Franziska Horowitz – Stummer


Regina Beck, Regina Sichel, Julius Beck
Das Judenhaus heute
Eigene Aufnahme
Regina Beck, Regina Michel, Julius Beck
Lage des ehemaligen Judenhauses
Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Herrngartenstr. 11

 

 

 

 

 

 

 


Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als sei Franziska Horowitz am 8. November 1940 aus dem Judenhaus Herrngartenstr. 11 ausgezogen, um Platz zu schaffen für die vielen, die in den folgenden Monaten zwangsweise in dieses Haus einquartiert werden sollten. Sie war wohl damals freiwillig ausgezogen, aber nicht um in ein sicheres Land im Westen zu gelangen, sondern um dorthin zurückzukehren, woher ihre Familie Anfang des Jahrhunderts gekommen war: Nach Krakau, im damals schon von den deutschen Truppen besetzten sogenannten Generalgouvernement.

Franziska Kahn, Rosa Mantel, Irma Mantel, Franziska Stummer Horowitz, Rywa Stummer Horowitz, Judenhäuser Wiesbaden, Herngartenstr. 11,
Stammbaum von Franziska Horowitz – Stummer
GDB

Von dort stammten ihre Eltern Isaak Juda Stummer und Rywa Stern, die in Krakau im Jahr 1906 die Ehe geschlossen hatten.[1] Der familiäre Hintergrund ist deshalb etwas verwirrend, weil es in den dortigen jüdischen Familien offensichtlich üblich war, die Eheschließung nur vom Rabbi durchführen zu lassen und dieser Zeremonie anschließend keine standesamtliche Bestätigung und eine entsprechende Namensänderung folgen zu lassen. Isaak Juda war am 16. Dezember 1872 geboren worden. Als Nachname trug er nur den Namen seiner Mutter Chana Stummer. Den Nachname seines Vaters Wolf Horowitz nahm der Sohn durch Adoption erst sehr viel später in Wiesbaden an. Auch Franziskas Mutter hatte als Nachname wiederum den von ihrer Mutter Ryfka Leya Stern behalten, obwohl diese mit einem Berisch Friediger verheiratet war.[2] Rywa, geboren am 6. Oktober 1879 in Krakau,[3] war die jüngste von zumindest insgesamt drei bekannten Kindern des Paares. Ihr um ein Jahr älterer Bruder Herzel war am 20. Januar 1878[4] und eine ältere Schwester Rude / Rosa war sogar schon am 25. Februar 1871 geboren worden.[5] Man kann sicher davon ausgehen, dass auch in den dazwischen liegenden Jahren weitere Kinder geboren wurden, die aber früh verstarben oder bisher nicht richtig zugeordnet werden konnten.

Die Gründe, weshalb Isaak und Rywa Horowitz kurz nach ihrer Hochzeit Krakau und Polen, das vor dem Ersten Weltkrieg Teil des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs war, verließen, sind heute nur noch zu vermuten. Es werden wahrscheinlich primär wirtschaftlichen Motive gewesen sein, die sie zu diesem Schritt veranlasst hatten, denn die rechtliche Situation war für Juden, die in dieser Zeit etwa ein Drittel der Bevölkerung Krakaus stellten, nach den Reformen Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr so drückend wie zuvor. Aber dennoch waren die Juden auch hier immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. Sicher spielte es auch eine Rolle, dass Rywas Schwester Rosa /Rude mit ihrem Mann Ludwig Löbel Mantel, genannt Grosshut, wenige Jahre zuvor bereits Polen verlassen und sich in Wiesbaden niedergelassen hatten. Sie bewohnten mit ihren insgesamt fünf Kindern seit 1900 das Haus in der Wagemannstr. 27, wo sie einen Laden für Altkleider und Antiquitäten betrieben.[6]

Aber all die Hoffnungen, die Rywa Stern und Isaak Juda Stummer mit der Übersiedlung nach Deutschland verbunden haben mag, erfüllten sich nicht. Sie gehörten in Wiesbaden zu der Gruppe der ausgegrenzten und diskriminierten Gemeinschaft osteuropäischer Juden, wenngleich nicht bekannt ist, dass sie sich in der Gemeinde selbst engagiert hätten.[7] Aber neben dem kollektiven Schicksal mussten sie auch viel persönliches Leid erfahren, lange bevor die Nationalsozialisten die Familie endgültig zerstörten.

Im Jahr nach ihrer Ankunft – sie hatten eine Wohnung in der Kleinen Webergasse 9 im ersten Stock gefunden – wurde am 11. September 1907 ihre Tochter Irma geboren,[8] zwei Jahre später, am 22. Juli 1909, die Tochter Franziska.[9] Beide erhielten den Nachnamen Stummer.

Isaak Stummer Horowitz, Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
Anzeige von Isaak Stummer im Wiesbadener Tageblatt vom 3.4.1924
Isaak Stummer Horowitz, Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
HHStAW 685 812b

Obwohl die Familie um das Jahr 1914 in die Neugasse 19 umzog, eine Straße, die im alten historischen Fünfeck, dem alten Stadtzentrum liegt, gingen die Geschäfte weiterhin sehr schlecht. Wie viele andere Ostjuden übte auch Isaak Stummer den Beruf eines Trödlers, eines Altwarenhändlers aus, von denen es auch in Wiesbaden sehr viele gab. Das Einkommen war so gering, dass sich sogar das Finanzamt im Zusammenhang mit der Steuererklärung von 1928 zur Frage veranlasst sah, wie er mit diesen geringen Erträgen eine Familie ernähren könne.[10] Schon 1923 hatte er in einem persönlichen Brief der Behörde seine Lage geschildert:
“Im vorigen Jahre erkrankte mir eine Tochter von 16 Jahren, die etwa 10 Monate an einer Lungenkrankheit litt und am 4. November v. J. gestorben ist. Die Krankheit selbst kostete mich sehr viel, selbst die Beerdigungskosten allein kosteten G[old] M[ark] 151.- so dass ich zerbrochen bin. Ueberdies geht mein Geschäft garnicht. Wenn ich einen offenen Laden hätte, müsste ich ihn bei diesem Geschäftsgang schließen. Ich führe mein Geschäft nur in meiner Wohnung. Ich selbst bin auch leidend u. bin bei diesen Verhältnissen nicht in der Lage die mir bemessenen Einkommensteuern zu bezahlen.
Hochachtungsvoll
Isaak Stummer.“
[11]

Einen Eindruck vom Geschäftsumfang erhält man, wenn man zwei Seiten aus seiner Steuerakte betrachtet, wobei die erste aus dem Jahr 1920 die Ankäufe in der angegebenen Zeit belegt, die zweite Verkäufe im Jahr 1928 widerspiegelt.

Isaak Stummer Horowitz, Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
HHStAW 685 812c (6)
Isaak Stummer Horowitz, Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
HHStAW 685 812b (60)

Obwohl auch in diesen Aufzeichnungen immer wieder kleine Schmuckstücke aufgeführt sind und er auch entsprechende Inserate in Wiesbadener Zeitungen aufgab, hatte er eigentlich – so die Meldung der Polizeibehörde an das Finanzamt vom 23. Oktober 1924 – keine Genehmigung zum Handel mit Edelmetallen.[12] Aber trotz dieser wohl mehr oder weniger geduldeten Gesetzesübertretung reichten die Einkünfte kaum zum Leben aus. Man war auf die Unterstützung von Verwandten – Namen werden nicht genannt – in den USA angewiesen, die in Briefumschlägen einzelne Dollarnoten nach Deutschland schickten. Betrachtet man die Beträge – dreimal 2 Dollar, einmal 25 Dollar -, dann kann es auch denen jenseits des Ozeans nicht sehr viel besser gegangen sein.[13]

Irma Stummer
„Hier ruht unser Sonnenschein“ – Grabstein von Irma Stummer auf dem Jüdischen Friedhof an der Platter Straße
Eigene Aufnahme

Unter diesen Lebensumständen hatten auch die beiden Töchter kaum eine Chance sich gesund zu entwickeln. Irma verstarb am 4. November 1923 – vermutlich an TBC – bereits im Jugendalter und auch Franziska war daran so schwer erkrankt, dass sie zumindest zeitweise nicht arbeitsfähig war.[14]

Am 6. September 1932 zogen die Eltern zusammen mit Franziska in die Kleine Schwalbacher Str. 2.[15] Ob die Geschäfte dort auf Dauer besser als in den vorherigen Lagen gelaufen wären, sei dahingestellt. Durch die Machtübernahme der Nazis gab es ohnehin bald keine Zukunft mehr für einen ostjüdischen Trödler.

Isaak Stummer Horowitz, Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
Franziska Horowitz teilt dem Finanzamt ihren neuen, durch Adoption erworbenen Namen Horowitz mit
HHStAW 685 812b (87)

Nicht klar sind sowohl die Gründe, als auch der formalrechtliche Vorgang, der es Isaak Stummer im Sommer 1933 ermöglichte, durch „Adoptierung“ den Namen Horowitz anzunehmen.[16] Es ist eher unwahrscheinlich, dass damals seine Eltern noch lebten und noch im hohen Alter von etwa 80 Jahren eine standesamtliche Ehe eingegangen waren. Aber auch die Adoption durch einen anderen Verwanden scheint wenig wahrscheinlich, zumal in den Unterlagen kein entsprechendes amtliches Schriftstück zu finden ist. Vermutlich handelt es sich bei dieser Form der „Adoption“ allein um die Übernahme des väterlichen Nachnamens, was wohl relativ unproblematisch war, wenn der Vater seine Vaterschaft zuvor anerkannt hatte. Im Gefolge dieser „Adoption“ erhielten nun auch seine Frau und Franziska diesen neuen Nachnamen.

Wie er schon in seinem Brief an das Finanzamt Wiesbaden angedeutet hatte, war auch er selbst seit längerer Zeit krank. Am 15. März 1936 verstarb Isaak Horowitz in den Städtischen Kliniken in Wiesbaden im Alter von 63 Jahren,[17] beerdigt wurde er auf dem Jüdischen Friedhof an der Platter Straße.

Durch seinen Tod blieb er von den verschärften Verfolgungsmaßnahmen der folgenden Jahre verschont, die noch vor der Reichspogromnacht gerade gegen die polnischen Juden gerichtet waren. Die verwitwete Rywa Horowitz gehörte wie auch ihre Schwester Rose mit ihrer damals noch in Wiesbaden lebenden Tochter Irma zu denjenigen,[18] die Opfer der Auseinandersetzungen zwischen dem polnischen und dem deutschen Staat um die damals im Reich lebenden polnischen Juden wurden. Am 28. Oktober 1938 waren auch sie im Rahmen der sogenannten ‚Polenaktion’ quasi über Nacht und ohne die Möglichkeit, ihre Habe mitnehmen zu können, mit vielen anderen von den deutschen Behörden ausgewiesen worden. Rywa Horowitz und ihre Schwester Rosa mit Tochter Irma mussten allerdings nicht im Niemandsland an der Grenze bleiben, sondern konnte zu ihren Verwandten nach Krakau reisen.[19] Am 28. Dezember stellte Rywas Tochter Franziska, die als staatenlos kategorisiert offensichtlich bleiben oder wieder zurückkehren durfte, einen Antrag, ihrer Mutter das ihr gehörende Umzugsgut nachschicken zu dürfen. Der Finanzbeamte, der ein Protokoll über das Gespräch mit Franziska Horowitz anfertigte, notierte darin, dass es keine Vermögenswerte gab, die transferiert werden müssten, das Umzugsgut vielmehr ausschließlich aus gebrauchten Kleidern und alter Wäsche bestehe. Die Mutter sei zuletzt weiterhin von Verwandten und der Jüdischen Gemeinde unterstützt worden, Franziska Horowitz habe hingegen bis zum 22. August 1938 eine Anstellung bei der Firma ‚Riesel & Sperber’, einer Sackhandlung in der Dotzheimer Str. 13, gehabt.[20] Ob die Kleider der Mutter nach diesem Gespräch nach Polen gesandt werden durften, ist in der Akte nicht notiert.

Die folgenden fast vier Jahre nach der Abschiebung der Mutter verbrachte Franziska Horowitz, von einem kurzen Aufenthalt in Bad Kissingen abgesehen, in Wiesbaden. Ob die häufigen Wohnungswechsel in dieser Zeit Folge ihres völlig unsicher gewordenen Lebens oder ihrer Tätigkeit als Hausangestellte waren, ist aus heutiger Perspektive nur schwer zu beurteilen. Vermutlich hat aber beides eine Rolle gespielt. Noch detaillierter als auf ihrer Gestapokarteikarte hatte sie die wechselnden Anschriften auf einem Formular eingetragen, das im Zusammenhang mit ihrer eigenen späteren Abwanderung entstanden war.[21]

Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
Franziska Horowitz gab gegenüber den Finanzbehörden Auskunft über ihre Wohnanschriften seit 1937
HHStAW 519/3 32517 (3)

Spätestens im Juli 1937 war sie aus der elterlichen Wohnung in der Kleinen Schwalbacher Str. 2 ausgezogen und war zunächst für ein Jahr in der Kirchgasse 54 untergekommen. Die Wohnung hatte sie offensichtlich nicht aufgegeben, als sie sich aus nicht bekannten Gründen im September 1938 für etwa vier Wochen in Bad Kissingen aufhielt. Danach, also auch in dem Zeitraum, in dem ihre Mutter abgeschoben wurde, wohnte sie bis Ende November 1939 wieder in die Kirchgasse. In dem Haus lebte damals keine jüdische Familie, sodass sie dort kaum gleichzeitig als Hausangestellte tätig gewesen sein wird. Anfang Dezember 1938 zog sie für ein Vierteljahr in die Luisenstr. 17, wo die jüdische Familie Berney wohnte. Zwar gibt die Gestapokarteikarte keinen Hinweis darauf, dass sie dort ein Zimmer zur Untermiete bezogen hatte, aber die Schneiderei der Berneys hatte im gleichen Monat schließen müssen, sodass diese zur Finanzierung ihrer 4-Zimmerwohnung sicher an einer solchen Untervermietung interessiert gewesen sein werden.[22] Es könnte allerdings auch sein, dass sie auch dort schon als Hausgehilfin tätig war. Eine neue Anstellung war vermutlich auch der Grund für den nächsten Umzug Mitte Februar 1939 in die Rheinstr. 98. In diesem Haus wohnte zu dieser Zeit der jüdische Kaufmann Hermann Julius Hallheimer mit seiner evangelischen Frau Elisabeth. Möglicherweise war sie für ein knappes halbes Jahr bei diesem Ehepaar beschäftigt.[23] Die nächste Adresse, die sie auf dem Formular angab, war die Schlichterstr. 10, wo das jüdische Ehepaar Karl und Berta Reininger seit etwa 1935 lebte. Dass sie hier mit Sicherheit als Haushaltshilfe fungierte, ergibt sich aus einem Schreiben, das sie am 20. Februar 1940 an die Devisenstelle in Frankfurt richtete, nachdem sie von dieser aufgefordert worden war, ihre Vermögens- und Einkommensverhältnisse offen zu legen:
“Da ich völlig ohne Vermögen bin und mir auch von keiner Seite Einkünfte zur Verfügung stehen und in Aussicht stehen, reiche ich die Sicherungsanordnung zurück.
In meiner Tätigkeit als Hausgehilfin steht mir ein Monatslohn von RM 35,– neben Invalidenkasse- Krankenkasse- Arbeitslosenversicherung und Bürgersteuer als Einnahme zur Bestreitung meiner Unkosten verfügbar und erhalte in meiner Tätigkeit freie Kost, Wohnung muß ich von den 35,– selbst bezahlen, was mit Heizung und Licht pro Monat ca. RM 17,50 beträgt.
Unter Berücksichtigung meiner wirtschaftlichen Lage bitte ich um Befreiung von der Sicherungsanordnung.“
[24]

Ob es sich dabei tatsächlich um ein formales Arbeitgeber- Arbeitnehmerverhältnis handelte, muss bezweifelt werden, denn auch Reinigers waren schon 1940 völlig verarmt und auf Unterstützung der Jüdischen Gemeinde angewiesen. Man wird vielmehr versucht haben, irgendwie gemeinsam über die Runden zu kommen, erst recht, nachdem Franziska Horowitz am 16. März 1940 zusammen mit Reiningers zwangsweise in das Judenhaus in der Herrngartenstr. 11 umquartiert wurde. Im dritten Stockwerk erhielten sie eine gemeinsame Wohnung. Zwar lebten dort zuletzt fünf Personen, aber ob das im Jahr zuvor bereits auch der Fall war, ließ sich nicht mehr rekonstruieren.

Im September 1940 stellte Franziska Horowitz einen Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut für sich selbst und bat zugleich um die notwendige steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung für eine Ausreise aus Deutschland. Auch in diesem Formular gab sie an, keine Vermögen zu besitzen und ihren Lebensunterhalt als Hausangestellte zu verdienen.[25] Es kann daher nicht viel gewesen sein, was sie hatte mitnehmen wollen, aber selbst das Wenige wurde ihr verwehrt. Ohne Begründung verfügte der Sachbearbeiter wenige Tage nach der Antragstellung: „Ihren Antrag zwecks Mitnahme von Umzugsgut nach dem General-Gouvernement lehne ich hiermit ab.“[26]

Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11
Die Devisenstelle hatte Franziska Horowitz aus den Augen verloren, die Wiesbadener Polizei teilte ihr die Übersiedlung nach Polen erst im Dezember 1942 mit.
HHStAW 519/3 383 (8)

Dass sie, anders als die meisten Auswanderer nicht einen westlichen Staat als Ziel angab, sondern das ehemalige polnische Krakau, war sicher nicht der falschen Hoffnung geschuldet, dort in Frieden und Sicherheit leben zu können. Zwar war das generelle Ausreiseverbot für Juden noch nicht erteilt worden, aber eine realistische Chance hätte es für die völlig mittellose Frau – trotz Verwandten in den USA – ohnehin nicht gegeben, in ein solches Land zu gelangen. Sie wollte ganz offensichtlich die Zeit, die ihr noch gegeben war, mit ihrer Mutter und im Kreise von deren Familie verbringen.

Diese wohnten damals in der Burgstr. 39, der Grodzka 39, im alten Zentrum von Krakau, das nördlich vom eigentlichen jüdischen Viertel und noch weiter vom späteren Ghetto entfernt auf der anderen Seite der Weichsel lag. 1940 war in Krakau ein Ghetto noch nicht eingerichtet worden, aber in der Wohnung, die Rywas Bruder Herzel Friediger in der Burgstraße besaß oder angemietet hatte, lebten vor Franziskas Ankunft seit ihrer Abschiebung aus Deutschland bereits seine Frau Sara und seine beiden Schwestern Rude, verwitwete Mantel, mit ihrer Tochter Irma und auch Rywa Horowitz. Wohl noch im November 1940 kam dann seine Nichte Franziska hinzu.[27] In der Drei-Zimmer-Wohnung mit Vorraum und Küche wurde es zunehmend eng, aber sicher nicht so, wie im Wiesbadener Judenhaus.


Herzel Friediger, Sara Friediger SchmausIsaak Stummer Horowitz, Franziska Horowitz Stummer, Rywa Horowitz Stummer, Judenhaus Wiesbaden Herrngartenstr. 11

 

 

 

 

 

 

Die Bewohner der Krakauer Burgstr. 39 müssen eine Identitätskarte beantragen – USHMM

(https://www.ushmm.org/online/hsv/wexner/cache/1602088086-1971443-RG-15.098M.0107.00000691.jpg und (https://www.ushmm.org/online/hsv/wexner/cache/1602088086-1971444-RG-15.098M.0107.00000692.jpg)


Herzel Friediger war von Beruf Kürschner gewesen und, wenn man die Lage seiner Wohnung betrachtet, vermutlich auch einmal ein recht erfolgreicher. Sein Betrieb war inzwischen geschlossen worden, aber er war damals von der Wehrmachtsabteilung ‚Wirtschaft’ zur Zwangsarbeit bei der Krakauer Firma ‚Kotarba’ abgestellt worden, die für die deutschen Soldaten Pelze herstellte. Der Fragebogen, der diese Informationen enthält, diente zur Erfassung der jüdischen Bevölkerung Krakaus im Frühjahr 1941. Am 3. März wurde die Einrichtung des Ghettos beschlossen und innerhalb der nächsten drei Wochen mussten alle Juden und Jüdinnen in diesen Wohnbezirk umgezogen sein. Der Fragebogen ist das letzte Lebenszeichen zumindest der weiblichen Bewohner der Burgstr. 39. Ob sie bereits im Ghetto zu Tode kamen oder im März 1943 noch dessen Liquidation erlebten, ist nicht bekannt. Die noch Arbeitstauglichen waren damals in das KZ Plaszow, die Übrigen ins Gas von Auschwitz-Birkenau geschickt worden. Vielleicht konnten sie sich auch der Umsiedlung in das Ghetto zunächst entziehen und waren mit Herzel Friediger in das etwa zehn Kilometer südlich von Krakau gelegene Wieliezka gelangt, wo dieser am 18. Juli 1942 verhaftet wurde.[28]

Herzel Friediger
Gefangenenkarte für Herzel Friediger aus dem KZ Buchenwald
Arolsen Archiv

Diese Information beruht auf einem Eintrag auf einer Häftlingskarte des KZs Buchenwald, in das er am 5. August 1944 eingeliefert worden war.[29] Vermutlich hat man dort seine Fertigkeiten als Kürschner bzw. Schneider in Anspruch genommen. Nicht ausgeschlossen ist, dass es ihm sogar gelang, die folgenden Monate bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes zu überstehen und zu überleben. Sein Name ist weder in Yad Vashem noch im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz vermerkt. Aber auch für die übrigen Mitbewohner der Burgstraße gibt es keine sicheren Nachweise über ihr Schicksal. Weder Sara Friediger, Herzels Frau, noch seine Schwester Rywa Horowitz oder deren Tochter Irma sind in den entsprechenden Opferlisten verzeichnet. Dennoch kann man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sie auf die eine oder andere Weise damals ihr Leben verloren haben.[30]

Rosa Mantel, Ludwig Löb Mantel

Rosa Rude Mantel
https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=1937558&ind=13
Irma Mantel
https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=1906711&ind=11

Ob und wie lange Rosa / Rude Mantel – Grosshut mit ihrer Tochter Irma in Polen noch zusammenbleiben konnte, ist nicht sicher zu sagen. Sie sollen laut Gedenkbuch des Bundesarchivs zunächst nach Izbica deportiert worden sein,[31] müssen aber später noch in das etwa 25 km südlich von Lublin gelegene Ghetto Bychawa transportiert worden sein. Zumindest stammen die letzten Nachrichten von Irma, zwei Postkarten, die sie im Frühjahr 1942 an ihre in Schweden lebende Schwester Franziska schicken konnte, von dort. Sie beschrieb darin die schrecklichen Bedingungen unter denen sie im dortigen Ghetto, in dem 1942 etwa 2600 Juden interniert waren, vegetieren mussten, den Hunger und die Kälte, und bat ihre Schwester Pakete mit dem Nötigsten zu schicken: „Hoffentlich haben wir dann die Sachen, die wir so dringend brauchen. Wir sind ohne Kleidungsstücke, Wäsche, Schuhe u. schlafen ohne Bettwäsche. Warum habt ihr uns inzwischen keine Fischkonserven geschickt, die letzten von dem Fischgeschäft habe richtig erhalten (!). Wenn ihr wüsstet wie dringend nötig wir das alles haben und so schrecklich für uns so lange auf das Paket gewartet zu haben, was das für uns bedeutet ist kaum zu schildern. Noch sind wir gottlob gesund aber wir wären glücklich, wenn ihr uns bald helfen würdet mit Lebensmitteln u. Sardinen. Ich habe immer für zu hause gesorgt und stehe mit gebundenen Händen u. kann mir selbst nicht helfen.“[32] Da Irma in der Karte immer von „wir“ bzw. „uns“ schreibt, wird man vermuten dürfen, dass sich ihre Mutter, Tante und Cousine auch dort befanden.

Franziska Kahn, Rosa Mantel, Irma Mantel, Franziska Stummer Horowitz, Rywa Stummer Horowitz, Judenhäuser Wiesbaden, Herngartenstr. 11,
HHStAW 3008/1 14258 und 14259
Franziska Kahn, Rosa Mantel, Irma Mantel, Franziska Stummer Horowitz, Rywa Stummer Horowitz, Judenhäuser Wiesbaden, Herngartenstr. 11,
Postkarte von Irma Mantel aus dem Ghetto Rychewo an ihre Schwester Franziska in Schweden

 

 

 

 

 

 

Am 11. Oktober 1942 wurde das Ghetto aufgelöst und die noch dort lebenden Juden wurden über Belzec nach Sobibor in den Tod geschickt.[33] Die Mutter soll – so zumindest die Angabe im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz – allerdings in Majdanek ermordet worden sein.[34] Ihr Todestag wurde nach dem Krieg amtlich auf den 8. Mai 1945 festgesetzt.

Irma Mantel, Rosa Mantel
Hedwig Mantel
https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=1906836&ind=12

Hedwig, die Tochter von Rose und Ludwig Mantel, die bei der sogenannten ‚Polenaktion’ nicht abgeschoben worden war, wurde am 10. Juni 1942 mit ihrem Sohn Heinz von Wiesbaden aus nach Lublin deportiert und starb kurz darauf in der Gaskammer von Sobibor. Amalie war bereits am 5. Februar 1941 im Rahmen der Euthanasie in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet worden. Giesela, verheiratete Zwart, und auch Sally Mantel – Grosshut lebten nach dem Krieg in den USA, wohin sie auf unterschiedlichen Wegen gelangt waren. Franziska war bereits 1938 mit ihrem Mann Sally / Simon Kahn nach Schweden ausgewandert. Von Malmö aus strengte sie auch im Namen ihrer noch lebenden Geschwister die Entschädigungsverfahren in Deutschland an.

 

Veröffentlicht: 14. 10. 2020

 

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?dbid=1480&h=217990&indiv=try&o_vc=Record:OtherRecord&rhSource=1367. (Zugriff: 3.10.2020).

[2] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv=1&dbid=1480&h=167523&tid=&pid=&queryId=02d9d338c3c2c8ee0e82dec951ead398&usePUB=true&_phsrc=ryV2081&_phstart=successSource. (Zugriff: 3.10.2020).

[3] HHStAW 685 812.

[4] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?db=JewIDCardsKrakow&indiv=try&h=187959, (Zugriff. 3.10.2020).

[5] HHStAW 518 2099 (1).

[6] Ebd. (17, 20). Nach dem Tod von Ludwig Mantel Grosshut am 22.12.1934 in Wiesbaden, Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1548/1934, führte seine Frau das Geschäft zunächst weiter. Aber spätestens seit den 30er Jahren waren die Umsätze und die Erträge so gering, dass keine steuerliche Veranlagung mehr stattfand. Pfändungen seitens des Finanzamts wurden wiederholt als „fruchtlos“ niedergeschlagen, siehe ebd. (14). Über das Schicksal der Familie gibt ein Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Wiesbaden Auskunft, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/Erinnerungsblatt%20Rosa%20Grosshut%20mit%20ihren%20Toechtern%20Irma%20und%20Hedwig%20sowie%20dem%20Enkel%20Heinz.pdf. (Zugriff. 3.10.2020). Die Kinder des Paares, die alle in Wiesbaden geboren wurden, waren die am 11.5.1902 Irma, dann Gisela, geboren am 1.8.1903. Es folgte mit Sally Friedrich, geboren am 16.7.1906 der wohl bekannteste Spross der Familie, der nicht nur promovierter Jurist war, sondern auch als Literat mit verschiedenen Veröffentlichungen hervorgetreten ist. Siehe dazu als Überblick https://de.wikipedia.org/wiki/Sally_Grosshut, (Zugriff: 3.10.2020), auch den Artikel im Wiesbadener Kurier vom 11.08.2020. Am 15.10.1907 wurde Hedwig geboren. Bernhard, geboren am 16.10.1908, verstarb im Alter von nicht einmal zwei Jahren am 29.6.1910. Zuletzt kamen am 24.9.1910 Amalie und am 28.6.1914 Franziska in Wiesbaden zur Welt. Angaben nach ‚Jüdische Bürger Wiesbadens’, Datenbank des Stadtarchivs Wiesbaden.

[7] In den verschiedenen Vereinen der jüdischen Gemeinde, die im Jüdischen Adressbuch von 1935 aufgeführt sind, taucht der Name Stummer nicht auf.

[8] Geburtsregister Wiesbaden 1685 / 1907.

[9] Geburtsregister Wiesbaden 1326 /1909.

[10] HHStAW 685 812b (30).

[11] Ebd. (26).

[12] HHStAW 685 812a (108).

[13] HHStAW 685 812b (26).

[14] Sterbeeintrag für Irma Stummer Sterberegister Wiesbaden 1402 /  1923.
In der Steuererklärung des Jahres 1929 schreibt der Vater, das Franziska „tuberkolos krank & nicht arbeitsfähig“ sei, HHStAW 685 812b (64).

[15] Ebd. (81).

[16] Ebd. (87).

[17] Sterberegister Wiesbaden 453 / 1936.

[18] Irma Mantel, geboren am 11.5.1902 in Wiesbaden, war zuvor 15 Jahre lang erste Verkäuferin im Schuhhaus Isidor Sandel, ebenfalls ostjüdische Emigranten, das am Mauritiusplatz gelegen war und als eines der führenden Schuhgeschäfte der Stadt galt, siehe Geburtsregister Wiesbaden 899 / 1902 und HHStAW 518 757 (15).

[19] Ihre Schwester Rosa / Rude wurde mit den Töchtern Irma und Hedwig nach Bychawa bei Lublin verbracht, zumindest erreichten die ausgewanderten Kinder von dort die letzten Nachrichten.

[20] HHStAW 685 812b (o.P.). Franziska Horowitz ist zwar im Jüdischen Adressbuch von 1935 als polnische Staatsbürgerin aufgeführt, auf ihrer Gestapokarteikarte ist diese ursprüngliche Einordnung eingeklammert und durch „staatenlos“ ersetzt worden.

[21] HHStAW 519/3 32517 (3).

[22] Zur Familie Berney sie das Erinnerungsblatt des Aktive Museums Spiegelgasse http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Berney-Heinrich.pdf. (Zugriff: 3.10.2020).

[23] Hermann Hallheimer nahm sich am 27.3.1943 das Leben, siehe Sterberegister Wiesbaden 726 / 1943.

[24] HHStAW 519/3 383 (5). Die Sicherungsanordnung wurde von der Devisenstelle zurückgenommen.

[25] 519/3 32517 (1, 4).

[26] Ebd. (16).

[27] Sara Friediger, geborene Schmaus, war 1884, Rude Mantel 1871 und Irma Mantel 1902 geboren worden. Herzel und Sara Friediger hatten drei Kinder, die aber damals nicht in der Wohnung der Eltern wohnten. Ihre Namen und ihr Schicksal ist nicht bekannt.

[28] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv=1&dbid=61764&h=27278&tid=&pid=&queryId=0822311b259a28589299d27a0223835a&usePUB=true&_phsrc=ryV2087&_phstart=successSource. (Zugriff: 3.10.2020).

[29] Im Arolsen-Archiv sind eine ganze Reihe von Dokumenten vorhanden, die seine Anwesenheit dort belegen, siehe https://collections.arolsen-archives.org/archive/5893098/?p=1&s=Friediger%20Hercel&doc_id=5893099. (Zugriff: 3.10.2020).

[30] Wie aus den Entschädigungsakten für Rosa und Irma Mantel hervorgeht, wurden beide für tot erklärt und entsprechende Erbscheine ausgestellt, siehe HHStAW 518 757 (7) und HHStAW 518 2099 (4). Die andere Karte, geschrieben am 11.1.1942, der Poststempel trägt allerdings das Datum 11.6.1942, ist als Kopie in HHStAW 518 757 (4, 5) zu finden.

[31] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1538194. (Zugriff. 3.10.2020).

[32] HHStAW 3008/1 14258 und 14259, Das Paket mit Kleidung war zuvor wegen einer fehlenden Devisengenehmigung wieder zurückgegangen.

[33] https://sztetl.org.pl/en/towns/b/610-bychawa/116-sites-of-martyrdom/45115-ghetto-bychawa. (Zugriff: 3.10.2020).

[34] https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11588103&ind=1. (Zugriff. 3.10.2020). Ob es dafür einen Beleg gibt, ist dem Eintrag nicht zu entnehmen.