Es war wohl nur ein sehr kurzer Zeitraum, in dem sich das Ehepaar Ludwig und Lilly Baruch vor ihrer Deportation in dem Judenhaus in der Hallgarter Str. 6 aufgehalten hat.[1] Nur die Deportationsliste vom 1. September 1942 gibt einen Hinweis darauf, auf ihrer Gestapo-Karteikarte ist die Adresse nicht vermerkt.
Die Vorfahren von Ludwig Baruch stammten aus Bayern, aus Amberg, einem Ort, in dem bereits im 11. Jahrhundert Juden in Urkunden bezeugt sind. Sie waren sogar so erfolgreich bei der Finanzierung des Handels und Bergbaus in der Region, dass Adel und Bürgertum sie Ende des 14. Jahrhunderts wieder vertrieben, um sich auf diese Weise der inzwischen aufgelaufenen horrenden Schulden zu entledigen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durfte wieder eine „Israelische Kultusgemeinde“ in der Stadt gegründet werden.[2] 1861 fielen die bisherigen Schranken für die Geschäftstätigkeit der Juden in Bayern, wovon auch die Oberpfalz profitierte. Viele Juden aus den umliegenden Gebieten und Herrschaften zog es in diese prosperierende und attraktive Region. Auch der Vater von Ludwig, Carl Baruch, war um diese Zeit aus Czempin bei Posen nach Amberg gekommen. Wo die Ehe mit Henriette Cohn, die am 9. Juni 1867 in Berlin geboren worden war, am 28. August 1888 geschlossen worden war, ist nicht bekannt.[3] Ob deren Eltern ebenfalls in dieser Zeit zugewandert oder aber bereits in diesem Raum ansässig und geschäftlich aktiv waren, ließ sich ebenfalls nicht klären. Aber ein Cohn inserierte 1888, dass er die Leitung seines Geschäfts für Herren und Knaben-Garderobe an seinen Schwiegersohn Carl Baruch übergeben habe. Ein Leopold Cohn blieb auch weiterhin im Unternehmen „Carl Baruch & Co“ als Kompagnon vertreten. Obwohl die Firma expandierte – vielleicht auch weil sie zu sehr expandierte – und in Augsburg, Cham und Neumark Dependancen gründete, ging sie Ende 1896 insolvent und musste verkauft werden. Schon im folgenden Jahr eröffneten Carl und Henriette Baruch in Amberg erneut ein Herrenkonfektionsgeschäft, das aber ebenfalls nach einem Jahr die Pforten schließen musste. Nicht anders erging es einem weiteren Laden für Herren- und Knabenmoden mit angeschlossener Maßschneiderei, das ebenfalls 1899 den Betrieb einstellte.[4]
Ganz anders entwickelte sich die Familie selbst. Im Jahr, nach dem Carl Baruch die Geschäftsleitung übertragen worden war, kam am 26. Januar 1889 Arthur, das erste Kind des Paares zur Welt. Vermutlich waren daher Geschäftsübertragung und Hochzeit etwa zur gleichen Zeit vonstatten gegangen. Es sollten noch sechs weitere Kinder folgen. Am 8. März 1890 wurde Lucie geboren. Sie war die ältere Schwester von Ludwig, der am 12. Dezember 1892 zur Welt kam.[5] Er hatte noch zwei jüngere Schwestern, die am 26. Januar 1894 geborene Rosa und die am 10. Februar 1897 geborene Elsa. Dazwischen kam am 20. September 1895 noch der Bruder Paul zur Welt. Zuletzt folgte am 2. April 1899 noch Willy, der, anders als alle seine Geschwister nicht in Amberg, sondern in Fürth zur Welt kam.[6]
Welchen beruflichen Werdegang Ludwig Baruch nach Abschluss der Realschule einschlug, ist nicht bekannt. Man kann allerdings davon ausgehen – und spätere Dokumente belegen das -, dass auch er gemäß der Familientradition in die Textilbranche tätig war.[7]
Offenbar hatte er aber zwischenzeitlich seine Heimatregion verlassen und war in dieser Zeit vermutlich auch für andere Unternehmen tätig gewesen. Als er am 18. März 1922 in Aachen eine Ehe mit Lilly Blankenstein einging, gab er als Wohnort Düsseldorf an.[8] Seine Frau war am 29. August 1897 in Aachen als Tochter der Eheleute Felix und Regina Blankenstein, geborene Herz, zur Welt gekommen.[9] Aus dieser Ehe resultierte die Verbindung der Familie nach Wiesbaden. Regina Blankenstein war die Tochter von Nathan und Rosette Herz, geborene Loeb, die zwar von Koblenz zugezogen, inzwischen aber Bürger der Kurstadt geworden waren.[10] Felix Blankenstein war „Agent“, sprich Kaufmann,[11] seine Tochter Lilly ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin.[12] Ein Jahr nach der Hochzeit, am 27. März 1923, kam in Leipzig das einzige Kind von Lilly und Ludwig Baruch, die Tochter Irene Henny zur Welt.[13]
Welche berufliche Tätigkeit Ludwig Baruch in diesen Jahren ausübte, ist nicht bekannt. Es scheint aber, dass er mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise seine Anstellung verloren hatte, denn am 1. Juli 1929 wurde er von seinem Bruder als „Provisionsreisender“ in dessen Geschäft ‚Gebrüder Baruch – Nürnberg’, Theresienplatz 8, angestellt, einem Geschäft für Strumpfwaren und Trikotagen.[14] Hier erzielte er ein jährliches Einkommen zwischen 8.000 und 9.000 RM,[15] ein recht ansehnlicher Betrag in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit. Ende 1932 wurde die wirtschaftliche Situation für die Familie dann allerdings prekärer, denn zum 31. Dezember 1932 wurde das Arbeitsverhältnis bei seinem Bruder beendet, nach Paul Baruchs Aussage „infolge der politischen Ereignisse“.[16]
Paul Baruch selbst war mit der Christin Eleonore Ebel aus Nürnberg verheiratet und konnte so mit den beiden gemeinsamen Söhnen die Zeit der Verfolgung überstehen. Der ehemals hoch geehrte, der neben seiner beruflichen Karriere als Funktionär und Aktiver der jüdischen Sportvereine Bar Kochba und ITUS in Nürnberg früher eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Leben Nürnbergs gespielt hatte, war in den Kriegsjahren, nachdem er sein Geschäft 1937 weit unter Wert verkaufen musste und auch seine Funktionen in den Vereinen verloren hatte, sozial geächtet und verdiente sich als Verwalter des Jüdischen Friedhofs an der Schniedinger Straße ein wenig Geld.[17] Ab 1943 wurde auch er als Jude in einer Mischehe zur Zwangsarbeit verpflichtet, die er im Lager Röthenbach ableistete.[18]
Nach dem Ausscheiden aus dem Geschäft seines Bruders war Ludwig Baruch zwei Jahre arbeitslos und bezog kein eigenes Einkommen.[19] Erst 1935 fand er noch einmal eine Anstellung in einer Blechstanzerei und –zieherei, ebenfalls in Nürnberg. Der Eigentümer Hermann Schröder war selbst Halbjude und hatte Ludwig Baruch „schwarz“ eingestellt. Ein offizieller Arbeitsvertrag war allein deswegen nicht möglich, weil der über das Arbeitsamt hätte laufen müssen, auch Sozialversicherungsbeiträge wurden aus diesem Grunde nicht gezahlt. Weil Ludwig Baruch nicht im Außendienst und auch nur beschränkt in der Firma selbst arbeiten konnte, waren keine festen Arbeitszeiten festgelegt worden. Entsprechend gering war dann auch das Einkommen in diesen Jahren. Es betrug im Schnitt zwischen 2.500 und 3.500 RM im Jahr.[20] Ursprünglich hatten sowohl Ludwig Baruch als auch sein Arbeitgeber die irrige Hoffnung, der Nazi-Spuk sei bald vorüber. Dem war nicht so und 1938 wurde beiden nach der Reichspogromnacht das Betreten der Firma untersagt. Ludwig Baruch war erneut arbeitslos, jetzt aber ohne Hoffnung eine andere Anstellung finden zu können. Wie schon von 1933 bis 1935 lebten er und seine Familie wieder von den finanziellen Mittel seiner Frau.[21] Er selbst war nach ihrer Aussage und auch der seines Bruders Paul völlig vermögenslos, weshalb man bei der Eheschließung auch Gütertrennung vereinbart hatte.[22]
Wann genau die Familie von Nürnberg nach Wiesbaden zog, wo die Mutter von Lilly Baruch in der Bierstadter Str. 9a ein Haus besaß,[23] ist nicht mehr exakt nachvollziehbar. Nach den Angaben von Lilly Baruch in ihrem Entschädigungsverfahren war sie von 1931 bis 1942 in Wiesbaden gemeldet.[24] Sie ist erstmals als Lilly Baruch-Blankenstein, Sonnenberger Str. 22, im Wiesbadener Adressbuch von 1936/37 verzeichnet. Möglicherweise hatte sie bis dahin bei ihrer Mutter gewohnt, war aber jetzt umgezogen, weil auch ihre Tochter Irene Henny zu diesem Zeitpunkt nach Wiesbaden gekommen war. Bis 1936 hatte sie ein jüdisches Internat in Köln besucht, das aber inzwischen von den Nationalsozialisten geschlossen worden war.[25] Auf der Gestapo-Karteikarte für die Familie ist vermerkt „Ehemann wohnt in Nürnberg“, dann „Ehemann am 23.2.39 von Nürnberg nach Sonnenbergerstr. 22“. Das stimmt mit den Meldeunterlagen in Nürnberg überein, nach denen er sich am 24. Februar 1939 von dort nach Wiesbaden abgemeldet hatte.[26]
Das Haus in der Sonnenberger Str. 22, eine repräsentative Villa, die ursprünglich als Hotel konzipiert worden war, wurde zu einer letzten Unterkunft, die das Ehepaar auch als ihr Zuhause betrachtete. Noch verfügten sie über genügend Geld, da Lilly Baruch ein Haus, das Teil ihres Vermögens war, verkaufen konnte.[27]
Aber spätestens zum Jahresanfang 1940 wird die finanzielle Lage der Familie bedrohlich. Die Devisenstelle Frankfurt verfügte für Ludwig Baruch die Anlage einer Vermögens-Kontrollmappe und gewährt den üblichen vorläufigen Freibetrag von 300 RM.[28] In seiner Vermögenserklärung legt er dar, dass er über kein eigenes Vermögen und ausschließlich über eine kleine Kriegsbeschädigtenrente von 27 RM monatlich verfüge.[29] Seiner Frau stände als regelmäßige Einnahme eigentlich die Rückzahlung eines Darlehens zur Verfügung, dass diese einer Frau Schröder in Nürnberg gewährt hatte. Statt der vereinbarten 250 RM, zahle diese aber nur 100 RM und bestreite selbst diese Verpflichtung. Bis zur Klärung der Darlehensangelegenheit verzichtete die Devisenstelle auf die Anordnung eines Sicherungskontos.[30]
In der Zeit der völligen Entrechtung vor den Deportationen war auch Lilly Baruch 1941 dienstverpflichtet worden – wo ist nicht bekannt – und erhielt dafür einen Wochenlohn von 20 RM.[31] Angesichts dieser schwierigen Lebensverhältnisse, aber sicher noch mehr aus Angst um das Leben ihres Kindes hatten sich Baruchs nach dem Novemberpogrom 1938 entschieden, ihre Tochter Irene nach England zu schicken. Nicht ganz klar ist, auf welche Weise das geschah, ob sie mit einem der Kindertransporte oder durch private Vermittlung dorthin gelangt. Einmal gab Lilly an, sie habe die Tochter in die Obhut von Bekannten gegeben, dann aber auch, dass sie in eine englische Familie zur Hausarbeit vermittelt worden sei.[32]
In England konnte sie ihr eigentliches Berufsziel, Kindergärtnerin zu werden, nicht mehr realisieren. Die 15jährige hatte nur eine Arbeitserlaubnis als Haushaltsgehilfin erhalten und musste dann mit Kriegsbeginn sogar Schwerstarbeit in einer Fabrik für Flugzeugzubehör verrichten.[33]
Mit der Ausreise hatten die Eltern sicher Irenes Leben gerettet. Was aber diese Trennung für alle an Leid bedeutete, ist kaum zu ermessen. Denn auch das spätere Wiedersehen begründete keineswegs eine gemeinsame glückliche Zukunft, wie Lilly später in einem Brief an einen ihrer Ärzte deprimiert feststellte: „Wie gut, dass man [heute – K.F.] seine Kinder nicht in die Fremde geben muss, um es [! sic] zu retten u. nachher die Entfremdung zu erleben !!!“[34]
Im Sommer 1940 lebten die Eltern noch immer in der Sonnenberger Str. 22, zumindest waren die Briefe der Devisenstelle an diese Adresse gerichtet. Der Umzug in die Hallgarter Str. 6, wo ihnen zusammen ein Zimmer im dritten Stock zur Verfügung stand, muss unmittelbar vor der Deportation angeordnet worden sein, denn er ist nicht einmal auf der Gestapo-Karteikarte verzeichnet. Dass er erzwungen war, ergibt sich aus den Formulierungen von Lilly Baruch im Entschädigungsverfahren: „Evakuiert nach Hallgarter Str. 6“[35] Die Diktion der Nazis aufgreifend, stellte sie diesen Umzug in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den folgenden Deportationen.
Als die Anordnung zur Registrierung kam, lag Lilly Baruch nach einer schweren Operation noch im Krankenhaus.[36] Deswegen konnte sie auch nichts von dem wertvollen Mobiliar und anderen Wertgegenständen mehr in Sicherheit bringen, wenn es eine solche überhaupt gegeben hätte.[37] Einen einzigen Tag habe Sie noch zu Hause verbringen können, bevor sie und ihr Mann mit den Transportnummern XII/2-605 und XII/2-606 am 1. September am Güterbahnhof den Zug nach Frankfurt bestiegen, der sie dann nach Theresienstadt bringen sollte.[38] Noch von der Operation geschwächt erkrankte sie dort an Typhus und magerte auf ein Gewicht von nur noch 32 kg ab.[39]
Offensichtlich blieben die Wiesbadener Juden in Theresienstadt so gut es ging zusammen. Berta Schindler, verwitwete Rappaport, die mit ihrem Mann Leo auch auf diesen Transport geschickt wurde, berichtete später, dass sie mit den Baruchs dort im gleichen Haus gewohnt habe.[40]
Ludwig Baruch verstarb am 2. November 1943 an einem TBC-Leiden, dass er sich im Lager zugezogen hatte.[41] Lilly Baruch, die von Theresienstadt aus in Postverbindung mit ihrem Schwager Paul Baruch in Nürnberg stand, konnte ihm den Tod des Bruders mitteilen. Über Umwege hatte er auch erfahren, dass Lilly Baruch nach dem Tod von Ludwig am 15. Mai 1944 unter der Transportnr. DZ-2239 nach Auschwitz gebracht worden war. Damit begann für sie, die noch im gleichen Monat in das Arbeitslager des KZs Neuengamme bei Hamburg überführt wurde, eine Odyssee durch die deutschen Konzentrationslager. In Neuengamme wurde sie dem südlich von Hamburg gelegenen Außen- und Arbeitslager Neugraben zugewiesen, einem von insgesamt 86 Außenlagern des KZs. Das ehemalige Lager für Militärinternierte war im Herbst 1944 in ein Frauenlager für jüdische Zwangsarbeiterinnen umgewandelt worden. Lilly Baruch gelang es hier, Kontakt mit einer Familie Thoms außerhalb des Lagers aufzunehmen, über die auch der Kontakt zu ihrem Schwager wieder hergestellt werden konnte.[42] Unter den Gesundheitsschäden, die dennoch durch die harte Arbeit und die permanente Mangelernährung dort hervorgerufen wurden, hatte sie bis zu ihrem Lebensende zu leiden. Zudem war sie in einem der Lager mit Schlägen so misshandelt worden, dass man die sichtbaren Folgen im Gesicht nach dem Krieg durch Operationen behandeln musste. Wie nahezu alle KZ-Opfer litt auch sie später unter Schlafstörungen, hatte Herz- und Kreislaufprobleme, hatte mit den Folgen einer Typhuserkrankung zu kämpfen und unter ständigen Galleschmerzen zu leiden.
Bereits völlig entkräftet erlebte Lilly Baruch zuletzt noch die Räumungsaktionen in der Endphase der Naziherrschaft. Mit dem Heranrücken der Alliierten wurde Bergen-Belsen zum Auffanglager für die abertausend Häftlinge der Konzentrationslager in Frontnähe. In Räumungstransporten oder auch Todesmärschen wurden seit Dezember 1944 bis Mitte April 1945 etwa 85.000 Häftlinge aus den unterschiedlichsten Lagern nach Bergen-Belsen verfrachtet, so auch die aus Neuengamme. Völlig überfüllt und ohne eine auch nur ansatzweise hinreichende medizinische Versorgung, ohne genügend Unterkünfte und Nahrung setzte hier in den letzten Tagen noch ein Massensterben ein.[43]
Lilly Baruch war eine derjenigen, die noch im März 1945 nach Bergen-Belsen gekommen waren, ob in einem Transport oder mit einem der vielen Todesmärsche zu Fuß ist nicht bekannt. Hier erlebte sie die Befreiung durch die britischen Soldaten. Vom Schwedischen Roten Kreuz wurde sie im Rahmen der sogenannten „Graf Bernadotte Aktion“ nach Schweden gebracht[44] und fand allmählich nach einer intensiven medizinischen Versorgung in das Leben zurück, nahm auch Kontakt zu ihrer Tochter, ihrem Schwager in Nürnberg und zur Familie bei Neuengamme auf, die ihr zuvor so sehr geholfen hatte.
Mit Übersetzungs- und Buchhaltungsarbeiten verdiente sie sich schon bald wieder ihren eigenen Lebensunterhalt. 1951 kam sie zurück nach Wiesbaden, um bei einem längeren Kuraufenthalt zum einen ihre zerstörte Gesundheit wiederherzustellen, zum anderen aber, um ihr Entschädigungsverfahren zu begleiten. Trotz diverser fragwürdiger Entscheidungen der Behörden, etwa bei der Anerkennung der gesundheitlichen Schäden, kam es ganz offenbar zu einer sehr persönlichen Beziehung zwischen einigen Angestellten der Behörde und auch zu Ärzten, die ihr Bedauern darüber aussprachen, dass sie auf dem Boden der geltenden Regelungen nicht anders hätten entscheiden können. Man sah ihre Leiden immer wieder als alters- und nicht verfolgungsbedingt an.
So litt sie darunter, dass sie nach mehreren Knochenbrüchen körperlich nicht mehr in der Lage war, den Kontakt mit der Außenwelt zu pflegen: „So, nun werden sie wohl verstehen, dass mein Herz und meine Nerven kaputt sind, dass ich oft Schluss machen möchte mit diesem Leben, das keines mehr ist,“ schrieb die Zweiundsiebzigjährige im Oktober 1969 in einem Brief an die Entschädigungsbehörde.[45] Auch die Probleme mit der Tochter, die vermutlich aus der frühen Trennung resultierten, bereiteten ihr ständig Sorgen, wie sie einem der Ärzte im August 1977 anvertraute: „Meine Nerven sind schlecht, wie sie ja wissen, aber ich habe leider keine Energie mehr, um mir selbst ein bisschen zu helfen. Das liegt nach wie vor an dem getrübten Verhältnis zu meiner Tochter u. Enkelinnen in Stockholm; nach dem Tod meines Schwiegersohnes ist der Kontakt völlig abgebrochen, was mich sehr deprimiert.“[46]
Aber ihre Sorgen waren nicht selbstbezogen, auch in ihrem hohen Alter blieb sie der Welt zugewandt, war an den aktuellen Auseinandersetzungen interessiert, wenngleich auch hier mit immer weniger Hoffnung: „Und auch die heutige Zeit mit ihren so furchtbaren Ereignissen ist auch nicht zum Gesundwerden! Manchmal frage ich mich allen Ernstes, ob die neue amerikanische Errungenschaft, (die eines Juden!) die Jimmy Carter zu begeistern scheint, nämlich die Neutronenbombe, eigentlich den Stand der heutigen KULTUR (hahaha) verkörpert. Naja Sie erinnern sich sicher noch gut an meine Skepsis, die ganze Politik der Welt betreffend, was ? Und heute ist diese Skepsis in vielen Dingen bestätigt worden, leider!“[47] Und ein paar Jahre später, im Februar 1980, als man ihr wieder einmal die Gesundheitsschäden nicht als Folge der KZ-Erfahrung anerkennen wollte: „Schade, dass die Neonazis nicht auch einige Zeit wie wir ‚genießen’ dürfen, dann wäre wenigstens die Lüge von der ‚Auschwitzlüge’ aus der Welt geräumt, einer Welt, die leider auch heute von keinerlei Vernunft regiert wird! Daß ich die damaligen Zeiten überlebt habe, macht mir heute keine so große Freude mehr, mir tun die unzähligen Opfer der Nachkriegsjahre sehr leid, wozu diese gebracht werden müssen, ist mir ein Rätsel, das wohl die Politiker der ganzen Welt auch nicht raten können.“[48]
Die letzten beiden Briefauszüge an ihren Arzt in Wiesbaden waren in einem Seniorenstift in Aachen, in der Stadt ihrer Kindheit, geschrieben worden. Hier war sie 1977 eingezogen und von ihrer Tochter und auch von ihrer Enkelin noch einmal besucht worden. Am 15 August 1982 ist sie hier im Alter von 83 Jahren verstorben.[49]
Ihre Tochter, die in Schweden verheiratet war und inzwischen zwei Kinder hatte, lebte dort nach dem Kriegsende in sehr ärmlichen Verhältnissen. Die Möglichkeit eine ihren Fähigkeiten entsprechende Ausbildung und damit berufliche Karriere aufzubauen, hatte der NS-Staat ihr verwehrt.
Paul Baruch, der die NS-Zeit in Nürnberg überlebte hatte, gehörte 1945 dort zu den Gründern einer neuen Jüdischen Gemeinde. Auf Drängen von Verwandten wanderte er aber in den Nachkriegsjahren in die USA aus, um aber nach weniger als zwei Jahren enttäuscht wieder nach Deutschland und in seine Heimatstadt zurückzukehren, wo er seit 1966 für viele Jahre die Führung der dortigen jüdischen Gemeinde und auch wieder die Verwaltung des Friedhofs übernahm. Geehrt mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und der Bürgermedaille der Stadt Nürnberg ist er dort im Jahr 1988 hochbetagt verstorben.
Über das Schicksal von Ludwig Baruchs Bruder Arthur liegen keine Informationen vor. Ein Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs ist nicht vorhanden, sodass er möglicherweise den Holocaust überlebte. Vielleicht war er der Verwandte, der – selbst rechtzeitig ausgewandert – Pauls Familie zur Übersiedlung in die USA gedrängt hatte.
Ludwig Baruchs ältere Schwester Lucie war bereits am 24. Februar 1917 im Alter von 27 Jahren verstorben
Von den beiden jüngeren Schwestern Rosa und Elsa hingegen weiß man, dass sie in der Shoa ermordet wurden. Sie waren beide im März 1943 von Berlin aus, allerdings an unterschiedlichen Tagen, nach Auschwitz deportiert worden. Beide Transporte fanden im Rahmen der sogenannten „Fabrikaktion“ statt, bei der die jüdischen Zwangsarbeiter, die bisher verschont worden waren, aus den Fabriken herausgeholt und in die Züge nach Auschwitz gesetzt wurden. Im Zusammenhang mit dieser Aktion kam es zu der bekannten Widerstandsaktion in der Rosenstraße, wo die jüdischen, in Mischehe lebenden Zwangsarbeiter gesammelt worden waren. Sie konnten durch die Proteste der Ehepartner vor der Deportation gerettet werden. Nicht aber diejenigen, die alleinstehend waren oder in einer jüdischen Partnerschaft lebten. Am 1. März bestieg Elsa, am 3. März Rosa den Transport in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie in den Gaskammern von Birkenau ermordet wurden.[50]
Willy Baruch, der jüngste der Geschwister, hatte schon am 27. November 1933 Deutschland verlassen und in Palästina eine neue Heimstatt gefunden.[51]
Stand: 13. 07. 2019
Anmerkungen:
[1] Zur Familie Baruch liegt auch ein Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse vor, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Baruch-Ludwig.pdf. (Zugriff: 3.7.2019).
[2] http://www.alemannia-judaica.de/amberg_synagoge.htm (Zugriff: 3.7.2019).
[3] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (14), Heiratsdatum nach Auskunft des Stadtarchivs Nürnberg.
[4] Die Informationen zu den Baruch-Firmen verdanke ich dem Kreisheimatpfleger Dörner aus Amberg.
[5] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (15). Heiratsurkunde Standesamt Aachen 291 / 1922
[6] Die Angaben zu den Geschwistern von Ludwig Baruch habe ebenfalls Herrn Dörner zu verdanken. Sie beruhen auf den Eintragungen in den Einwohnermeldebögen von Amberg und werden bestätigt durch die Meldekarte jüdischer Einwohner C 21/X des Stadtarchivs Nürnberg.
[7] Es scheint so, als hätten sich diese Aktivitäten zumindest partiell nach Nürnberg verlagert. Hier gab es um 1930 mehrere Geschäfte in dieser Branche, deren Eigner den Namen Baruch trugen. Definitiv führte sein Bruder Paul dort ein solches Geschäft. Dieses Unternehmen firmierte unter ‚Gebrüder Baruch’. Unklar ist, welche der drei Brüder Teilhaber am Unternehmen waren. Möglicherweise war der Artur Baruch, der eine Großhandlung für Strumpfwaren und Trikotagen in der Breiten Gasse 76 besaß, der älteste der Geschwister, der sich ein eigenes Geschäft aufgebaut hatte. Aber das bleibt Spekulation. Ein Isidor Baruch führte zudem ein Herren- und Knabenbekleidungsgeschäft in der Inneren Laufer Gasse 12. Siehe http://www.rijo.homepage.t-online.de/pdf/DE_NU_JU_gewerbe.pdf. (Zugriff: 3.7.2019)
[8] Ebd. (15), Heiratsurkunde Standesamt Aachen 291 /1922.
[9] Ebd. (11), Geburtsurkunde Standesamt Aachen 2647 / 1897. Lilly Baruch gab im späteren Entschädigungsverfahren an, dass ihr Vater im Alter von 52 Jahren, ihre Mutter mit 65 Jahren gestorben sei. Zudem habe sie eine Schwester gehabt, die mit 29 Jahren an Krebs verstorben sei. Siehe HHStAW 518 51153 Bd. 1 (286).
Nach Angabe von Lilly Baruch in einem ihrer letzten Briefe, soll ihr Vater angeblich aus Hamburg gestammt haben. Es muss sich hierbei allerdings um eine falsche Erinnerung handeln, denn laut Eintrag im Wiesbadener Heiratsregister vom 5. November 1896, wo die Ehe zwischen Felix Blankenstein und Regine Herz geschlossen wurde, waren seine Eltern Philipp und Julia Blankenstein, geborene Waltheim, wie auch er selbst, zum Zeitpunkt der Eheschließung in Aachen gemeldet. Nach diesem Eintrag war ihr Vater am 9. April 1870 auch dort geboren worden, was nicht ausschließt, dass er sich für einen längeren Zeitraum in Hamburg aufgehalten hatte.
[10] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 634 / 1896.
[11] HHStAW 518 51153 Bd. 5 (81).
[12] Wie sie später einmal in einem Brief erwähnte, beherrschte sie vier Sprachen in Wort und Schrift, siehe HHStAW 518 51153 Bd. 3 (535).
[13] HHStAW 518 82825 (5), Geburtsurkunde Standesamt Leipzig 1030 / 1923. Die Familie scheint sich aber nur kurzzeitig in Leipzig aufgehalten zu haben, denn die Tochter gab später an, die ersten vier Schuljahre in Aachen zur Schule gegangen zu sein.
[14] HHStAW 518 51153 Bd.1 (44).
[15] Ebd. (45).
[16] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (45)
[17] www.nuernberg.de/imperia/md/stadtarchiv/dokumente/jued_fussball_10_2.pdf. (Zugriff: 3.7.2019).
[18] Information Stadtarchiv Nürnberg.
[19] Ebd. (44).
[20] Ebd. (44, 46).
[21] Ebd. (46, 43), HHStAW 518 51141 (32).
[22] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (41, 43).
[23] So der Eintrag im Jüdischen Adressbuch 1935, S. 156. In anderen Listen mit jüdischem Immobilienbesitz gibt es keinen Hinweis darauf, dass Lilly Baruch Eigentümerin des Hauses war.
[24] Ebd. (4).
[25] HHStAW 518 82825 (3).
[26] Information Stadtarchiv Nürnberg.
[27] HHStAW 518 51141 (32). Um welches Haus es sich handelte, ist nicht bekannt.
[28] HHStAW 519/3 2420 (1), dazu 518 51153 (84).
[29] HHStAW 519/3 2420 (3). Wie seine Tochter angab, war er im Ersten Weltkrieg schwer verletzt worden.
[30] HHStAW 519/3 2420 (3, 4, 7) Der Name der Darlehnsnehmerin legt nahe, dass sie in irgendeiner Weise in Verbindung zum ehemaligen Arbeitgeber von Ludwig stand. Obwohl es bereits im Juni zur Klärung des Streits vor Gericht kam, erging im Folgenden für Ludwig Baruch keine Sicherungsanordnung mehr. Devisenakten für Lilly Baruch sind nicht vorhanden. Allerdings hat die Nassauische Landesbank im Entschädigungsverfahren bestätigt, dass auf ihren Namen ein Sperrkonto geführt worden sei, siehe HHStAW 518 51153 Bd. 1 (85).
[31] HHStAW 518 51141 (32) Eine genauere Zeitangabe hat Lilly dazu nicht gemacht.
[32] Ebd. und HHStAW 518 51141 (32) und HHStAW 518 82825 (3, 4, 7). Auf der Gestapo-Kartei ist das genaue Datum der Abreise nach London mit dem 7.12.38 verzeichnet. Möglicherweise steht der Vermerk bei dem Namen von Lilly Baruch auf der Gestapo-Karteikarte „zurück aus Schweden“ – leider ohne Datierung – im Zusammenhang mit der Ausreise ihrer Tochter. Mutter und Tochter lebten beide später in Schweden.
[33] HHStAW 518 82825 (3).
[34] HHStAW 518 51153 Bd. 4 (66) Es sei in diesem Zusammenhang auch auf das Buch „Landgericht“ von Ursula Krechel hingewiesen, in dem auch diese Problematik sehr eindringlich thematisiert wird.
[35] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (10) Auch ihr Schwager Paul Baruch sah mit dem Verlust der vertrauten Wohnung für seinen Bruder und dessen Frau einen entscheidenden Wendepunkt: „Bei ihrem Leidensweg von der Ausweisung aus ihrer Wohnung in Wiesbaden, Sonnenberger Str. 22, angefangen über Theresienstadt … hat sie [gemeint ist Lilly – es geht in dem Brief um deren materielle Verluste] alles verloren“, siehe ebd. (41).
[36] Ebd. (288).
[37] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (297) Lilly Baruch schätzte den Wert des zurückgelassenen Eigentums auf ca. 20.000 RM. Obwohl sie im Verfahren diese Werte nicht nachweisen konnte, wurde die Summe akzeptiert, weil die Antragstellerin in all ihren Aussagen glaubhaft sei. Auch das gab es. Dem Angebot von Paul Baruch, wenigstens die Wertgegenstände bei sich unterzubringen, waren Baruchs nicht nachgekommen. Sie hatten alles wie angeordnet bei der Gestapo abgeliefert oder zurückgelassen, ebd. (20).
[38] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (13, 38).
[39] Ebd. (288).
[40] HHStAW 518 51153 Bd. 1 (18).
[41] Ebd. (14).
[42] Ebd. (17, 20, 29). Siehe zum Außenlager Neugraben auch http://media.offenes-archiv.de/ha6_4_thm_1822.pdf. (Zugriff: 3.1.2021). Vor dem Hintergrund der hier wiedergegebenen Zeitzeugenaussagen wird deutlich, dass es dort möglich war, Kontakt mit der Bevölkerung der Umgebung aufzunehmen. Die Bewachung war dort nicht so streng, wie in anderen Lagern üblich.
[43] Siehe hierzu die Ausstellung „Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945“, die von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Dora-Mittelbau organisiert und in verschiedenen Gedenkstätten gezeigt wird und wurde. Siehe dazu https://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/geschichte/konzentrationslager/das-ende/ und https://bergen-belsen.stiftung-ng.de/de/ihr-besuch/ausstellungen/2015-wanderausstellung-zwischen-harz-und-heide/. (Zugriff 8.3.2020).
[44] HHStAW 518 82825 (20).
[45] HHStAW 518 51153 Bd. 2 (535).
[46] HHStAW 518 51153 Bd. 4 (66).
[47] Ebd. Am Rande notiert sie noch zu der Entwicklung in Israel: „Herr Begin, Israel, ist auch so ein gefährlicher reaktionärer Fanatiker. Schade, dass man ihn gewählt hat. Ich finde ihn grässlich!“
[48] HHStAW 518 51153 Bd. 4 (67).
[49] HHStAW 518 51141 Bd. 2 (87).
[50] Siehe zu den Transporten Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 406 f.
[51] Information Stadtarchiv Nürnberg.