Familie Aron und Lina Seelig


Juden Judenhaus Wiesbaden Adelheidstr. 94
Die Adelheidstr. 94 heute
Eigene Aufnahme
Adelheidstr 94, Judenhaus, Wiesbaden
Lage des Hauses
Adelheidstr. 94, Judenhaus Wiesbaden
Belegung des Judenhauses

 

 

 

 

 


Eine weitere Person mit dem Nachnahmen Strauss wurde im Jahr 1942 Bewohner des Hauses. Es handelte sich um den ledigen, aus Hammelburg stammenden Gustav Strauss, der dort am 25. Dezember 1892 geboren worden war.

Gustav Strauss, Judenhaus Wiesbaden, Adelheidstr. 94
Stammbaum der Familie Gustav Strauss
GDB

Sein Vater war der am 21. Mai 1859 geborene Juda Strauss, ein um 1890 von Hüttengesäß, einem Teil der heutigen Gemeinde Ronneburg, nach Hammelburg gekommener Kaufmann, der dort eine Schuhhandlung aufgemacht hatte. Seine Frau, die am 20. April 1857 in Westheim bei Hammelburg geborene Jetta Stiefel, gebar neben dem ältesten Sohn Gustav am 19.April 1894 noch Ludwig und am 15. November 1895 die Tochter Selma.

Beide Eltern starben früh, der Vater 1912 und die Mutter 1915, und auch der Bruder verstarb mit 22 Jahren an den Folgen einer Kriegsverletzung in einem Kölner Lazarett.[1] Gustav hatte ebenfalls eine schwere Kriegsverletzung erlitten, die zur Amputation seines linken Fußes geführt hatte.

Beruflich war Gustav zunächst in den frühen zwanziger Jahren als Reisender auf Provisionsbasis für ein bayrisches Unternehmen tätig. Mitte der Zwanziger Jahre verkaufte er seinen Erbteil am Elternhaus, zog wohl bald darauf nach Wiesbaden und eröffnete im Dezember 1926 – ganz in der Tradition der Familie – ein Schuhgeschäft in der Kleinen Webergasse 11. Er selbst wohnte zunächst im Dambachtal 1.[2]

Die Geschäfte liefen aber offensichtlich nicht so gut, wie ursprünglich erhofft. Schon ein Jahr später verlegte er den Schuhladen in die Moritzstr. 40, wo er dann auch eine Wohnung bezog. Aber die finanziellen Probleme wurden dadurch nicht gelöst. Immer wieder gab es Konflikte mit dem Finanzamt, weil er die geforderten Steuervorauszahlungen nicht leisten konnte. „Infolge großer Belastungen durch Umzug u. Kauf der Einrichtung war unter Berücksichtigung des unverhältnismäßig geringen Umsatzes ein nennenswerter Gewinn nicht zu erzielen,“ schrieb er dem Amt bei Abgabe der Einkommensteuererklärung 1927 und ergänzte zwei Monate später „Nachdem ich 9 ½ Monate in der Kl. Webergasse unglücklicherweise das Geschäft betrieb, eine kleine Straße, in der fast niemand passiert, ist es logisch, dass man kein Geschäft machen kann.“ [3]

Auch wegen der Höhe Veranlagung kam es zum Streit mit der Behörde. Nach seiner Berechnung hatte er im Jahr 1927 bei einem Jahresumsatz von 7.730 RM einen zu versteuernden Nettogewinn von nur 822,- RM erwirtschaftet. In den folgenden Jahren sank dieser Gewinn noch weiter ab, bis die Deflation der Weltwirtschaftskrise das endgültige Ende herbeiführte. Im November 1930 hatte er einen Rückgang des Umsatzes von 40 % zu verkraften und nur ein Vergleich mit den Gläubigern ließ ihn ein weiteres halbes Jahr durchhalten. Am 22. Oktober 1931 teilte er dem Finanzamt Wiesbaden mit, dass er sein Geschäft im August habe aufgeben müssen und inzwischen nur noch von seiner Kriegsbeschädigtenrente und kleinen Zuwendungen von Verwandten lebe.[4]

Er hatte danach trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage sogar noch einmal Arbeit als Büroangestellter bei einer er Firma gefunden, wo er nach eigenen Angaben allerdings nur einen sehr geringen Lohn  empfing.[5]

Als die Devisenstelle Frankfurt ihm im August 1940 eine Sicherungsanordnung zusandte – er wohnte zu dieser Zeit noch in der Moritzstr. 40 – und eine Vermögens- und Einkommensaufstellung verlangte, teilte er der Stelle mit, dass er außer Möbeln und Wäsche nichts mehr besitze und von zwei kleinen Renten in der Gesamthöhe von 53 RM monatlich lebe. 16 RM brauche er für die Wohnung und 37 RM für den Lebensunterhalt „ohne Kleidung“.[6] Der Kauf neuer Kleidung war in seinem Budget offensichtlich schon nicht mehr vorgesehen.

Die Devisenstelle verzichtete auf die Anlage eines gesicherten Kontos und erlaubte ihm sogar, die Rente in bar entgegennehmen zu dürfen. Nur ein weiteres Blatt ist in der Devisenakte von Gustav Strauss enthalten. Auf ihm sind die bürokratischen Routinen festgehalten, die nach der „Evakuierung“ üblicherweise erfolgten.[7]

Zuvor, am 16. Februar 1942, war er noch aus seiner alten Wohnung in das Judenhaus in der Adelheidstraße umquartiert worden und hatte dort als Alleinstehender ein Mansardenzimmer im vierten Stock bezogen. Ein halbes Jahr blieb er hier, aber es gibt nichts, was Auskunft über diese Zeit, über sein Leben dort geben würde. Wie so viele andere war auch er schon aus dem Leben geschieden, bevor es endgültig erlosch.

Gustav Strauss
Karteikarte für Gustav Strauss aus Theresienstadt mit Deportationsvermerk nach Auschwitz
https://collections.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014202/0141/132695803/001.jpg

Noch einmal hätte man ihn sehen können, nämlich am Morgen des 1. Septembers 1942, als er mit den anderen 370 Juden von der Synagoge in der Friedrichstraße zur Rampe am Schlachthof getrieben wurde, um den Transports nach Theresienstadt zu besteigen. Er hatte die Transportnummer 908 erhalten. Nach einem viertel Jahr soll er den nächsten Zug bestiegen haben, diesmal soll ihm die Nummer 622 zugeteilt worden sein.[8] Der Zug Da 103 verließ am 23. Januar 1943 Theresienstadt mit dem Ziel Auschwitz Birkenau. Von den dort angekommenen 2029 Juden und Jüdinnen, darunter fast Zweidrittel Frauen und Mädchen, wurden etwa 150 Männer und 80 Frauen als Häftlinge in das Lager eingewiesen, die übrigen wurden in einer der Gaskammern ermordet.[9] Ungewiss ist aber dennoch das Schicksal von Gustav Strauss. Wir wissen nicht, wohin er bei der Selektion geschickt wurde, wir wissen nicht einmal sicher, ob er sich tatsächlich in dem Zug befand, denn in der Namensliste der aus Theresienstadt mit diesem Zug Deportierten ist seine Name nicht aufgeführt.[10] Die Unterlagen aus Theresienstadt bestätigen aber, dass auch er wohl Insasse des Zuges war.[11] Ob er aber tatsächlich unmittelbar nach seiner Ankunft ermordet wurde, bleibt dennoch ungewiss. Insofern ist der Todeseintrag in der Wiesbadener Opferliste und auch auf dem Fries der Gedenkstätte am Michelsberg mit dem Datum 23. Januar 1943 in Auschwitz zumindest gewagt. Dass er in Auschwitz sein Leben verlor, kann aber als gesichert angesehen werden.

 

Veröffentlicht: 12. 11. 2017

Letzte Revision: 21. 03. 2021

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Die Angaben zum familiären Hintergrund von Gustav Strauss sind der sehr informativen Homepage Victims of Holocaust – Hammelburg – Westheim – Unterthal entnommen., siehe http://www.victims-of-holocaust-hammelburg.de/gustav-strauss.html. Hier ist auch reichlich Bildmaterial zur Familie eingestellt.

[2] HHStAW 685 791d (1). Nach Wiesbaden gekommen war er nach eigenen Angaben im November 1926, siehe HHStAW 685 791b (14).

[3] Ebd. (26, 31).

[4] HHStAW 68/5 791b (58) Das Geschäft war im August 1931 eingestellt worden. Es wurde aber erst ein Jahr später zum 30.9.32 beim Gewerbeamt abgemeldet, siehe HHStAW 685 791d (o.P.) Zuletzt muss der Laden noch einmal verlegt worden sein, bei der Abmeldung ist die Adresse Nikolasstr. 12 angegeben. Wann genau der Umzug stattgefunden hatte, ergibt sich aus den Akten nicht.

[5] HHStAW 519/3 8027 (6) Der Beruf „Büroangestellter“ war auch auf seiner Gestapo-Karteikarte eingetragen.

[6] HHStAW 519/3 8027 (1, 3).

[7] HHStAW Ebd. (8).

[8] https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4789170&ind=1, auch laut Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz, siehe https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de978984. (Zugriff: 3.3.2021).

[9] Czech, Kalendarium Auschwitz, S. 391.

[10]. https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&fromDeportation=true&advancedSearch=true&deportation_value=5092012. (Zugriff: 3.3.2021). In den Unterlagen aus Theresienstadt wird er gleichwohl als Insasse des Zuges geführt, siehe https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4789170&ind=1. (Zugriff: 3.3.2021)

[11] https://collections.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014202/0141/132695803/001.jpg. (Zugriff: 3.3.2021)