Hirsch Hirschberger, genannt Hugo, war mit seiner Familie nach Wiesbaden gekommen, als die schlimmste Phase der Verfolgung in Deutschland gerade begonnen hatte. Ursprünglich in der unterfränkischen Gemeinde Oberlauringen beheimatet, war er vermutlich durch seine Schwester Selma Ziporah, die in Mainz mit dem aus Fulda stammenden Maier Trepp verheiratet war, veranlasst worden, die Kurstadt zwischen Rhein und Taunus als Fluchtort vor Verfolgung zu wählen.[1] Unwahrscheinlich ist, dass Jakob Fink, der ebenfalls aus Oberlauringen kam, ihn dazu bewogen hatte. Dass auch eine große Stadt wie Wiesbaden keinen wirklichen Schutz für Juden mehr bot, hatte dieser inzwischen selbst erfahren müssen.
Oberlauringen, im heutigen Landkreis Schweinfurt gelegen, gehört zu den Gemeinden, die bis 1942 auf eine lange jüdische Tradition zurückblicken konnten. Im 18. Jahrhundert hatte der Stadtherr Carl August Truchsess von Wetzhausen nicht nur Geld, sondern auch eine Zahl von mehr als zwanzig jüdischen Händlern in den Markflecken gebracht und für sie einen eigenen Gemeindebezirk mit allen notwendigen kultischen Einrichtungen errichten lassen. Es entstand eine Schule, ein Lehrerhaus, in dem auch das rituelle Bad untergebracht war; später wurde ein Friedhof angelegt und auch eine Synagoge erbaut.[2] Zu Begin des 19. Jahrhunderts waren etwa 20 Prozent der Einwohner jüdischen Glaubens. Besonders die Viehhändler unter ihnen nahmen eine bedeutende Stellung im regionalen Wirtschaftsleben ein, aber auch andere Händler vertrieben in den umliegenden Landgemeinden und sogar bis nach Thüringen ihre jeweiligen Waren.
Auch die Familie Hirschberger war bereits zu dieser Zeit dort ansässig. Ein Hirsch Isaak Hirschberger betrieb damals eine koschere Weinschänke und ein Samuel Hirschberger ist in der Matrikelliste von 1817 als „Schnitthändler“, also als Kleinhändler für Stoffe und Tuche, vermerkt.[3] Aus den Aufzeichnungen des Mainzer Rabbiners Trepp, dem Sohn von Selma Ziorah Hirschberger, der Schwester von Hugo Hirschberger, kennen wir einige der Vorfahren sogar aus dem 18. Jahrhundert. Ob der älteste bekannte Hirschberger, ebenfalls ein Hirsch Hirschberger, schon in Oberlauringen wohnhaft war, ist nicht sicher. Sein Sohn Samuel, der mit einer Zibora verheiratet war – mehr ist über sie nicht bekannt -, war in jedem Fall schon Bürger dieser Gemeinde. Die beiden waren die Eltern von Israel Hirschberger, der 1807 in dem unterfränkischen Ort geboren wurde und dort Bella Sittenheimer aus Oberreuerheim geehelicht hatte,
Am 24. April 1849 war ihr erster Sohn Samuel zur Welt gekommen. Seine vermutlich 1850 geborene Frau Ida, geborene Lonnerstädter, stammte aus Hassfurt. Die beiden wiederum hatten mindestens vier Kinder. Hirsch, genannt Hugo, geboren am 30. Mai 1876, war das älteste. Ihm folgten noch die beiden Schwestern Selma Ziporah, geboren am 16. September 1879, und Sabine, die am 15. Oktober 1881 ebenfalls in Oberlauringen zur Welt kam.[4]
Der Bruder von Samuel Hirschberger, Hermann, war mit Claire / Klara Lonnerstädter, einer Schwester von Samuels Frau Ida, verheiratet. Um mit ihrem Geschäft nicht dem Bruder in Oberlauringen Konkurrenz zu machen, waren sie in den Nachbarort Stadtlauringen gezogen, blieben aber ihrer alten jüdischen Gemeinde verbunden. Mehr noch: Um als strenggläubige Juden durch einen langen Fußmarsch nicht gegen traditionelle jüdische Sabbatgebote verstoßen zu müssen, ließen sie sich in Oberlauringen ein sogenanntes Sabbathaus erbauen. Hier zog die Familie, zu der auch die drei Söhne Simon, Siegmund und Berthold mit ihren jeweiligen Familien gehörten, vor Beginn des Sabbats ein, besuchten die Synagoge und blieben dort bis zum Ende des Feiertages.
Leo Trepp, der Sohn von Maier Trepp und dessen Frau Selma Ziporah, hatte in seiner Jugend viele Sommer in der Heimat seiner Mutter verbracht. Später beschrieb er in seinen biographischen Aufzeichnungen sehr detailliert und mit einer gewissen nostalgischen Wehmut diese Gemeinde, die auch durch ihre Abgeschlossenheit ansatzweise das Gepräge eines osteuropäischen Schtetls hatte. Liebevoll wurden von ihm deren Mitglieder, die sich weitgehend dem orthodoxen Judentum zugehörig fühlten, charakterisiert, ihre Erscheinung, ihre Rolle in der Gemeinde und auch ihre jeweiligen Eigentümlichkeiten. Etwa der Lehrer Goldstein, wie er mit ruhigen Bewegungen auch das Amt des Schächters ausübte. Die Witwe Sterzelbach, die mit ihrer an Polio erkrankten Tochter am Ortseingang wohnte, und trotz vieler Schicksalsschläge „ihren Frohsinn nie verlor“. Nebenan wohnten die bitterarmen Geschwister Segen, die mit ihrer einzigen Kuh unter einem Dach lebten, oder ein paar Ecken weiter die Geschwister Friedenthal, die angeblich weder sich selbst wuschen, noch ihre Wohnung jemals putzten, weshalb es dem kleinen Leo Trepp verboten war, die beiden zu besuchen. Aber es gab auch Menschen wie den wohlhabenden Samuel Fink, der hoch gebildet war und eine Bibliothek besaß, in der er mit seinem Grammophon klassische Musik hörte. Viele andere, die in der Shoa ermordet wurden, werden durch Leo Trepps Beschreibungen wieder zum Leben erweckt.[5]
Dass der Erfolg der Juden in Oberlauringen in den vergangenen Jahrhunderten mit skeptischen Blicken, zumindest ambivalenten Gefühlen von den nichtjüdischen Bewohnern begleitet war, zeigt sich in Gedichten, die der Dichter Friedrich Rückert, ein Sohn dieser Gemeinde, hinterlassen hat und damit auch zum Sprachrohr solcher antisemitischen Strömungen wurde.[6] Aber Juden hatten im Laufe der Jahrhunderte gelernt, mit diesen Diskriminierungen umzugehen. Leo Trepp schrieb in seinen Erinnerungen, dass Juden und Christen im dörflichen Alltag zwar zusammen arbeiteten, feierten und sich auf der Straße sogar mit dem üblichen ‚Grüß Gott’ begrüßten, ansonsten aber wenig Kontakte pflegten. Trotz der langen Zeit des Zusammenlebens waren die latenten antisemitischen Vorurteile auch in Oberlauringen nie wirklich verschwunden.[7] Deutlich brachen sie während der ersten Krise in der Weimarer Republik, der Zeit der Hyperinflation, hervor, als antisemitische Agitatoren in Oberlauringen die dortige Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mitbürger aufwiegelten. Auch Hugo Hirschberger wurde in diesem Zusammenhang mit Verhaftung gedroht, da er sich gegen die Verleumdungen zur Wehr setzte.[8]
Zwar war der Anteil der jüdischen Bevölkerung durch Wegzug, aber auch durch das Anwachsen des nichtjüdischen Teils bis zum Beginn der Weimarer Republik auf etwa die Hälfte gesunken. 1933 betrug ihr Anteil sogar nur noch knapp 7 Prozent, danach aber verließ bis zur Reichspogromnacht kein einziger Jude mehr den Ort. Wie wenig man die drohende Gefahr wahrhaben wollte, zeigt sich auch darin, dass man noch 1937 die Mikwe renovieren ließ.
Auch Hugo Hirschberger war mit seiner Frau Jeanette, genannt Jenny, geblieben. Er hatte die am 14. Februar 1879 in Brünnau geborene Tochter von Moses Klein und seiner Frau Karolina Schönfeld am 20. Juni 1907 in Schweinfurt geheiratet.[9] Im Jahr nach der Eheschließung war zunächst am 17. April 1908 die Tochter Betty zur Welt gekommen. Ein Jahr später folgte am 24. Juli 1909 Flora und am 23. März 1912 der einzige Sohn Max. Danach kamen am 15. Februar 1914 noch Irma und am 19. April 1918 Herta zu Welt.[10] Leo Trepp hat die Familie seines Onkels auf die ihm eigene Art folgendermaßen beschrieben:
Das Haus, in dem mein Onkel mit seiner Familie lebte, war etwas größer als manche anderen Judenhäuser, aber doch typisch. Stand man vor ihm, so lag auf der linken Seite das Wohnhaus mit einem verhältnismäßig großen Dach und dem Laden im Erdgeschoß. Über der Eingangstür in der Mitte des Hauses, die zum Textilgeschäft führte, stand in großen Buchstaben, die ganze Front des Hauses füllend, Israel Hirschberger. Das war der Name meines Urgroßvaters, der als ganz vermögend gegolten hatte. Seine beiden Söhne, Samuel und Hermann, heirateten zwei Schwestern. Samuel, mein Großvater, heiratete Ida Lonnerstädter, Hermann die Tante Claire. Hermann wohnte in Stadtlauringen, um dem Bruder keine Konkurrenz am Orte zu machen. Meine Großmutter starb mit nur 50 Jahren schon vor meiner Geburt an Krebs. Ihr Grabstein auf dem Oberlauringer Friedhof ist tief in die Erde gesunken. An meinen Großvater habe ich nur flüchtige Erinnerungen. Ich sehe ihn auf der Veranda stehen, die Pfeife im Mund. Ich erinnere mich an Hawdala am Ausgang eines Schabbats, wobei er anschließend die Zeigefinger seiner Hände in den ausgegossenen Wein tunkte und damit seine Augenlider befeuchtete, mit den hebräischen Worten: ‚Gottes Wort ist vollkommen, es erleuchtet die Augen.’ Dieser Brauch ist alt und in der Tradition begründet, aber in der Familie folgte ihm nur mein Großvater. Meist erschien er mir nicht sehr freundlich, eher unnahbar, und ich fühlte mich von ihm etwas eingeschüchtert.
Onkel Hugo übernahm das elterliche Haus. Seine Frau Jennie schien mir nichtssagend und bedrückt. Betty, die älteste Tochter, war sehr klein, aber gescheit und lebensfroh. Hätte sie auf eine höhere Schule gehen können, hätte sie bestimmt eine gute Zukunft gehabt. Sie ging schließlich als Haushälterin zu einer jüdischen Familie in Wiesbaden, wo ich sie gelegentlich sprach. Flora, größer und zur Plumpheit neigend, war fröhlich, gutmütig und nicht sehr gescheit. Max wurde auf Rat meines Vaters, der auch die Kosten zu zahlen bereit war, aufs jüdische Lehrerseminar in Würzburg gesandt, er zeigte jedoch bald Zeichen schwerer Geistesstörungen und starb nach wenigen Jahren im jüdischen Sanatorium zu Lohr. Ida war voller Pranken, immer froh und zu Unsinn aufgelegt. Sah man sie, hatte man Freude an ihrer Lebensfreude. Herta kannte ich nur als kleines Mädel. Sie war die einzige der Familie, die sich in den Hitlerjahren durch Auswanderung retten konnte.“[11]
In dem Haus hatten Hugo Hirschberger und seine Frau nach Aussage der Tochter Herta ein Kolonialwarengeschäft betrieben. Laut der Gewerbeanmeldung vom 7. Juli 1907 handelte es sich zunächst wohl um einen „Schnittwarenhandel und eine Landkrämerei“, womit Hugo Hirschberger einen Jahresgewinn von etwa 1.000 Mark habe erwirtschaften wollen. Für den Laden war – so die Tochter Herta – weitgehend die Mutter zuständig, [12] während der Vater über Land gezogen sei, um Nähmaschinen und Fahrräder zu verkaufen. Aber schon bald nach der Machtübernahme sei das Reisegeschäft besonders durch die Einflussnahme des Ortsgruppenleiters weitgehend zum Erliegen gekommen. Deswegen habe man ab 1935 Einkommen ausschließlich aus dem von der Mutter geführten Laden bezogen. Der sehr kleine Kundenkreis von etwa 15 jüdischen Familien habe aber nicht genügend eingebracht, sodass die Eltern hauptsächlich von Erspartem hatten leben müssen.
Die Erinnerungen von Leo Trepp weichen davon in einigen Punkten ab. Er meint, dass der Laden des Großvaters bereits in seiner Jugend längst verschlossen und das Geschäft leer gewesen sei. „Stattdessen fuhr Onkel Hugo auf seinem Motorrad, und später in einem kleinen alten Auto, das mein Vater ihm geschenkt hatte, in die benachbarten Dörfer, um mit Seifenpulver zu hausieren. ‚Wir kauften ihm oftmals einen ganzen Sack ab, obwohl wir es gar nicht brauchten, nur um dem armen Kerl zu helfen’, sagte mir später der christliche Arzt Reinhold Heusinger aus Stadtlauringen, dessen Vater uns als Kinder behandelt hatte.“[13]
Tatsächlich lagen die Umsätze in den Jahren zwischen 1933 und 1938, dem Jahr der Geschäftsaufgabe, von geringfügigen Abweichungen nach oben oder unten abgesehen, immer zwischen 2.000 RM und 3.000 RM. Entsprechend gering muss das jährliche Einkommen gewesen sein. 1930 hatten die Umsätze noch 8.000 RM betragen. Aber auch ein solcher Warenumschlag reichte für ein auskömmliches Leben nicht aus, denn schon in diesem Jahr hatte Hugo Hirschberger in seiner Einkommensteuererklärung geschrieben: „Bitte wie bisher von der (!sic) Befreiung von der Einkommensteuer wegen meiner 5 noch unversorgten Kinder u. meines kleinen Geschäfts.“. Auch im Jahr vor der „Machtergreifung“ war er als nicht einkommensteuerpflichtig klassifiziert worden.[14]
Nicht erst nach 1933 lebten demnach Hirschbergers eher von der Hand in den Mund. Im Laufe der dreißiger Jahre hatte sich allerdings die Situation insofern teilweise entschärft, als zumindest die Töchter aus dem Haushalt ausgeschieden waren und in anderen Städten als Haushaltsgehilfinnen für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgten. Wann das jeweils geschah, ließ sich nicht mehr in jedem Fall feststellen. Vermutlich war Betty, die älteste, auch zuerst ausgezogen. Ob sie, bevor sie nach Wiesbaden kam, in einer anderen Stadt bereits in Stellung war, ist nicht bekannt. Ihre erste Anstellung als Hausgehilfin in Wiesbaden erhielt sie bei dem verwitweten jüdischen Kaufmann Max Wreschner. Zumindest ist seine Adresse Neubauerstr. 6 die erste, die auf ihrer Gestapo-Karteikarte eingetragen ist.[15] Sie soll nach polizeilicher Auskunft dort bis 1942 gewohnt und auch gearbeitet haben.[16]
Vermutlich hatte ihre Tante Selma Trepp von Mainz aus diese Arbeitsstelle vermittelt und damit zugleich für die Eltern den Weg nach Wiesbaden geebnet, als diese Oberlauringen verlassen mussten. Im November 1938 hatten SA-Schergen auch dort die jüdischen Bürger überfallen und deren Habe zerstört, wie der Bürgermeister der Stadt 1959 im Entschädigungsverfahren bestätigte. Ob sich auch das Haus der Hirschbergers darunter befand, ließe sich nach seiner damaligen Aussage „heute nur schwer ermitteln“.[17] Vermutlich hatte es aber eher am Willen gefehlt, diese Aufklärungsarbeit zu leisten. Immerhin machte die Tochter Herta, die zwar während der Tage selbst nicht in Oberlauringen, sondern in Frankfurt weilte, präzise Angaben über die Zerstörungen im elterlichen Anwesen. Sie war unmittelbar nach dem Pogrom zu ihren Eltern gefahren und konnte feststellen, dass mehr als 75 Prozent der Einrichtung des Geschäfts wie auch der Wohnung nicht mehr zu gebrauchen war. Ladentische und Regale, Schränke, Stühle Tische Betten und Geschirr seien zerstört gewesen. Auch Kleider, Aussteuer und zwei Geigen waren dem Furor zum Opfer gefallen.[18] Anders als in Oberlauringen hatte man das benachbarte Stadtlauringen und somit auch die Familie von Hugo Hirschbergers Cousin Simon Hirschberger bei dieser Aktion zunächst verschont. Aber am nächsten Tag wurden alle männlichen Mitglieder der jüdischen Gemeinde verhaftet und zunächst nach Hofheim ins Gefängnis gebracht. Einige, darunter auch Simon Hirschberger, wurden anschließend in das KZ Dachau überstellt.[19] Ob auch Hugo Hirschberger zu den Inhaftierten zählte, konnte bisher nicht geklärt werden.
Nach diesen Ereignissen verließen die meisten der noch in Oberlauringen lebenden Juden ihren Heimatort. Zweidrittel davon emigrierten ins Ausland zehn Gemeindemitglieder zogen wie Hugo Hirschberger und seine Frau in andere Orte innerhalb Deutschlands. Die Zurückgebliebenen fielen allesamt dem Holocaust zum Opfer.
Als Hirschbergers Anfang Dezember in das Haus in der Hermannstr. 17 in den ersten Stock einzogen, war dieses noch nicht als Judenhaus deklariert und es lebten zu dieser Zeit unter den insgesamt etwa 15 Mietparteien sonst keine anderen Juden.[20] Darüber, inwieweit sie von diesen ausgegrenzt und drangsaliert wurden, oder ob sie von ihren Mitbewohnern vielleicht sogar geschützt und unterstützt wurden, liegen leider keine Informationen vor. Auskünfte über ihre Zeit im späteren Judenhaus liefern allein die wenigen Schriftstücke, die in den Steuer- und Devisenakten erhalten geblieben sind.
Am 7. Februar 1940 wurde Hugo Hirschberger unter dem Aktenzeichen JS 347 der Kontrolle der Devisenstelle Frankfurt unterworfen. 300 RM wurden im vorläufig als Freibetrag gewährt.[21] In dem Formular zur Angabe seines Vermögens und Einkommens wurde von Hugo Hirschberger im Dezember 1940 nur ein Eintrag gemacht: Er gab an, ein Haus in Oberlauringen mit einem Einheitswert von 2.880 RM zu besitzen, mehr nicht. Das Haus sei seit dem 1. Oktober 1940 von der Landesfürsorge Unterfranken, Würzburg, angemietet worden. In einem Begleitschreiben ergänzte er, dass mit der monatlichen Miete von 10 RM noch eine Schuld von 150 RM getilgt werde, die er bei dieser Stelle habe.[22] Angesichts dieser finanziellen Verhältnisse sah die Devisenstelle keine Gefahr für irgendwelche Devisenvergehen und verzichtete auf die Einrichtung eines Sicherungskontos, setze aber zugleich den Freibetrag auf 250 RM herab. Auf die Frage, wovon er seinen Lebensunterhalt bestreite, gab Hugo Hirschberger wenige Tage später in einem Brief an, dass er Unterstützung von der Jüdischen Gemeinde beziehe und außerdem von seiner Tochter, die als Hausangestellte tätig sei, Geld erhalte. Bezüglich der Tochter präzisierte er auf eine erneute, gleiche Anfrage am 12. Januar 1941, dass er von seiner Tochter Betty Geld erhalte. Sie sei polizeilich in der Neubauerstr. 6 gemeldet.[23]
Im November 1941 war offensichtlich die Schuld bei der Landesfürsorge abgetragen und das Haus– nun für 12 RM – neu verpachtet worden. Hugo Hirschberger bat die Devisenstelle darum, diese Einnahme unmittelbar entgegennehmen zu dürfen. Aus dem Brief geht zudem hervor, dass er inzwischen zur Zwangsarbeit verpflichtet worden war. Nicht anders ist zu deuten, wenn er schreibt, dass sein „monatliches Einkommen als Hilfsarbeiter weit unter dem festgelegten Freibetrag von Mark 250“ liege.[24]
Inzwischen war es der jüngsten Tochter Herta gelungen, Deutschland zu verlassen. 1932, nach Abschluss der achten Klasse an der Oberlauringer Volksschule, hatte sie eine Ausbildung als Schneiderin begonnen, die sie sie im März 1936 mit dem Gesellenbrief noch abschließen konnte. Angesichts der politischen Verhältnisse war es ihr aber nicht mehr möglich im erlernten Beruf eine Anstellung zu finden. Stattdessen war sie im April 1936 nach Hamburg gezogen, wo sie bei der jüdischen Familie Seeligmann eine Anstellung als Hausgehilfin erhielt. Aber bereits zu diesem Zeitpunkt plante sie offensichtlich, Deutschland möglichst bald zu verlassen. Im November 1937 ging sie deshalb nach Halberstadt, wo sie in sogenannten Umschichtungskursen, die die jüdische Organisation ‚Agudas Jisroel‘ dort organisierte, auf diesen Schritt vorbereitet wurde. Im Frühjahr 1939 war sie noch einmal nach Wiesbaden gekommen, wo sie für etwa ein halbes Jahr noch bei ihren Eltern in der Hermannstr. 17 wohnte. Am Tag des Kriegsausbruchs, am 1. September 1939, reiste sie dann nach England aus.[25]
In einer anderen eidesstattlichen Erklärung hatte sie allerdings angegeben, bereits im November 1938 während des Pogroms in Wiesbaden in der Hermannstr. 17 gewohnt zu haben,[26] zu einem Zeitpunkt also, zu dem die Eltern noch in Oberlauringen wohnten. Möglicherweise hatte sie damals nur ihre Schwestern besucht, denn auch Irma Ida war möglicherweise bereits seit 1937 in Wiesbaden und unter genau dieser Adresse gemeldet. Der Polizeipräsident hatte im Entschädigungsverfahren 1951 bescheinigt, dass das Ehepaar Hirschberger und ihre Tochter Ida „1937 bzw. 1938 bis 1942 in Wiesbaden, Hermannstr. 17 gewohnt haben“. Da die Eltern am 8. Dezember 1938, also definitiv erst nach der Reichspogromnacht nach Wiesbaden kamen, kann sich die Angabe 1937 eigentlich nur auf Ida beziehen. Sichere Quellen, die das bestätigen, liegen darüber allerdings nicht mehr vor, da alle Meldeunterlagen der Stadt im Krieg und unmittelbar danach vernichtet wurden. Es ist aber nicht auszuschließen, wie bei Hausangestellten häufig der Fall, dass Irma Ida bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in Wiesbaden tätig war, dann aber in einer anderen Stadt eine neue Anstellung angenommen hatte. Auch bei ihr ist aber nicht bekannt, wann sie das Elternhaus in Oberlauringen erstmals verlassen hatte.
Auf ihrer Gestapo-Karteikarte ist zwar nur ein sehr kurzer Aufenthalt im Jahr 1939 vom 24. April bis zum 5. Juni unter der Adresse Hermannstr. 17 eingetragen, aber das schließt eine frühere Anwesenheit nicht aus, da 1937 die Kartei noch gar nicht angelegt war. Dies geschah erst im folgenden Jahr. Laut der Eintragung aus dem Jahr 1939 war sie damals von Halberstadt gekommen und nach ihrem Aufenthalt auch wieder dorthin zurückgegangen. Angesichts der Tatsache, dass ihre Schwester sich in eben dieser Stadt auf ihre Ausreise vorbereitete, ist nicht auszuschließen, dass auch Irma Ida solche Absichten hatte. Bei der auf den auf der Karteikarte angegebenen Adressen, Wilhelmstr. 15, ihre Zugangsadresse, und Westendorfstr. 15, ihre Abgangsadresse, handelt es sich um ehemalige Einrichtungen der dortigen Jüdischen Gemeinde. In der Wilhelmstr. 15 lag das Jüdische Altersheim und in der Westendorfstraße die ehemalige Jüdische Schule von Halberstadt. Vielleicht waren in diesen Gebäuden damals die Lehrgänge ausgerichtet worden. Es könnte aber auch sein, dass sie dort nur als Gehilfin angestellt war.
Wesentlich später, nämlich im Januar 1941 hatte sich auch Betty mit Auswanderungsplänen befasst. Offensichtlich beabsichtigte sie in die USA auszureisen, denn um bei dem dafür zuständigen Konsulat in Stuttgart einen Reisepass vorlegen zu können, beantragte sie zu diesem Zeitpunkt die dafür zuvor notwendigen Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanzamts und der kommunalen Steuerstelle in Wiesbaden. Beide wurden ihr ausgestellt, aber weitere Schritte zur Realisierung des Plans sind in den Akten nicht vorhanden.[27] Vermutlich mit dem Umzug von Max Wreschner in die Philippsbergstraße hat auch sie das Haus in der Neubauerstraße verlassen und war zu den Eltern in das Judenhaus Hermannstr. 17 gezogen. Auf ihrer Gestapo-Karteikarte ist dieser Wohnungswechsel mit dem Datum 1. Februar 1942 notiert. Darüber, wie sie die letzten vier Monate in diesem Haus verbrachte, liegen keine Informationen vor. Am 10. Juni 1942 wurde sie von ihren Eltern getrennt und gezwungen den Zug zu besteigen, der sie und etwa 380 weitere Wiesbadener Juden über Frankfurt nach Lublin brachte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde auch sie kurz darauf in Treblinka ermordet.
Auch über ihre Eltern liegen aus den letzten Monaten und Wochen keine Dokumente vor, die Auskunft über diese Zeit im Judenhaus geben würden. Möglicherweise wurde in dem Zimmer ihrer Tochter nach deren Deportation die siebzigjährige Julie Schönstadt[28] untergebracht, die bisher in der Luisenstr. 26 gewohnt hatte. Zumindest erscheint sie in der unbekannten, nach der Junideportation erstellten Bewohnerliste als Mieterin des Hauses Hermannstr. 17. Ihr Zimmer lag im gleichen Stockwerk, in dem auch Hirschbergers wohnten. Sie hat aber nur sehr kurz mit ihnen dort zusammengelebt, denn bereits eine Woche später wurde sie in das Jüdische Krankenhaus in Frankfurt verlegt.
Hugo und Jenny Hirschberger mussten sich am letzten Augustwochenende in der Synagoge in der Friedrichstr. 33 einfinden, wo die letzten organisatorischen Vorbereitungen für ihre Deportation getroffen wurden. Am 1. September wurden von dort etwa 350, zumeist ältere Wiesbadener Juden an einem regnerischen Morgen durch die Straßen zum Güterbahnhof getrieben. Auch ihr Zug wurde in Frankfurt mit weiteren Opfern bestückt. Am Zielort Theresienstadt kamen sie am folgenden Tag an, blieben aber nicht lange in diesem Ghetto. Am 19. September 1942 verließ der erste von insgesamt 11 Transporten Theresienstadt, um etwa 20.000 ältere jüdische Ghettobewohner auf Befehl Eichmanns in Sobibor der Vernichtung zuzuführen. In diesem ersten Zug mit der Zugnummer „DA 83“ saß bzw. kauerte auch das Ehepaar Hirschberger. Nach Ankunft wurden beide sofort in den dortigen Gaskammern ermordet.[29]
Über das Schicksal der Schwester Flora liegen bisher nur die Informationen vor, die das Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz vorhält. Danach hatte sie in Homburg vor der Höhe, also ebenfalls im Umfeld des Rhein-Main-Gebiets, gewohnt. Vermutlich war auch sie dort als Hausangestellte tätig. Am 20. Juli 1939 soll ihr noch die Emigration in die Niederlande gelungen sein. Gerettet hat sie das aber nicht mehr, denn am 6. Februar 1943 wurde sie dort verhaftet und in das Sammellager Westerbork verbracht. Nur drei Tage später beförderte sie ein Transport in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie am 12. Februar 1943 ermordet wurde.[30]
Herta war als einzige der Vernichtung durch ihre Flucht nach England entkommen. Aber auch für sie war es schwer in ihrem Exilland zu überleben, da ihr zunächst keine Arbeitserlaubnis erteilt wurde. Bis man ihr im November 1942 die Arbeitsaufnahme genehmigte und sie in ihrem alten Beruf als Schneiderin ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen konnte, war sie auf die öffentliche Fürsorge angewiesen. Nach ihrer Eheschließung im November 1943 wurde sie Hausfrau und versorgte die vier Kinder, die im Laufe der folgenden Jahre geboren wurden.[31]
Auch die Geschwister von Hugo Hirschberger, die beiden Schwestern Sabine und Selma Ziporah, die zuletzt in Mainz lebten, wurden in der Shoa ermordet. Leo Trepp hat mit seiner eigenen Biographie auch seinen geliebten Eltern, denen er – wie er immer wieder betonte – unendlich viel zu verdanken hatte, und auch seiner Tante Sabine ein unvergessliches Denkmal gesetzt.
Sein Vater Maier Trepp war schon lange herzkrank und verstarb, weil man den Juden die notwendigen Arzneien verweigerte, noch vor dem Beginn der Deportationen am 4. August 1941 in Mainz.[32] Im Nachhinein sprach Leo Trepp von einer Gnade, die dem Vater damit widerfahren sei.[33] Zum Zeitpunkt seines Todes war das Haus der Trepps schon längst zu einem der Mainzer Judenhäuser erklärt worden, in dem zuletzt 27 Juden wohnten,[34] darunter seit 1936 auch Sabine Hirschberger, die ledig gebliebene Schwester von Hugo, und Selma Ziporah.[35] Am 25. März 1942 wurden beide von zuhause abgeholt und durch die Straßen von Mainz getrieben. Dabei habe Leos Mutter einen Schuh verloren. Als sie versuchte, ihn schnell wieder anzuziehen – so bezeugte nach dem Krieg eine Nachbarin –, habe ein SS-Mann sie mit dem Gewehr daran gehindert. So sei sie mit nur einem Schuh in den Zug gestiegen, der an diesem Tag 1000 Juden, darunter 466 aus Mainz, in das geschlossene Ghetto Piaski in der Nähe von Lublin verbrachte. Es fungierte als Durchgangslager für die folgende Vernichtung in einem der umliegenden Todeslager Belzec, Sobibor und auch Majdanek.[36] Wo die beiden letztlich ermordet wurden, ist nicht bekannt.
Den beiden Söhnen von Maier und Selma Trepp gelang es dagegen, sich mit ihren Familien zu retten.
Leo, der nach seinem Abitur in Mainz in Frankfurt und Berlin Philosophie studierte, daneben an der sehr liberalen ‚Hochschule für die Wissenschaft des Judentums’ eine Ausbildung zum Rabbiner absolvierte, wurde 1935 als einer der letzten jüdischen Studenten in Würzburg zum Dr. phil. promoviert, kurioserweise bei einem Professor Hämel, der sowohl SA- als auch SS-Mitglied war, diese Stellung aber offenbar nutzte, um „seine“ jüdischen Doktoranten zu schützen, manchen hatte er sogar mit Geld ausgeholfen.[37]
Ab 1936 übernahm er in Oldenburg die vakante Rabbinerstelle und wurde dort noch im selben Jahr zum Landesrabbiner gewählt. In dieser Funktion musste er in den folgenden Jahren die Zerstörung seiner Gemeinden mitansehen und mitertragen. Im April 1938 heiratete er Miriam de Haas, die Tochter seines Vorgängers Philipp de Haas, der 1935 verstorben war. Im Haus der Witwe de Haas war er bei seinem Amtsantritt in Oldenburg auch untergekommen. Überlegungen angesichts der wachsenden Gefahren und der Emigration mancher Familienmitglieder und vieler Bekannter selbst auch auszuwandern, wurden damals von dem Paar schon angestellt. Die Mutter in Mainz kontaktierte entfernte, aber sehr einflussreiche Verwandte, die inzwischen in den USA Karriere gemacht hatten. Die Auswanderung hätte damals gelingen können, aber Leo Trepp folgte dem Rat eines älteren Rabbis, der von ihm erwartet, als „Kapitän des Schiffs“ als Letzter von Bord zu gehen. So war Leo Trepp noch in Deutschland, als die Novemberereignisse auch in Oldenburg auf bisher unbekannte Weise die Fratze des Nationalsozialismus zeigten. Mit vielen anderen jüdischen Männern wurde er verhaftet und vorbei an der brennenden Synagoge, vorbei an einer lachenden, johlenden und sie beschimpfenden Menschenmenge durch Oldenburg geführt,[38] um nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin verbracht zu werden.[39] Der Rabbiner, der im zuvor zum Bleiben geraten hatte, beschaffte nun die nötigen Papiere, die ihm die Entlassung aus dem KZ und am 18. Dezember 1938 mit seiner Frau die Ausreise nach England ermöglichten. Mit Kriegsbeginn waren sie aber dort zu „feindlichen Ausländern“ mit vielfältigen Beschränkungen geworden. Im Winter 1939 erhielten sie das Visum, das ihnen dann den Weg in die USA öffnete, wo im Oktober 1947 seine Tochter Susan zu Welt kam. In den Vereinigten Staaten war er in vielen Orten als Rabbiner tätig und zuletzt am Nappa College in Kalifornien bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1983 als Professor tätig. Nach dem Tod seiner Frau im Jahr 1999 heiratete er einige Jahre später Gunda Wöbken-Ekert, die auch die von ihm noch vorbereitete, aber nicht abgeschlossene Lebensgeschichte mit eigenen Anmerkungen versehen im Jahr 2018 herausgab.
Leo Trepp verstand sich in vielfacher Weise als ein Brückenbauer, ein Brückenbauer zwischen dem orthodoxen Judentum, dem er selbst entstammte, und dem liberalen, dem er sich durch sein Studium und seine Erfahrungen zugehörig fühlte. Von vielleicht noch größerer Bedeutung waren seine Bemühungen, nach dem Ende der Naziherrschaft wieder Brücken nach Deutschland zu schlagen und den Prozess der Versöhnung zu begleiten. In vielen Besuchen an deutschen Schulen und Universitäten, im Besonderen in den Städten Mainz und Oldenburg, die zentrale Orte seine Biographie waren, hat er bis ins hohe Alter versucht, seine Zuhörer über die Shoa, aber auch über die Rolle des Judentums in der deutschen Geschichte, über sein Verständnis vom Judentum überhaupt, aufzuklären. „Er stellte sich dem Schmerz der Vergangenheit, indem er in die Zukunft schaut. Vor Hass gegen die Deutschen hat er ein Leben lang sich zu schützen versucht.“ Er habe sich nicht von Gefühlen leiten lassen, sondern bewusst entschieden, nicht zu hassen – so Gunda Trepp: „Hass zerstört gänzlich, Liebe heilt gänzlich.“ – so sein Credo.[40]
Sein Bruder Gustav, ebenso gebildet in Thora und Talmud wie Leo, blieb dagegen bei der orthodoxen Lesart des Judentums und konnte auch später nie verstehen, dass sein Bruder immer noch in der Sprache der Mörder redete und schrieb. Trotz dieser gravierenden Unterschiede blieb zeitlebens eine sehr enge Verbindung zwischen den beiden bestehen. Auch er litt an dem Erfahrenen und Erlittenen, wodurch – so sein Sohn – sein Leben oft „verdunkelt“ wurde. Es waren Momente, die er nur mit seinem Bruder Leo teilen konnte. „Über beiden lag der Schatten der Shoah. Ein Schatten, der mit den Jahren länger wurde. Sie konnten ihn nicht abschütteln.“[41]
Gustav sah in seinem Bruder denjenigen, der ihm das Leben gerettet hatte. Auch er war während des Novemberpogroms verhaftet und nach Buchenwald gebracht worden. Leo, der inzwischen in England in Sicherheit war, fand jemanden, der die nötigen finanziellen Mittel bereitstellte, um ihn aus dem Konzentrationslager herauszuholen. Auch er gelangte zunächst nach England, fand aber dann einen Weg nach Palästina, wo er bis zu seinem Tod in Jerusalem lebte.
Auch in der verwandtschaftlich etwas weiter entfernten Familie von Hugo Hirschbergers Onkel bzw. Tante Hermann und Klara / Claire Hirschberger, die in Stadtlauringen wohnten und in Oberlauringen das Schabbathaus besaßen, gab es eine Reihe von Mitgliedern, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Das Ehepaar selbst, das einen Textilgeschäft besaß, war bereits vom dem Machtantritt der Nationalsozialisten verstorben und auf dem Jüdischen Friedhof in Oberlauringen begraben worden, aber deren drei Söhne konnten der Verfolgung nicht entgehen.
Der älteste, der am 15. November 1878 geborenen Siegmund, hatte nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums in Schweinfurt bis zur Obersekunda eine Ausbildung als Bankkaufmann begonnen und es geschafft, sich bei dem jüdischen Bankhaus ‚Veit L. Homburger’ in Karlsruher in die Stellung eines Prokuristen hochzuarbeiten.[42] Der sich ebenfalls dem orthodoxen Judentum zugehörig fühlende Siegmund heiratete 1878 die am 10. Februar 1878 in Fürth geborene Jenny Fellheimer, deren Eltern dort eine Kohlehandlung besaßen. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor, zunächst am 8. Februar 1925 wurde Julius, am 7. Juli 1926 Hermann in Karlsruhe geboren. Die gesamte Familie lebte nach den strengen Regeln ihres Glaubens, ging am Schabbat weder zur Arbeit noch in die Schule, holte aber das Versäumte an anderen Tagen nach. Die Eltern sorgten auch dafür, dass den Söhnen die besten Bildungschancen an öffentlichen Anstalten geboten wurden. Mit der Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten war es aber nach 1933 vorbei. Für die Söhne war der Besuch des städtischen Gymnasiums bald ein alltäglicher Spießrutenlauf, begleitet von Prügeln, Denunziationen und Beschimpfungen. In der Pogromnacht wurde auch das Haus der Hirschbergers überfallen und die Familie mit Pistolen bedroht. Sein hohes Alter, er war fast 60 Jahre alt, bewahrte Siegmund Hirschberger vor der Deportation in das KZ Dachau, wohin etwa 400 männliche Karlsruher Juden damals verschleppt wurden. Noch im gleichen Jahr wurde das Bankhaus „arisiert“, womit die Familie jetzt ohne Arbeitseinkommen war. Eine Auswanderung, die bisher für die Familie keine Option war, versuchte man nun doch noch in die Wege zu leiten.
Angesichts der begrenzten Möglichkeiten versuchten die Eltern wenigstens die beiden 12- und 13jährigen Kinder mit einem Kindertransport in Sicherheit zu bringen. Im März 1939 begleitete nur der Vater die Söhne nach Hamburg, wo sie am 21. das amerikanische Schiff „Manhattan“ bestiegen, um nach England zu gelangen. Der briefliche Kontakt zwischen Eltern und Kindern, verknüpft mit der Hoffnung auf ein gemeinsames Wiedersehen, konnte zunächst noch aufrechterhalten werden.
Am Morgen des 22. Oktober 1940 wurden Siegmund und Jenny Hirschberger im Rahmen der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion aus ihrer Wohnung geholt und mit Tausenden anderen Juden aus dem südwestdeutschen Raum in das französische Lager Gurs unterhalb der Pyrenäen verschleppt. Sporadisch konnten auch von dort Mitteilungen an die Kinder geschickt werden. In welchem erbarmungswürdigen Zustand sie dort lebten, zeigt eine kurze Nachricht, die die Söhne von dort erhielten: „Es geht und nicht gut, wir haben wenig zu essen, könnt ihr uns was schicken?“[43] Was für eine Situation, wenn Eltern ihre halbwüchsigen Kinder bitten müssen, ihnen Lebensmittel zu schicken. Hunger und Krankheiten kursierten allenthalben im Lager, auch Jenny Hirschberger erkrankte an Typhus, aber sie überlebte.- Unmittelbar nachdem sie davon genesen war, mussten Siegmund und Jenny Hirschberger Gurs verlassen. Laut Karlsruher Gedenkbuch wurden sie am 10. August 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz überstellt und dort unmittelbar nach ihrer Ankunft umgebracht. Genauer sind die Recherchen von Beate und Serge Klarsfeld, nach denen die beiden bereits am 5. August 1942 das Lager Gurs mit dem Transport Nr. 17, Zugnummer 901-12, verließen und nach einer längeren Reise mit einem Zwischenstopp in Drancy am 13. August das Ziel Auschwitz erreichten. Die neuntägige Fahrt im Güterzug muss eine Höllenfahrt gewesen sein, zumal die Ausgangszahl von 1000 Personen sich bis zur Ankunft auf das Doppelte erhöht hatte. Nicht nur an verschiedenen Orten in Frankreich, sondern auch in Deutschland, in Saarbrücken, Frankfurt a. M., Dresden und Görlitz, kamen weitere Opfer hinzu. Ob die spätere Aussage eines angeblichen Mitfahrers dieses Zuges, stimmte, dass Jenny bereits während des Transports in einem der Waggons erstickt sei, ist nicht sicher belegt, angesichts der Bedingungen aber auch nicht auszuschließen.[44] Sollte sie den Transport überlebt haben, so wurde sie und ihr Mann unmittelbar nach der Ankunft in Auschwitz – Birkenau in den Gaskammern ermordet.
Die beiden Söhne gründeten in England neue Familien. Hermann kam im Jahr 2002 nach Karlsruhe, um dort in der Schule, aus der er selbst einmal herausgeekelt worden war, über das Schicksal seiner Familie zu berichten.
Siegmunds Bruder Simon, geboren am 6. Februar 1880, war in Stadtlauringen geblieben und hatte das elterliche Geschäft für Stoffe und Nähbedarf übernommen. Aus der Ehe mit seiner aus Königsheim in der Nähe von Tauberbischofsheim stammenden Frau Regina, geborene Stern, waren drei Töchter hervorgegangen. Zunächst Ilse Babette, dann 1921 Fränzi und 1930 Lore Klara.
Ein Artikel über das Schicksal der Familie in der Main-Post vom 20. April 2012 trug die Überschrift „Nur die Töchter überlebten – weit weg von zu Hause“.[45] In knappester Form spiegelt dieser Titel die Tragik dieses Zweiges der Familie Hirschberger wider. Auch Simon gehörte zu denen, die während des Novemberpogroms verhaftet und vom 24. November bis zum 20 Dezember in Dachau interniert worden waren, das Haus und das Geschäft waren allerdings verschont worden. Ab 1939 war er in Stadtlauringen von seinen Mitbürgern, die früher ganz selbstverständlich bei ihm eingekauft hatten, als Erntehelfer verpflichtet worden. Das Geschäft muss zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben gewesen sein und auch die Kinder waren außer Landes in Sicherheit gebracht worden. Wann und auf welchem Weg Ilse, die älteste, die zuvor in Schweinfurt das städtisch Lyzeum und dann die jüdische Mädchenschule besucht hatte, nach Amerika gelangte, ist nicht bekannt. Fränzi ging 1938 zu einer jüdischen Familie nach Palästina und Lore, die jüngste, gelangte Anfang 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden. Mit ihrer Gastfamilie emigrierte sie dann 1940 in die USA.
Die Eltern wurden am 22. April 1942 mit vielen anderen Juden des Kreises Hofheim zunächst mit dem Omnibus nach Würzburg gebracht. Simon und Regina Hirschberger waren die einzigen, die aus Stadtlauringen kamen, aber immerhin 13 waren aus Oberlauringen.[46] Am 25. April verließ der Sonderzug „Da 49“ Würzburg-Aumühle, in Bamberg wurde noch weitere Juden aufgenommen, sodass das Ziel Krasnystaw an der Bahnstrecke zwischen Lemberg und Lublin am 28. April mit knapp 1000 Insassen erreicht wurde. Hier wurden die wenigen Arbeitsfähigen mit Schwerstarbeit noch so lange wie möglich verwertet. Die zuletzt völlig entkräfteten Menschen wurden, sofern sie nicht bereits zu Tode gekommen waren, am 6. Juni 1942 in den Gaskammern von Sobibor ermordet. Wann und wo genau Simon und Jenny Hirschberger zu Tode kamen, ist nicht bekannt. Vor ihrem ehemaligen Haus in der Kirchtorstraße 3 sind zu ihrem Gedenken zwei Stolpersteine eingelassen.
Über den jüngsten Bruder Berthold, geboren am 14. Juni 1883 in Stadtlauringen, liegen die wenigsten Informationen vor. Er hatte zuletzt in Berlin, im Bezirk Tiergarten am Hansa-Ufer 6, unweit vom heutigen Sitz des Bundespräsidenten, gewohnt. Welchen Beruf der ledig Gebliebene vor der Verfolgung ausgeübt hatte, ist nicht bekannt. Für den Transport vom 14. April 1942 hatte die Jüdische Gemeinde Berlin die Namen der zu Deportierenden selbst zusammenzustellen und auch für deren Verpflegung zu sorgen. Auch Berthold Hirschberger muss auf dieser Liste gestanden haben. Die Abläufe unmittelbar vor der Deportation spielten sich im Prinzip alle nach dem gleichen Muster ab, ob in Wiesbaden oder – wie hier beschrieben – in Berlin:
„Vor dem Transport erhielten die zu Deportierenden eine Benachrichtigung über ihren bevorstehenden Abtransport, darunter die üblichen Anweisungen für Transporte aus dem Reich. Bis zu 50 kg Gepäck waren erlaubt. Sie erhielten auch ein Formular, in dem ihr verbliebenes Vermögen einzutragen war. Oftmals wurden die betroffenen Juden von Gestapomännern oder von jüdischen Ordnern, die von der SS eigens dafür angeheuert worden waren, zum Sammellager gebracht. Sie drangen gewaltsam in Wohnungen von Juden ein, deren Namen auf der Deportationsliste standen, und stellten sicher, dass die Bewohner zum Abtransport bereit waren. Die Opfer hatten einige Minuten um sich fertigzumachen und mussten dann ihre Wohnungen für immer verlassen. In diesen Fällen konnten sie nur wenig Gepäck mitnehmen. Auf der Straße mussten sie einen Lastwagen besteigen, mit dem auch andere Juden abgeholt wurden. Anschließend wurden sie zum Sammellager in die Synagoge Levetzowstraße 7-8 im Berliner Stadtteil Tiergarten gebracht. Nach der Ankunft in der Synagoge, wo sie von Schutzpolizisten bewacht wurden, wurden die Identität und der verbleibende Besitz der jüdischen Opfer umfassend registriert. Dieser Vorgang wurde oft von brutalen Misshandlungen begleitet. Die Gestapo zwang sie, ihr Eigentum aufzulisten und ihre Wohnungsschlüssel abzugeben. Dann mussten sie ein Dokument unterzeichnen, in dem sie auf ihren gesamten Besitz verzichteten und diesen dem Staat übertrugen. Sie wurden auch gezwungen, sämtliche Wertgegenstände und mitgeführtes Bargeld abzugeben. Zeitweise drängten sich mehr als 1.000 Menschen in der Synagoge und warteten tagelang auf die Abfahrt ihres Transports. Sie schliefen auf dem Fußboden oder auf Strohsäcken. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal und der Gemütszustand der Deportierten war entsprechend. Am Ort waren Ärzte und Krankenschwestern, die so gut es ging zu helfen versuchten, dennoch erlitten einige Menschen Nervenzusammenbrüche und manche begingen sogar Selbstmord. Nach Abgang des Transports bot die Gestapo die jüdischen Besitztümer in einer Auktion zum Verkauf an.“[47]
So schlimm diese letzten Tage in Berlin waren, sie waren nichts im Vergleich zu dem, was sie an ihrem Zielort, dem schon längst völlig überfüllten Warschauer Ghetto, erwarten sollte. Der Vorsitzende des Judenrats Adam Czerniaków hatte wohl am Tag zuvor von dem Transport erfahren. In seinem Tagebuch notierte er: „Morgen Nacht sollen 1000 Juden aus Deutschland eintreffen.“ Erst am frühen Morgen des 16. April fuhr um 5:30 Uhr der Zug ein. Adam Czerniaków empfing die Neuankömmlinge auf dem Umschlagplatz bei 4 ° + C – wie er notierte: „“Es sieht nach 1000 Personen aus. Ich begleitete den Transport zur Judaistischen Bibliothek.“ [48] Das Gebäude beherbergte in dieser Zeit die „Jüdische Soziale Selbsthilfe“, aber Hilfe erfuhr auch Berthold Hirschberger hier nicht mehr, zumindest keine, die ihn vor dem Tod bewahrte. Über den Ort, wo er ermordet wurde liegen keine sicheren Informationen vor. Laut Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz wurde er am 13. Juni 1942 in Sobibor vergast. Auch der Neffe Fred Gottlieb, der selbst mit einem Kindertransport der Vernichtung entkommen war, machte auf seinem in Yad Vashem hinterlegten ‚Page of Testimony’ die gleiche Angabe. Das Gedenkbuch über die ermordeten Juden Berlins nennt hingegen Majdanek als Ort seines Todes, ohne aber ein Todesdatum anzugeben.[49]
Stand: 12. 09. 2019
Anmerkungen:
[1] Es wohnte allerdings auch ein Max Hirschberger mit seiner Frau Kate Pearl, geborene Cohen, seit Mitte der Zwanziger Jahre in Wiesbaden, dieser stammte allerdings aus Heilbronn. Ob es zu dieser Familie eine verwandtschaftliche Verbindung gab, ist bisher nicht bekannt.
[2] https://www.oberland-kurier.de/buerger-info/wissenswertes-mainmenu-241/1217-1200-jahre-oberlauringen-die-ansiedlung-der-juden-in-oberlauringen-teil-ix. (Zugriff: 20.7.2019).
[3] http://www.alemannia-judaica.de/oberlauringen_synagoge.htm (Zugriff: 20.7.2019).
[4] Zu den Angaben siehe http://www.archive.org/stream/treppfamilyf001#page/n5/mode/1up. (Zugriff: 20.7.2019).
[5] Gunda Trepp, Der letzte Rabbiner. Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp, Darmstadt 2018, S. 73-105. Noch beeindruckender ist es, wenn man die Beschreibung seines Lebens und seine Erinnerungen an Oberlauringen von ihm selbst vorgetragen hört. Die CD ‚Rabbiner Leo Trepp’ wurde in der Reihe ‚Edition Zeugen der Zeit’ der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden 2014 herausgegeben.
[6] Noch heute bezeichnet sich Oberlauringen als „Rückert-Dorf“. Siehe zu Rückert die Anmerkungen 1 und den dort veröffentlichten Ausschnitt aus seinem Gedicht ‚Die Bauern und ihr gnädiger Herr‘ im Kapitel zu Jakob Fink.
[7] Als typisches Beispiel führt Trepp den pensionierten Beamte Kammerer an, der „in steifem Kragen und dunklem Anzug durch die Straßen (lief) und die Juden mit den hebräischen Worten ‚Zedek, zedek tirdo’ – ‚Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollt ihr nachjagen’ (begrüßte). Wir wussten nie, ob er uns das sagte, um mit seiner Kenntnis des hebräischen Satzes seine Verbundenheit mit den Juden auszudrücken, oder ob er sie vorurteilsvoll ermahnen wollte: ‚Lernt mal, Juden, ehrlich und gerecht zu sein, das gebietet eure Schrift’“. Ebd. S. 84. Vermutlich war wohl vor allem Letzteres gemeint.
[8] Leo Trepp schilderte die Begebenheit folgendermaßen: „Die Inflation brachte den Rechten immer mehr Anhänger. Eine antisemitische Organisation, eine Splittergruppe der aufgelösten Brigade Ehrhardt, war auch in Oberlauringen aktiv. Einer ihrer Haßredner hatte auf dem Platz vor der Kirche zum ganzen Dorf gesprochen. Die Juden seien an der ganzen Not des Volkes schuld. Sie beherrschten die gesamte Industrie und das Finanzwesen. Onkel Hugo, wie er uns erzählte, konnte dem Redner das nicht durchgehen lassen und schrie mit lauter Stimme durch die Menge: „Stinnes“. Hugo Stinnes, der bedeutendste, mächtigste und reichste Industrielle Deutschlands, zugleich Reichstagsabgeordneter, war kein Jude. Sofort lief der Amtsmann des Dorfes zu meinem Onkel hinüber: ‚Herr Hirschberger, wenn sie noch einmal den Mund aufmachen, verhafte ich sie.’ Es geschah nichts, das Dorf blieb ruhig, doch der antijüdische Charakter wurde von den Behörden gebilligt, und uns brachten diese Geschehnisse die unterschwellige Antipathie der Bevölkerung erneut ins Bewusstsein.“ Ebd. S. 85 f.
[9] HHStAW 469/33 3668 (6), Heiratsregister der Stadt Schweinfurt 84 / 1907.
[10] Zu den Geburtsangaben sie ebd. (3, 4). Es handelt sich um keine amtlichen Auskünfte, sondern um die der Schwester Herta aus dem Entschädigungsverfahren. Zumindest ist die von ihr gemachte Angabe zum Geburtstag von Max nicht richtig. Sie gab fälschlicherweise als Geburtsmonat den Dezember statt den März an, siehe die Geburtsurkunde 3 / 1912 des Standesamts Oberlauringen.
[11] Trepp, Letzte Rabbiner, S. 86 f. Nach Auskunft des heutigen Bezirkskrankenhauses Lohr, dem von Leo Trepp erwähnten ehemaligen Sanatorium, wurde Max Hirschberger am 6.4.1933 dort eingeliefert. Er verstarb dort nach etwa fünf Jahren am 10.3.1938, siehe Sterberegister Lohr 24 / 1938. Die Informationen zu Max Hirschberger verdanke ich Herrn W-D Gutsch.
[12] HHStAW 518 16414 (26, 10). Laut Gewerbeanmeldung hatte Hugo Hirschberger das Geschäft 1907 übernommen. Das Gewerbe war im Erdgeschoss des Hauses 48/49, dem Wohnsitz der Familie angesiedelt. Neben dem 26 qm großen Laden waren hier auch das 10 qm große Schlafzimmer und eine kleine Küche gelegen. Im Obergeschoss befanden sich noch einmal zwei kleine Schlafzimmer mit je 8 qm. Es müssen sehr beengte Verhältnisse in dem Haus geherrscht haben, zumindest solange die Kinder noch zu Hause lebten, ebd. (25). Wenn Trepp von dem etwas größeren Haus seines Onkels schreibt, dann kann man sich vorstellen, wie klein die Häuser der anderen Juden zumeist gewesen sein müssen.
[13] Ebd. S. 87. Auch auf der Steuerakte von Hugo Hirschberger beim Finanzamt Wiesbaden ist er als Seifen- und Waschmittelhändler bezeichnet, siehe HHStAW 685 297 a (Deckblatt).
[14] HHStAW 685 297 (passim). Die Tochter Herta hatte im Entschädigungsverfahren angegeben, dass der jährliche Verdienst vor der Verfolgung sich auf etwa 5.000 RM belaufen hätte. Es ist möglich, dass dies für die sogenannte Stabilitätsphase zwischen 1924 und der ersten Hälfte des Jahres 1929 zutreffend ist, kaum aber für die folgenden Jahre bis 1933. Siehe HHStAW 518 16414 (34).
In der Devisenakte von Max Mayer Wreschner ist im Formular, in dem er sein Vermögen und seine Lebenshaltungskosten offenlegen musste, angegeben, dass er monatliche Ausgaben für eine Haushälterin in Höhe von 55 RM habe. Ein Name ist hier zwar nicht genannt, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Betty Hirschberger handelte, ist sehr groß. Siehe HHStAW 519/3 5950 (6).
Der aus Posen stammende Max Wreschner, geboren 1867, war bereits über siebzig Jahre alt und leidend, seine Frau Mathilde, geborene Bloch, war schon am 13.12.1927 verstorben. Laut der ‚Aufstellung des ehemaligen Jüdischen Eigentums‘ von 1946, Stadtarchiv Wiesbaden WI/3 983, waren Wreschners auch Eigentümer des Hauses Neubauerstr. 6. Im Wiesbadener Adressbuch von 1938 ist Max Wreschner allerdings nur noch als Verwalter eingetragen, Als Eigentümerin ist hier seine Tochter Irma Theba Erlanger, die in die Schweiz ausgewandert war, vermerkt. Diese war inzwischen am 20.10.1938 ebenfalls verstorben, sodass das Haus ihrem Mann Rafael Erlanger zufiel. Siehe HHStAW 518 44864 (4, 83). Max Wreschner wurde am 29.4.1942 in das Jüdische Krankenhaus in der Frankfurter Gagernstraße verlegt, wo er am 11.5.1942 verstarb. Zuvor hatte er aber offensichtlich noch kurzzeitig im Haus der Eigentümer des Judenhauses Hermannstr. 17, bei Goldschmidts in der Philippsbergstr. 25 im zweiten Stock gewohnt, siehe ebd. (83). Auch das spricht dafür, dass Betty Hirschberger in den letzten Jahren seine Haushälterin war.
[16] HHStAW 469/33 3668 (12).
[17] HHStAW 518 16414 (25).
[18] Ebd. (7-9). Die Zerstörungen wurden im Entschädigungsverfahren anerkannt und entschädigt, siehe ebd. (40-42).
[19] Nur die Töchter überlebten – weit weg von zu Hause, Mainpost vom 20.4.2012. Simon Hirschberger und seine Frau Regina wurden im Holocaust ermordet. Für sie wurde in Stadtlauringen ein Stolperstein zu ihrem Gedächtnis gelegt. Ihren drei Töchtern Ilse, Fränzi und Lore gelang die Auswanderung in die USA bzw. Palästina.
[20] Dies ist das Ergebnis eines Vergleichs der Bewohner laut Wiesbadener Adressbuch von 1938 mit der Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung. Nach dem Krieg bewohnten noch immer 9 Mietparteien aus der Vorkriegszeit das Haus.
[21] HHStAW 519/3 337 (1).
[22] Ebd. (5, 6).
[23] Ebd. (8, 9).
[24] Ebd. (10). Der Antrag wurde genehmigt, ebd. (11). Dennoch fragte die NSDAP-Ortsgruppe Oberlauringen wenig später bei der Devisenstelle an, ob diese Einwilligung den Tatsachen entspräche, was diese wiederum bestätigte. Ebd. (12, 13).
[25] Siehe zu ihrer Biographie ihre eidesstattliche Erklärung in HHStAW 518 54514 (5).
[26] HHStAW 518 16414 (7).
[27] HHStAW 685 297 (o.P.).
[28] In der Liste ist ihr Nachnahme mit Schönstedt angegeben.
[29] Zu den Transporten siehe Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.224-229.
[30] http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de883792 (Zugriff: 12.8.2019). Sie ist nicht zu verwechseln mit der ebenfalls in Oberlauringen, allerdings im Jahr 1916 geborenen Flora Hirschberger, die in Piaski ermordet wurde.
[31] HHStAW 518 54514 (5).
[32] Trepp, Der letzte Rabbiner, S. 210.
[33] ‚Rabbiner Leo Trepp’, ‚Edition Zeugen der Zeit’ CD-Aufnahme.
[34] Vermutlich handelt es sich dabei um das Haus Adam-Karrillon-Straße 13, das unmittelbar an der Einmündung zum Hindenburgplatz lag. Leo Trepp nannte den Hindenburgplatz als Adresse seines Elternhauses.
[35] Von Beruf war sie vermutlich Schneiderin gewesen. Zumindest erwähnt Leo Trepp, dass sie in Würzburg bei einem Schneider arbeitete, als er die Promotionsunterlagen dorthin gesandt hatte, weil er von der Berliner Universität nach Würzburg wechselte. Er wechselte die Universität, um dort seinen jüngeren Bruder Gustav zu betreuen, der wegen der ständigen Repressalien 1934 das Mainzer Gymnasium verlassen hatte und seine Schullaufbahn ebenfalls in Würzburg fortsetzte, siehe Trepp, Der letzte Rabbiner, S. 123 f.
[36] Siehe Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 186 f. Der Zug wurde später noch weiter „aufgefüllt“. Über die Ankunft des Transports aus Mainz liegt eine schriftliche Quelle, ein Brief des zuvor deportierten Ehepaars Bauchwitz an ihre Tochter, vor, aus der Gottwaldt / Schulle zitieren: „Wir sind von 700 etwa noch 150 hier. … Wir stehen noch stark unter dem Eindruck der letzten Tage. Es ist wüst leer. Die 1500 aus Mainz, Worms und Darmstadt sind in die Wohnungen der Verreisten gekommen. Sie haben keinen Pfennig Geld! Man erzählt, viele seien unterwegs gestorben.“ Ebd.
[37] Prof. Hämel war nach dem Krieg wegen vermeintlicher Nähe zum Nazistaat aus seinen Ämtern an der Universität entlassen worden, dann durch die Fürsprache seiner Studenten aber wieder rehabilitiert worden. Auch Leo Trepp nahm nach 1945 wieder Kontakt mit ihm auf und es folgte einer kontinuierlicher und intensiver Briefwechsel mit seinem früheren Doktorvater. Siehe dazu Trepp, Der letzte Rabbiner, S 131, zu seiner Ausbildungszeit ebd. 107 ff.
[38] Ebd. S. 190 befindet sich ein Bild von diesem Zug, auf dem auch Leo Trepp zu erkennen ist.
[39] Die Ankunft in diesem Lager wurde von Leo Trepp so eindrucksvoll beschrieben, dass die Passage hier in voller Länge zitiert werden soll: „Am Abend hielt der Zug mitten auf einer dunklen Wiese. Wir mußten rausspringen, hinter uns bellten die Hunde, und die SS-Männer schrien: ’Raus! Raus!“ Wir mußten in Fünfergruppen laufen. Einige von uns, die schwächer waren, konnten unter ihren Hieben nicht rennen und fielen immer wieder hin. Vorne liefen die Leute aufeinander auf, wenn alle abrupt stehenbleiben mußten. Dann lagen sie auf dem Boden, und die Wachen traten sie und schlugen sie mit Gewehren, damit sie wieder aufstanden. Wir hakten uns ein, damit die Starken die anderen mitziehen konnten. Das war mein Glück. Denn ich stürzte über einen Markstein und verstauchte mir den Knöchel. Und wäre wahrscheinlich nicht mehr weitergegangen, wenn die anderen mich nicht hochgehoben hätten. Und dann trieben sie uns hinein ins Lager. ‚Rasch! Stehenbleiben! Rasch! Stehenbleiben!’ Für den Rest der Nacht mußten wir in Reih und Glied vor Gräben ausharren, stehend. Einige der älteren Männer brachen zusammen. Einer davon direkt vor mir. Plötzlich knickte er weg. Der SS-Mann sagte: ‚Judde-Doktor, gucke mal!’ Dann kam ein Arzt aus unseren Reihen, legte sein Ohr auf die Brust des anderen und sagte: ‚Der Mann hat einen schweren Herzanfall, der muß sofort ins Lazarett.’ Daraufhin verhöhnte der Schutzstaffler ihn: ‚Krankenhaus? Für’n Jud? Der ist ja tot.’ Er verpaßte ihm ein paar Tritte, und noch ein paar Tritte, offensichtlich wollte er ihn tottreten, und der Mann zuckte, und dann rief der SS-Offizier einen der Häftlinge mit einem Karren und rief: ‚Hier, schmeiß den weg. Der ist tot.’ Er war aber nicht tot. Lebendigen Leibes warf man diesen Mann auf den Holzwagen und schob ihn in die Totenkammer.
Eine Latrine gab es nicht. Man mußte sich am Rand einer Grube entleeren. Kaum hatte der Häftling angefangen, schrie eine Wache: ‚Zwick es ab.’ Beschmutzt und dennoch ohne Erleichterung mußte er in die Reihe zurücktreten. Am nächsten Morgen wurden wir untersucht, um uns zu beschämen vollkommen nackt. Einer der SS-Leute fragte mich nach meinem Beruf. ‚Rabbiner.’ Darauf schlug er mir rechts und links ins Gesicht, immer wieder, bis meine Brille runterfiel. Wir füllten die Karten für die Registratur aus – sie hatte zwei Vermerke, ‚entlassen am’ und ‚gestorben am’ -, bekamen unsere Kleidung, einen dünnen Pyjama, und dann wurden uns die Köpfe geschoren. Nachdem wir in die Baracken eingewiesen worden waren, bekamen wir zum ersten Mal etwas zu essen, eine wässrige Kartoffelsuppe, in der kleine Streifen Walfischfleisch schwammen. Die ganz Frommen wollten sie nicht essen, weil Wal nicht koscher ist. Ich sagte ihnen: ‚Ihr müßt es essen. Nach den jüdischen Gesetzen ist es eure Pflicht, euer Leben zu erhalten, soweit ihres könnt.’ Das Lager war von einer Mauer mit Wachtürmen und einem elektrischen Zaun umgeben. Jeder Tag war gleich. Am Morgen, so gegen vier oder fünf Uhr, mußten wir auf dem Paradeplatz stehen, um gezählt zu werden, und gezählt und gezählt, Stunden. Über uns kreisten die Scheinwerfer des Flutlichts, wir waren wie eingekesselt, alle Maschinengewehre auf den Wachtürmen auf uns gerichtet. Jeden Abend dasselbe. Im Laufe des Tages ließ man uns alle mögliche nutzlose Arbeit verrichten. Hinsetzen, in die Knie gehen, immer wieder. Oder wir mußten auf den Lagerstraßen winzige Abfälle wegräumen und Gräser ausrupfen. Übersah man auch nur das kleinste bißchen, wurde der einzelne oder die Gruppe scharf bestraft. Doch meistens mußten wir Sandsäcke einen Hügel hinauf- und wieder hinunterschleppen, hinauf und runter, den ganzen Tag. Die älteren Gefangenen warnten uns vor den ‚Scherzen’ im Lager. Manchmal riefen die Wachleute Gefangene zu sich, standen dabei aber schon jenseits der unmarkierten Grenze, die wir nicht übertreten durften. Die Männer, die dem Befehl folgten, wurden zum Vergnügen der anwesenden Wachen ‚auf der Flucht’ erschossen.
Dann kam eine Nacht, in der wir uns gegen vier Uhr morgens zum Appell einfinden mußten, der Regen rieselte, der Kommandant kam auf seinen Balkon und schrie: ‚ Ihr seid der Abschaum der Menschheit. Ihr seid das Gift der Menschheit. Verbrecher. Was immer meine Männer mit euch tun, sie haben das Recht dazu. Sie können jeden einzelnen von euch erschießen, ohne daß ihnen etwas geschieht.’ Alle Scheinwerfer richteten sich auf uns, und ich war mir sicher, daß er den Befehl geben würde zu schießen. Dies war das Ende. Und in dem Augenblick hatte ich plötzlich ein gewissermaßen sichtbares Bewußtsein der Gegenwart Gottes. Ich sprach mein Glaubensbekenntnis, und dann sagte ich ‚Lieber Gott. Wenn es Dein Wille ist, daß ich jetzt für Dich sterbe: Ich bin bereit.’ Diese unmittelbare Nähe zu Gott habe ich so nie wieder im Leben gefühlt. Aber es bezeugt die göttliche Gegenwart in einer persönlichen Erfahrung an einem Ort, wo man sie am wenigsten erwartet.“ Ebd. S. 191 f. Trotz dieser sehr persönlichen Gotteserfahrung blieb der Schrecken dieser Tage in Sachsenhausen in den später immer wiederkehrenden nächtlichen Alpträumen für immer gegenwärtig.
[40] Ebd. S. 231 f.
[41] Ebd. S. 120.
[42] Schüler des Heisenberg-Gymnasiums in Karlsruhe haben im Schuljahr 2002 / 03 eine recht umfassende Biographie für das „Karlsruher Gedenkbuch für die Karlsruher Juden“ erarbeitet. Die Darstellung folgt weitgehend diesem Artikel, wenngleich nicht sicher ist, ob die Angaben immer den Fakten entsprechen. So wird hier Siegmund als zweitältester der Gebrüder bezeichnet, er war aber mit Sicherheit der älteste. Siehe http://gedenkbuch.informedia.de/gedenkbuch.php/PID/12/name/1721/seite/3/suche/H.html. (Zugriff 7.2.2020)
[43] Zit. nach http://gedenkbuch.informedia.de/gedenkbuch.php/PID/12/name/1721/seite/3/suche/H.html. (Zugriff 7.2.2020)
[44] Zum angeblichen Erstickungstod siehe ebd. Siehe die Liste der Deportationen aus Drancy unter https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/chronology/viewFrance.xhtml. (Zugriff: 18.8.2019), wo auch für den 10.8.1942 ein solcher Zug eingetragen ist. Auch im Personenregister sind Sigmund und Jenny Hirschberger diesem Transport zugeordnet, siehe http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de883816 und http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de883799. (Zugriff: 18.8.2019). Zu den Transporten von Gurs in diesen Tagen sind auf der Seite in Yad Vashem ausführliche Anmerkungen zu lesen, siehe https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=en&itemId=5092588. (Zugriff: 18.8.2019). Für die beiden wurden in Yad Vashem auch ‚Pages of Testimony’ hinterlegt hat, siehe https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Hirschberger&s_firstName=Sigmund&s_place=&s_dateOfBirth=, (Zugriff: 18.8.2019) und https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Hirschberger%20&s_firstName=Jenny&s_place=&s_dateOfBirth=. (Zugriff: 18.8.2019).
[45] Main-Post vom 20.4.2012. Hieraus sind auch die folgenden Angaben entnommen.
[46] Siehe die umfassende Darstellung dieser Deportation aus Unterfranken, bei der die einzelnen Landgemeinden systematisch „ausgekämmt“ wurden, bei Gottwaldt / Schülle, Judendeportationen, S. 197-201. Hier ist auch ein Foto abgebildet, das den Zug der Menschen auf ihrem Weg durch Würzburg zur Verladestation am dortigen Güterbahnhof zeigt.
[47] https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=de&itemId=5092661. (Zugriff: 18.8.2019), siehe zu diesem Transport auch http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_ber_ot13.html. (Zugriff: 18.8.2019). In der einzig erhaltenen Liste mit Namen aus Berlin ist Berthold Hirschberger nicht aufgeführt.
[48] Czerniaków, Adam, Im Warschauer Ghetto. Das Tagebuch des Adam Czerniaków 1939-1942, München 1986, S. 243
[49] http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1092928. (Zugriff: 18.8.2019), https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11418085&ind=0, (Zugriff: 18.8.2019) und https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4105630&ind=2. (Zugriff: 18.8.2019).