in einer eidesstattlichen Erklärung ihres Schwagers 1949 gemachten Angaben, wonach die beiden „Pfingsten 1942 (…) auf Veranlassung der Gestapo mit ca. 100 anderen Juden in der alten Synagoge Friedrichstraße eingesperrt und nach ca. 4 Tagen mit der Eisenbahn abtransportiert“ worden seien. Er sei mit seiner Frau Sidonie, der Schwester von Martha, am Tage zuvor „beim Packen der beschränkten Habe, die mitgenommen werden durfte, zugegen“ gewesen und sie hätten auch am folgenden Tag die beiden noch zur Synagoge begleitet.[18]

Es ist hingegen sicher, dass beide erst am 1. September 1942 mit dem letzten großen Transport nach Theresienstadt deportiert wurden. Die zurückgelassenen Gegenstände und Möbel wurden anschließend vermutlich zu Gunsten der Verwertungsstelle beim Finanzamt Wiesbaden versteigert.[19] Nachdem die Verwandten Ende 1943 erfahren hatten, dass Julius und Martha Kahn nach Theresienstadt deportiert worden waren, hatten sie ihnen noch Lebensmittelpakete geschickt, aber nie eine Eingangsbestätigung oder ein anderes Lebenszeichen erhalten, obwohl sie zu dieser Zeit noch dort inhaftiert gewesen sein müssen.

Der weitere Weg in die Vernichtung kann bei Julius Kahn nicht mehr genau nachgezeichnet werden. Am 28. September 1944 wurde er von Theresienstadt nach Auschwitz überführt, aber nicht dort, sondern knapp drei Monate später kam er, versehen mit der Häftlingsnummer 115661, am 23. Dezember 1944 in Dachau zu Tode, wohin man ihn am 10. Oktober verbracht hatte.[20] Angesichts der vorrückenden sowjetischen Front hatte man bereits im Sommer 1944 begonnen, die noch arbeitsfähigen KZ-Insassen in die Lager im Reich zu verlegen, bereits Monate bevor die eigentlichen Todesmärsche im Januar 1945 begannen. Unter welchen Umständen er in Dachau sein Leben verlor, ist nicht bekannt.

Judenhaus Hallgarter St. 6, Wiesbaden
Stolpersteine für Julius und Martha Kahn, geborene Blumenthal, in der Hallgarter Str. 6 in Wiesbaden
Eigene Aufnahme

Ähnlich erging es Martha, die ebenfalls noch nach Auschwitz gebracht wurde, allerdings erst am 4. Oktober 1944. Von dem Transport, der etwa 1500 Menschen umfasste, wurden nach einer Selektion einige hundert Junge und Gesunde in das Durchgangslager eingewiesen, darunter 271 Frauen, alle anderen wurden direkt in die Gaskammern geschickt und umgebracht.[21] Martha Kahn mit ihren 54 Jahren, schon zuvor als nicht arbeitsfähig ausgewiesen, wird nicht zu denen gehört haben, der man noch einen Aufschub gewährte. Weil aber eine amtliche Bestätigung für ihre Ermordung fehlt, wurde sie nach dem Krieg per Gerichtsbeschluss für tot erklärt.[22]

Recha Mattauch, Recha Kahn, Hilde Mattauch, Johanna Blumenthal, Sidonie Blumenthal, Martha Kahn Blumenthal, Judenhaus WiesbadenKahn
Karte von Recha Mattauch an ihren Schwager Heinrich Görgens aus dem Jahr 1946
HHStAW 469/33 2361 (6)

Im Jahr 1946 wussten die Geschwister, sofern sie überlebt hatten noch nichts von dem Schicksal der anderen. Eine Postkarte von Recha Mattauch, der am 24. Juni 1879 geborenen Schwester von Martha, geschrieben am 17. Mai 1946 in Portugal an den Schwager Heinrich Johann Görgens, bezeugt dieses Unwissen, aber auch die Ahnung des Geschehenen: „Nun da man wieder schreiben kann, ist es mein Erstes zu fragen, wie es dir geht. Ich hoffe, du bist gesund geblieben, auch deiner Mutter geht es gut. Bei uns ist alles soweit gut, nur fehlen die Nachrichten unserer lieben Geschwister. Kannst du mir nicht irgendwelche Auskunft geben, es ist doch in der Leerstraße eine Auskunftsstelle, bitte erkundige dich dort u. schreibe mir. (…) Es ist ein Glück, dass die schwere Zeit vorbei ist, nun wird es auch bald hoffentlich mal besser werden, wenn es auch noch eine Zeit bis dahin währt.“[23]

Zu dieser Zeit war der Adressat der Postkarte bereits verwitwet. Für seine Frau Sidonie, die am 9. März 1882 wie die anderen Schwestern in Holzhausen über Aar geboren worden war, war die mit Heinrich Johann Görgens am 3. Juni 1933 in Wiesbaden geschlossene Ehe bereits die zweite.[24] In der ersten Ehe mit Julius Reichenberg, wurde am 26. November 1911 die Tochter Amalie Elisabeth geboren.[25] Das Paar lebte zu dieser Zeit in Camberg im Taunus. Ihr erster Ehemann verstarb nach Angaben der Tochter im Jahr 1913.[26]

Der am 3. Juni 1888 in Styrum, einer Gemeinde zwischen Oberhausen und Mühlheim an der Ruhr, geborene zweite Ehemann war von Beruf Ingenieur und seiner Herkunft nach kein Jude, sondern katholisch getauft worden. Bei der Eheschließung hatten sie bereits zusammen in der Rüdesheimer Str. 25 gewohnt, waren aber später aus finanziellen Gründen in die Adlerstr. 18 umgezogen.[27] Auch sie lebten in eher bescheidenen Verhältnissen, denn Heinz Görgens war bereits seit 1932 berufsunfähig und seine Frau verdiente Geld als „Propagandistin“, zuletzt als Vertreterin für „Maggi“-Produkte. Ihre etwa 200 RM Gehalt stellten somit den Hauptteil der monatlichen Einkünfte dar. Aber 1933 verlor auch sie ihre Arbeit, da sie keine Möglichkeit mehr hatte, in nichtjüdischen Haushalten ihre Produkte vorzustellen. Das Paar lebte von da an von der kleinen Rente, etwas weniger als 100 RM, die ihrem Ehemann zustand.[28] Versuche des Ehemanns trotz seiner körperlichen Beschwerden wieder Arbeit zu finden, waren wegen seiner jüdischen Ehefrau vergebens oder nur von kurzer Dauer.[29]

Sidonie Görgens Blumenthal, Martha Blumenthal, Julius Kahn, Judenhaus Hallgarter Str. 6 Wiesbaden
Arbeitsbuch von Heinrich Görgens
HHStAW 518 54408 (28)

Aber nicht nur die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse hatten sie dem Regime zu verdanken. Wegen „Vergehens“ gegen die 1938 erlassene Verordnung zum Tragen eines Zwangsnamens, hatte man Sidonie zu einer Strafe von 75 RM verurteilt.[30]

1942 waren fast alle jüdischen Mitbürger aus Wiesbaden deportiert worden,[31] geblieben waren noch die Partner und Kinder in bzw. aus sogenannten Mischehen. Ab dem Frühjahr 1943 verloren aber auch sie ihren bisherigen Schutz. Überall in den südhessischen Städten, in Frankfurt, Darmstadt, Offenbach und Wiesbaden begannen die Verhaftungen. In kleinen Gruppen wurden sie zunächst in den örtlichen Gefängnissen festgesetzt und anschließend in die verschiedenen Konzentrationslager verbracht. So auch in Wiesbaden.[32]

Judenhaus Hallgarter Str. 6 Wiesbaden, Martha Kahn, Julius Kahn
Vorladung bei der Gestapo für Sidonie Görgens. Die Rückseite ist nicht mehr lesbar
HHStAW 518 54408 (30)

Als Sidonie Görgens am 25. März 1943 von der Gestapo für den folgenden Tag eine Vorladung erhielt, wusste sie sehr genau – so eine Bekannte in ihrer eidesstattlichen Erklärung – was das zu bedeuten hatte: „Kurz vor ihrem Tode im Jahr 1943 besuchte ich Frau Görgens. Sie erklärte mir da, dass ihre beiden Schwestern mit ihren Männern zur Gestapo bestellt worden seien und seit dieser Zeit verschleppt sind, sie nie etwas von ihnen gehört habe. Sie folgerte daraus, dass diese nur gemordet wurden und dieses Schicksal wolle sie, wenn sie von der Gestapo verhaftet würde oder zu dieser bestellt werden sollte, durch einen Sturz aus dem Fenster oder durch Gasvergiftung abbiegen. Mein Abraten stieß bei ihr auf einen unerschütterlichen Entschluss. Ich erfuhr dann wenig später durch ihren Mann, dass sie eine Vorladung zur Gestapo zum anderen Tag erhalten, sich in der Nacht vorher durch Schlaftabletten und Öffnen des Gashahnes ihrem Leben ein Ende bereitet hatte.“ Sie war am frühen Morgen des 26. März 1943 in ihrer Wohnung in der Adlerstraße verstorben.[33] Vorladung

Judenhaus Wiesbaden, Hallgarter Str. 6
Das Geschäft ‚Frank & Marx‘ im Hintergrund links
Stadtarchiv Wiesbaden

Ihre Tochter Amalie, geborene Reichenberg, hatte die Nachricht vom Tod ihrer Mutter in ihrem Exil in Südafrika erhalten, wohin sie rechtzeitig ausgewandert war. Ansonsten bleibt aber vieles in ihrer Biographie unklar oder sogar widersprüchlich. Zunächst war sie wohl mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach Wiesbaden gekommen und hatte auch mit ihnen zusammen gewohnt. Ende der zwanziger und in den ersten dreißiger Jahren war sie als Verkäuferin in dem jüdischen Textilgeschäft „Frank & Marx“ in der Kirchgasse 31, Ecke Friedrichstraße, angestellt, wobei der genaue Zeitraum im späteren Entschädigungsverfahren nicht geklärt werden konnte.[34] Offen blieb, ob sie  ihre Arbeitsstelle nach ihrer Eheschließung am 21. Dezember 1933 mit dem aus Alsfeld stammenden Artur Strauss selbst aufgegeben hatte,[35] oder ob sie im Zusammenhang mit der Arisierung des Unternehmens, die ebenfalls am Jahresende 1933 stattgefunden hatte,[36] entlassen worden war. Ihr ehemaliger Ehemann bestätigte die erste, ehemalige Mitarbeiterinnen dagegen die zweite Möglichkeit.[37] Auch wenn diese Frage im Hinblick auf die Entschädigungsansprüche formaljuristisch von Relevanz war, so ist sie angesichts der Tatsache, dass Amalie Reichenberg in jedem Fall über kurz oder lang entlassen worden wäre, letztlich unerheblich: Auch sie war unzweifelhaft ein Opfer der antijüdischen Arbeitsmarktpolitik des NS-Staates.

Julius Kahn, Martha Blumenthal
Die Kirchgasse 1907 mit dem Geschäftshaus ‚Frank & Marx‘ links im Vordergrund
Stadtarchiv Wiesbaden

Nachdem ihre Tante Martha etwa 1932 mit ihrem Mann die Wohnung in der Hallgarter Str. 6 bezogen hatte, muss auch Amalie hier eingezogen sein, möglicherweise in das Mansardenzimmer, das zur Wohnung gehörte. Amalia gab in ihrem Entschädigungsantrag an, ihre Tante sei bis zu ihrem 15ten Lebensjahr ihre „rightful guardian“ gewesen.[38] Nach der Heirat wohnte das Paar nach Angaben ihres Stiefvaters in der Rüdesheimer Straße.[39] In Wiesbaden war am 29. Mai 1936 auch ihre Tochter Ursula Maud geboren worden, die nach Angaben der Mutter aber schon im Alter von zehn Jahren verstarb.[40]

Rätselhaft bleiben die Angaben von Amalie Strauss über ihre Verhaftung. So gab sie einmal an, im April 1935 in Worms verhaftet und für ein halbes Jahr in das KZ Osthofen verbracht worden zu sein. Sie, damals schwanger, sei erst frei gelassen worden, als sie sich schriftlich zur Ausreise aus Deutschland innerhalb von zwei Wochen verpflichtet habe.[41] Grund für die Inhaftierung – so ergänzte sie später – sei eine von ihr verschickte Ansichtskarte mit einem Hitler-Konterfei gewesen, dessen Augen sie zuvor ausgestochen habe.[42] Diese Angaben sind allerdings nur schwer mit amtlichen Unterlagen zu vereinbaren, nach denen sie vom 2. bis zum 24. Januar 1936 für einen kurzen Zeitraum noch einmal in Alsfeld, der Heimatstadt des Ehemanns, gemeldet war.[43] In einer anderen Darstellung, die aber ebenfalls nicht den Tatsachen entsprechen kann, war sie bereits 1934 verhaftet worden, nachdem ihr Mann schon damals alleine ausgewandert sein soll.[44] Weder ihr damaliger Mann, noch ihr Stiefvater konnten im Entschädigungsverfahren ihre Angaben bezüglich dieser Inhaftierung bestätigen, auch Behörden oder Hilfsorganisationen wie der IST verfügten über Unterlagen, die ihre Darstellung belegen.

Sicher ist hingegen, dass das Paar getrennt im Jahr 1936 Deutschland verließ und nach Südafrika auswanderte. Arthur Strauss gab an, er habe bereits im August 1936 die Reise angetreten und seine Frau ein viertel Jahr später nachgeholt – mit der Tochter ist zu vermuten. Gemäß den Nachforschungen des Rechtsanwalts von Amalie Strauss, war diese am 26. Oktober 1936 mit dem Schiff „Warwick Castle“ in Kapstadt angekommen, nachdem sie sich zuvor „mehrere Monate“ in London aufgehalten hatte, wohin ihr Mann das Geld für die Überfahrt gesendet habe.[45]

In ihrem Exilland Südafrika, in dem sie den Namen Alice Bernadette Joan Amaly annahm,[46] wurde zwar am 5. Oktober 1939 noch der gemeinsame Sohn Michel Mario, der sich später Mike nannte, geboren, dennoch scheiterte die Ehe bald darauf. [47] Auch eine zweite Ehe mit einem ansonsten nicht bekannten Mann namens Miller wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt wieder aufgelöst. 1957 ging sie noch eine dritte Ehe mit Aaron David Maurice Cowan ein.[48] Gesundheitlich war ihr Leben im Exil eine einzige Leidensgeschichte. Etwa ab 1961 war sie wegen eines Rückenschadens, der ihrer Meinung nach Folge der KZ-Inhaftierung war, bettlägerig und sie litt – so klagte sie – zunehmend unter Gedächtnisverlust.[49] Am 10. Februar 1965 ist sie in Folge einer komplizierten Operation an ihrer Wirbelsäule in Johannesburg, ihrem letzten Wohnsitz, verstorben.[50]

 

Alices Tante, die älteste Schwester von Martha und Sidonie Blumenthal, überlebte die Zeit des Nationalsozialismus im portugiesischen Exil. Die am 24. Juni 1879 ebenfalls in Holzhausen geborene Recha Blumenthal war ursprünglich mit dem Kaufmann und Prokuristen Karl Franz Mattauch verheiratet und lebte mit ihm zusammen in Kaiserslautern.[51] Hier war auch die gemeinsame Tochter Hildegard Fanny, ihr einziges Kind, am 7. April 1910 geboren worden.[52] Ihr Vater verstarb bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg am 19. Mai 1919 in Kaiserslautern. Dennoch gelang es der Mutter in dieser sicher recht schwierigen Zeit ihrer Tochter eine Gesangsausbildung als Opern- und Konzertsängerin am Pfälzischen Konservatorium und an der Opernschule in Mannheim zu ermöglichen. Bis 1933 feierte sie auf verschiedenen Bühnen und auch im Rundfunk große Erfolge im Fach Operette wie auch Oper und man prognostizierte ihr eine große Zukunft. Aber ab 1934 wurde sie überall boykottiert, sodass sie für sich und ihre berufliche Karriere in Deutschland keine Chance mehr sah. Zusammen mit ihrem damals noch Verlobten, dem aus Gladenbach bei Marburg stammenden Arzt Arthur Grünstein, der als Jude hier ebenfalls keine Berufsperspektive mehr hatte, ging sie im April 1934 zunächst nach England, wo die beiden heirateten. Eigentlich wollten sie von dort aus weiter nach Ägypten, wo ihrem Mann eine Stelle als Arzt angeboten worden war, aber auf dem Weg dorthin verstarb dieser plötzlich am 25. August 1934 in Lugano in der Schweiz. In ihrer Not, sie war inzwischen schwanger geworden, kehrte sie zu ihrer Mutter nach Kaiserslautern zurück, wo am 12. Februar 1935 ihr Sohn Peter Arthur zur Welt kam. Im folgenden Jahr, im März 1936, verließ Hilde mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Deutschland und flüchtete über Rotterdam zu Freunden nach Lissabon. Nur kurze Zeit musste sie den gemeinsamen Unterhalt als Fußpflegerin erwirtschaften, dann gelang es ihr wieder in ihrem eigentlichen Beruf als Sängerin Anerkennung zu gewinnen und Engagements, besonders im Radio, zu erhalten.

Als mit Beginn des Krieges und noch mehr, als nach der Wannseekonferenz im Januar 1942 ganz Europa nach Juden „durchgekämmt“ wurde, fühlten sich Hilde und ihre Mutter auch in Portugal nicht mehr sicher. Noch 1942 fuhren sie mit dem spanischen Schiff „Cabo de Hornos“ nach Argentinien, wo es ihnen nach all den Wirrungen gelang, doch noch einmal ein neues Leben aufzubauen. Die dort sehr schnell geschlossene und bald wieder geschiedene Ehe mit Fritz Guggenheimer – man würde heute vermutlich abfällig von einer „Scheinehe“ sprechen[53] – half ihr in dem neuen Exilland Fuß zu fassen und ihre unterbrochene Karriere mit großem Erfolg fortzusetzen. Auf vielen Bühnen der Welt, im Radio, aber auch in Synagogen präsentierte sie ihr breit gefächertes künstlerisches Oeuvre. 1961 wurde sie als beste Sängerin Argentiniens ausgezeichnet. Einen Anteil an diesem Erfolg hatte sicher ihr dritter Ehemann, der quasi als Manager ihre Auftritte organisierte. Sie hatte den aus Hamburg stammenden Kaufmann Rudolf Hahn-Cohen vermutlich am 7. Januar 1946 geheiratet.[54]

Nach dem Ende ihrer Bühnenkarriere war sie über viele Jahre noch als Gesangslehrerin aktiv, bevor sie am 1. April 2002 in Mar del Plata in Argentinien verstarb.
In ihrer Heimatstadt Kaiserslautern hat man zu Ehren dieser bedeutenden Tochter der Stadt, die noch zwei Mal zu Konzertauftritten dorthin zurückkehrte – sehr spät – im Jahr 2011 einen Platz benannt.
Ihre Mutter Recha erlebte nur noch den Beginn der großen Karriere ihrer Tochter. Sie war bereits am 13. August 1954 in ihrem argentinischen Exil verstorben.[55]

 

Nach Argentinien hatte sich auch die Tochter von Recha Mattauchs Schwester Johanna retten können. Über Johanna Blumenthal, geboren am 17. Mai 1885, und ihre Familie liegen insgesamt nur wenige Informationen vor. Sie war mit dem aus lothringischen Diedenhofen, heute Thionville, stammenden Metzgermeister Ludwig Levy verheiratet.[56] Nach ihrer Eheschließung lebte das Paar in Mainz, wo am 12. März 1819 auch die Tochter Ruth Sophie zur Welt kam.[57] Später zog die Familie nach Mannheim. Ihre Tochter war zu einem nicht bekannten Zeitpunkt nach Esens in Friesland verzogen, wo sie am 19. August 1938 den landwirtschaftlichen Gehilfen Josef Wolff heiratete. Sie selbst, 19 Jahre alt, ist in der Heiratsurkunde als landwirtschaftliche Praktikantin ausgewiesen.[58] Das legt die Vermutung nahe, dass sich die beiden damals schon intensiv auf ihre spätere Auswanderung vorbereiteten. Ursprünglich war die recht große Familie Wolff, in die Ruth Sophie eingeheiratet hatte, – Joseph hatte sieben Geschwister – im Viehhandel und als Metzger tätig. Auch in Esens, wo es seit dem 17. Jahrhundert jüdisches Leben gab, nahmen nach 1933 die Repressalien gegenüber den dort lebenden Juden immer mehr zu, sodass sich viele zur Auswanderung entschlossen, so auch die gesamte Familie Wolff, die zum größten Teil nach Südamerika, einige aber auch in die USA ausreisten.[59]

Joseph und Ruth Sophie Wolff meldeten sich 1938 von Esens nach Mannheim ab, sicher um sich dort von den Eltern bzw. Schwiegereltern zu verabschieden. Lange können sie nicht geblieben sein, den noch im selben Jahr verließen auch sie Deutschland, um nach Argentinien in ihr sicheres Exil zu gelangen. Über ihr Leben dort ist nichts bekannt, man wird aber davon ausgehen können, dass die Familienmitglieder dort untereinander weiterhin in Kontakt gestanden haben.

Ob auch ihre Eltern Johanna und Ludwig Levy Auswanderungspläne hatten, ist nicht bekannt. Realisiert werden konnten sie in jedem Fall nicht mehr. Im Rahmen der Wagner-Bürckel-Aktion wurden sie am 22. Oktober 1940 von Mannheim aus zunächst nach Gurs in das nichtbesetzte Frankreich verschleppt.[60] Die heute in Israel lebende Amira Gezow erlebte damals als elfjähriges Kind diesen Tag in Mannheim. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion waren sie aus ihren Wohnungen gezerrt worden und in einem prozessionsähnlichen Fußmarsch durch die Stadt zum Hauptbahnhof getrieben worden, wo sie in die Züge verladen wurden – die Straßen gesäumt von Menschen, die applaudierten oder bestenfalls wegschauten. Nur wenige schämten sich angesichts dessen, was sie sahen. Das Ziel lag 1170 Kilometer entfernt: Gurs am Rande der Pyrenäen, das ehemalige Lager für Kriegsflüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs „Das Lager ist ein Schlammloch, die Baracken kaum heizbar, man schläft auf dem Boden auf Strohsäcken, keine Medizin, beißender Hunger und pure Verzweiflung. Das Lager, etwa so groß wie die Heidelberger Altstadt, ist in Barackenkomplexe getrennt, von Stacheldraht umsäumt, Männer und Frauen getrennt, Familien zerrissen. In den Baracken drängen sich 60 Gefangene, beim Gang zur offenen Latrine versinkt man im Morast. Zu Angst, Hunger und Verzweiflung gesellt sich der Verlust jeder Privatheit.“[61]

Das Lager in Gurs

Täglich starben dort durchschnittlich etwa sieben Menschen. Zwar gab es eine Krankenstube, aber weder medizinisches Gerät, noch Medikamente. Diejenigen, die diese Hölle überlebt hatten, wurden nach zwei Jahren, im August 1942 über das Sammellager Drancy bei Paris nach Auschwitz verbracht und im Gas ermordet. Amira Gezow überlebte, weil ihr Vater sie geistesgegenwärtig in letzter Sekunde aus dem Zug gestoßen hatte. Mit Hilfe jüdischer Aktivisten der Resistance gelang ihr und anderen Kindern die Flucht.[62]

Johanna und Ludwig Levy konnten ihrem Schicksal nicht mehr entkommen. Der Zug, der Drancy am 10 August 1942 verließ, brachte sie in die Gaskammern von Auschwitz. Beide wurden nach dem Krieg amtlich für tot erklärt. Der Todestag von Johanna Levy wurde auf den 31. August 1942 festgelegt.[63]

 

Das gleiche Schicksal erlitten die beiden ledigen Schwestern ihres Schwagers Julius Kahn, die am 2. Oktober 1895 geborene Jenny und die am 25. Januar 1902 geborene Rosa Kahn aus Pfaffen-Beerfurth. Beide erlebten die ersten Jahre der Diktatur in Mannheim, wohin Jenny am 30. April 1932, ihre Schwester am 10. Juli 1933 von ihrem Geburtsort gezogen waren.[64] Wie ihre Verwandten wurde sie mit dem Transport am 22. Oktober 1940 von dort zunächst nach Gurs, dann in das Sammellager Drancy bei Paris verbracht. Vier Tage nach Johanna und Ludwig Lewy musste sie dort den Zug besteigen, der dann auch sie der Vernichtung in Auschwitz zuführte.[65]

 

Judenhaus Wiesbaden, Hallgarter Str. 6, Julius Kahn, Martha Kahn
Gestapo-Karteikarte von Ida Kahn, angelegt in Heilbronn
StadtA HN B11 73

Ihre Schwester Ida, geboren am 15. Januar 1894 in Pfaffen-Beerfurth, wurde von Heilbronn aus deportiert. Auf ihrer Karteikarte ist vermerkt, dass sie am 1. Januar 1940 von Wiesbaden nach Heilbronn, genauer nach Sontheim, einem 1938 eingemeindeten Ortsteil, gekommen war.[66] Sie wird aber kaum länger in Wiesbaden gewesen sein, denn von der hiesigen Gestapo wurde für sie keine solche Karteikarte ausgestellt. Vermutlich handelte es sich um einen eher kurzen Besuch bei ihrem Bruder und ihrer Schwägerin in der Hallgarter Straße. Dies wird auch durch einen Brief bestätigt, den Julius Kahn am 29. Dezember 1939 an die Bürgermeisterei in Pfaffen-Beerfurt geschrieben hatte:
„Im Auftrag meiner Schwester Ida Kahn, die bei mir zu Besuch war und ab 1. Jan. eine Stelle als Hausgehilfe in Heilbronn-Sontheim (Württemb.) angenommen hat, bitte ich Sie höfl. um Zusendung ihres Abmeldescheines, sowie Ausstellung einer Lohnsteuerkarte für 1940 an die Adresse Ida Kahn, per Adr.: Jüd. Altersheim ‚Wilhelmsruhe’ Heilbronn-Sontheim (Württemberg).
Da laut Gesetz der Reichsmeldeordnung die Anmeldung innerhalb 3 Tagen zu erfolgen hat, wollen Sie diese Angelegenheit sobald als möglich erledigen.
Julius Israel Kahn
Hallgarter Str. 6“
[67]

Ida Kahn, Julius Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Das Landesasyl ‚Wilhelmsruh‘ in Sontheim bei Heilbronn um 1906
Zeitgenössische Zeichnung

In Sontheim, einem Ort mit einer sehr langen jüdischen Tradition,[68] war im Jahr 1907 auf Initiative des „Israelitischen Männervereins für Krankenpflege und Leichenbestattung“ in Stuttgart das Landesasyl „Wilhelmsruhe“ errichtet worden, das als jüdisches Alterheim die wenig bemittelten Glaubensbrüder und –schwestern aufnehmen sollte.[69] Zunächst für 32 Insassen konzipiert, wurde es im Laufe der Jahre mehrfach erweitert und beherbergte 1937 knapp 80 Personen. „Dieses Heim“ war – so Frank – „engstens mit der Geschichte der Deportationen verknüpft. Bereits im November 1938 strömten in dieses Heim auch zahlreiche neue Juden und Jüdinnen der älteren Generation ein, die sich wohl dort eine größere Sicherheit versprachen. Sie kamen teilweise aus Heilbronn, die Zimmer mußten zum Teil doppelt belegt werden. Nach Beginn des Krieges im September 1939 wurde das Landesasyl Ziel einer Anzahl von jüdischen Flüchtlingen, die aus der Pfalz, aus dem Saargebiet und aus Baden dorthin überwiesen wurden, so daß die Belegungszahl von etwa 150 Personen erreicht wurde.“[70] Eine der damals dort Gestrandeten war die damals 46jährige Ida Kahn. Vielleicht war sie dorthin gegangen, um die dort herrschende Not zu lindern, vielleicht auch nur um ihre eigene Notlage durch einen kleinen Verdienst zu verbessern.

Im November 1940 wurde das Landesasyl geräumt, um darin Platz für „volksdeutsche Rückwanderer“ aus den eroberten „deutschen Ostgebieten“ zu schaffen. Die bisherigen Bewohner wurden entweder in ihre alten Heimatgemeinden oder aber in andere Altersheime verbracht. Ida Kahn erhielt in dem schnell zum neuen Altersheim umfunktionierten Haus des im Dezember 1940 emigrierten Sontheimer Arztes Dr. Julius Picard in der Lauffener Str. 12 eine neue Anstellung.

In insgesamt vier Transporten – von Einzeldeportationen abgesehen – wurden vom November 1941 bis August 1942 die Heilbronner Juden in unterschiedliche Lager im Osten gebracht. Ida Kahn gehörte zum dritten aus 16 Personen bestehenden Transport, mit dem am 24 April 1942 die Opfer zunächst nach Stuttgart in das Sammellager am Killesberg gebrachte wurden, wo sie unter schlimmsten hygienischen Zuständen dem Terror der Gestapo und SS ausgeliefert waren. Anders als bei den vorherigen Abschiebungen teilte die Gestapo den örtlich zuständigen Polizeibehörden und Landräten diesmal offen mit, welche Bedeutung diesem Transport zukam: „Die in der letzten Zeit in einzelnen Gebieten durchgeführte Umsiedlung von Juden nach dem Osten stellt den Beginn der Endlösung der Judenfrage im Altreich, der Ostmark und im Protektorat Böhmen und Mähren dar.“[71]

Am 26. April, nach einem zweieinhalb Kilometer langen Marsch durch Stuttgart, bestiegen die 16 aus Heilbronn mit vielen anderen aus Württemberg, Hohenzollern, Baden und auch aus Luxemburg und Trier den Reichsbahnzug „DA 56“,[72] für den ursprünglich Trawniki als Ziel vorgesehen war. Am 10. April war dann Izbica als neuer Bestimmungsort festgelegt worden. Nach drei Tagen, am 29. April, erreichte der Zug sein Ziel Izbica, nachdem zuvor, wie üblich, in Lublin die arbeitsfähigen Männer für den Bau des Lagers Majdanek herausgeholt worden waren. In Izbica verlieren sich die Spuren von Ida Kahn. Wann und wo sie umgebracht wurde, ist nicht bekannt.[73]

Dem jüngeren Bruder von Julius Kahn, dem am 17. März 1900 geborenen Jakob, war es als einzigem der Geschwister gelungen, mit seiner Frau und seiner Tochter dem Holocaust zu entkommen. Er war als Buchbinder im gleichen Metier wie sein Vater und sein Bruder geblieben. Dank einer Grippeerkrankung hatte er nur kurz am Ersten Weltkrieg teilnehmen müssen und ihn auch deshalb unversehrt überstanden. Am 18. August 1931 heiratete er die am 6. März 1904 in Groß-Karben geborene Jenni Kahn. [74]Ein Jahr später, am 26. August 1932 kam ihr einziges Kind, die Tochter Hertha, zur Welt.

Jenny Kahn Pfaffen-Beerfurth, Judenhaus Wiesbaden, Julius Kahn, Juden Wiesbaden
Reisepass von Jakob Kahn und seiner Frau Jenny
http://www.stolpersteine-in-karben.de/juden_in_grk_alle.htm.

Am 13. Juni 1936 meldete sich die junge Familie von ihrem bisherigen Wohnsitz Pfaffen-Beerfurth ab, um in die USA zu gehen. Mit ihnen wanderte auch Jennis Mutter Johanna Kahn aus. New York wurde zu ihrer neuen Heimat, wo Jenni allerdings schon am 19. April 1956 verstarb. Jakob, jetzt Jack Kahn, wurde fast 93 Jahre alt. Er verstarb ebenfalls in New York am 31. Januar 1993.[75]

Von den vielen Geschwistern der beiden Familien Kahn und Blumenthal war es nur Jakob mit seiner Familie und Recha mit ihrer Tochter gelungen, dem Holocaust zu entkommen. Auch die jeweiligen Partner, sofern sie Juden waren, wurden ermordet. Aber immerhin gab es einige Enkel, die verhinderten, dass die Familien gänzlich ausgelöscht wurden.

Stand: 10. 04. 2019

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] HHStAW 518 4341 In der Heiratsurkunde wird er als Buchdrucker (7), im Totenschein seines Vaters als Schriftsetzer bezeichnet (62). Im Entschädigungsverfahren gibt die Nichte Alice Cowan im Jahre 1958 an, er sei Buchbinder gewesen, siehe HHStAW 518 18613 (7)

[2] Siehe zur Familie Kahn und zur jüdischen Gemeinde in Pfaffen-Beerfurt Hieronymus, E. Juden in Pfaffenbeerfurth, in Grünewald, Reinhard, Gegen das Vergessen – Juden in Reichelsheim, Lindenfels 1998, S. 298-323.

[3] Ebd. S. 312. Ergänzende Angaben verdanke ich Herrn Schwinn vom Archiv der Gemeinde Reichelsheim.

[4] Abgesehen von Hannchen, über deren weiteres Schicksal keine sicheren Informationen vorliegen. Sie hatte sich nach Auskunft des Archivs Reichelsheim am 15.5.1916 nach Weinheim abgemeldet, wo sie eine Stellung als Dienstmädchen annahm. Allerdings kehrte sie bereits nach einem halben Jahr in ihre Heimatstadt Pfaffen-Beerfurth zurück. Siehe http://www.juden-in-weinheim.de/de/personen/k/kahn-hannchen.html. (Zugriff: 10.04.2019) Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie Opfer des NS-Regimes geworden war. Möglicherweise verstarb sie bereits, bevor die Deportationen begannen. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass ihr, vielleicht verheiratet, doch noch die Flucht gelang. Aber als lediges Dienstmädchen wird sie kaum die finanziellen Möglichkeit dazu gehabt haben.

[5] Hironymus, Juden in Pfaffenbeerfurth, S. 306.

[6] Siehe zu den Ereignissen während der Reichspogromnacht ausführlich ebd. S. 299-305. Bereits 1935 hatte der Gemeinderat in Pfaffen-Beerfurth beschlossen, dass derjenige, der mit Juden weiterhin Geschäfte machte, sich außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stellen würde, und seinen Anspruch auf Losholz und andere Formen der kommunalen Sozialfürsorge verwirkt habe. Auch wurden diese „Judenknechte“ von der Auftragsvergabe bei kommunalen Projekten ausgeschlossen. Ebd. S. 299.

[7] Ebd. S. 307.

[8] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 890 / 1923. Erstmals ist Julius Kahn im Wiesbadener Adressbuch von 1924/25 mit der Anschrift Wallufer Str. 8 aufgeführt, sein Beruf ist hier mit Schriftsetzer angegeben.

[9] HHStAW 518 4341 (67) Daneben gab es noch Johanna, verheiratete mit dem Kaufmann Ludwig Levy, Sidonie, verheiratete mit dem Ingenieur Heinrich Goergens, und Recha, verheiratete Mattauch. Siehe dazu die unterschiedlichen Verweise in der Entschädigungsakte von Martha Kahn HHStAW 518 4341. Görgens wird im Jüdischen Adressbuch von 1935 als katholisch bezeichnet !

[10] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 977 / 1930 und 1040 / 1932. Joseph Blumenthal war am 12.5.1852 in Holzhausen, Julia Landau am 4.10.1855 in Camberg geboren worden, siehe HHStAW 518 4341 (62, 63). Auch die Stief-Schwägerin von Johanna Blumenthal, Mathilde Levy, wohnte im Judenhaus Hallgarter Str 6. Siehe zu ihrem Schicksal unten.

[11] HHStAW 519/3 3291 (4). Siehe dazu auch Brüchert, Zwangsarbeit in Wiesbaden, S. 251.

[12] Nachdem die Juden nicht mehr als billige Arbeitskräfte zur Verfügung standen, griff man  nicht nur in dieser Firma auf fremde Zwangsarbeiter zurück. Die Firma Scheid besaß von 1942 bis 1945 ein eigenes Lager mit einer Kapazität für 160 Arbeitskräfte. Siehe dazu Topographie des Nationalsozialismus in Hessen http://lagis-hessen.de/de/subjects/xsrec/id/2661/current/723/pageSize/40/page/19/sn/nstopo?q=YToxOntzOjE0OiJrbGFzc2lmaWthdGlvbiI7czoyMzoiV2lydHNjaGFmdDpad2FuZ3NhcmJlaXQiO30=. (Zugriff: 10.04.2019).

[13] Hironymus, Juden in Pfaffenbeerfurth, S. 299. Ergänzende Informationen dazu, beruhend auf Aufzeichnungen des Lehrers Beckenhaupt, stellte das Archiv von Reichelsheim zur Verfügung. Demnach war Julius Kahn am 20.9.1914 eingezogen und an der Ostfront eingesetzt worden. Verwundet wurde er am 21.2.1915. Ende Januar 1916 wurde er nach einem längeren Lazarettaufenthalt erneut an die Front beordert, diesmal an die Westfront nach Frankreich. Bei Kriegsende geriet er in britische Gefangenschaft, aus der er am 28.9.1919 entlassen wurde.

[14] HHStAW 518 18613 (25).

[15] Siehe zu ihrem Schicksal das Kapitel unten.

[16] HHStAW 519/3 3291 (4).

[17] Ebd. (5).

[18] Ebd. (14).

[19] HHStAW 518 18613 (4).

[20] Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz.

[21] Gottwaldt / Schulle S. 439 f. In der Wiesbadener Opferliste ist deswegen der Tag des Transports, der 4. Oktober, auch als Todesdatum eingetragen.

[22] HHStAW 469/33 2361 (21). In der damals von ihrem Schwager Heinrich Görgens beantragten Todeserklärung waren Julius und Martha Kahn am 13.6.1949 für tot erklärt worden. Als gemeinsamer Todestag war der 8.5.1945 amtlich festgelegt worden.

[23] Ebd. (6).

[24] Ebd. (9) Geburtsurkunde, (10) Heiratsurkunde der ersten Ehe, HHStAW 518 54408 (1) Heiratsurkunde der zweiten Ehe.

[25] Geburtsregister der Stadt Camberg 112 / 1911.

[26] HHStAW 518 47096 (26).

[27] HHStAW 518 54408 (16).

[28] Ebd. (3).

[29] Ebd. (29). Hier sind seine Einkünfte in den Jahren 1933 bis 1945 detailliert aufgeführt. Aus der Steuerkarte war für jeden Arbeitgeber ersichtlich, dass er mit einer Jüdin verheiratet war.

[30] Heinrich Görgens gab an, dass seine Frau auf seine Veranlassung hin ihren Zwangsnamen nicht geführt habe. Es handelte sich hierbei offensichtlich um einen bewussten Akt alltäglichen Widerstands, denn den beiden war wohl bekannt, dass auch der jüdische Partner in einer Mischehe einen solchen Namen führen musste.

[31] Nach Bembenek lebten am 31.12.1942 noch 177 Juden im Stadtkreis Wiesbaden, siehe Bembenek / Dickel, Kein deutscher Patriot mehr, S. 76.

[32] Ebd. S. 76 f. Bis in den Februar 1945 gab es solche Deportationen von Wiesbaden aus.

[33] HHStAW 518 54408 (16), auch (18). Siehe den Sterbeeintrag im Sterberegister der Stadt Wiesbaden 702 / 1943. Anders als in entsprechenden Sterbeeinträgen sonst, wurde die Selbsttötung in diesem Fall verschwiegen. Es heißt hier, sie sei an einer Herzmuskelentartung verstorben.

[34] Sie selbst hatte zum einen angegeben von 1928 bis 1931 oder 1932 bei der Firma als Strumpfverkäuferin gearbeitet zu haben, HHStAW 518 47096 (44), das Nachfolgeunternehmen nach dem Krieg bestätigte „unverbindlich“, dass sie dort bis 1933 gewesen sei, ebd. (46). Aber auch eine ehemalige Mitarbeiterin gab an, dass sie dort bis Ende 1933 mit einem Gehalt von etwa 200 RM angestellt gewesen sei, ebd. (133).

[35] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 1170 / 1933. Der am 9.4.1912 geborene Artur Strauss war ebenfalls Jude und als Handelsvertreter tätig, ebd. (44).

[36] HHStAW 518 47096 (120) Zum 31.10.1933 war die Firma Frank & Marx von Peter Litzenburger, Manufaktur- und Modewaren übernommen worden.

[37] Ebd. (119) und (133).

[38] HHStAW 518 4341 (9). Nicht klar ist, ob damit nur die Erziehungsberechtigung oder sogar die Funktion eines rechtlichen Vormunds gemeint ist. Welche Gründe das hatte, ist in der Akte nicht erwähnt.

[39] HHStAW 518 47096. (155).

[40] Geburtsregister der Stadt Wiesbaden 929 / 1936, dazu HHStAW 518 47096 (103).

[41] Ebd. (5). Sie gab hier weiterhin an, man habe ihr hier ihr gesamtes Eigentum und ihre Schmucksachen geraubt. Sie und ihre Mitgefangenen seien allmorgendlich von SS-Leuten körperlich „untersucht“ worden, man habe sie vergewaltigt und gezwungen, nachts stundenlang auf einem Bein zu stehen.

[42] Ebd. (94, 98). Diesmal gab sie an, in Trier verhaftet worden zu sein.

[43] Ebd. (89).

[44] Ebd. (44).

[45] Ebd. 94. Auch ihr Stiefvater gab an, ihre Auswanderung im Rahmen seiner Möglichkeiten finanziert zu haben, ebd. (155).

[46] Ebd. (173).

[47] HHStAW 518 4341 (40). Dieser wanderte später nach Australien aus. Die Scheidung erfolgte nach den Angaben von Alice Strauss im Jahr 1940, siehe HHStAW 518 47096 (44).

[48] Ebd. (98). Die Ehe wurde am 16.8.1957 geschlossen.

[49] Ebd. (100).

[50] Ebd. (147, 173). Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass das Entschädigungsverfahren von Alice Cowan, wie sie zuletzt hieß, in mehreren Punkten vor ihrem Tod nicht zu Ende gebracht werden konnte. Dies lag auch an ihren – möglicherweise krankheitsbedingt – nicht immer präzisen Angaben, bot aber der Entschädigungsbehörde immer auch einen Anlass das Verfahren zu verzögern. Ihr Unverständnis und ihre Ungeduld hat Alice Cowan in mehreren Briefen zum Ausdruck gebracht. Mit welchem Mangel an Empathie man auf diese Briefe reagierte, es ging in diesem Fall um die Entschädigung für ihre Mutter Sidonie Görgens, soll exemplarisch an einem Antwortschreiben des Sachbearbeiters auf einen von ihr in Englisch verfassten Brief aufgezeigt werden:
„Ich bestätige den Eingang Ihres Schreibens vom 23.6.1961. Zu meinem Bedauern bin ich nicht in der Lage, Ihnen auf Ihr Schreiben nähere Auskunft zu erteilen, da das Schreiben in englisch abgefasst ist. Da Sie in Deutschland geboren sind, darf ich wohl davon ausgehen, dass Sie noch der deutschen Sprache mächtig sind und ich darf Sie daher bitten, in Zukunft Ihre Schreiben an meine Behörde in deutscher Sprache abfassen zu wollen.“
HHStAW 518 54408 (66). Dass Deutsch auch die Sprache der Mörder war, die viele der Exilierten nie mehr über ihre Lippen brachten, scheint diesem Beamten in keiner Weise bewusst gewesen zu sein.

[51] Karl Franz Mattauch war am 20.8.1878 in Böhmen geboren worden. Die Informationen zur Familie Mattauch sind entnommen dem Artikel von Silvia Glocer, Christina Richter-Ibáñez: Hilde Mattauch, in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer (Hg.), Hamburg: Universität Hamburg. Eine Fotografie der Künstlerin ist unter folgendem Link zu finden: https://www.bv-pfalz.de/einst-beste-sngerin-argentiniens-stammt-aus-kaiserslautern/. (Zugriff: 05.04.2019).

[52] HHStAW 518 18613 (1) und HHStAW 518 4341 (46).

[53] Die Ehe wurde am 11.1.1943 geschlossen. In dem Lexikon-Artikel über sie heißt es dazu: „Mattauch (heiratete) sofort Fritz Guggenheimer, um als Immigrantin akzeptiert zu werden.“

[54] Das Datum ist im Lexikonartikel mit einem Fragezeichen versehen, kann also nicht als gesichert angesehen werden. Der 1901 geborene Rudolf Hahn-Cohen verstarb im Jahr 1990. Ebd.

[55] HHStAW 518 4341 (46).

[56] Ebd. (69). Ludwig Levy war dort am 22. Mai 1883 geboren worden.

[57] Geburtsregister der Stadt Mainz 302 / 1919. Mindestens bis 1923 lebten sie in Mainz, denn Ludwig Levy fungierte bei der Hochzeit von Julius Kahn und Martha Blumenthal als Trauzeuge. Die damalige Adresse in Mainz war die Hindenburgstr. 51, siehe ebd. (67).

[58] HHStAW 518 4341 (66).

[59] http://www.online-ofb.de/famreport.php?ofb=juden_nw&ID=I4268&nachname=Wolff&lang=de. (Zugriff: 05.04.2019).

[60] Zur Wagner-Bürckel-Aktion siehe auch die Anmerkungen oben im Kapitel zu Haas, dort befinden sich auch weiterführende Literaturangaben.

[61] Norbert Giovannini, 75 Jahre Deportation nach Gurs: Hunger und Schlamm waren allgegenwärtig, Rhein-Neckar-Zeitung vom 22.10.2015.

[62] Berlinghof, Harald, Deportation aus Mannheim. Eine Zeitzeugin erinnert sich, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 22.10.2015.

[63] Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz.

[64] Hironymus, Juden in Pfaffenbeerfurth, S. 307 und Information von Herrn Schwinn vom Gemeindearchiv Reichelsheim.

[65] Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz.

[66] Stadtarchiv Heilbronn, StadtA HN, B11-73 001090.

[67] Mitteilung des Gemeindearchivs Reichelsheim.

[68] Siehe Franke, Hans, Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn. Vom Mittelalter bis zu der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung  (1050-1945), Heilbronn 1963, korrigierte Onlineversion 2009, S. 173 ff.

[69] Siehe zur Geschichte des Landesasyls „Wilhelmsruhe“, ebd. S. 180 ff. Das Haus lag in der Hermann-Wolf-Str. 31, die von den Nazis in Raiffeisenstraße umbenannt wurde. Hermann Wolf war ein jüdischer Unternehmer ursprünglich aus Öhringen, der durch die Ansiedlung einer Schuhfabrik wesentlich zum wirtschaftlichen Aufstieg des Ortes beigetragen hatte, siehe ebd. S. 215.

[70] Ebd. 181 f.

[71] Zitiert nach Hänschen, Izbica S. 330, Anm. 221.

[72] Ausführlich ist dieser Transport beschrieben in Hänschen, Steffen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Berlin 2018, S. 325-334. Auch Gottwaldt; Schulle, Judendeportationen, S. 201 f. Gottwaldt; Schulle vermuten, dass die Zahl der damals Deportierten weit größer war, als offiziell bekannt. Sie geben statt 628 Personen etwa 1000 an, also eine Zahl wie auch bei sonstigen Transporten üblich.

[73] Es liegen allerdings Berichte über die Situation in Izbica bei Ankunft des Zuges dort vor, die angeblich auf Briefen beruhen, die Teilnehmer des Stuttgarter Transportes nach Hause schicken konnten. Ob diese sehr beschönigenden Berichte der jüdischen Glaubensgemeinde Stuttgart auf Grund zensierter Briefe zustande kamen, oder aber bewusst verfälscht wurden, um die Gemeinde, Bekannte und besonders die Angehörigen der Deportierten zu beruhigen, kann nicht beurteilt werden. Izbica war für alle, die dort ankamen, die Hölle, in der es faktisch keine Chance zum Überleben gab. Da am gleichen Tag, als der zweite Bericht in Stuttgart verfasst wurde, der erste Transport Wiesbaden mit dem Ziel Izbica verließ, sollen Auszüge aus diesen Berichten hier zitiert werden. Der erste stammt vom 13. 5.1942, der zweite vom 23.5.1942:
„Izbica ist ein kleiner Flecken, jedoch kein Dorf mit Strohkaten, sondern mit Steinhäusern. Die Abwanderer sind in diesen Steinhäusern untergebracht, also nicht in Baracken, wie irrtümlich aus der Bezeichnung >Block< usw. angenommen werden konnte. Die Teilnehmer des Transports haben ihr Gepäck ausnahmslos erhalten. […] In Izbica ist auf den ersten Blick besonders der Schmutz und der Schlamm auf den Straßen auffallend (vor den Häusern 30cm tief!) Dies wird sich jedoch mit der wärmeren Witterung sehr bald bessern.
Es liegt nun alles daran, daß die Arbeitsfähigen unverzüglich mit Aufräumungs- und Instandsetzungsarbeiten beginnen. Die Abwanderer sind an ihrem neuen Aufenthaltsort sehr viel sich selbst überlassen und unter weniger strenger Beaufsichtigung als in der alten Heimat. Es gibt zweifellos für die arbeitsfähigen reichlich Gelegenheit, sowohl in der offenbar gut bewirtschafteten Landwirtschaft, als auch in kleineren Industrien Beschäftigung zu finden. Das Land ist fruchtbar. Es ist alles zu haben.“

Weiter:
„Der Ort Izbica ist eine Bahnstation. Es wohnen dort bereits einige tausend aus Deutschland abgewanderter Juden. Polnische Juden scheinen im Ort überhaupt nicht mehr zu sein. Die ganze Verwaltung ist in jüdischer Hand und die Organisation auch bei der Ankunft des süddeutschen Transports habe gut funktioniert. Das Gepäck sei soweit nötig durch Ordner in die Quartiere, die schon bereitgestellt gewesen seien, gebracht worden. Es ist dort ein jüdischer Bürgermeister, ein jüdisches Wohnungsamt, jüdische Polizei, alles von Deutschland abgewanderten Juden besetzt. Die Gegen ist fruchtbar und vom Krieg völlig unberührt. Die Vegetation ist zurück. Bei Ankunft des Transportes habe es noch geschneit. Es sei anzunehmen, dass, sobald Gemüse gewachsen sei, auch die Ernährungslage erheblich besser werde. Auch die ärztliche Betreuung ist insofern gesichert, als 25 jüdische Ärzte am Platze sind. Die Unterkünfte seien nicht schlecht. Die Häuser würden auch äusserlich einen ordentlichen Eindruck machen. Man glaube, dass die Siedlung sich gedeihlich entwickeln könne. Zwei Privatbriefen, die offenbar in guter Stimmung geschrieben sind, entnehmen wir, dass ein Teil unserer Abwanderer in das Arbeitslager Augustovka in der Nähe von Izbica gekommen ist. Das Lager sei auf einem großen Gutshof in schöner Lage (Felder, Wälder, kleine Flüsse und Seen): Kühe, Schafe und Hühner vorhanden. Die Frauen sind in der Küche und mit leichten Feldarbeiten beschäftigt. Einige Männer sind auch bei der Ordnungspolizei tätig.“ Zitiert nach Hänschen, Izbica, S. 33 f.

[74] Sie war die Tochter von Karl und Johanna Kahn. Ob es eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen den beiden Kahn-Familien gab, ist nicht bekannt. Siehe http://www.stolpersteine-in-karben.de/juden_in_grk_alle.htm.

[75] Ebd.