Willy Taendler und seine Frau Jenny, geborene Mager


Wiesbaden, Guthmann Jakob, Berthold, Claire Paul Charlotte Opfermann
Das Judenhaus in der Bahnhofstr. 25 heute
Eigene Aufnahme
Judenhaus Wiesbaden Guthmann Jakob Berthold Claire Paul Charlotte Opfermann Michel
Lage des Judenhauses Bahnhofstr. 25
Judenhaus Wiesbaden Juden
Belegung des Judenhauses Bahnhofstr. 25

 

 

 

 

 

 


 

Für Willy Taendler und seine Frau Jenny war die Bahnhofstr. 25 die letzte Station einer langen Fluchtgeschichte, die ihren Ausgang in der südpreußischen Provinz Posen genommen hatte. Dort war Willy Taendler am 21. Januar 1872 in dem Städtchen Rogasen, dem heute polnischen Rogozno, geboren worden. Seit dem 14. Jahrhundert hatten Juden sich hier angesiedelt und zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten dort, einem Zentrum der Tuchmacherei, unter den knapp 4.000 Einwohnern, mehr als 1.000 Bewohner jüdischen Glaubens. Mitte des Jahrhunderts hatte deren Zahl sogar noch weiter zugenommen, sodass fast die Hälfte der Bewohner Juden waren. Zwar hatten zwei große Brände Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts besonders in dem jüdischen Viertel gewütet und auch die Synagoge und ein jüdisches Hospital zerstört, aber auch dadurch war der weitere Zuzug nicht aufgehalten worden. Ein Judenprivileg aus dem Jahr 1778 hatte der jüdischen Bevölkerung den Zugang zu vielen Handwerksberufen gewährt und damit eine andere als die sonst übliche berufliche Perspektive im Handel eröffnet. Die Mitte des 19. Jahrhunderts kann als die Blütezeit der Stadt, aber auch die der jüdischen Glaubensgemeinschaft angesehen werden. Unter den zwölf Stadtverordneten befanden sich sieben Juden und zumindest einer der Magistratsmitglieder stammte aus ihren Reihen. Aber auch in Rogasen gab es arme und arbeitslose Glaubensbrüder – von Jacobsen als „Luftexistenzen“ bezeichnet -,[1] die keinen Anteil an Wohlstand der Stadt hatten. [2] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging die Zahl der dort lebenden Juden immer mehr zurück. Dabei spielte der Niedergang der Textilindustrie wohl eine größere Rolle, als die auch hier immer wieder aufkeimenden religiös aufgeladenen sozialen Spannungen zwischen Juden und Christen.[3]

Taendler Willy, Judenhaus Wiesbaden Bahnhofstr. 25
Stammbaum der Familie Taendler
GDB

Wann Taendlers nach Rogasen gekommen waren, ist nicht bekannt, aber schon der Vater von Willy Taendler, der Kaufmann AbrahamTaendler, genannt Adolf, war dort am 28. Dezember 1837 geboren worden.[4] Seine Frau Dora, genannt Klara, kam aus dem etwa 30 km entfernten Margonin. Sie entstammte der dort ansässigen Familie Schocken, die mit Salman Schocken, einem Unternehmer und Verleger, geboren am 29. Oktober 1877, eine der herausragenden Persönlichkeiten des deutsch-polnischen Judentums hervorgebracht hat.[5]

Judenhaus Wiesbaden, Bahnhofstr. 25, Willy Taendler
Liste der Gemeindemitglieder von Rogasen ab dem Jahr 1869
http://www.archive.org/stream/rogasencommunityf001#page/n5/mode/1up

In einer erhaltenen Liste der Gemeindemitglieder von Rogasen ab dem Jahr 1869 ist der Name Taendler ebenfalls enthalten.[6] Man kann vermuten, dass es sich hierbei um das Ehepaar Adolf und Klara Taendler handelt, welches zu dieser Zeit noch kinderlos war. Soweit bekannt wurde als erster am 21. Januar 1872 der Sohn Willy geboren. Ihm folgte am 5. Juli 1873 ein weiterer Sohn namens Richard.[7] Am 5. April 1875 wurde in Rogasen ein Julchen Tändler geboren, dessen Vater ebenfalls ein Abraham Taendler gewesen ist, der von Beruf Schuhmacher war.[8] Vermutlich handelt es sich bei ihr um eine Schwester von Willy und Richard, über deren weiteres Schicksal aber nichts bekannt ist.

Willy Taendler wird sein Medizinstudium samt Promotion abgeschlossen haben als er im Jahr 1899 in Speyer Jenny Mager heiratete.[9] Auch die Familie Mager war nach Speyer gezogen, wo die Eltern von Jenny, David und Emma Mager, eine Hemdenfabrik und ihr Onkel Jakob Mager eine Möbelfabrik betrieben.[10] Die Tochter war am 1. Januar 1878 in New York während einer Reise der Eltern geboren worden.

Am 1. April 1900 verstarb der Vater von Willy nach langer Krankheit in Speyer. Die Eltern waren Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls aus ihrer Heimat in die Pfalz übergesiedelt. Ob sie – wie im Artikel des Speyer-Kuriers vermutet – möglichen antisemitischen Ausschreitungen in Posen entkommen wollten oder ob die Erkrankung Adolf Taendlers sie dazu bewogen hatte, in die Nähe des Sohnes zu ziehen, sei dahingestellt. Womöglich spielte beides eine Rolle. Er erlebte somit auch nicht mehr die Geburt seines einzigen Enkelkindes. Adolf, benannt nach dem gerade verstorbenen Großvater, wurde am 15. August des gleichen Jahres in Speyer geboren.

Dr. med. Willy Taendler war ein sehr erfolgreicher und auch beliebter Arzt, der seine Praxis in seinem Wohnhaus in der Rützhaubstr. 7 betrieb, darüber hinaus aber auch viele Kranke im katholischen St. Vincentius Krankenhaus betreute. Nach Angaben von Zeitzeugen soll er sehr volksnah und lebensfroh gewesen sein. Die gut gehende Praxis ermöglichte es ihm im Jahr 1909 ein eigenes Haus im damals beliebten Jugendstil an der Ludwigstraße Zeppelinstraße zu bauen, wo fortan auch die Praxis untergebracht war. In der Vermögenserklärung von 1914 war das Haus mit einem Wert von 34.000 RM angesetzt worden, es war allerdings auch mit Hypotheken erheblich belastet. Das Einkommen des Paares lag jährlich auch in den folgenden Zwanziger Jahren immer zwischen 10.000 RM und 15.000 RM, war also nicht außergewöhnlich hoch, dennoch ausreichend für einen gehobenen Lebensstandard.[11]

Während des Ersten Weltkriegs war Willy Taendler als Lazarettarzt in Speyer tätig. Als nach dem Ende des Krieges die antisemitische Hetze im Gefolge der „Dolchstoßlegende“ immer stärker wurde, emigrierte Willys Bruder im Oktober 1924 nach Chile, wo es in der Stadt Valparaiso eine große jüdische Gemeinde gab. Obwohl die Hyperinflation gerade überwundenen war, spielte aber auch die noch immer unsichere Lage im Bankensektor – Richard Taendler war Angestellter der Dresdner Bank gewesen – vermutlich eine wesentliche Rolle bei dieser Entscheidung. Nur einen Monat nach seiner Auswanderung verstarb die Mutter der beiden Brüder am 26.November 1924.

Mit dem Bruder war auch Willy und Jenny Taendlers Sohn Adolf nach Lateinamerika ausgewandert. Ob die Eltern ihn damals weggeschickt hatten oder ob er selbst die Flucht vor den Folgen seiner kriminellen Machenschaften angetreten hatte, ist den Briefen des Vaters nicht zu entnehmen. Aber erhebliche Sorgen hatte der auf die schiefe Bahn geratene Sohn den Eltern damals bereitet. Im Zusammenhang mit einem recht hohen Lotteriegewinn, den der Sohn Anfang 1927 gemacht hatte, er lebte zu dieser Zeit schon in Chile, übernahm der Vater die Verwaltung des Geldes. Sein Sohn habe „wiederholt den Beruf gewechselt, hat im In- und Ausland sich aufgehalten und Schulden gemacht“. Aus diesem Grund habe er ihm den Gewinn nicht ausgehändigt. In der – wie sich zeigen sollte falschen – Hoffnung, dass „er sich bessern würde“ habe er stattdessen den Gewinn in Wertpapieren angelegt, um ihm auf diese Weise später den Aufbau einer eigenen Existenz zu ermöglichen.[12]

Am 1. April 1930 verließen Taendlers ihren bisherigen Wohnsitz Speyer und zogen nach Wiesbaden. Der unmittelbare Anlass dafür ist nicht bekannt. Ob es, wie der der Autor des Artikels im Speyer-Kurier nahelegt, tatsächlich politische Gründe waren – Dr. Taendler habe sich in Speyer als Jude zu sehr auf einem „Präsentierteller“ gesehen – oder ob vielleicht doch eher private Motive – die kriminellen Aktivitäten des Sohnes waren in Speyer sicher zum Stadtgespräch geworden – Taendlers zu diesem Schritt veranlassten, muss offen bleiben. Unbekannt sind auch die Gründe, die das Ehepaar dazu bewogen hatte, am 19. März 1930, also kurz vor dem Umzug, aus der Jüdischen Gemeinde auszutreten.[13] Vermutlich hatte der zweifache Rückzug aus dem bisherigen sozialen Umfeld gleiche Ursachen. Die Koinzidenz legt einen solchen Zusammenhang zumindest nahe. In der Adolfsallee 30, einer der Wiesbadener Prachtstraßen, fand das Paar eine neue Wohnung, in der Dr. Taendler auch noch eine Zeit lang praktiziert haben soll.

Im gleichen Jahr 1930 kam der Sohn aus Chile zurück und wurde zunächst in Wiesbaden in der elterlichen Wohnung aufgenommen. Als er aber dann dort erneut mit „betrügerischen Machenschaften“ nicht nur eine große Anzahl anderer Menschen, sondern auch die eigenen Eltern um Geld prellte, sagten sich diese von ihm los und erteilten ihm Hausverbot. Wegen Betrugs, Untreue und Unterschlagungen war er damals zu einer viermonatlichen Haftstrafe verurteilt worden. 1934 bis 1936 lebte er nach Verbüßung der Strafe in Spanien, wo er eine Import–Export-Firma gegründet hatte. Wegen des dortigen Bürgerkriegs war Adolf wieder nach Deutschland zurückgekommen und es muss zu einer Versöhnung mit den Eltern gekommen sein, denn diese händigten ihm damals die noch vorhandenen Vermögenswerte aus. Eine Verhaltensänderung auf Seiten des Sohnes scheint es aber auch jetzt nicht gegeben zu haben, wenn man einem Vernehmungsprotokoll der Steuerfahndung des Finanzamts Wiesbaden aus dem Jahr 1938 glauben kann: „Vertraulich wurde festgestellt, dass die Angaben des Dr. Taendler über die Verhältnisse seines Sohnes den Tatsachen entsprechen. Taendler ist hier als Hochstapler bekannt, der sogar Volksgenossen mit kleineren Einkünften betrogen hat. A. Taendler ist Anfang 1937 unter Hinterlassung mehrerer Tausend Mark Schulden nach der Schweiz geflohen. Er soll sich z.Zt. in Amerika aufhalten. Da Adolf Taendler Jude und außerdem auch ein Haftbefehl gegen ihn erlassen ist, dürfte er nach Deutschland nicht mehr zurückkehren.[14] So makaber es auch sein mag, die Flucht wegen dieser kriminellen Handlungen haben Adolf Taendler vermutlich das Leben gerettet. Sein weiteres Schicksal ist allerdings nicht bekannt. Man wird sich vorstellen können, wie sehr diese privaten Sorgen um den Sohn die Eltern in all den Jahren, in denen sich ohnehin die Lebensverhältnisse für Juden von Tag zu Tag verschlimmerten, zusätzlich belasteten.

Ab 1938 intensivierte der NS-Staat vor dem Hintergrund des wachsenden Finanzbedarfs für die Kriegsvorbereitung den Zugriff auf Geld und Vermögen der jüdischen Bevölkerung. Das Ehepaar Taendler gehörte zwar nicht zu den sehr wohlhabenden Juden in Wiesbaden, verfügte aber über ausreichende Mittel, um auch in dieser Stadt ein Leben auf einem gehobenen Niveau führen zu können. Für die Jahre zwischen 1934 und 1937 wurden beim Finanzamt Wiesbaden Einkünfte von durchschnittlich etwa 10.000 RM angegeben.[15] Auch nachdem Dr. Taendler nicht mehr praktizieren durfte, war es ihnen durch das monatliche Ruhegehalt der Bayrischen Versicherungskammer in einer Höhe von knapp 1.400 RM möglich,[16] den bisherigen Lebensstandard zu halten. Auch das Vermögen, das 1931 noch auf etwa 35.000 RM betrug, konnte in den folgenden Jahren trotz beruflicher Beschränkungen weiter gesteigert werden. In einem Schreiben der Zollfahndungsstelle Mainz vom 29. August 1938 wurden die Vermögenswerte mit fast 100.000 RM angegeben, allerdings waren hier keine Hypotheken oder andere Verbindlichkeiten abgezogen und auch der Glücksspielgewinn des Sohnes war hier vermutlich dem Vermögen des Vaters zugeschlagen worden.[17] Aber immerhin gab Dr. Taendler im Jahr 1940 sein Vermögen selbst – ohne den noch fälligen Abzug diskriminierender Sondersteuern für Juden – mit 66.300 RM und sein jährliches Einkommen mit 10.500 RM an.[18]

In jeden Fall verfügten Taendlers im Sommer 1938 noch über so viele Mittel, dass sie sich einen längeren Kur- und Urlaubsaufenthalt in Italien leisten konnten. Dieser geplante Auslandsaufenthalt erregte dann die Aufmerksamkeit der Zollfahndung Mainz. Zunächst hatte die Reichsfluchtsteuerstelle beim Wiesbadener Finanzamt dieser noch mitgeteilt, dass eine Fluchtsteuererhebung nicht nötig sei, da Taendlers sich nur vorübergehend im Ausland aufhalten würden.[19] Dennoch kam es dann im November zur Festsetzung dieser Steuer in Höhe von 14.750 RM, für die er aber bereits im September eine Sicherheit über 15.000 RM in Form von Wertpapieren hinterlegt hatte. Ob die angeforderten Pässe für den beabsichtigten Urlaub danach ausgestellt wurden, geht aus den Akten nicht hervor. [20]

In jedem Fall war durch die Initiative der Mainzer Zollfahndung auch gegen Willy Taendler eine Sicherungsanordnung erlassen worden, um zu verhindern, dass Vermögenswerte entgegen den Devisenbestimmungen ins Ausland transferiert würden, wie es in dem üblichen Formblatt heißt. Die Erträgnisse der Wertpapiere wurden freigestellt. Sollten die nicht ausreichen, so könne er einen entsprechenden Antrag auf einen festen monatlichen Freibetrag stellen, wurde ihm mitgeteilt. [21]

Die ebenfalls in diesem Zeitraum auferlegte Judenvermögensabgabe im Gefolge der sogenannten „Reichspogromnacht“ wurde auf Basis des ursprünglich, viel zu hoch angesetzten Vermögens von 90.000 RM berechnet. Die gesamte „Sühneleistung“ von 18.000 RM sollte in vier Raten mit je 4.500 RM abgegolten werden.[22]

1940 verschärfte die Devisenstelle die Kontrolle der jüdischen Vermögen. Auch Taendlers wurden aufgefordert, eine Aufstellung ihrer monatlichen Ausgaben zu übermitteln. Gleichzeitig war die bisher freie Verfügung über die Erträge aus dem Vermögen aufgehoben und durch einen festen Freibetrag von vorläufig 300 RM ersetzt worden. Seinen Bedarf gab Willy Taendler mit monatlich insgesamt 770 RM an, wobei die Mietkosten mit insgesamt 180 RM zu Buche schlugen, eine Haushälterin mit 40 RM und Unterstützungsleistungen für weitere Personen mit insgesamt 45 RM angesetzt waren.[23] Der Bitte, ihm einen entsprechenden Freibetrag zu gewähren, wurde zunächst stattgegeben, aber im Dezember 1941 wurde dieser Betrag auf 450 RM reduziert. Seinem Ersuchen, diesen wenigstens wieder auf 600 RM anzuheben, wurde jedoch nicht entsprochen. Allerdings durfte er die Unterstützungszahlungen aufrechterhalten, musste diese aber gesondert beantragen.[24]

Willy Taendler, Jude Wiesbaden
Sonnenberger Str. 22 heute
Eigene Aufnahme

Taendlers wohnten zu dieser Zeit schon seit längerem nicht mehr in der Adolfsallee, sie waren Anfang April 1935 mit ihrer Haushälterin in den zweiten Stock einer noch repräsentativeren Villa in der Sonnenberger Str. 22 gezogen.[25] Aber diese sicher sehr schöne Wohnung hatten sie am 31. Oktober 1940 wieder aufgegeben.

Willy Taendler, Jenny Taendler Mager
Meldung über die Bewohner des Judenhauses Blumenstr. 7
HHStAW 483 10127 (137)

Da in dieser Zeit die zwangsweise Umsiedlung der Wiesbadener Juden vollzogen wurde, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass dieser Umzug in das Judenhaus Blumenstr. 7 nicht freiwillig geschah, wenngleich auch dieses Haus rein äußerlich dem in den Sonnenberger Straße in keiner Weise nachstand.[26] Im Februar 1941 als die NSDAP über ihre Zellenleiter Wohnungen von Juden aufspürte, gab der zuständige Funktionär Roland in seiner „Judenmeldung“an, das neben Willy Taendler dort noch die Paare Lieffmann, Traub, Mayer und Hirschbrand und weiterhin die beiden Einzelpersonen Dorothea Meyer und Hans Ulmann untergebracht seien.[27] Allem Anschein nach verfügten Taendlers hier noch über Wohn- und Schlafzimmer, eine Küche und einen Mansardenraum. Dies ergibt sich aus einem Schenkungsvertrag, den das Ehepaar bald nach seinem Umzug aufsetzte. Ganz offensichtlich war man inzwischen zur Überzeugung gekommen, dass die Nazis, sollten sie ihnen nicht auch das Leben nehmen, ganz gewiss ihre gesamte Habe an sich reißen würden.

Mit der Schenkung bedacht wurde die am 4. Dezember 1904 in Bergzabern geborene ledige Nichtjüdin Paula Füss. Darüber, wieso gerade sie beschenkt werden sollte, sind im Vertrag nur vage Ausführungen gemacht. Es heißt darin: „Die Erschienene … verkehrte nahezu 15 Jahre in unserem Hause, das früher in Speyer geführt wurde, wo ich der Ehemann, als Arzt tätig war. Seit dem 1.4.1930 wohnen wir in Wiesbaden. Wir haben Fräulein Füss nach der Abwesenheit unseres Sohnes sozusagen immer als unser Kind behandelt und sie stets mit unserem Wohlwollen und unserer Freundschaft bedacht. Sie selbst war uns auch immer in schweren Zeiten eine überaus wertvolle Stütze.
Aus diesen vorgenannten Gründen haben wir uns entschlossen, aus den Gefühlen der Freundschaft und Dankbarkeit heraus Fräulein Füss durch nachstehenden Vertrag eine schenkweise Zuwendung zu machen.“
Im Hinblick auf den eigentlich erbberechtigten Sohn gaben sie an, dass dieser sich seit 16 Jahren ununterbrochen im Ausland aufhalte und er in „erbrechtlicher Hinsicht vollständig abgefunden“ sei.[28] Ob es sich bei Paula Füss um eine ehemalige Praxishelferin, eine Hausgehilfin oder einfach nur um eine nahe Bekannte handelte, ließ sich nicht klären.[29] Sie erhielt zunächst ein Wertpapierpaket im Nominalwert von 15.000 RM und zusätzlich die gesamte Wohnungseinrichtung, die Taendlers noch mit in die Blumenstraße genommen hatten. Die einzelnen Möbelstücke und auch eine große Zahl weiterer Einrichtungsgegenstände sind minutiös in einer gesonderten Liste aufgeführt und von einem amtlichen Taxator mit insgesamt 3.728 RM bewertet worden.[30]
Vertraglich war vereinbart, dass die Beschenkte den Schenkern die Einrichtung bis auf Weiteres überlässt. „Das so geschaffene Leihverhältnis endigt spätestens mit dem Tode der Schenker und vor diesem Zeitpunkt an dem Tage, an welchem die Schenker aus äußeren oder inneren Gründen ihre Wohnung aufgeben müssen oder aufgeben wollen.[31] Die Formulierungen machen unzweifelhaft klar, dass Taendlers mit dem Schlimmsten rechneten.

Noch eineinhalb Jahre durften sie in der Wohnung in der Blumenstraße bleiben. Als Willy und Jenny Taendler am 13. Juni 1942 noch einmal in ein anderes Judenhaus, in das in der Bahnhofstr. 25, umziehen mussten, konnten sie zumindest einen Teil ihres Mobiliars noch einmal mitnehmen. Am 25. Juni beantragte Willy Taendler bei der Devisenstelle die Freigabe von 65,90 RM zur Begleichung einer Rechnung der Spedition Rettenmeyer. Taendlers hatten wohl kaum alle ihre Sachen aus der bisherigen Wohnung mitnehmen können, denn es stand ihnen jetzt nur noch ein einziges Zimmer im dritten Stock des Hauses zur Verfügung.[32] Zuvor hatten die Nazis durch die Deportation von vier Personen am 23. Mai den notwendigen Platz für die Neuankömmlinge geschaffen. Auch Hermann Koester und Thekla Hess, die knapp zwei Wochen nach ihnen einzog, wohnten auf der gleichen Etage.

Judenhaus Bahnhofstr. 25, Wiesbaden
Das letzte Lebenszeichen von Willy Taendler
HHStAW 519/3 7530 (40)

Im August stellte Willy Taendler erneut einen Antrag auf Freigabe einer Summe von 63,40 RM, mit der die Rechnung eines Installateurs für eine Reparatur in der neuen Wohnung bezahlt werden sollte. Da die Gelder jeweils an nichtjüdische Personen gingen, wurden die Anträge problemlos genehmigt. [33] Bei diesem letzten Antrag handelt es sich auch um das letzte Lebenszeichen von Willy Taendler selbst.

Wenige Tage danach, am 1. September 1942, wurde das Haus „judenfrei“ gestellt. Abgesehen von der Eigentümerfamilie Guthmann und dem Ehepaar Straus, die gezwungen wurden, nach Frankfurt zu übersiedeln, wurden alle übrigen an diesem Tag nach Theresienstadt deportiert. Willy Taendler überlebte die schrecklichen Zustände dort nur drei Wochen. Am Morgen des 25. September 1942 verstarb er im Gebäude 420 in seinem Zimmer im zweiten Stock. Als Todesursache ist auf der Todesfallanzeige Herzmuskel- und Lungenentzündung angegeben.[34]

Seiner Frau, die Theresienstadt mehr als eineinhalb Jahre überstand, blieb die Hölle von Auschwitz nicht erspart. Mit dem Transport Dz 2244 wurde sie am 15. Mai 1944 in das Todeslager verfrachtet. Geradezu zynisch ist, dass die Transporte im Mai indirekt durch eine für den 23. Juni angekündigte Inspektion des Roten Kreuzes veranlasst wurden. Um die Enge der Wohnungen zu mindern, wurden mit drei Transporten jeweils etwa 2.500 Juden weggeschafft, um den Ort „schöner und wohnlicher zu gestalten“.[35] Im ersten dieser Transporte, dem Jenny Taendler zugeteilt war, befanden sich 707 männliche und 1736 weibliche Personen. Etwa 3.000 bis 3.500 der Deportierten wurden von Auschwitz aus noch einmal zur Zwangsarbeit in andere Lager verteilt. Die sechsundsechzigjährige Jenny Taendler wird zu denen gehört haben, die mit den anderen Zurückgebliebenen am 11. und 12. Juli 1944 in den Gaskammern von Birkenau ermordet wurden.[36]

Stand: 26. 12. 2018

 

 

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Anmerkungen:

[1] Jacobson, Jacob, Zur Geschichte der Juden in Rogasen, Berlin 1935, S. 11. Auf das Typoskript, bestehend aus zwei Mappen, kann über das Center For Jewish History online zugegriffen werden: http://digital.cjh.org/R/QCP6RI3S6XTH2Y9M3CFPAKQFG753YS8NAMHUACM3M2KR7457U3-00474?func=dbin-jump-full&object%5Fid=1263458&local%5Fbase=GEN01&pds_handle=GUEST. (Zugriff: 24.10.2018 – seit Mai 2020 nicht mehr online). Die erste Mappe enthält eine Darstellung der historischen Entwicklung und der Sozialstruktur, die zweite Abschriften von Dokumenten der Synagogengemeinde.

[2] 1847 hatte es aber im Zusammenhang mit den damals europaweit ausgebrochenen Hungerunruhen sogar Angriffe der nichtjüdischen und jüdischen Unterschicht auf reiche Bewohner der Stadt gegeben, unabhängig von deren Glauben, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Rogo%C5%BAno. (Zugriff: 24.10.2018).

[3] Noch um 1900 waren auch in Rogasen dortige Juden eines Ritualmords beschuldigt worden, siehe http://www.hagalil.com/2017/11/pogrome-in-deutschland/.(Zugriff: 24.10.2018).

[4] Einen Kontrakt zwischen der Jüdischen Gemeinde von Rogasen über die Anstellung eines Rabbis im Januar 1840 hat u. a. ein Benjamin Tändler als Repräsentant der Gemeinde unterzeichnet, möglicherweise der Vater von Abraham Taendler, siehe Jacobson, Juden in Rogasen, Mappe 2, Dok. 28. Verwunderlicherweise ist aber in einer Liste der für die Wahl der Stadtverordneten wählbaren Bürger keine Person mit dem Namen Taendler aufgeführt. Es mag sein, dass keiner der Familie sich als Kandidat hat aufstellen lassen. Die Liste ist auch deshalb von Interesse, weil sie durch die Berufsangabe der Kandidaten einen Einblick in die differenzierte Wirtschaftsstruktur der Stadt gewährt.

[5] In der ansonsten sehr informativen Seite des Speyer-Kuriers über Lebensbilder ehemaliger jüdischer Mitbürger – https://archiv.speyer-kurier.de/juedische-lebensbilder.html. Nr. 16 (Zugriff: 24.10.2018) – wird der Vorname der Mutter mit Sara, der Rufname mit Dora angegeben, siehe dagegen die Heiratsurkunde von Willy Taendler HHStAW 469/33 3577 (7). Salman Schocken begründete mit seinem Bruder Simon die Warenhauskette Schocken, die nach der Arisierung und der folgenden Rückerstattung 1952 an Horten verkauft wurde und ein wesentliches Standbein des Konzerns darstellte. Im Hinblick auf die jüdische Kultur war allerdings seine Gründung des Schocken-Verlags, der sich der Publikation jüdischer Autoren widmete und diese in preisgünstigen Ausgaben der Leserschaft anbot, von noch größerer Bedeutung. So hatte er u. a. die Weltrechte an dem Werk von Franz Kafka. In der unter xxx zitierten Liste wählbarer Bürger aus Rogasen finden sich auch ein Nathan Wolf Schoken und ein Itzig Schoken, beides Kaufmänner, die möglicherweise zur Familie aus Margonin gehören. Siehe Jacobson, Juden in Rogasen, Mappe 2. Der Vater von Salman und Isaak Schocken war der in Rogasen geborene Isaac Schocken.

[6] http://www.archive.org/stream/rogasencommunityf001#page/n5/mode/1up. (Zugriff: 24.10.2018).

[7] Angaben nach: https://archiv.speyer-kurier.de/juedische-lebensbilder.html. Nr. 16 (Zugriff: 24.10.2018)

[8] https://szukajwarchiwach.pl/53/474/0/19.3/15172/skan/medium/JCVXBBbGSyTG_dbGTMRRig. (Zugriff: 24.10.2018).

[9] HHStAW 469/33 3577 (7) Abschrift der Heiratsurkunde. Willy Taendler gab in seiner Steuererklärungen von 1937 fälschlicherweise den 15.5.1899 an, HHStAW 685 813 b (130). In der Abschrift des ursprünglichen Heiratsregistereintrags 1899 / 77 des Standesamts Speyer, ausgestellt am 31.7.1951, werden die Eltern von Jenny und auch ihr Geburtsname fälschlicherweise mit Mayer statt mit Mager angegeben.

[10] Der Vater von Jenny stammte aus dem badischen Krautheim, die Mutter, eine geborene Rosenfeld aus Oeyenhausen, siehe https://archiv.speyer-kurier.de/juedische-lebensbilder.html. (Zugriff: 24.10.2018). Die folgenden Ausführungen über das Leben der Familie in Speyer beziehen sich sofern nicht anders angegeben, auf diesen Artikel des Speyer-Kuriers.

[11] Siehe zu den finanziellen Verhältnissen HHStAW 685 813 passim.

[12] HHStAW 685 813 a (42).

[13] HHStAW 685 813 b (91, 92).

[14] HHStAW 685 813 a (41). Der Bericht gründet auf einer Vernehmung von Dr. Taendler, der wegen der Verwaltung der Gelder seines Sohnes ebenfalls ins Visier der Steuerfahndung geraten war. Das nötige Avidavit für die Einwanderung in die USA hatte er nach Angabe einer Verwandten namens Ruth Taendler von seinem Onkel Richard erhalten, siehe HHStAW 518 65723 (130).

[15] Ebd. (47).

[16] HHStAW 685 813 b (134). Aber auch hier sind die Zahlen nicht konsistent. In einer Berechnung der Zollfahndungsstelle Mainz aus dem gleichen Jahr werden die jährlichen Pensionszahlungen mit 7.408 RM angegeben, HHStAW 519/3 7530 (1).

[17] Ebd. Die Reichsfluchtsteuerstelle des Finanzamts Wiesbaden hat am 5.9.1938 zum Stichtag 1.1.1935 eher realistisch ein Vermögen von 59.000 RM zugrunde gelegt, siehe 519/3 11805 (1).

[18] Ebd. (14).

[19] HHStAW 685 813 a (48).

[20] Ebd. (40, 47, 49).

[21] HHStAW 519/3 7530 (3, 8).

[22] 685 813 a (16). Auch Taendlers wurden später zu einer fünften Rate herangezogen. Die Bitte, diese zumindest zu ermäßigen, wurde abgelehnt. Ebd. (21, 23, 24). Die Raten kannte Willy Taendler nur durch den Verkauf von Wertpapieren aus dem gesicherten Depot begleichen, siehe 519/3 7530 (9). Sogar 3 Perserteppiche bot er zur Finanzierung der Sondersteuer an, ebd. (17).

[23] Ebd. (14).

[24] Ebd. (31, 35).

[25] HHStAW 685 813 b (105).

[26] Zum Judenhaus Blumenstr. 7 siehe oben. Das Datum des Umzugs ist auf der Gestapo-Karteikarte von Willy Taendler vermerkt. Auf dem Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse ist fälschlicherweise nicht das Haus Blumenstr. 7, sondern die andere Haushälfte mit der Nummer 9 abgebildet, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Taendler.pdf. (Zugriff: 24.10.2018).

[27] HHStAW 483 10127 (137). Eigenartigerweise stehen Jenny Taendler wie auch die Ehefrau von Hans Ulmann, Hedwig Ulmann, nicht auf der Liste. Offensichtlich war der Zellenleiter noch nicht lange über den Einzug des Paares informiert, denn anders als bei den Übrigen kannte er auch Willy Taendlers Geburtsdatum nicht, machte nur die handschriftliche Angabe, dass dieser 50 Jahre alt sei, was allerdings völlig falsch war. Willy Taendler war zu diesem Zeitpunkt bereits fast siebzig Jahre alt. Es gibt ansonsten keinen Hinweis daraus, dass Jenny Taendler zunächst nicht mit ihrem Ehemann umgezogen sei. In einer weiteren Erhebung der NSDAP vom 11.11.1941 ist sie dann auch aufgeführt, siehe ebd. (50).

[28] HHStAW 519/3 7530 (28). Paula Margareta Füss, war die Tochter des protestantischen Schneidermeisters Conrad Füss aus Bergzabern und seiner katholischen Frau Anna aus Vierneisel, siehe 518 65723 (24).

[29] Im Erinnerungsblatt für das Ehepaar Taendler des Aktiven Museums Spiegelgasse wird gesagt, dass es sich um eine frühere Haushälterin gehandelt habe, ein Beleg dafür ist aber nicht angegeben, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Taendler.pdf. (Zugriff: 24.10.2018).

[30] Ebd.

[31] Ebd.

[32] Unbekannte Liste X 1.

[33] HHStAW 519/3 7530 (40, 42).

[34] https://www.holocaust.cz/databaze-dokumentu/dokument/84001-taendler-willy-oznameni-o-umrti-ghetto-terezin/. (Zugriff: 24.10.2018).

[35] Adler, Theresienstadt, S. 167.

[36] HHStAW 469/33 3577 (3), dazu Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, S. 431. Auf Antrag von Paula Füss wurde Jenny Taendler am 29.2.1952 für tot erklärt. Als Todestag wurde der 8.5.1945 festgelegt, HHStAW 469/33 3577 (10). Die testamentarisch bestimmte Erbin hatte nach dem Krieg erhebliche Schwierigkeiten ihr Erbe anzutreten, da Beamte des Wiesbadener Finanzamts das sich im Nachlass befindliche Testament geöffnet und verbrannt hatten, damit – wie dann auch zunächst geschehen – die Hinterlassenschaft der Taendlers vom Fiskus vereinnahmt werden konnte. Mit einer Verfügung vom 2.10.1942 war das Vermögen „zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“ worden, HHStAW 519/3 7530 (43). Zum Entschädigungsverfahren, das von Frau Füss nach dem Krieg angestrengt wurde, siehe 518 65723 passim, besonders (14, 27 f.).