Die Familie von Hermann und Selma Löwenstein, geborene Vogel


Ackermann, Klara, Arthur, Judenhäuser Wiesbaden
Das frühere Judenhaus in der Hermannstr. 26 heute
Eigene Aufnahme
Judenhäuser Wiesbaden, Juden Wiesbaden,
Lage des ehemaligen Judenhauses Hermannstr. 26
Judenhäuser Wiesbaden, Juden Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Hermannstr. 26

 

 

 

 

 

 


Nach den Erinnerungen von Willy Rink waren Löwensteins die ersten jüdischen Mieter, die in das Haus der Ackermanns einzogen, nachdem im Vorderhaus eine Wohnung frei geworden war.[1] Auf ihrer Gestapokarteikarte ist leider kein Zugangsdatum nach Wiesbaden vermerkt, aber die Angabe von Rink, der Einzug habe im November 1938 stattgefunden, scheint insofern plausibel, als viele Juden nach dem Novemberpogrom die Landgemeinden verließen, um in den anonymeren Städten Zuflucht zu suchen. Nach den Meldeunterlagen der Stadt Idstein hatten sich Löwensteins allerdings bereits am 23. August 1938 von ihrem bisherigen Wohnsitz nach Wiesbaden abgemeldet und waren gleich in die Hermannstr. 26 gezogen.[2] In diesem Haus, das dann Ende des folgenden Jahres zum Judenhaus wurde, blieben sie die restliche Zeit in Wiesbaden wohnen. Es war ihre letzte Station auf dem Weg in die Vernichtung.

Hermann Löwenstein, SElma Löwenstein Vogel, Irene Löwenstein, Edith Löwenstein Saretzki, Ilse Löwenstein, Hans Saretzki
Stammbaum der Familie Löwenstein
(GDB-PLS)

Schon in den Jahren zuvor hatten sie vielfach erfahren müssen, was es heißt, als Jude in einem Klima des aufgepeitschten Antisemitismus leben zu müssen. Es war aber nicht nur diese Leidensgeschichte, die sie mit nach Wiesbaden brachten, sondern auch eine Familientradition, die weit in das 18. Jahrhundert zurückreicht. In dieser Familie, deren erster bekannter Vertreter ein Jakob Moyes oder Moses war, der wie auch seine Frau Sara 1746 in Meudt im Westerwald geboren worden war, hatten sich auch durch die große Zahl der Nachkommen – zwanzig Kinder waren kein Einzelfall – verwandtschaftliche Verbindungen ergeben, die sich nicht nur über Deutschland, sondern, bedingt durch Emigration und Vertreibung, heute über die ganze Welt erstrecken.[3] Zwei Generationen nach Jakob Moyses nahm dessen Enkel Hayum David den Namen Löwenstein an, die Familie seiner Frau Rosalie / Röschen / Reis hatte sich den Namen Fuld gewählt.[4] Rosalie Löwenstein gehörte zu den sehr fruchtbaren Frauen dieser Familie und gebar insgesamt zwanzig Kinder, wovon Nathan und Feist / Ferdinand, das neunte und das neunzehnte Kind, für die hier betrachtete Familie von besonderer Bedeutung waren.

Nathan Löwenstein, Hermann Löwenstein, Selma Löwenstein, Esch, Judenhaus Wiesbaden
‚Nathans Haus‘ in Esch, das Elternhaus von Hermann Löwenstein und seinen Geschwistern
Mit freundlicher Genehmigung von M. Ott

Nathan Löwenstein war am 3. August 1847 noch in Langendernbach geboren worden, dann aber in das bei Idstein gelegene Esch verzogen. Vermutlich fand dieser Umzug im Zusammenhang mit seiner Eheschließung statt. 1875 hatte er die aus dem Nachbarort Steinfischbach stammende Rebecca Steinberg, geboren am 12. Juni 1850, geheiratet.[5] Wie in jüdischen Familien nicht unüblich, hatte Nathans Bruder Feist / Ferdinand Rebeccas Schwester Rosa Steinberg geehelicht. Auch sie waren nach Esch verzogen, wo sie einen Viehhandel betrieben.[6] Da auch Nathan in diesem Geschäftsfeld tätig war und auch verschiedene Kinder der beiden diese Berufstradition fortsetzten, kann man vermuten, dass auch schon Vorfahren der beiden in diesem traditionellen Beruf der Landjuden tätig waren.[7]

Nathan Löwenstein, Hermann Löwenstein, Selma Löwenstein Vogel, Judenhäuser Wiesbaden, Hermannstr. 26
‚Nathans Haus‘ in Esch, Hofseite
Mit freundlicher Genehmigung von M. Ott

„Nathans Haus“ in der ehemaligen Borngasse ist noch heute ein Begriff in Esch.[8] Zwar machen die aus den frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erhaltenen Fotografien des Hauses einen eher ärmlichen Eindruck, aber sie spiegeln den sozialen Status, den die Familie damals in Esch einnahm, vermutlich nicht mehr adäquat wider. Die jüdischen Viehhändler gehörten auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen zur ländlichen gehobenen Mittel-, wenn nicht sogar Oberschicht,[9] im konkreten Einzelfall war das allerdings von sehr vielen Faktoren abhängig. In einer Familie mit zwanzig Kindern waren zum einen hinreichend mithelfende Arbeitskräfte vorhanden, aber ob der Markt in dieser Region ausreichte, um diese große Zahl der Familienmitglieder auch zu ernähren, geschweige denn ein Vermögen zu bilden, muss doch als sehr fraglich erscheinen. Immerhin waren in der Ehe von Nathan und Rebecca Löwenstein nicht mehr ganz so viele Kinder geboren worden,[10] was sicher zu einem leichten Anstieg des Lebensstandards geführt haben wird. Die beiden ältesten Söhne, David, geboren am 18. Dezember 1878,[11] und Heymann, eingedeutscht Hermann, geboren am 5. März 1881,[12] waren zunächst nicht nur ihrem Heimatort Esch, sondern auch beruflich der Familientradition treu geblieben. Neben dem Viehhandel betrieben Löwensteins wie praktisch die meisten Landbewohner auch Landwirtschaft, zum einen für den Eigenbedarf, aber auch zur Versorgung des Viehs. Überschüsse werden in kleinem Umfang auch in den Handel gelangt sein. Nach Hermann waren dann am 2. Dezember 1885 zunächst die Tochter Rosa geboren worden.[13] Ihr folgte am 6. April 1889 mit Sali ein weiterer Sohn[14] und zuletzt am 17. Juli 1895 wieder eine Tochter, die den Namen Selma erhielt.[15]

Nathan Löwenstein, Hermann Löwenstein, Selma Löwenstein, Esch Juden, Judenhaus Wiesbaden
Rückseite des Hauses mit Schuppen
Mit freundlicher Genehmigung von M. Ott

Am 14. August 1912 heiratete Hermann Löwenstein die aus Nieder-Saulheim stammende Selma Vogel. Sie, geboren am 12. März 1891, war die Tochter des „Handelsmanns“ Heinrich Vogel und seiner Frau Johanna, geborene Oppenheim. An der Hochzeit, die im Heimatort der Braut stattfand, konnte Hermanns Vater nicht mehr teilnehmen, da er zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben war.[16]

Ein Jahr nach der Eheschließung kam am 20. Juli 1913 die erste Tochter Irene zur Welt. Ihr kurzes Leben war gezeichnet von der Not während des Ersten Weltkriegs und der darauf folgenden Wirtschaftskrise. Am 14. November 1925 verstarb sie im Alter von nur 12 Jahren im Paulinenstift in Wiesbaden.[17] Zwei weitere Töchter waren dem Paar noch vor dem schweren Verlust des ersten Kindes geboren worden. Zunächst war am 2. August 1915 Edith in Esch zur Welt gekommen.[18] Am 1. Oktober 1922 zog die Familie in das nur wenige Kilometer entfernte Idstein,[19] wo sie in der Löhergasse 6 ein Haus erworben hatte. Neben den Stallungen für den Betrieb umfasste der Wohnbereich immerhin fünf Zimmer.[20] Am 10. Oktober 1923 bekam das Paar dort die letzte Tochter, die den Namen Ilse erhielt.[21] In der Kleinstadt mit etwa 4.500 Einwohnern lebten zu Beginn der 30er Jahre 178 Juden, davon 100 im Kalmenhof, einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen unterschiedlichen Alters. Im Ort selbst wohnten mehre jüdische Großfamilien, die untereinander verwandt und zumeist im Kleinwaren-, im Vieh- und Futtermittelhandel tätig waren. Neben den meisten zur unteren Einkommensgruppe zählenden Familien gehörten auch einige zu den eher Wohlhabenden. Wenn man zudem bedenkt, dass es neben liberalen auch orthodoxe Juden gab und auch die politischen Haltungen die gesamte Bandbreite des damaligen Parteiensystems widerspiegelten, so wird man bei der Idsteiner Judenschaft ohne weiteres von einer sehr heterogenen Gruppe sprechen können.[22]

Löwensteins scheinen ursprünglich zu den eher besser gestellten gehört zu haben, zumindest entsprach die Ausstattung der Wohnung einem gehobenen Standard – „gutbürgerlich“, wie von der Tochter Edith später charakterisiert. Die Räume seien mit lederbezogen Sitzmöbeln, Perserteppichen und weiteren Einrichtungsgegenständen aus gediegenem Holz möbliert gewesen. Auch die Ausstattung der Küche und das Geschirrs habe aus bester Markenware bestanden. Als weiteres Indiz für den gehobenen Lebensstandard ist zudem die Tatsache zu werten, dass die Mutter immer eine feste Hausangestellte hatte und man den Kindern die Ausbildung an einer höheren Schule, das hieß damals an einer Mittelschule, ermöglichte. Die Tochter gab aber auch an, dass zumindest ein Teil der Ausstattung von ihrer Mutter als Aussteuer mit in die Ehe eingebracht worden war. [23] Aber gegen Ende der Zwanziger Jahre muss auch die allgemeine Not sich auf die Einkünfte von Hermann Löwenstein ausgewirkt haben. Zwar liegen keine Steuerakten mehr vor, aber nach Auskunft des Finanzamts Wiesbaden, abgegeben im Rahmen des späteren Entschädigungsverfahrens, konnte die Familie von 1930 bis zur Machtübertragung 1933 überhaupt keine Einkünfte mehr aus ihrem Gewerbebetrieb mehr erzielen, im Gegenteil, es wurden mehr als 7.000 RM Verluste gemacht.[24]

Neben der allgemeinen Wirtschaftskrise werden hier auch schon die üblichen Anfeindungen gegen Juden eine Rolle gespielt haben, die gerade in Krisenzeiten sehr schnell aufbrachen. Dass dann „Zugewanderte“, also nicht im Ort verwurzelte Juden diese Stimmung als erste zu spüren bekamen, ist nicht verwunderlich, zumal wenn es sich um Viehhändler handelte. Wenig später war es aber dann völlig egal, wie lange man als Jude bereits in einer Gemeinde sesshaft und wie gut man bisher dort integriert war. Aus Nachbarn wurden Feinde und aus Geschäftspartnern wurden „Schmarotzer am deutschen Volkskörper“.

Wie überall in Deutschland war es auch in Idstein Ende März, Anfang April 1933 zu organisierten Boykottaktionen gekommen, um so der angeblichen „Greuelpropaganda“ der Auslandspresse über die Lage der Juden in Deutschland Einhalt zu gebieten. Noch bevor der „Stürmer“ sein Gift bis in die kleinsten Ortschaften versprühen konnte, scheint die heimatliche „Idsteiner Zeitung“ diese Funktion übernommen und entscheidend dazu beigetragen zu haben, den ursprünglich eher ökonomisch begründeten Antisemitismus in einen Rassenantisemitismus zu überführen. Anknüpfungspunkt dafür waren die jüdischen Viehhändler, die man ausschalten und von den Viehmärkten ausschließen wollte. Exemplarisch für diese Hetzkampagne ist ein Artikel der Zeitung vom 25. Juli 1935:
„Deutsche Bauern!
Noch immer seid ihr begaunert und beschwindelt worden, wenn ihr mit den Juden gehandelt habt. Noch immer gibt es Bauern, die nicht wissen, dass der Jude der Totengräber des deutschen Bauerntums war. Deutsche Jungbauern! Wollt ihr mit zusehen, dass Euch Euer Erbe, welches Eure Väter mit Mühe und Arbeit zusammenschafften, der jüdischen Gier zum Opfer fällt. Erst dann habt Ihr immer den Juden erkannt, wenn er bereits Euer Besitztum als sein Eigentum an sich erschwindelt hatte.
Der Jahrhunderte alte Markt auf der Altenburg bei Heftrich, mit dem deutsches Brauchtum unlösbar verbunden war, wurde auf einmal die Stätte jüdischen Wuchergeistes und jüdischer Profitgier. Es ist daher die schönste Aufgabe der Bewegung, dem Bauern die Möglichkeit zu verschaffen, ohne den Juden Vieh zu handeln.
Am 25. Juli ist Euch die Gelegenheit geboten, ohne der jüdischen Gewinnsucht ausgesetzt zu sein, mit deutschen Bauern Vieh zu handeln.
Erscheint zahlreich und beweist Eure Treue zum Führer und Volk am 25. Juli auf dem judenfreien Markt auf der Altenburg bei Heftrich.“
[25]

Judenhäuser Wiesbaden
Berufsverbot für jüdische Viehhändler vom 1.10.1938
HHStAW 412 2237 (o.P.)

Auch wurden die jüdischen Viehhändler in Idstein bespitzelt. Es wurden genaue Listen angelegt wer sich dem Druck nicht gebeugt hatte und weiterhin seinem „Viehjuden“ treu blieb. Obwohl auch Hermann Löwenstein zu den bespitzelten gehörte, konnte er in den Jahren von 1933 bis zur Geschäftsaufgabe im Jahr 1938 noch Einkünfte erzielen, aber diese lagen zumeist jährlich nur zwischen 400 und 700 RM.[26] Zum Unterhalt einer Familie reichte dieses Einkommen nicht mehr aus. Das Aus für sein Viehhandelsgeschäft, das schon längst zum Erliegen gekommen war, wurde im Oktober 1938 auch offiziell verkündet. Den jüdischen Viehhändlern wurde an diesem Tag von der zuständigen Stelle des Viehwirtschaftsverbands die weitere Ausübung ihres Berufs verboten.[27] Offensichtlich war das Überleben in dieser schwierigen Zeit nur möglich, weil ein Bruder von Selma Löwenstein, Leo Vogel, der mit seiner Frau Lilli in Mannheim lebte, die Familie Löwenstein finanziell unterstützte. Nachdem dieser aber 1937 nach Australien ausgewandert war, fehlten diese Mittel ganz sicher spürbar.[28]

Hermann Löwenstein, Selma Löwenstein, Ilse Löwenstein
Ediths Abgangszeugnis von der Landwirtschaftsschule Idstein
HHStAW 518 58851 (10)

Als die Tochter Edith nach ihrem Schulabschluss im Juni 1933 nach Holland ging, bedeutete das auch eine finanzielle Entlastung für die Eltern. Der eigentliche Grund für die Ausreise bestand aber darin, dass sie nicht glaubte, in Deutschland noch ihren Berufswunsch, Landschaftsgärtnerin zu werden, würde realisieren können. Zwar hatte sie zunächst die Mädchenklasse der Landwirtschaftsschule in Idstein besucht und 1932 dort auch ein ausgezeichnetes Abschlusszeugnis erhalten,[29] die Fortführung ihrer Ausbildung wurde ihr aber durch die Zeitumstände unmöglich gemacht. Dass die Eltern zunächst nicht erlauben wollten, dass die gerade erst 16jährige Tochter alleine nach Wiesbaden zog, um dort in der Stadtgärtnerei das für die weitere Ausbildung geforderte Praktikum zu absolvieren, ist selbst aus heutiger Sicht nur zu verständlich. Deshalb arbeitete sie in der folgenden Zeit in Esch in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Als sie dann im August 1933 das 18te Lebensjahr erreicht hatte, war es zu spät. Der städtische Betrieb weigerte sich jetzt, eine Jüdin zu einem Praktikum zuzulassen. Damit war ihr die Möglichkeit, ihre Ausbildung mit einem Diplom abzuschließen, verwehrt. Auch in Holland konnte sie ihren Berufswunsch nicht mehr verwirklichen. Sie hatte gehofft dort in einer Blumenzüchterei unterzukommen, allerdings hatte man ihr die Einreise dann nur unter der Voraussetzung gestattet, dass sie dort eine Anstellung als Haushaltshilfe annehmen würde.

Mit der Verschlimmerung der Lage in Deutschland wurde immer klarer, dass eine Rückkehr nicht mehr möglich sein würde. Immer größer wurde auch die Gefahr, dass es zu einem großen Krieg kommen würde, in dem Holland mit Sicherheit von deutschen Truppen besetzt würde. Ihr Onkel Leo Vogel und seine Frau Lilli, geborene Rheinheimer, die die Familie schon zuvor unterstützt hatten, waren mit ihrem siebzehnjährigen Sohn Heinz im April 1938 zunächst vom britischen Southampton aus mit dem Schiff nach Montreal in Kanada gelangt.[30] Von hier aus setzen sie ihre Flucht nach Australien fort. Dort angekommen halfen sie dann 1939 ihrer Nichte Edith, ebenfalls dorthin auszuwandern. Von Den Haag wiederum über Southampton gelangte sie kurz vor Kriegsbeginn mit dem Schiff „Jerves Bay“ nach Sydney. Eigentlich war geplant, dass sie als unmittelbare Verwandte den Nachzug der übrigen Familienmitglieder würde leicht organisieren können, ein Plan, der sich aber mit dem Kriegsausbruch und der damit verbundenen Einstellung des Postverkehrs zerschlug.[31]

Leo Vogel, Selma Vogel, Heinz Vogel, Judenhaus Wiesbaden, Hermann Löwenstein
Passagierliste der ‚Montclare‘, mit der die Familie Vogel von England nach Kanada übersetzte
.

Für die Eltern und die jüngere Schwester war die Situation in Idstein inzwischen immer unerträglicher geworden. 1936 kam es dort zu massiven Gewaltaktion gegen die jüdischen Mitbürger. In der Nacht vom 4. zum 5. August waren in sechs Häusern die Fensterscheiben mit Steinen eingeworfen worden, darunter auch die Häuser von Hermann und David Löwenstein.[32] Weitere Aktionen dieser Art haben sich bei anderen jüdischen Familien im Herbst zugetragen. Man lebte also in einem Klima ständiger Angst und war in allen Lebensmöglichkeiten eingeschränkt. So hatte auch Ilse inzwischen keine Möglichkeit mehr, eine Berufsausbildung, nicht mal eine Schulausbildung nach ihren Wünschen zu beenden. Am 1. April 1930 war sie in Idstein eingeschult worden, am 11. Juni 1936 wurde sie – so das Schreiben des Idsteiner Magistrats im Jahr 1967 an die Entschädigungsbehörde – an die Jüdische Schule in Wiesbaden in der Mainzer Straße „überwiesen“ – gerade so, als habe es sich dabei um einen ganz normalen Vorgang im Rahmen einer Schullaufbahn gehandelt.[33]

Hermann Löwenstein, Selma Löwenstein, Ilse Löwenstein, Juden Idstein
Mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Idstein
Judenhaus Hermannstr. 26, Wiesbaden, Hermann Löwenstein, Selma Löwenstein
Ilse Löwenstein und ihre Mitschüler in der Jüdischen Schule in Wiesbaden. Neben ihr die Lehrerin Lotte Bernstein, dahinter Rabbiner Dr. Finkelscherer
Archiv Aktives Museum Spiegelgasse, Wiesbaden

In jedem Fall musste ihr zu diesem Zeitpunkt klar sein, dass ihr Berufswunsch Krankenschwester zu werden, nicht mehr in Erfüllung gehen würde. Unklar ist, ob Ilse täglich nach Wiesbaden in die Schule gependelt war oder ob sie zumindest phasenweise dort einen Schlafplatz bei Bekannten gefunden hatte. Aber schon im August 1938 – noch vor der Reichspogromnacht [34] – verließen auch die Eltern die Taunusgemeinde und bezogen die Wohnung in der Hermannstr. 26, vielleicht auch um der Tochter den täglichen, langen Schulweg zu ersparen. Aber auch andere Gründe spielten dabei sicher eine Rolle. So war es im Sommer 1938 erneut zu gewaltsamen Angriffen auf jüdische Bürger in Idstein gekommen, wobei möglicherweise ein großer Teil des Mobiliars der Löwensteins geplündert oder zerschlagen wurde.[35] Das Haus in Idstein war bereits 1938 verkauft worden [36] – ob vor oder nach dem Umzug, konnte bisher nicht geklärt werden. Mitgekommen war auch der von ihnen in Pflege genommene Albert Wolf. Die Drei-Zimmer-Wohnung in Wiesbaden sollte eigentlich sicher nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg nach Australien sein, wurde jedoch die letzte Station auf ihrem Weg in die Vernichtung.

Leider hat Willy Rink den neuen Bewohnern des Hauses, in dem er selbst als Kind lebte, keine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Abgesehen vom Einzug werden sie in seinen Erinnerungen kaum mehr erwähnt. Somit gibt es auch keine authentischen Zeugnisse, wie sie von den anderen zumeist nichtjüdischen Mietern aufgenommen und behandelt wurden. Seine allgemeinen Anmerkungen zum Umgang miteinander treffen aber sicher auch auf Löwensteins zu. Die Art und Weise, wie man sich begegnete, etwa im Treppenhaus oder auf dem Hof, war ein wesentlicher Indikator für das Verhältnis, das die arischen und die jüdischen Bewohner jeweils zueinander hatten: „Erstens: Nicht-Grüßen und Wegschauen. Zweitens: verlegenes, gemurmeltes Grüßen. Drittens: Freundliches Grüßen als Zeichen der Normalität, die es freilich gar nicht mehr gab.“[37] Aber allein dadurch, dass der Mieter Igstein, „PG“, damit quasi Ohr und Sprachrohr der Partei, seine Kontrollfunktion im gesamten Haus wahrnahm, vermieden die anderen Mieter, einen offenen Kontakt mit ihren jüdischen Mitbewohnern, um nicht als „Judenfreunde“ angeschwärzt zu werden.

Am Nachmittag nach der Reichspogromnacht hatte der Zellenwart Igstein seinen großen Auftritt. Vom Hof aus verkündete er allen, ob sie es hören wollten oder nicht, „dass nun Schluss mit der Schonung der Juden sei. Sie sollten alle auswandern, dann sei die ‚Judenfrage’ gelöst. Auch bei dieser Gelegenheit“, so Rink, „habe er keine positiven oder negativen Kommentare von Hausbewohnern vernommen. Sie hielten sich auch im Gespräch untereinander bedeckt.“[38] Einige der Bewohner versuchten auch zu lavieren, unterschieden zwischen den jüdischen Mitbewohnern, die man kannte und respektierte, und den fernen Juden, die angeblich dem Bild der NS-Rassenideologie entsprachen.[39] Vermutlich merkten sie gar nicht, wie sehr diese vielleicht sogar gut gemeinte, scheinbare Differenzierung ihre jüdischen Mitbewohner treffen musste.

Rink weist aber auch darauf hin, dass die Thematik ‚Juden und Diktatur’ nicht ständiges Gesprächsthema im Haus war, die Kommunikation untereinander sich oft auch um Alltäglichkeiten, das Wetter oder andere Banalitäten drehte. Auch in diesen Zeiten wurde gelacht, es wurden Witze gemacht und – zumindest von den Nichtjuden – wurde immer auch ein Stück normaler Alltag gelebt.[40]

Dass Löwensteins in Rinks Erinnerungen nur eine marginale Rolle spielen, mag auch daran liegen, dass sie im Vorderhaus wohnten, welches ohnehin ein eher eigenständiges Sozialgebilde darstellte. Viele Juden hatten inzwischen aber auch gelernt, sich möglichst unauffällig zu verhalten und quasi eine Nichtexistenz zu leben.

So ist von den fast vier Jahren, die die Familie in dem Haus zubrachte und das während dieser Zeit zum Judenhaus wurde, fast nichts geblieben, was davon erzählt. Außer einem Bild vielleicht, einer kleinen Szene, die sich eingebrannt hat in das Gedächtnis von Willy Rink, ein Bild, dessen er sich bis zu seinem Lebensende immer wieder erinnerte, wenn er der Menschen gedachte, die am 10. Juni 1942 das Haus verlassen mussten. Es ist das Bild von Ilse Löwenstein: „Und niemals mehr würde aus dem Fenster im ersten Stock des Vorderhauses, wo sie mit ihren Eltern gewohnt hatte, Ilse Löwenstein schauen, das schöne Mädchen, in das ich mich damals als Sechzehnjähriger verliebt hatte, obwohl wir kein Wort wechseln konnten, weil sie die Wohnung schon lange nicht mehr verlassen durfte. Denn auch die Schule in der Mainzer Straße war geschlossen worden. Aber in der Erinnerung sehe ich sie in den Monaten vor der Deportation immer noch am Fenster stehen und in den Hof schauen, mit ihren schönen schwarzen Haaren, ihren dunklen, brennenden, von Stolz und Schmerz gezeichneten Augen, mit Blicken, die durch die Menschen im Hof und durch die gegenüberliegende Hauswand hindurchgingen. Ich werde ihr Gesicht im Fenster zum Hof nie vergessen. Es steht wie in einem Bilderrahmen, hinter mattem Glas, vor meinen inneren Augen, wenn mich die Erinnerung an die damalige Zeit erfasst.“[41]

Wahrnehmbar veränderten sich durch die Zwangseinweisungen die Wohnverhältnisse im Vorderhaus, sie passten sich den bescheidenen Verhältnissen im Hinterhaus immer mehr an und zuletzt lebten die jüdischen Bewohner unter engeren Verhältnissen als die Arbeiter im hinteren Teil des Gebäudes. Einzelne Familien verfügten bald nur noch über ein Zimmer und mussten Küche und Bad gemeinsam nutzen. Auch Löwenstein hatten wie Ackermanns zwei ihrer ursprünglich drei Zimmer abgeben und untervermieten müssen. Am 1. Mai 1942 war die dreiköpfige Familie Wolf eingewiesen und knapp sechs Wochen später mit Löwensteins deportiert worden.[42]

Am 8. Juni 1942 war diesen über die Bezirksstelle Hessen-Nassau der Reichsvereinigung der Juden mitgeteilt worden, dass sie sich mit ihrer Tochter Ilse am 10. Juni um 8 Uhr morgens für den Transport in den Osten bereitzuhalten hätten. Instruktionen, was einerseits mitzunehmen sei, was andererseits nicht mitgenommen werden durfte, welche Maßnahmen zur Sicherung des Besitzes zu treffen seien, all das war in einem gesonderten Beiblatt akribisch aufgelistet.[43]

Judenhaus Wiesbaden, Hermannstr. 26
Hermann, Selma und Ilse Löwenstein auf der Deportationsliste vom 10. Juni 1942
HHStAW 519/2 1381

Am Morgen des 10. Juni kamen nach einer kurzen Fahrt nach Frankfurt zu den etwa 370 Wiesbadener Juden weitere 880 Juden aus der Mainmetropole und dem übrigen Regierungsbezirk Wiesbaden hinzu, sodass der gesamte Transport etwa 1250 Menschen umfasste – deutlich mehr als die ursprünglich geplante Zahl von etwa 1000 Menschen. Fast alle, bis auf etwa 180 bis 250 arbeitsfähige Männer, die an der Rampe von Lublin für einen Arbeitseinsatz zur Errichtung des KZs Majdanek herausgeholt wurden, verbrachte man in das Vernichtungslager Sobibor, wo sie bald nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Von keinem der diesem Transport Zugeteilten hat es noch jemals ein Lebenszeichen gegeben.

1949 beantragte die einzige Überlebende der Familie Löwenstein, Edith Saretzki, geborene Löwenstein, beim Amtsgericht Wiesbaden eine Todeserklärung für ihre Eltern Hermann und Selma und ihre Schwester Ilse. Am 21. Mai 1949 wurde ein entsprechender Beschluss des Amtsgerichts Wiesbaden gefasst. Da es keine genaueren Hinweise auf die Umstände ihres Todes gab, wurde für alle drei als Todestag der 8. Mai 1945 festgelegt.[44] Vor dem Haus in der Hermannstraße liegen drei Stolpersteine mit ihren Namen, die daran erinnern, dass auch hier einmal jüdische Mitbürger lebten, die der Nazi-Tyrannei zum Opfer fielen.

Unmittelbare Profiteure der Deportationen waren einige Bewohner des Hinterhauses. Auf Fürsprache des Zellenleiters Ickstadt erhielten die Familie Stein – Herr Stein war Mitglied der NSDAP und der SS -, und die des Bauarbeiters Grabner die Wohnungen von Ackermanns und Löwensteins. Sogar die Möbel und den zurückgelassenen Hausrat hatten sie – so Rink – gegen eine „symbolische Spende“ übernehmen dürfen.[45]

 

Hermann, Selma und Ilse Löwenstein waren nicht die einzigen der großen Familie, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Einigen Mitgliedern der Geschwisterfamilien von Hermann war es aber auch gelungen, ihren Verfolgern zu entkommen. Oft war das aber verbunden mit schrecklichen Entbehrungen und Ängsten um die Angehörigen, von denen man sich trennen musste oder über deren Schicksal man im Unklaren blieb. So auch bei der Familie von Hermanns älterem Bruder David Löwenstein.

Anders als die Familie von Hermann Löwenstein hatten er und seine Frau Bertha, geborene Weinberg, die letzten Wochen des Jahres 1938 und damit auch die Reichspogromnacht noch in Idstein erlebt. Hierhin waren sie bereits nach ihrer Hochzeit im Mai 1909 gezogen [46] und hatten dort ein Wohngrundstück mit Stallungen in der Wiesbadener Str. 10 erworben.[47]

Dort waren auch die drei Kinder zur Welt gekommen, zunächst Clothilde am 22. Februar 1911. Ihr folgten der Sohn Norbert, der später eigentlich den Betrieb übernehmen sollte, am 15. April 1914 und zuletzt, fast zehn Jahre später, am 20. Mai 1923 noch die Tochter Ruth.[48] Zwischen den Geburten der letzten beiden Kinder lag der Erste Weltkrieg, an dem David Löwenstein in einer Landsturmkompanie teilgenommen hatte,[49] sodass in dieser Zeit eine geregelte Handelstätigkeit kaum möglich gewesen sein wird. Da auch die folgende Zeit durch diverse Krisen gekennzeichnet war und nur in den wenigen Jahren zwischen 1924 und 1928 auch wirtschaftlich eine gewisse Prosperität herrschte, können die im Entschädigungsverfahren gemachten Angaben über durchschnittliche monatliche Einkommen von etwa 1.000 RM [50] vor der NS-Zeit eigentlich nur auf diese kurze Zeitspanne zugetroffen haben. Aber selbst das erscheint vor dem Hintergrund der Steuerdaten wenig wahrscheinlich.[51] Man muss in jedem Fall konstatieren, dass die Familie von David Löwenstein in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte und sie schon in den Jahren, bevor Hitler an die Macht kam, oft nicht wusste, wovon sie den Lebensunterhalt bestreiten sollte. Neben verschiedenen allgemeinen Ursachen, wie politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, war die Not ganz wesentlich dem schlechten Gesundheitszustand des Familienoberhaupts geschuldet. Schon seit Ende des Krieges war David Löwenstein an Diabetes erkrankt, lag oft wochen-, sogar monatelang im Krankenhaus, wo er mehrere Operationen hat über sich ergehen lassen müssen. Da die Familie nicht krankenversichert war, kamen zu den Minderungen der Einnahmen die hohen Krankheitskosten noch hinzu. Als die älteste Tochter Clothilde 1931 den aus dem friesischen Neustadtgödens stammenden Bernhard Josephs heiratete, hatten die Eltern zur Finanzierung der Aussteuer einen Kredit über 4.500 RM aufnehmen und diesen durch eine Hypothek auf das Haus absichern müssen.[52]

David Löwenstein, Alfred Löwenstein, Judenhaus Hermannstr. 26, Wiesbaden
Brief von Bertha Löwenstein an das Finanzamt in Bad Schwalbach
HHStAW 676 3598 (44)

Immer wieder musste das Finanzamt gebeten werden, die Zahlung fälliger Steuern zu stunden oder sogar auf deren Eintreibung gänzlich zu verzichten. Es soll hier exemplarisch nur einer der vielen Briefe wiedergegeben werden, den Bertha Löwenstein im Februar 1931 verzweifelt an das Finanzamt Bad Schwalbach schrieb:
Obschon ich dem Herrn Regierungsrat mitgeteilt hatte, daß mein Mann wieder dauernt (sic) krank ist so wurde doch die Härte ausgeführt und von dem Vollziehungsbeamte gepfändet. Ich bin ganz verzweifelt mein Mann liegt wieder seit Sonntag im Krankenhaus in Frankfurt weil er es zu Hause gar nicht mehr aushalten konnte, nun stehe ich wieder ohne etwas Verdienst und muß doch auch für die Kosten vom Krankenhaus aufkommen. Ich bitte doch den Herrn Regierungsrat etwas Rücksicht auf meine Lage zu nehmen und mir die Steuer zu stunden
Achtungsvoll
Frau D. Löwenstein“
[53]

Hatte man 1931 auf ein solches Ersuchen noch positiv reagiert, so wurde im August 1933 die Zwangseintreibung von rückständigen Steuern angedroht [54] Die diskriminierende Steuergesetzgebung für Juden nach 1933 verschärfte die Situation natürlich noch einmal erheblich, zumal jetzt zwischen 1933 und 1935 die Einnahmen der Familie auch nach eigenem Bekunden auf bestenfalls 100 RM monatlich zurückgingen und sie danach faktisch gänzlich zum Erliegen kamen. Man habe gänzlich von Rücklagen leben müssen, wobei aber unklar ist, worin die bestanden haben könnten.

Wie bereits gesagt, hatte der Sohn Norbert eigentlich den väterlichen Betrieb übernehmen sollen. Er war 1929 zur Ausbildung nach Frankfurt gegangen, wo er in der Metzgerei von Adolf Hess einen entsprechenden Abschluss gemacht hatte. 1931 war er zurück nach Idstein gekommen und hatte im elterlichen Betrieb mitgearbeitet. Auf Grund der Hetze gegen jüdische Viehhändler kam es 1934 auf dem Markt in Altenbach zu einem Zusammenstoß mit SA-Männern, die die anwesenden Juden angegriffen und auf sie eingeschlagen hatten. Norbert hatte sich zur Wehr gesetzt, wurde zunächst verhaftet, konnte aber in dem Getümmel entweichen und zu Verwandten nach Camberg flüchten. Am nächsten Tag informierte ihn der Vater, dass das Haus in Idstein von SA und SS beobachtet werde und er auf keinen Fall nach Hause kommen solle. Damit begann seine Flucht, die letztendlich erst in Südafrika enden sollte. Zunächst blieb er einige Tage bei seinem Onkel Sali Löwenstein in Koblenz, dann bei Bekannten in Neuwied und zuletzt ging er ohne jegliche Habe illegal über die Grenze nach Holland zur Familie seiner Schwester in Aalten. Eine Arbeitserlaubnis hatte er dort nicht, weshalb er auf die Unterstützung des „Komitees für jüdische Emigranten“ angewiesen war. „Das Leben waerend (sic) dieser Zeit war sehr schwer fuer mich, da ich auf die Hilfe freundlicher Menschen angewiesen warum Leib und Seele zusammen zu halten. Ich war oft tagelang ohne Essen und schlafen musste ich bei allen Wettern im Freien.“[55] Das Komitee finanzierte für ihn auch die Überfahrt mit dem italienischen Schiff ‚Sistiana’, das für die Einreise in Südafrika geforderte Deposit von 100 £ lieh ihm ein Freund, der inzwischen im britischen Exil lebte.[56]

Am 18. September 1936 erreichte er das Land, das ihm zur neuen Heimat wurde. [57] Nur unter größten Anstrengungen und erst nach einer langen Phase der Not gelang es ihm nach etwa fünf Jahren einen eigenen Betrieb aufzubauen, die „Norman’s Butchery“ in Graaf-Reinet, aber auch danach dauerte es noch Jahre, bis er ein Einkommen erwirtschaftete, das ihm ein Leben in bescheidenem Wohlstand ermöglichte.[58]

Im November 1938 versetzte man seinen Eltern, die ohnehin schon am Boden lagen, während des Pogroms in Idstein einen letzten Schlag. Wieder hatte die „Idsteiner Zeitung“ nach dem Attentat von Paris mit ihren Artikeln die Menschen im Taunus aufgeputscht:
“Man weiß in Deutschland sehr wohl, wo die Verantwortlichen an dieser neuen jüdischen Bluttat sitzen. (…) Dieses Verbrechen kann für die Juden in Deutschland, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit, nicht ohne Folgen bleiben. Seit Jahr und Tag sieht das internationale Judentum seine Hauptaufgabe darin, Deutschland zu beleidigen und zu verleumden. Jedes Mittel der Lüge, der Hetze und der Tatsachenverdrehung ist diesen jüdischen Dunkelmännern recht. Es kommt ihnen nicht darauf an, die Völker in einen blutigen Krieg hineinzuhetzen, wenn sie nur das ihnen vorschwebende Ziel der Vernichtung des nationalsozialistischen Deutschland erreichen zu können glauben.“[59]

Nachdem von höchsten Stellen angeordnet, die SA-Horden landesweit zum Angriff gegen die Juden, deren Geschäfte und Gotteshäuser aufgerufen worden waren, schritt auch in Idstein die SA-Standarte 224 ‚Niederwald’ mit Sitz in Wiesbaden unter Führung ihres Standartenführers Gethöffer zur Tat. Zunächst hatte man die Synagoge in Rüdesheim in Brand gesetzt. In Idstein, wo man eigentlich Gleiches tun wollte, verzichtete man allerdings darauf, weil dadurch die mittelalterliche Stadt insgesamt gefährdet worden wäre. Stattdessen wurde aber die gesamte Inneneinrichtung des Gotteshauses zerschlagen und mitsamt den Gebetsbüchern und Thorarollen unter Mithilfe vieler Idsteiner Bürger auf Wagen verladen und anschließend zum Marktplatz gefahren. In den Flammen des dort aufgerichteten Scheiterhaufens sollte die Erinnerung an mehr als zwei Jahrhunderte jüdischen Lebens in Idstein vernichtet werden.

David Löwenstein, Hermann Löwenstein
Bericht des Bürgermeisters von Idstein an den Landrat über die Zerstörungen während der Pogromnacht
HHStAW 418 1564 (44 f.)

Am Nachmittag zog die Meute von etwa 30 bis 60 Menschen dann zu den Häusern der noch in Idstein lebenden Juden, darunter auch zu dem von David Löwenstein, zerschlugen die Fensterscheiben und zerstörten auch hier die Inneneinrichtung.[60] Einen detaillierten Bericht über die Zerstörung schickte der Bürgermeister von Idstein am 12. November an den Landrat in Bad Schwalbach. Darin heißt es bezüglich David Löwenstein:
„Anschließend wurde etwa im gleichen Umfange die Inneneinrichtung des Wohnhauses des jüdischen Viehhändlers David Löwenstein I, hier, Wiesbadenerstrasse, zertrümmert. Fenster und Türen wurden in der gleichen Weise beschädigt und Lebensmittel und Einmachobst vernichtet.“ [61]

Alle männlichen Juden zwischen 18 und 60 Jahren wurden noch am gleichen Abend über Nacht in „Schutzhaft“ genommen und nach Angaben des Bürgermeisters am nächsten Tag wieder entlassen. Dem steht allerdings ein Schreiben der Gestapo Frankfurt entgegen, das zwar nicht datiert ist, aber zu der Korrespondenz dieser Tage gehört. Danach waren die männlichen Juden des Kreises zunächst in Limburg zu sammeln und dann nach Frankfurt zu überstellen. Von dort aus wurden sie wahrscheinlich in die KZs Buchenwald oder Dachau verbracht.[62]

Pogromnach Idstein, David Löwenstein, Hermann Löwenstein, Judenhaus Wiesbaden, Hermannstr. 26
Befehl zur Verhaftung der männlichen Juden in Idstein während des Novemberpogroms
HHStAW 418 1564 (o.P.)

Ob und wenn, wie lange auch David Löwenstein inhaftiert war, ist nicht bekannt. Auch nicht, ob er den Entschluss aus Deutschland auszuwandern schon längst gefasst hatte oder ob man ihm in der Haft – wie in so vielen anderen Fällen – das zur Voraussetzung für seine Freilassung gemacht hatte. Ende des Jahres hatten sich Löwensteins, soweit sie noch offiziell in Idstein gemeldet waren, nach Frankfurt abgemeldet.[63] Sie wohnten dort in der Ostendstr. 11.[64]

David Löwenstein, Hermann Löwenstein, Bertha Löwenstein, Selma Löwenstein, Edith Löwenstein, Ilse Löwenstein
Bericht über die Abwanderung von Juden aus dem Untertaunuskreis im 4. Quartal 1938
HHStAW 418 1564 (o.P.)

Zuvor konnte David Löwenstein noch das Haus mit Hofgrundstück und Garten an einen Nachbarn verkaufen. Dass es sich hier ganz offensichtlich um keinen freien Verkauf, sondern um eine Arisierung handelte, beweist allein die Tatsache, dass das Haus später zurückerstattet bzw. durch einen Vergleich den neuen Besitzern überlassen wurde.[65] In welcher schwierigen Situation sich David Löwenstein damals befand und wie sehr die Käufer die Aktion der SA, die letztlich zum Verkauf des Hauses geführt hatte, goutierten, lässt sich daran erkennen, dass sie von dem Geschädigten verlangten, die zerschlagenen Fenster auf eigen Kosten wieder in Stand zu setzen. Weil David Löwenstein aber völlig mittellos war, legte man ihm die notwendigen Barmittel vor und zog den Betrag vom Kaufpreis ab.[66]

Über den Verbleib der Einrichtung konnte im späteren Entschädigungsverfahren keine Klärung gefunden werden. Ein Teil war ganz sicher demoliert worden. Obwohl der Bürgermeister 1938 in seinem Brief über die Zerstörung von Löwensteins Einrichtung berichtet hatte, konnte sich später 1960 allerdings keiner der  befragten „alteingesessenen Bürger“ erinnern, dass auch Löwensteins Wohnung betroffen gewesen war.[67] Andere, vielleicht auch beschädigte Einrichtungsgegenstände waren vermutlich mit nach Frankfurt genommen worden, denn als die Vorbereitungen zur Ausreise abgeschlossen waren, reichten Löwensteins eine Liste mit Umzugsgut ein, die sie mit in ihr Exil zu nehmen beabsichtigten. Es könnte aber auch sein, dass es sich bei den genannten Möbeln um die der inzwischen verstorbenen Mutter von David und Hermann Löwenstein handelte.[68] Rebecka Löwenstein war wohl die letzte jüdische Bewohnerin von Esch und nach den Pogromen, bei denen auch sie Angriffsziel der Meute geworden war, nach Frankfurt in die Psychiatrie eingeliefert worden, wo sie sich vermutlich am 4. Dezember 1938 das Leben nahm.[69]

Bei der Vorbereitung der Ausreise mit all den verschiedenen Anträgen und auszufüllenden Formularen, war Bertha Löwenstein weitgehend auf sich alleine gestellt, denn ihr Mann war wegen seiner Zuckererkrankung wieder in das Jüdische Krankenhaus in der Gagernstraße eingeliefert worden und die beiden ältern Kinder waren bereits im Ausland. Nur die jüngste Tochter Ruth lebte noch bzw. wieder bei den Eltern in Idstein.

Sie hatte zunächst seit 1929 die dortige Schule besucht, war aber dann ab Juni 1936 wie ihre Cousine Ilse zwangsweise auf die jüdische Schule nach Wiesbaden gewechselt.[70] Ostern 1937 wurde sie dort wieder abgemeldet, um – so ihr Wunsch – in Frankfurt eine Ausbildung als Krankenschwester zu beginnen. Da sie aber keine Lehrstelle fand, besuchte sie vermutlich stattdessen die in der Quinckestr. 20 gelegene jüdische Haushaltungsschule.[71] Nach etwa einem Jahr kehrte sie wieder zurück nach Idstein, wo sie bis Ende 1938 im Elternhaus lebte und dort auch die schrecklichen Ereignisse während des Novemberpogroms erleben musste. Wohl auch deshalb bereitete sie danach ihre Ausreise aus Deutschland vor. Nach einem erneuten kurzen Aufenthalt in Frankfurt zog sie zu ihrer Schwester Clothilde nach Aalten in Holland.[72] Eine Arbeitserlaubnis erhielt auch sie nicht, sodass sie für etwa ein Jahr im Haushalt ihrer Schwester aushalf und auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdiente.

Die Eltern hofften, dass Aalten auch für sie ein sicherer Zufluchtsort sein würde. Sie erhielten auch die notwendigen Genehmigungen und steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigungen für einen Reisepass, der ihnen die Ausreise nach Holland ermöglichte. Auch die Umzugslisten wurden – soweit ersichtlich zuletzt ohne weitere Beanstandungen akzeptiert.[73] Bertha Löwenstein hatte in einer handschriftlichen Anmerkung auf dem Antrag darum gebeten, „nichts mehr streichen zu wollen, da ich mir Leute in Kost & Logis nehmen will und hier [in Deutschland – K.F.] doch für meine alten Sachen gar nichts mehr bekomme. Auch bitte ich meine par (sic) silberne Löffel in meinem Handgepäck zu genehmigen, da ich Sie (sic) gleich benötige“.[74] Ob die Eröffnung eines Hauses mit Fremdenzimmern tatsächlich geplant war oder ob mit dieser Angabe nur die Hoffnung verbunden war, möglichst das gesamte Umzugsgut mitnehmen zu können, ist nicht bekannt. Realistisch waren solche Pläne wohl kaum.

Nachdem die beiden im November 1938 Holland angekommen waren, blieb ihnen nicht mehr viel Zeit, ihre neue Freiheit zu genießen. Sie wohnten in Aalten zwar nicht zusammen mit der Familie ihrer Tochter Clothilde, aber immerhin in der gleichen Straße und damit in unmittelbarer Nähe.[75] Ruth, die bisher bei ihrer Schwester gelebt hatte, zog nach deren Ankunft nun zu ihren Eltern, vermutlich um sich besser um sie kümmern zu können. Beide Elternteile waren gezeichnet von Krankheit, Sorgen und Entbehrungen und hatten kaum mehr Kraft zum Leben. Trotz seiner schweren Diabetes überlebte aber David Löwenstein seine Frau um gut eineinhalb Jahre. Bertha Löwenstein starb bereits am 10. November 1940, er selbst am 26. April 1942, beide in Aalten.[76]

So blieb es ihnen wenigstens erspart, die Festnahme ihrer Tochter Ruth miterleben zu müssen. Auch wenn sie keine ordentliche Ausbildung hatte, so konnte sie zuletzt als ungelernte Schwester im Krankenhaus von Apeldoorn, wo sie auch wohnte, arbeiten und sich ein wenig Geld zum Leben verdienen. Unmittelbar nach ihrer Verhaftung wurde sie am 22. Januar 1943 von Holland nach Auschwitz deportiert und dort angekommen am 25. Januar im Gas ermordet.[77]

Clothilde war auch nach dem Krieg noch in Aalten ansässig. Wie es ihr gelungen war, die Besatzung durch die deutschen Truppen und die Verfolgung dort zu überstehen, ist nur zum Teil bekannt. Ihr Mann Bernhard Josephs war im November 1942 zunächst alleine untergetaucht, später konnten sich alle in dem etwa 12 km von Aalten entfernten Zieuwent versteckt halten.[78] Nach dem Krieg wanderte die Familie, in der insgesamt sechs Kinder geboren worden waren, nach Amerika aus. Zuletzt lebte sie in Morristown in New Jersey. Während ihr Mann Bernhard schon 1980 verstorben sein soll, liegen über Clothilde Josephs Ableben unterschiedliche Angaben vor. Sie soll aber 96 oder sogar 100 Jahre alt geworden sein.[79]

 

Auch Hermann Löwensteins jüngere Schwester Selma war mit ihrer Familie vor den Nazis nach Holland geflohen, allerdings vergebens.[80] Sie war gemäß der Familientradition mit dem Viehhändler Julius Hermann verheiratet, der am 7. Dezember 1891 in Heddesdorf, heute ein Stadtteil von Neuwied, geboren worden war. Dort hatte die Familie auch zuletzt gewohnt und dort war auch ihre Tochter Edith Liese geboren worden.[81] Wann sie die Flucht nach Holland antraten, ist nicht bekannt, aber bei ihrer Verhaftung am 30. September 1942 wohnten sie in Amsterdam in der Roerstraat 1151. Nur zwei Tage blieben sie im Sammellager Westerbork, dann wurden sie am 2. Oktober nach Auschwitz deportiert. Aber auch den letzten Gang in das Vernichtungslager konnten sie nicht gemeinsam gehen, denn vermutlich in Cosel, dem heute polnischen Kozle, wurde Julius Hermann mit etwa 300 arbeitsfähigen Männern von der SS aus dem Zug geholt und in ein Zwangsarbeitslager verschleppt. In Kozle selbst war unter dem Namen „Blechhammer“ im Laufe des Zweiten Weltkriegs ein ganzes Lagersystem für insgesamt etwa 50.000 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter/innen und Strafgefangene errichtet worden. Im April 1942 entstand das gesonderte Arbeitslager für Juden, das sogenannte „Bahnhofslager“, welches Teil des Lagerkomplexes Auschwitz war und einer ganzen Reihe Unternehmen, darunter auch der Wiesbadener Firma Dyckerhoff, billige Sklavenarbeiter zur Verfügung stellte.[82] Ob Julius zunächst hier eingesetzt wurde oder ob er gleich in das Arbeitslager Schoppinitz / Szopienice bei Kattowitz kam, wo er vermutlich am 31. Oktober 1943 ums Leben kam,[83] ist nicht bekannt. In diesem weitgehend unbekannten Lager waren die ausschließlich männlichen Häftlinge für die Firma Haage hauptsächlich im Gleisbau tätig. Da der Todestag von Julius Hermann mit der Schließung des Lagers Anfang November 1943 zusammenfällt,[84] liegt es nahe, dass er dort einer Mordaktion zum Opfer gefallen ist. Seine Frau Selma war im Zug geblieben und direkt in das Vernichtungslager Auschwitz geschickt worden. Ihr Todestag ist im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz mit dem 5. Oktober 1942 angegeben.

 

Judenhaus Wiesbaden, Hermannstr. 26, Juden, Wiesbaden
Stolpersteine für David, Bertha und Ruth Löwenstein in Idstein in der Wiesbadener Str. 22. Zwei 10te Klassen der Pestalozzi-Schule hatten mit ihrem Lehrer und mit Unterstützung des Stadtarchivs Idstein das Schicksal der Familie Löwenstein aufgearbeitet und sich für die Verlegung der Steine eingesetzt.
Foto Stadtarchiv Idstein

Ihrer Tochter Edith Liese gelang es jedoch, der Todesmaschinerie der Nazis zu entkommen – wie ist bisher nicht bekannt. Sie lebte nach dem Krieg in den USA, wo sie mit Howard De Castro verheiratet war und mit ihm zwei Kinder, Janet und Emroy, hatte. Sie verstarb im Staat New York im Jahr 1999, ihr Mann drei Jahre später.[85]

 

Rosa, die ältere Schwester von Hermann Löwenstein, hat nur die ersten beiden Jahre der NS-Diktatur erleben müssen. Auch sie hatte einen Ehemann aus einer Viehhändlerfamilie geheiratet, der, wie auch der Mann ihrer Schwester Selma, aus dem heutigen Neuwied stammte.[86] Damals war der Geburtsort von Oskar Salomon noch ein eigenständiger Ort namens Niederbieber. Oskar Salomon war dort am 29. November 1882 als eines von insgesamt vier Kindern von Siegmund und Amalie Salomon, geborene Ahrweiler, zur Welt gekommen. Geheiratet hatten die beiden aber in Esch. Trauzeugen bei der am 10. Oktober 1910 gefeierten Hochzeit waren ihre Brüder Sali und Hermann.[87] Zunächst muss das Paar in Niederbieber gewohnt haben, denn hier kamen die beiden Kinder, Max am 16. Februar 1916 und Amalie, genannt Malli, am 15. Oktober 1920, zur Welt. Nachdem Rosa am 7. November 1935 in Niederbieber verstorben war, scheint der Vater mit den beiden Kindern nach Süddeutschland umgezogen zu sein. Zumindest wurden in Stuttgart die Reisedokumente ausgestellt, mit denen zunächst im Jahr 1938 Max, der übrigens ebenfalls den Metzgerberuf erlernt hatte, über Hamburg in die USA auswanderte. Sein Vater folgte ihm im August 1941 von Barcelona aus. Zuvor, im Jahr 1939, war bereits die Tochter Amalie nach England ausgewandert.

 

Sali Löwenstein, Hedwig Löwenstein
Die Familie in Koblenz im Mai 1939
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn30474#?rsc=139054&cv=61&c=0&m=0&s=0&xywh=-853%2C-99%2C3001%2C1966

Dramatisch, aber letztlich mit gutem Ausgang endete die Rettung der Familie von Hermanns jüngerem Bruder Sali.[88] Er wohnte in den dreißiger Jahren in Koblenz und damit in der Nähe seiner beiden Schwestern. Dort hatte ihn sein Neffe Norbert auf seiner Flucht nach Holland 1936 noch besucht. Sali Löwenstein und seiner Frau Hede / Hedwig, geborene Anschel, waren zwei Söhne geboren worden, Ernst Norbert am 28. Mai 1926 und Günther Michael am 4. Februar 1931. Im März 1939 konnten die Eltern die beiden mit einem Kindertransport nach Belgien schicken, wo sie in Antwerpen unterkamen. [89]

Sie selbst, die – wie den Eintragungen auf ihrer Gestapo-Karteikarte zu entnehmen ist – bereits 1935 mit örtlichen Parteibonzen in Konflikt geraten waren, flüchteten Ende August 1939 mit einem zeitlich begrenzten Visum nach England, um von dort die gemeinsame Ausreise in die USA zu organisieren. Tatsächlich erhielt das Elternpaar im März 1940 die Einreiseerlaubnis für die USA, sodass sie am 11. Juni 1940 auf der ‚Brittanic’ die Überfahrt antreten konnten.

Sali Löwenstein,
Gestapokarteikarte von Sali Löwenstein aus Koblenz
Sali Löwenstein, Enst Löwenstein, Günther Michael Löwenstein, Hedwig Anschel Löwenstein
Arolsen-Archives

 

 

 

 

 

Sali Löwenstein, Hedwig Löwenstein, Ernst Norbert Löwenstein, Gunther Michael Löwenstein
Passagierliste der ‚Britannic#, mit der Sali und Hedwig Löwenstein in die USA fuhren
.

Alleine zurückgeblieben waren aber in Belgien die beiden Kinder, neun und vierzehn Jahre alt, wobei nicht klar ist, ob und wie häufig es einen direkten Kontakt zu ihnen gab. In ihrem Nachlass befanden sich allerdings Bilder, die die Pflegeltern den eigentlichen Eltern wohl in der Zeit der Trennung geschickt hatten und die Kinder mit diesen und deren eigene Kindern zeigen. Nachdem die Eltern am 21. Juni 1940 den Hafen von New York erreicht hatten, setzen sie nun alles in Bewegung, um ihre Kinder nachzuholen.

Sali, Sol Löwenstein, Hedwig, Hermann Löwenstein, Judenhäuser Wiesbaden, hermannstr. 26
Reisepass von Günther Löwenstein
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn30474#?rsc=139054&cv=61&c=0&m=0&s=0&xywh=-853%2C-99%2C3001%2C1966
Sol Löwenstein, Sali Löwenstein
Reisepass von Ernst Löwenstein
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn30474#?rsc=139054&cv=61&c=0&m=0&s=0&xywh=-853%2C-99%2C3001%2C1966

 

 

 

 

 

Verschiedene Hilfsorganisationen, Konsulate, sogar der SD in Antwerpen waren in den langwierigen Prozess involviert, der sich immer wieder verzögerte: Gelder mussten bezahlt werden, die Affidavite entsprachen zunächst nicht den Anforderungen, und zuletzt waren die Schiffskarten ungültig geworden, weil die Schifffahrtsgesellschaft einen neuen Eigentümer bekam. Am 20. September 1941 erhielten die beiden Kinder vom SD in Antwerpen dann einen Durchlassschein für die Fahrt von Belgien nach Berlin, um sich dort die Papiere für die Ausreise in die USA zu holen.

Gunther Löwenstein, Ernst Löwenstein
Zeitungsmeldung über die Ankunft der beiden Kinder in den USA vom 5.2.1942
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn30474#?rsc=139054&cv=61&c=0&m=0&s=0&xywh=-853%2C-99%2C3001%2C1966

Mit welchen Ängsten die beiden diese Reise durch das Feindesland gemacht haben werden, ist kaum vorstellbar. In Berlin erhielten sie den Reisepass, der ihnen dann die „einmalige Ausreise aus dem Reichsgebiet“ erlaubte und für ein halbes Jahr gültig war. Am 18. Oktober 1942 überfuhren sie bei Neuburg an der Mosel die Reichsgrenze mit dem Zug Richtung Spanien. Der Pass enthält den Stempel der Zollbehörde in Barcelona mit dem Datum 22. Oktober 1942. Die portugiesische Grenze erreichten sie am 14. November des gleichen Jahres. In Lissabon kümmerte sich das „Transmigrations-Büro“ für jüdische Flüchtlinge um sie. Am 21. Dezember wurden sie dort vor dem Betreten des Schiffes „Serpa Pinto“ noch ärztlich untersucht. Bald darauf begann auch für sie die Überfahrt in die Freiheit. Anfang Februar 1942 konnten die Eltern ihre beiden Söhne endlich wieder in die Arme schließen – ein Wiedersehen, das damals sogar in der amerikanischen Presse Aufsehen erregte.

Hede Löwenstein, Loewenstein, Hermann Löwenstein, Judenhaus Wiesbaden, Hermannstr. 26
Hedwig Löwenstein – Ausweis des Jüdischen Kulturbunds
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn30474#?rsc=139054&cv=61&c=0&m=0&s=0&xywh=-853%2C-99%2C3001%2C1966

Sali Löwenstein, der sich in den USA Sol nannte, starb 1952, seine Frau im Dezember 1981. Beide sind auf dem Friedhof in Conklin im Staat New York beerdigt.[90] Ernest setzte die Familientradition fort und wurde Farmer und Viehhändler in Norwich im Staat New York. Mit seiner Frau Davina hatte er drei Söhne und eine Tochter und viele Enkel. Am 12. Juli 2012 ist er in Lake Worth in Florida, wohin er nach Beendigung seines Arbeitslebens gezogen war, verstorben.[91] Seinen jüngeren Bruder Günther, der sich in den USA Guy nannte, überlebte er um etliche Jahre. Dieser hatte mit seiner Frau Ursula bis 1987 ebenfalls im Staat New York gelebt und war wie sein Bruder Milchfarmer geworden. Nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, war er nach San Diego in Kalifornien gezogen, wo er am 26. Januar 2005 im Kreise seiner großen Familie verstarb.[92]

 

Hermann Löwenstein, Sali Löwenstein, Judenhaus Wiesbaden, Hermannstr. 26
Grabstein für Sol und Hedwig Löwenstein
https://de.findagrave.com/memorial/90859694

 

Stand: 19. 12. 2019

Letzte Änderung 03. 01. 2021

 

 

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Anmerkungen:

[1] Rink, Judenhaus S. 13. Das Aktives Museum Spiegelgasse hat 2013 ein Erinnerungsblatt für Hermann Löwenstein und seine Familie herausgegeben, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Loewenstein-Hermann.pdf. (Zugriff: 19.11.2019).

[2] HHStAW 518 22730 (46).

[3] http://sternmail.co.uk/sld/descend.php?personID=I409&tree=SLtree&display=compact&generations=10. (Zugriff: 19.11.2019). Hier sind mehrer hundert Personen verzeichnet, die Löwensteins machen darin nur einen Bruchteil aus. Fälschlicherweise ist hier der Nachname von Hermann Löwensteins Frau Selma statt mit Vogel mit Anschel angegeben. Anschel war der Nachname von Sali Löwensteins Frau Hedwig / Hede.

[4] https://www.ancestry.com/genealogy/records/jakob-loewenstein-24-1jn7j2. (Zugriff: 19.11.2019). Hayum Löwenstein war am 5.2.1808, seine Frau 15.12.1815 geboren worden. Geheiratet hatten die beiden am 19.11.1834. Gelebt haben sie in dem heute zum Landkreis Limburg-Weilburg gehörenden Langendernbach, ebenfalls ein Ort im Westerwald und etwa 15 km von Meudt entfernt.

[5] https://esch-taunus.de/?p=212. (Zugriff: 19.11.2019).

[6] http://www.stolpersteine-koenigstein.de/index.php/fam-loewenstein. (Zugriff: 19.11.2019).

[7] Nach Prinz, Arthur, Juden im Wirtschaftsleben – 1850 – 1914, Tübingen 1985, S. 175 gab es 1917 etwa 25000 jüdische Viehhändler, was bedeuten würde, dass damals etwa 60 Prozent aller Viehhändler Juden waren. Nach seinen Angaben wären damals etwa ein Drittel aller im Handel tätigen Juden in dieser besonderen Sparte tätig gewesen. Kritisch verweist Prinz aber auf die sehr schmale Datenbasis seiner Aussage. Erst in jüngster Zeit ist, allerdings regionalspezifisch auf den mittelfränkischen Raum bezogen, eine umfassende Studie zur Rolle der jüdischen Viehhändler erschienen, in der der Frage nachgegangen wird, auf welcher Basis das lange Zeit funktionierende Vertrauensverhältnis zwischen Bauern und jüdischen Händlern aufgebaut war und wie es zur Zerstörung dieser Beziehung spätestens seit dem Anfang der 30er Jahre kam. Siehe Fischer, Stefanie, Ökonomisches Vertrauen und antisemitische Gewalt. Jüdische Viehhändler in Mittelfranken. 1919-1939, Göttingen 2012. In Mittelfranken waren nach ihren Recherchen nur etwa ein Drittel der Viehhändler jüdischer Herkunft, was natürlich angesichts des jüdischen Bevölkerungsanteils von etwa 1,4 Prozent noch immer eine ungeheuer große Zahl ist. Ebd. S. 32 f.

[8] https://esch-taunus.de/?tag=loewenstein. (Zugriff: 19.11.2019). Das Haus gegenüber bewohnte sein Bruder Ferdinand. Dessen Handelsgeschäft übernahm später sein 1882 geborener Sohn Albert, der 1936 zunächst nach Königstein übersiedelte, dann 1939 mit seiner Familie und seinem Vater in die USA emigrierte.

[9] Jüdisches Leben in Deutschland, Informationen zur politischen Bildung 307, 2010, S. 38.

[10] Von den bekannten acht Kindern verstarben nach Auskunft des Stadtarchivs Idstein drei, nämlich Frieda, geboren am 18.8.1876, Mathilde, geboren am 4.8.1877, und Albert, geboren am 6.6.1884, bereits im Kleinkindalter.

[11] Geburtsregister Esch 69 / 1878.

[12] Geburtsregister Esch 12 /1881.

[13] Heiratsregister Esch 5 / 1910.

[14] Geburtsregister Esch 8 / 1889.

[15] Geburtsregister Esch 18 / 1895.

[16] HHStAW 469/33 2530 (5, 6). Nathan Löwenstein muss allerdings schon vor 1909 verstorben sein, denn auch im Hochzeitseintrag von David Löwenstein vom Mai 1909 ist er als bereits verstorben registriert – „wohnhaft gewesen in Esch“, heißt es da. Wo er verstarb, ist nach Auskunft des Stadtarchivs Idstein allerdings nicht bekannt.

[17] Sterberegister Wiesbaden 1301 / 1925.

[18] HHStAW 469/33 2530 (7).

[19] HHStAW 518 22730 (46). Sein Bruder David hatte sich in Idstein schon zehn Jahre zuvor niedergelassen, siehe HHStAW 518 22699 (62).

[20] Ebd. (29).

[21] HHStAW 469/33 2530 (11).

[22] Siehe dazu Hartter, Ute, Roth, Alfred, Strauß-Wilts, Elsche, Die Reichspogromnacht 1938 in Idstein. Ursachen und Folgen. Eine Dokumentation, Idstein 1988, S.70 f. Die von den Autoren genannten  jüdischen Familien in Idstein waren neben Löwensteins die Familien Grünebaum, Goldschmidt, Blum, Kahn Lahnstein, Heymann, Strauß, Arnheim und Hes.

[23] HHStAW 518 22730 (119 f.).

[24] Ebd. (56). Die Einkünfte aus Grundbesitz, insgesamt weniger als 1.000 RM, machten die Verluste nicht wett. Woher diese Einnahmen kamen, ist nicht näher erläutert. Ein Teil des Hauses in Idstein war aber vermietet, sogar bis 1938 an einen Polizisten, der nach dem Krieg Leiter des Polizeiamts Bad Ems wurde. Die Beziehung scheint aber eher unproblematisch gewesen zu sein, zumindest hat dieser Mieter später im Entschädigungsverfahren die Aussagen der Tochter über die Ausstattung der Wohnung eidesstattlich bestätigt, siehe ebd. (83). Hermann Löwenstein besaß zudem einen Anteil am Elternhaus in Esch, woraus sich sicher ebenfalls Ansprüche ergaben.

[25] Zit. nach: Die Reichspogromnacht 1938 in Idstein, S. 73 f.

[26] HHStAW 518 22730 (56). Nur für das Jahr 1935 wurden Einkünfte von fast 1.400 RM gemeldet. Möglicherweise beruht dieser Betrag auf außerordentlichen Einnahmen, die auf dem Verkauf eines Stück Lands oder ähnlichem beruhen. Es bedurfte schon einer erheblichen Verdrängungsleistung – oder war es vielleicht auch bewusste Täuschung ? -, wenn der Bürgermeister von Idstein noch im Jahr 1960 an die Entschädigungsbehörde schreibt, dass das „von L. betrieben Viehhandelsgeschäft unter dem Judenboykott zu leiden hatte und der Besuch der Viehmärkte untersagt war, ist hier nicht bekannt.“ Ebd. 46.

[27] HHStAW 412 2237 (o.P.).

[28] HHStAW 518 22735 (8, 9). Möglicherweise war die finanzielle Lage auch ein Grund dafür, dass Löwensteins 1938 die Pflege des geistig behinderten Albert Wolf übernahmen, nachdem dieser aus der Pflegeanstalt Kalmenhof bei Idstein wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen – eigentlich heraus geworfen – worden war, siehe dazu das Kapitel über Albert Wolf unten.

[29] HHStAW 518 58851 (10). Neben den sehr guten sogenannten Kopfnoten, wurde ihr allein im Fach Handarbeit die Note „genügend“ gegeben, alle übrigen Leistungen, ob in Haushaltungskunde, Tierhaltung, Krankenpflege oder Betriebslehre waren mit ’sehr gut‘ oder ‚gut‘ bewertet.

[30] Leopold Vogel, geboren am 7.4.1886, verstarb am 18.7.1954 in Australien. Seine Frau Lilli, geboren am 19.12.1899, war die Tochter von Leopold und Elise Rheinheimer, geborene Hochstädter. Beide waren auch nach Australien gelangt, allerdings offenbar nicht zusammen mit der Tochter, wie der Passagierliste der Canadien Pacific zu entnehmen ist. Lilli Vogel verstarb kurz vor ihrem 100sten Geburtstag am 29.7.1999. Auch der Sohn Heinz, der sich in Australien Henry nannte, ist wie auch sein Sohn David Leonard inzwischen verstorben. Die Tochter von Henry Vogel, Linda Sonnenschein, lebt noch heute in Sydney. Die Informationen zur Familie Vogel verdanke ich der Familie Graf, die sich intensiv mit den Juden im Altrheingebiet befasst hat, siehe Juden vom Altrhein, passim.

[31] Ebd. (6-8), auch HHStAW 518 22735 (9), wo Lilli Vogel in einer eidesstattliche Erklärung aussagte, es habe etwa 2 Jahre gedauert, bis sie in Australien soweit integriert waren, dass sie an den Nachzug der Verwandten denken konnten. Nach dem Krieg zog Edith Löwenstein nach Südafrika, wo sie am 27.6.1948 Hans Saretzki heiratete, HHStAW 518 22730 (5).

[32] Reichspogromnacht 1938 in Idstein, S. 75.

[33] HHStAW 518 22735 (18, 21).

[34] HHStAW 518 22735 (9, 22). Lilli Vogel, vermutlich auch ihre Nichte Edith nahm an, dass der Umzug sich erst nach der Reichspogromnacht zugetragen hatte.

[35] Es könnte aber auch sein, dass das erst während des Novemberpogroms geschah und nur die Möbel zerschlagen wurden, die sie nicht mit in die kleinere Wohnung in Wiesbaden hatten nehmen können. Möglicherweise waren auch alle Möbel in Idstein geblieben, und Löwensteins benutzten die Möbel der Mutter bzw. Schwiegermutter Johanna Vogel, die in dieser Zeit ihr Wohnung aufgegeben hatte und in ein Altersheim gezogen war, siehe HHStAW 518 22730 (85). Unter den in Idstein zerstörten Möbeln befand sich auch ein fast neues Schlafzimmer, das man der Tochter Edith noch vor ihrer Ausreise nach Holland als Aussteuer gekauft hatte. Allein das soll einen Wert von ca. 3.000 RM gehabt haben, siehe HHStAW 518 58851 (7). Die späteren Zeitzeugen konnten als Zeitpunkt der Aktion nur die vage Auskunft geben, dass sie im Jahr 1938 stattgefunden hatte, an der Tat selbst gab es jedoch keinen Zweifel, siehe HHStAW 518 22730 (101). Auch wenn der Sachverhalt nicht mehr vollständig zu klären war, wurde der Eigentumsverlust später  prinzipiell entschädigt, allerdings wurde der Wert sehr gering angesetzt, ebd. (107).

[36] Ebd. (30). Der Preis soll 8.000 RM betragen haben. Die Tochter Edith vermutete, dass die Eltern auf Grund dieses Vermögens zur Judenvermögensabgabe herangezogen worden waren. Belege dafür gibt es wegen der fehlenden Steuerakten aber nicht.

[37] Rink, Judenhaus, S. 38. Zu Letzteren gehörten nach seinen Erinnerungen neben seiner Mutter auch Frau Reusch, Frau Scharf und Frau Herz, die „wenn sie sich unbeobachtet sahen, ihre Anteilnahme deutlich zum Ausdruck brachten.“  Rink spricht in diesem Zusammenhang vom „Deutschen Blick“, ein permanentes und ängstliches Scannen des Umfelds, um zu überprüfen, ob jemand kritische Äußerungen würde hören und weitertragen können. Ebd. S. 38 f.

[38] Ebd. S. 45.

[39] Ebd. S. 40.

[40] Ebd. S. 71.

[41] Ebd. S. 115 f.

[42] Ebd. S. 51, 77.

[43] HHStAW 412 2237.

[44] HHStAW 469/33 2530 (20).

[45] Rink, Judenhaus, S. 112 f.

[46] HHStAW 676 3598 Einkommensteuerakte (10) und HHStAW 518 22699 (62). Bertha Weinberg war am 29.5.1884 in Hünfeld als Tochter von Samuel Weinberg und seiner Frau Karoline, geborene Wetterhahn, geboren worden. Auch ihr Vater führte dort eine Metzgerei, siehe ebd. (4).

[47] Die Straße hatte zu dieser Zeit noch die Bezeichnung Veithenmühlenweg. Das Haus bestand aus 8 Zimmer, Küche, Speicher, Waschküche und 3 Kellerräumen, siehe ebd. (2).

[48] Die Geburtstage sind angegeben in der Einkommensteuererklärung von 1930, siehe  HHStAW 676 3598 (47)

[49] Er gab gegenüber der Devisenstelle an, vier Jahre an der Front gekämpft zu haben und mit einer Tapferkeitsmedaille sowie dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet worden zu sein. HHStAW 519/3 17868 (1).

[50] HHStAW 518 22699 (59).

[51] Im Jahr 1928 war David Löwenstein von einem Idsteiner Metzger wegen Steuerhinterziehung angezeigt worden. Die anschließende Überprüfung seiner Unterlagen ergab tatsächlich, dass in den Jahren 1927 und 1928 jeweils Umsätze von etwa 7.500 RM nicht deklariert worden waren. Die Gesamtumsätze beliefen sich 1927 auf rund 46.000 RM, 1928 auf ca. 52.000 RM. Seine Einkommen „dürften“ – so die Steuerbeamten – „jährlich 3.000 RM nicht übersteigen“, was ein monatliches Durchschnittseinkommen von weniger als 300 RM bedeuten würde. Siehe HHStAW 676 (44) Umsatzsteuer. Zwar handelte es sich bei der Anzeige des Metzgers nicht um eine Denunziation im eigentlichen Sinne, denn David Löwenstein gab den Fehler in der Abrechnung zu und war auch bereit die Steuern nachzuzahlen. Allerdings muss man bedenken, dass es damals vermutlich noch weniger als heute, eine allgemeine Steuerehrlichkeit gab und viele versucht haben werden, angesichts der schwierigen Zeiten, einige Geschäfte am Finanzamt vorbei zu tätigen. Inwieweit dann gerade jüdische Händler beim Finanzamt angeschwärzt wurden, wäre im Hinblick auf die Frage antisemitischer Aktivitäten in der Weimarer Republik ein sicher interessantes und lohnenswertes Forschungsfeld.

[52] HHStAW 676 3598 (9). Bernhard Joseph, geboren am 3.6.1904 war der Sohn von David Leeser Josephs und seiner Frau Schoontje Cohen, das Paar hatte 5 oder sogar 7 Kinder, siehe https://www.wikitree.com/wiki/Josephs-11. und https://www.geni.com/people/Clothilde-Josephs/6000000006756369473?through=6000000006755930982. (Zugriff: 19.11.2019).

[53] HHStAW 676 3598 (44) Reichseinkommensteuerakte. Siehe auch ebd. (15) Umsatzsteuer, Briefe vom 10.9.1930, vom 1.2.1931, vom 23.2.1931, ebd. Einkommensteuer ebd. (40, 49, 44) Brief vom 24.3.1934 oder Briefe aus den Gewerbesteuerakten vom 12.2.1937 und vom 1.3.1937, ebd. (6, 8).

[54] Ebd. Umsatzsteuer (o.P.) Brief des Magistrats an das Finanzamt vom 28.10.193 und ebd. (118).

[55] Siehe auch zu den vorherigen Ausführungen über sein Schicksal den von ihm verfassten Lebenslauf HHStAW 518 22782 (17 f.), dazu ebd. (42).

[56] Ebd. (19, 20).

[57] HHStAW 518 22699 (51).

[58] HHStAW 518 22782 (11). Dass man Norbert Löwenstein nur die Zugfahrt nach Holland, d.h. 20 DM erstattete, nicht aber die Überfahrt nach Südafrika, gehört zu den typischen skandalösen Entscheidungen der Entschädigungsverfahren in der Nachkriegszeit. Südafrika sei nicht von Anfang an als Auswanderungsziel vorgesehen gewesen, ein erst in einem anderen Land gefasster Entschluss weiter zu wandern, könne nicht entschädigt werden – dass wenige Jahre darauf alle Juden in Holland der Verfolgung ausgesetzt waren, wurde bei dieser „Rechtsprechung“ nicht in Betracht gezogen, siehe ebd. (11ff.).

Laut GENI ist er 2004 in Kapstadt verstorben. Mit seiner Frau, der aus Wiesbaden stammenden Ursula Suse Levita, geboren am 19.7.1928, hatte er die beiden Kinder Derek und Joffe. Derek und seine Frau haben selbst ebenfalls zwei Kinder, aus deren jeweiligen Ehen wiederum insgesamt drei Kinder hervorgegangen sind. Siehe https://www.geni.com/family-tree/canvas/6000000051431360899. (Zugriff: 16.11.2019).

[59] Idsteiner Zeitung vom 8.11.1938, zitiert nach Reichspogromnacht 1938 in Idstein, S. 89.

[60] Siehe zu den Ereignissen ausführlich Reichspogromnacht 1938 in Idstein, S. 88-110. Wesentliche Grundlage der Darstellung ist das Gerichtsverfahren gegen Gethöffer, das im Oktober 1948 vor dem Landgericht Wiesbaden stattfand. Gethöffer wurde wegen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gemeinschädlicher Sachbeschädigung zu einem Jahr und drei Monaten Zuchthaus verurteilt, siehe Moritz; Noam, NS-Verbrechen vor Gericht, S. 178-185.

[61] HHStAW 418 1564.

[62] Reichspogromnacht 1938 in Idstein, S. 105, dazu HHStAW 418 1564 (o.P.).

[63] HHStAW 518 22699 (25).

[64] HHStAW 519/3 17868 (1).

[65] HHStAW 518 22699 (10) Demnach waren 4.000 DM von den Käufern nachgezahlt worden, der Einheitswert des Hauses hatte beim Verkauf 8.900 RM betragen, siehe HHStAW 518 22690 (60). Ein weiterer Garten war damals ebenfalls verkauft worden und auch hier kam es zu einer Nachzahlung von 600 DM.

[66] HHStAW 518 25289 (3).

[67] HHStAW 518 22699 (75).

[68] Ebd. (75 f).

[69] Im Sterberegister der Stadt Frankfurt 2041 / 1938 ist allerdings als Todesursache „Kreislaufschwäche, Hirnaderverkalkung“ eingetragen. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz ist bei ihr als Todesursache Selbstmord angegeben. Laut Zeitzeugenberichten sollen Frauen des Ortes während des Pogroms die Spritze der Feuerwehr auf das Fenster des Nathan’schen Hauses gerichtet haben, sobald sich die geistig verwirrte und völlig verängstigte Witwe dahinter gezeigt habe. Brief vom 18.2.2013 von Gerhard Buck, Idstein, an Georg Schneider vom Aktives Museum Spiegelgasse. Andere Zeitzeugen wiederum behaupteten, Rebecca Löwenstein sei Anfang der 1940er Jahre noch in Esch gesehen worden, „so u.a. der Zeitzeuge Helmut Wald in einem Zeitungsbericht vom Mai 2016. Demnach habe Rebecca bis 1942 in Nathans Haus gewohnt und sei erst dann, über 90igjährig, nach Idstein überstellt worden. Von dort habe sie wohl hin und wieder versucht, bis nach Esch zu laufen und wäre bei einem dieser Versuche dann letztendlich verstorben.“ Siehe https://esch-taunus.de/?tag=loewenstein. (Zugriff: 17.11.2019). Angesichts des Todeseintrags in Frankfurt scheint dieses Gerücht aber auf keinen Tatsachen zu beruhen.

[70] HHStAW 518 2589 (14).

[71] Ihn den biographischen Angaben ihrer Schwester, gemacht im Rahmen des Entschädigungsverfahrens, bleibt dieser Schulbesuch unerwähnt, die Angaben des Magistrats Idstein, Ruth Löwenstein habe sich am 18.4.1937 nach Frankfurt, Quinkestr. 20 abgemeldet spricht aber für diese Vermutung, denn die genannte Wohnadresse stimmt mit der der Schule überein. Siehe ebd. (11, 13). Den Hinweis auf diese Übereinstimmung verdanke ich Frau Niemann vom Stadtarchiv Idstein.

[72] Ebd. (13). In der Mitteilung des Magistrats der Stadt Wiesbaden vom 6.6.1966 heißt es, dass Ruth Löwenstein „seit Geburt bis 17.4.1937 hier, Löhergasse 6, wohnhaft (war). Am 18.4.1937 ist sie nach Frankfurt / Main, Quinkestr. 20, verzogen. Am 7.4.1938 ist die Genannte erneut hier zugezogen und hat sich am 30.12.1938 wiederum nach Frankfurt /Main, Barttonnstraße 10, abgemeldet.“

[73] HHStAW 519/3 (8-14).

[74] Ebd. (8).

[75] Nach Information von Frau Niemann vom Stadtarchiv Idstein bewohnte Clothildes Familie die Haartschstraat 86, ihre Eltern das Haus mit der Nummer 64.

[76] HHStAW 518 2269 (7, 8). In Aalten sind die Grabsteine der beiden auf dem dortigen jüdischen Friedhof nach Auskunft von Frau Niemann, Stadtarchiv Idstein bis heute erhalten geblieben.

[77] Ebd. (15, 19), dazu https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4268824&ind=11. (Zugriff: 19.11.2019).

[78] Auch diese Information verdanke ich den Recherchen von Frau Niemann vom Stadtarchiv Idstein.

[79] GENI gibt als Todestag den 18.9.2011 an, https://www.geni.com/people/Clothilde-Josephs/6000000006756369473, (Zugriff: 17.11.2019)., MyHeritage den 25.12.2007, siehe https://www.myheritage.de/names/clothilde_josephs (Zugriff: 17.11.2019).

[80] Die folgenden Ausführungen beruhen zu einem großen Teil auf den Recherchen der Stolpersteingruppe Neuwied, siehe http://stolpersteine-neuwied.de/index.php/component/content/article/8-personenbeitraege/79-hermann-selma?Itemid=108. (Zugriff: 9.11.2019).

[81] GENI gibt als ihr Geburtsdatum den 9. April 1922 an, siehe https://www.geni.com/people/Edith-Liese-Decastro/6000000037777390643. (Zugriff: 19.11.2019).

[82] Siehe https://www.jewishgen.org/forgottencamps/Camps/BlechhammerEng.html. (Zugriff: 19.11.2019).

[83] Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz.

[84] http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-r/rozdzien-szopienice-schoppinitz.html, (Zugriff: 19.11.2019).

[85] Angaben nach GENI, siehe https://www.geni.com/people/Edith-Liese-Decastro/6000000037777390643. (Zugriff: 19.11.2019). (Zugriff: 19.11.2019).

[86] Die Ausführungen zur Familie von Rosa Löwenstein beruhen zu einem beträchtlichen Teil ebenfalls auf den Recherchen der Stolpersteingruppe Neuwied, siehe http://www.stolpersteine-neuwied.de/index.php?id=229. (Zugriff: 19.11.2019).

[87] Heiratsregister Esch 5 / 1910.

[88] Die Dokumente des dramatischen Schicksals dieser Familie wurden dem US-Holocaust Museum übergeben und können unter der folgenden Adresse online eingesehen werden: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn30474#?rsc=139054&cv=0&c=0&m=0&s=0&xywh=-1237%2C-152%2C4611%2C3021. (Zugriff: 19.11.2019). Auf diesen Dokumenten beruhen auch die hier gemachten Ausführungen.

[89] Die Geburtsangaben beruhen auf dem Eintrag in den Reisepässen.

[90] https://www.wikitree.com/wiki/L%C3%B6wenstein-211, und https://www.wikitree.com/wiki/Anschel-2. (Zugriff: 9.11.2019).

[91] https://www.wikitree.com/wiki/L%C3%B6wenstein-191. (Zugriff: 19.11.2019).

[92] https://www.wikitree.com/wiki/L%C3%B6wenstein-195. (Zugriff: 19.11.2019).