Errichtung der „Judenhäuser“

Die Vorbereitung

 

Trotz der insgesamt sehr dürftigen Quellenlage lassen sich auf der Basis der wenigen vorhandenen Dokumente dennoch einige zeitliche Abläufe und Interaktionen zwischen einzelnen kommunalen Behörden, Parteigliederungen und anderen Institutionen bei der Errichtung der Wiesbadener Judenhäuser rekonstruieren.

Im Folgenden soll geklärt werden, wann und durch wen die Initiative zu deren Einrichtung hier in Wiesbaden ergriffen wurde und welche Kriterien bei der Auswahl der Häuser eine Rolle gespielt haben werden. In einem nächsten Schritt wird untersucht, wie die Pläne organisatorisch umgesetzt wurden und mit welchen vielfältigen Problemen man dabei konfrontiert war. Auf der Basis der dabei untersuchten Quellen sollen die verschiedenen in diesen Prozess involvierten Akteure herausgearbeitet werden. Die Überlieferung lässt es allerdings nicht zu, hier klare Entscheidungs- und Hierarchieketten zu ermitteln. Man wird sich vielfach mit Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten abfinden müssen. Möglicherweise gab es solche klaren Strukturen auch gar nicht und viele Maßnahmen beruhten auf Ad-hoc-Entscheidungen oder ergaben sich in einer nur partiell rechtlich kodifizierten Handlungssphäre aus den jeweiligen momentanen Kräfteverhältnissen zwischen den beteiligten Akteuren. Abschließend geht es, auch im Vergleich mit anderen Städten, um wesentliche Charakteristika der Wiesbadener Judenhäuser und um ihre Bedeutung bei den Deportationen 1942.

Judenhäuser Judenhausliste Wiesbaden
Judenhausliste (1) Jan. 1940 HHStAW 483 10127 (66)
Judenhäuser Liste Wiesbaden
Judenhausliste (2) Jan. 1940 HHStAW 483 10127 (67)

Die älteste, in Wahrheit sogar die einzige Liste, die in den Akten des HHStAW zur Wiesbadener NSDAP erhalten ist und sich mit dem Komplex Judenhäuser befasst, stammt von der Ortsgruppe Ost und trägt den Eingangsstempel 24. Januar 1940. Die Überschrift „Liste über die Anzahl der Häuser u. Wohnungen für die Zusammenlegung der Juden in Wiesbaden“ lässt keinen Zweifel an dem Zweck der Aufstellung. Sie enthält insgesamt 48 Adressen, davon drei in Schierstein und drei in Biebrich. Neben den Anschriften sind die Gesamtzahl der in den Häusern befindlichen Wohnungen und die davon an Juden vermieteten bzw. untervermieteten Wohnungen aufgeführt.[1] Über das Zustandekommen dieser Liste gibt es keine weiteren Informationen.

Augenscheinlich hatte auch in Wiesbaden die hiesige NSDAP im Gefolge des neuen Mietgesetzes veranlasst, dass entsprechende Listen über jüdische Haus- und Wohnungsbesitzer einerseits und jüdische Mieter andererseits zusammengestellt wurden.

Ganz offensichtlich hatte das jüdische Eigentum am jeweiligen Haus und die Zahl der darin bereits lebenden Juden eine wichtige Rolle bei dieser ersten Auswahl gespielt. Aber gerade im Hinblick auf die jüdische Eigentümerschaft, die gemeinhin als wesentliches Merkmal eines Judenhauses angesehen wird,[2] galt diese Regelung zumindest in Wiesbaden nicht konsequent, wie sich an den beiden Judenhäusern in der Dotzheimer Str. 15 bzw. der Rüdesheimer Str. 16 nachweisen lässt, die zwar ursprünglich in jüdischem, durch Erbschaft aber seit etwa 15 Jahren in arischem bzw. halbjüdischem Besitz waren.[3]

Auch sind in der Liste Häuser aufgeführt, die keine bzw. kaum jüdische Mieter hatten, wie etwa die Ludwigstr. 3, in der zu diesem Zeitpunkt kein einziger Jude wohnte, die dafür aber über eine große Zahl von Wohnungen verfügte. Die Anzahl der Wohnungen scheint zumindest auch ein Kriterium gewesen zu sein, wenngleich auch eine ganze Reihe Häuser benannt wurden, die nur über drei Wohnungen verfügten.

Judenhäuser Wiesbaden Innenstadt
Judenhäuser in der Innenstadt – Die Nummerierung entspricht der NSDAP-Liste

Eindeutige und nachvollziehbare Kriterien hat es also nicht gegeben, vielmehr scheint auch hier – wie so oft – eher eine bürokratisch organisierte Willkür Grundlage des Handelns gewesen zu sein. Wieso also gerade diese Häuser aus dem im Jahre 1935 noch 400 Häuser umfassenden jüdischen Immobilienbesitz[4] ausgewählt wurden, lässt sich nicht mehr klären.[5]

Dass für den Zweck trotz offensichtlicher Ausnahmen grundsätzlich nur Häuser in Frage kamen, die sich noch in jüdischem Besitz befanden, ist allein schon deshalb logisch, weil man arischen Hausbesitzern die Einweisung von Juden nicht zumuten wollte, dies auf Grund des Mietgesetzes auch gar nicht konnte.

Judenhäuser Wiesbaden Biebrich
Judenhäuser in Biebrich

Es mag auch verwundern, dass etwa mit den Anwesen Nerotal 43 und 53, den Villen in der Lanzstr. 6 oder der Blumenstr. 7 etliche Häuser benannt sind, die nach Aussehen, Lage und ursprünglicher Wohnqualität so gar nicht in das Bild der Ghettohäuser passen, wie man sie etwa aus den Filmen über das Warschauer Ghetto kennt. Heute zählen viele dieser Adressen wieder zu den ersten und besten der Stadt.[6]

Anders als in Frankfurt, wo man nach Hebaufs Ansicht versuchte die Juden aus dem besonders attraktiven Westend zu vertreiben,[7] ist für Wiesbaden ein solches Vorgehen nicht zu erkennen.

Judenhäuser Wiesbaden Schierstein
Judenhäuser in Schierstein

Wenn man die Adressen im Stadtplan verortet, so sieht man, dass, abgesehen von den Judenhäusern in den Vororten, die gewählten Standorte über den ganzen Innenstadtbereich verteilt waren, vielleicht mit einer leichten Konzentration auf den Kaiser-Friedrich-Ring mit seinen Nebenstraßen, einem Wohngebiet, das zwar nicht zu den bevorzugten Villenlagen gehört, aber auch damals keineswegs als minderwertig angesehen wurde. Wieso man nicht verstärkt auf die weniger guten Wohnlagen und Gebäude etwa in den Straßen des Westends, zum Beispiel auf die jüdischen Immobilien in der Blücherstraße, der Helenenstraße oder der Bleichstraße zurückgegriffen hat, ist nicht nachvollziehbar. Ein jüdisches Ghetto, was es nach den Vorgaben zu verhindern galt, wäre dort auch so noch lange nicht entstanden.

Man muss sich allerdings vor Augen halten, dass von Anbeginn an die Nationalsozialisten sich die spätere Aneignung und Verwertung dieser Immobilien zum Ziel gesetzt hatten und die Zusammenlegung der Juden in diesen Häusern nur als Überbrückung bis zur Auswanderung oder Deportation gedacht war.

Auf Basis der getroffenen Vorauswahl versuchte man offensichtlich sich im Weiteren einen Überblick darüber zu verschaffen, welcher tatsächliche ‚jüdische Wohnbedarf’ aktuell vorhanden war und wie viele Judenhäuser man dementsprechend einzurichten hatte.
Im Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden hatte man im Paragraph 12 den Gemeindebehörden die Möglichkeit gegeben Anordnungen über die Anmeldung von Räumen (zu) erlassen, die an Juden vermietet sind oder die für die Unterbringung von Juden nach den Vorschriften dieses Gesetzes in Anspruch genommen werden können.“[8]

Nationalsozialistisches Mietgesetz Wiesbaden Judenhäuser
Wiesbadener Tagblatt vom 2.8.1939

Auch in Wiesbaden hat es eine entsprechende Anordnung gegeben. Zwar liegt auf Grund der mehr als lückenhaften behördlichen Überlieferung das Original einer solchen Anweisung nicht mehr vor, erhalten geblieben ist aber der Aufruf des Oberbürgermeisters vom 2. August 1939, der bereits am 5. Juli 1939 erlassenen Anordnung zur Anmeldung von jüdischen Mietern, Untermietern und Hauseigentümern bei der zuständigen Baupolizei unbedingt Folge zu leisten. Demjenigen, der die letzte Frist bis zum 10. August verstreichen lasse, wurde eine Strafe von 150 RM bzw. sogar Haft angedroht. Der angegebene Zweck, alle jüdischen Hauseigentümer und Einwohner erfassen zu wollen, konnte allerdings mit den konkreten Anweisungen nicht wirklich erfüllt werden, denn gemeldet werden sollten neben den jüdischen Grundeigentümern nur sämtliche jüdischen Mieter und Untermieter, die „in nichtjüdischen Häusern“ wohnten. Mieter jüdischer Hauseigentümer wären demnach nicht erfasst worden. Dass auch diese erfasst werden sollten, ergibt sich aus einem Brief vom 12. Juli 1939 von Sebald Strauss, Eigentümer des späteren Judenhauses Bahnhofstr. 46, an seinen in der Emigration in Bolivien lebenden Sohn Alfred. Darin heißt es: „Sämtliche von Juden bewohnten Räume müssen bis zum 20ten bei der Stadt angemeldet sein.“[9]

Neue Mietverträge mit jüdischen Mietern und Untermietern bedurften – unabhängig davon, ob der Vermieter jüdisch war oder nicht – ab sofort einer baupolizeilichen Genehmigung. Jede freiwerdende Wohnung und zur Untervermietung geeignete Zimmer in einem Haus in jüdischem Besitz waren der Baupolizei unverzüglich zu melden. Zudem wurde für Juden eine Zuzugssperre angeordnet, die aber, wie die Bevölkerungsentwicklung Wiesbadens zeigt, kaum eingehalten worden sein kann.[10]

Die vorliegende Judenhausliste baut vermutlich auf dieser Anmeldepflicht auf. Interessant ist aber, dass offensichtlich nicht nur die Ämter selbst, sondern auch die NSDAP initiativ geworden war. Möglicherweise zeigt sich hierin wieder die für den NS-Staat so typische Verwaltungsanarchie konkurrierender Akteure, vielleicht handelt es sich aber auch um die gelungene Kooperation von Behörden und Partei, geeint im Ziel, die Juden aus der Volksgemeinschaft herauszudrängen. Die Wohnungsämter verfügten angesichts der Fluktuation möglicherweise nicht immer über aktuelle Daten, die den wirklichen Ist-Zustand erfassten, die Partei, die mit ihrer hierarchischen Struktur über Zellen- und Blockwarte in jedes Haus hineinreichte, konnte einen solchen aktuellen Zustand relativ leicht feststellen. Allerdings waren auch die Auskünfte, die die Blockwarte nach oben leiteten, nicht immer richtig und auf dem neuesten Stand.

Zur Erfassung der von Juden belegten Wohnungen wurde also unabhängig von der Kommunalbehörde auch von der örtlichen NSDAP-Führung eine Erhebung veranlasst, für die auf der untersten Ebene die jeweiligen Zellenleiter verantwortlich waren. Sie hatten der Ortsgruppenleitung die entsprechenden Daten zu liefern. Zumindest sind deren Meldungen, oft handschriftlich und auf einfachen Zetteln, im Hessischen Hauptstaatsarchiv zu einem großen Teil erhalten geblieben. Die weitgehend aus dem Zeitraum Mai bis Juni 1940 stammenden Notizen der jeweiligen Blockwarte sind an den Ortsgruppenleiter „Pg. Leuthaus“ gerichtet und beinhalten z. T. auch weitergehende Informationen über die Mieter, wie Alter und Beruf, die Höhe des Mietzinses und Angaben über die Ausstattung der jeweiligen Wohnungen. Offensichtlich gab es also keine normierte und formal festgelegte Erhebung, sondern jeder Blockwart konnte je nach eigenem ‚Engagement’ zur Informationsbeschaffung beitragen. Die Zelle 12 Block 03 meldete nur „Fehlanzeige“, sprich: „judenfrei“.[11]

Die Aktion war offensichtlich bereits im Januar 1940 gestartet worden, denn von der Zelle 07, aber nur von dieser, liegt eine sogar sehr umfassende Meldung bereits vom Anfang des Jahres vor.[12] Allerdings schreibt auch der „Pg. Hunger“, Zellenleiter der Zelle 02, am 7. Juni 1940: „Judenwohnungen. Habe ich schon einmal, auf Grund einer Anfrage vom 29. I. 1940 bekanntgegeben !“.[13] Möglichweise waren die Meldungen verloren gegangen, vielleicht war die Aufforderung damals auch nicht überall angekommen, sodass man nun im Sommer 1940 die Aktion noch einmal neu starten musste.

Die Meldungen sind dann in einer dreiseitigen Liste vom 28. Juni 1940, überschrieben: „Betr. Juden im Ortsgruppenbereich“, zellenweise zusammengefasst worden. [14]

In der Sortierfolge der Zellen von 01 bis 12 und der Straßennamen sind alle jüdischen Bewohner mit Vorname – die Zwangsnamen Sara und Israel hat der fleißige Bürokrat in jeder Zeile sorgfältig ausgeschrieben -, Geburtsdatum bzw. Alter, Beruf, Stand und Adresse samt Stockwerk auf fünf eng getippten Seiten aufgelistet.[15]

Mit dieser Zusammenstellung hatte man nun eine genaue Kontrolle über den Aufenthalt der Juden. Jeder Wohnungswechsel musste nach Gesetzeslage gemeldet werden und bedurfte der Genehmigung durch die Behörden. Um später die Deportationslisten zu erstellen, konnte man dann problemlos auf diese Daten zurückgreifen.

Zu erkennen ist, dass sich bereits im Sommer 1940 ein gewisser Konzentrationsprozess auf bestimmte Häuser ergeben hatte. Die wirtschaftliche Not, in die viele Familien durch die Arisierung des Wirtschaftslebens und die damit verbundenen Berufsverbote geraten waren, hatte viele veranlasst, kleinere Wohnungen zu suchen oder mit Familienangehörigen zusammenzuziehen. Ein anderer wohl nicht minder wichtiger Grund war der, dass man angesichts der Anfeindungen im öffentlichen Leben, die auch vor der Privatsphäre der eigenen Wohnung nicht Halt machten, das Bedürfnis hatte, mit Menschen zusammen zu leben, die das gleiche Schicksal zu ertragen hatten. Ob es in dieser Zeit in Wiesbaden bereits behördlich angeordnete Zwangseinweisungen gab, lässt sich auf Basis diesen Quellen nicht beurteilen.

Die Häuser, in denen bereits eine große Zahl Juden wohnte, waren aus Sicht der Nationalsozialisten natürlich im Besonderen geeignet, die Funktion eines Judenhauses zu übernehmen, denn auf diese Weise waren unnötige Zwangsumsiedlungen und damit mögliche Irritationen in der Bevölkerung zu vermeiden.[16]

Aber sicher ging es bei dieser Erhebung nicht nur darum den Bedarf zu eruieren, viel interessanter war es für die Parteigenossen zu erfahren, welche Wohnungen durch die Umsiedlungen frei werden würden. Dabei hatten sicher einige der Amtsträger in Partei und Verwaltung auch eigene Interessen im Blick.

Entsprechend wurden auf diesen Zetteln seitens der Zellen- und Blockwarte auch schon solche weiterführenden Interessen formuliert. So heißt es z. Bsp. in der Meldung der Zelle 07 unter Bezugnahme auf das Haus Bierstadter Straße 32:

Der Hausbesitzer ist Saarrückwanderer, er hat hier eine Eisen- und Kohlefirma in der Humboldstr. (! sic) 5 über 20 Angestellte, hat seine Möbel in einem Pferdestall untergestellt, will in Humboldstr. (! sic) 5 eine Wohnung freimachen d.h. den dort. Mieter in seinem Hause, Bierstadterstr. 32 in der Wohnung der Jüdin, die er bald möglichst los sein möchte, unterbringen.[17]


In der Steubenstr. 16, so wiederum der gleiche Blockwart, würden zwar außer dem jüdischen Ehepaar Altmann noch zwei „arische Herren“ wohnen, dennoch könne man „im Bedarfsfall“ die ganze Wohnung frei machen.[18]

Diese Begehrlichkeiten spiegeln aber auch die Realität des nationalsozialistischen Staates wider, der von Anbeginn an und in zunehmendem Maße mit dem Problem des Wohnraummangels besonders in den Städten konfrontiert war, lange bevor die ersten Luftangriffe diese Problematik noch einmal vehement verschärften.[19]

Aufforderung Juden aus Wohnungen zu vertreiben
HHStAW 483 10127 (68)

Die Aufstellung über die jüdischen Bewohner wurde dann, den unmittelbaren Zweck der Wohnraumbeschaffung ausdrücklich erwähnend, am 25. Juli 1940 mit der Bemerkung, „in der Anlage erhalten sie eine Aufstellung über die in meiner Ortsgruppe wohnenden Juden“ vom Ortsgruppenleiter bzw. von dessen Vertreter an die Kreisleitung übermittelt: „Um die Wohnungsnot zu steuern könnte man, wie aus der Liste ersichtlich, die Juden noch zusammenziehen lassen, da es nicht angeht, dass z.B. zwei Juden 6 Zimmer, 1 Küche und 2 Mansarden bewohnen.“[20]

Auf diesem Listendurchschlag, der im HHStAW in doppelter Ausführung existiert, ist jeweils handschriftlich bei 10 Adressen von gleicher Hand der Vermerk „Judenhaus“ gemacht. Auf dem ersten Durchschlag sind die entsprechenden Bewohner mit einem roten Kreuz markiert und deren Name selbst ist schwarz unterstrichen.[21]

Judenhaus Wiesbaden NSDAP Ortsgruppe
Ausschnitt aus der Liste der Juden im Ortsgruppenbereich mit der Anmerkung „Judenhaus“.
HHStAW 483 10127 (69)

Es handelt sich um die folgenden Adressen:

Adolfsallee 24
Adolfsallee 30
Albrechtstr. 13
Bahnhofstr. 25
Bahnhofstr. 46
Blumenstr. 7
Herrngartenstr. 11
Lortzingstr. 7
Mainzerstr. 2
Mainzerstr. 60

Die hier als Judenhäuser markierten Anschriften waren auch alle auf der Liste vom Januar enthalten, aber umgekehrt handelt es sich nur um knapp ein Viertel der damals notierten Häuser. Der Grund dafür wird sicher darin zu suchen sein, dass es sich hier um die Liste einer Ortsgruppe, nämlich um die der Ortsgruppe Ost handelt, es daher vermutlich weitere solcher Listen gab, die aber nicht mehr auffindbar sind.[22]

Wann, und durch wen diese Eintragungen vorgenommen worden waren, ist nicht mehr zu klären, aber offensichtlich hatte man bei der Kennzeichnung die im Januar erstellte Liste zu Grunde gelegt. Auch die jeweiligen Block- und Zellenwarte wussten zu diesem Zeitpunkt schon, welche Häuser den Status eines Judenhauses hatten, denn in der Liste ist beim Haus Albrechtstr. 13 – aber nur da! – neben dem später vorgenommenen handschriftlichen Zusatz bereits vom Zellenwart maschinenschriftlich „ist ein Judenhaus“ vermerkt. Auch der Zellenleiter von Z 09 wusste um den eigentlichen Zweck der Anfrage, wie sich aus der denunziatorischen Meldung bezüglich der Jüdin Martha Harpf ergibt:

„Harpf, Wtw, Alwinenstr. 25, Besitzerin ist ihre Tochter, die mit einem Arier verheiratet ist, aber außerhalb wohnt. Die letztere Sara Harpf habe ich bis jetzt nicht als Jüdin in meinen Meldungen angegeben, da sie sich selbst als Halbjüdin in der Haushaltungsliste eingetragen hat. Nun hat sich aber herausgestellt, dass sie nicht halb, sondern echte Vollblutjüdin ist, die den Schutz des Gesetzes durch ihr Verhalten deutschen Menschen gegenüber, verwirkt hat.
Wenn das Haus ihrer Tochter ist, so muß sie als Vollblutjüdin doch in ein Haus ziehen, das als Judenhaus erklärt ist, zumal sie heute noch Besuche jüdischer Familien aus Mainz empfängt.“
[23]

Stand: 07. 08. 2018

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] HHStAW 483 10127 (66-67). Rot markiert sind die Häuser, die im Bereich der Ortsgruppe Ost liegen.

[2] So etwa bei Buchholz, Hannoversche Judenhäuser, S. 13 f. und Kwiet, Konrad, Without Neighbors, Daily living in Judenhäuser, in: Jewish Life in Nazi Germany, Dilemas and Responses, hg. Nicosia, Francis R., Scrase, David, 2010 S. 125.

[3] Beide Häuser waren ursprünglich im Besitz des Juden Gustav Abraham. Er selbst war aber bereits 1925 verstorben und hatte die Häuser an seine arische Frau und die gemeinsamen Kinder vererbt. Zwar war die Heirat mit Anna Messerschmidt nach jüdischem Ritus vollzogen worden, seine Frau hatte auch als Religionszugehörigkeit in der Heiratsurkunde„israelitisch“ angegeben, war aber nach den Kategorien des Nazi-Staates eine Arierin und die beiden Söhne waren demgemäß Halbjuden. Im Jüdischen Adressbuch von 1935 ist Anna Messerschmidt zwar verzeichnet, in den Korrekturen ist allerdings vermerkt „streichen, da Arier“. Fälschlicherweise steht der gleiche Eintrag auch bei dem Sohn Bernhard, obwohl er nach NS-Terminologie eigentlich „Halbjude“ war. Siehe HHStAW 483 10127 (59 ff).

[4] Siehe Jüdisches Adressbuch von 1935 S. 154 ff.

[5] Auch Buchholz weist im Hinblick auf die Auswahl in Hannover darauf hin, dass hier der jüdische Besitz und die hohe Zahl jüdischer Mieter die einzigen Gemeinsamkeiten der Häuser waren. „Hinsichtlich Bauweise und den damit verbundenen Unterbringungsmöglichkeiten, hinsichtlich Heizung und sanitärer Ausstattung hatten die Gebäude ebenso wenig miteinander gemein wie hinsichtlich ihrer Vergangenheit und ihrer vorherigen Nutzung.“ Buchholz, Hannoversche Judenhäuser, S. 94.

[6] Anders dagegen in Kleve. Hier hatte die Gestapo-Leitstelle Düsseldorf dem Landrat mitgeteilt, dass der jüdische Wohnraum durch Zusammenlegung mehrerer jüdischer Familien in einer Wohnung besser ausgenutzt werden soll. „Dabei ist es als selbstverständlich vorauszusetzen, daß den Juden nur die ungesundesten und schlechtesten Wohnungen belassen bleiben.“ Kwiet, Schrei, wenn du kannst, S. 154.

[7] Hebauf, Renate, Gaußstraße 14. Ein „Ghettohaus“ in Frankfurt am Main, Frankfurt o.J., S. 91.

[8] Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom 30.4.1939, RGB I, 1939 S. 865 § 12 Abs. 1. In Frankfurt hatte es diese Anordnung zunächst noch nicht gegeben. Dagegen wurde die Anmeldung der jüdischen Mietverhältnisse in Hannover durch das Wohnungsamt bzw. auf Anordnung seines Dezernenten bereits am 14.6.1939 durchgesetzt, in Friedberg gab es nach Buchholz sogar eigens dafür geschaffene Formulare. Siehe dazu Buchholz, Hannoversche Judenhäuser, S. 21, auch Anm. 3.

[9] HHStAW 1183 – 1 (12.7.1939).

[10] Wiesbadener Tagblatt vom 2.8.1939.

[11] HHStAW 483 10127 (88).

[12] HHStAW 483 10127 (96).

[13] HHStAW 483 10127 (78).

[14] HHStAW 483 10127 69. Es handelt sich hier um einen Durchschlag, nicht um das Original.

[15] HHStAW 483 10127 (33 f )

[16] „Um Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu vermeiden, muß das Ausscheiden der Juden aus deutschen Wohnungen … planmäßig durchgeführt werden.“ Selig, Jüdisches Schicksal S. 30 (Zit. nach Kwiet, Nach dem Pogrom, , S. 632.

[17] HHStAW 483 10127 (96).

[18] HHStAW 483 10127 (96).

[19] So schreibt Haerendel in ihrer Analyse der NS-Wohnungspolitik über den Mangel: Die Abkehr von der öffentlichen Bezuschussung großer Mietshausbauprojekte sowie die Bevorzugung von Eigenheim und Siedlung zeigten hier [in den Städten – K.F.] am deutlichsten ihre Auswirkungen: Ende 1935 wiesen die Großstädte mit 10,5 Prozent des Wohnungsbestandes den höchsten Fehlbedarf auf; in den Mittel- und Kleinstädten lag er bei 10,0 Prozent, auf dem Land aber nur bei 6,8 Prozent. Insgesamt schätzte man zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Haushaltungen ohne eigene Wohnung auf 1,5 Millionen, die damit um mehr als ein Drittel gegenüber 1933 (1,1 Millionen) angewachsen war. Während der folgenden Jahre gelang es zunächst, den Fehlbedarf auf diesem Stand einzufrieren, während die Wohnungsproduktion ihr höchstes Niveau in der nationalsozialistischen Ära erreichte. 1936/37 lag der Reinzugang … zwischen 310 000 und 320 000 Wohnungen jährlich. Diese kurze Hochphase reichte jedoch nicht aus, um das angestaute Defizit zu mindern, und schon seit 1938 machte sich der Einbruch im zivilen Bausektor durch die nochmals forcierte Aufrüstung bemerkbar.“ Haerendel, Wohnungspolitik im NS, S.851.

[20] HHStAW 483 10827 (68).

[21] Ebenfalls mit gleicher Hand sind in beiden Durchschlägen Notizen zu Kündigungen, Auswanderungen usw. geschrieben.

[22] Die hier aufgeführten Adressen befinden sich alle in einem östlich der Adolfsallee gelegenen Bereich, keines der von dieser Trennlinie westlich gelegenen Judenhäuser ist genannt, was die Vermutung zu bestätigen scheint. Die Zahl der Wiesbadener Ortsgruppen ist nicht ganz klar. In der Broschüre „10 Jahre N.S.D.A.P. – Kreis Wiesbaden. 1926 – 1936, 1926, S. 53 werden 18 Ortsgruppen aufgeführt, darunter aber auch die Vororte wie Rambach, Frauenstein, Dotzheim usw. In der eigentlichen Innenstadt gab es danach die Ortsgruppen Mitte, Nord, Ost, Süd, Südend, Südwest, Waldstraße, West und Westend. Axel Ulrich vom Wiesbadener Stadtarchiv verdanke ich den Hinweis auf ein Dokument, das die Zahl der Ortsgruppen für den hier relevanten Zeitpunkt 1941 wiedergibt, ohne allerdings die Ortsgruppen genauer zu bezeichnen. Zur Vorbereitung der „Skagerak-Feier“ am 31. Mai 1941 im Rathaus wurde eine Aufstellung der einzuladenden Gäste verfasst, wo neben vielen anderen aus Militär, Partei und Politik „26 Ortsgruppenleiter (davon 5 Ratsherren)“ aufgeführt sind. Die Zahl hatte sich also offensichtlich vergrößert, allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass sich im Innenstadtbereich Wesentliches an der Struktur verändert hat. Siehe Stadtarchiv Wiesbaden WI/2 3810.

[23] HHStAW 483 10827 (84) (Hervorhebung K.F.)