Julchen / Julie Blumenthal kam erst am 14. April 1942 in die Grillparzerstraße und bezog hier in der ersten Etage bei Steinbergs ein Zimmer. Sie hatten viel gemeinsam, insbesondere hatten sie den Niedergang ihrer vormals so bedeutenden und führenden Unternehmen in Wiesbaden durch den Terror der Nazis erleben und verkraften müssen. Einstmals hoch geachtete Bürger dieser Stadt, jetzt als Juden ausgegrenzt, verachtet, gedemütigt und gezwungen, in einem Judenhaus zu leben.
Julchen Blumenthal war die Ehefrau von Seligmann Blumenthal, der mit dem gleichnamigen Kaufhaus im Zentrum Wiesbadens, Teil des späteren Kaufhauses Karstadt, das Geschäftsleben der Stadt wie kein Zweiter für Jahrzehnte prägen sollte – ein „Kaufhaus I. Ranges“, wie es in den Anzeigen zurecht bezeichnet wurde.[1] Es war die Zeit, in der in vielen Städten moderne Warenhäuser auf dem Vormarsch waren und die traditionellen Läden ablösten.[2]
Unmittelbar neben dem Kaufhaus von Blumenthal stach unter architektonischen Gesichtspunkten besonders das schon 1892 eröffnete Geschäfthaus der jüdischen Familie Bormass an der Ecke Kirchgasse / Mauritiusplatz hervor und verlieh dem Zentrum Wiesbadens ein großstädtisches Gepräge. Die mit dem Signet der Firma versehenen Weltkugel krönte programmatisch den zur Kirchgasse und Mauritusplatz ausgerichteten First des Gebäudes.[3]
Von Beginn an waren die Opfer dieses Strukturwandels empfänglich für die typischen antisemitischen Stereotype, die die Nazipropaganda nur aufnehmen und zielgerichtet einsetzen musste.[4] Die Parole vom Kampf gegen die „Warenhausseuche“, mit der die NSDAP einen Großteil der mittelständischen Gewerbetreibenden hinter sich brachte, hatte in Wiesbaden ein klares Ziel: Die beiden Kaufhäuser Blumenthal und Bormass.[5] Die reichsweiten Boykottaktionen, die seit März 1933 intensiviert wurden und mit der generalstabsmäßig geplanten Aktion vom 1. April ihren Höhepunkt erreichten, wurden auch in Wiesbaden nach den zentralen Vorgaben durchgeführt. In dem Bericht der ‚Wiesbadener Nachrichten‘ über diesen Tag wird zwar das Geschäft der Blumenthals nicht explizit erwähnt, aber man wird sicher davon ausgehen können, dass es im besonderen Maße betroffen war, zumal auch das seit 1927 zum arischen Karstadt-Konzern gehörende Unternehmen von Bormass, seitdem „Karzentra“, zum Angriffsziel des Mobs wurde, weil es im Bewusstsein vieler Wiesbadener Bürger weiterhin als jüdisches Geschäft galt.[6]
Kontroverse innerhalb der NSDAP um die Haltung gegenüber Karstadt.
Der wirtschaftliche Aufstieg der Blumenthals hatte zunächst mit einem Kurzwarengeschäft begonnen, im Wiesbadener Adressbuch von 1884/1985, in dem die Firma erstmals verzeichnet ist, etwas hochtrabend als „Kurz- und Passementrie- u. Merceriewaren – Hamburger Engroslager S. Blumenthal & Co.“ bezeichnet. 1883 war die Firma gegründet worden, möglicherweise noch in Hamburg, wie man aus dem Namen schließen könnte. Julchen Heilbuth war dort im Stadtteil Altona am 2. November 1859 geboren worden. Seligmann Blumenthal kam aus Rosenthal bei Marburg. Er, um 1854 geboren, war der Sohn von Löb und Deiche Blumenthal, geborene Höxter.
Nach ihrem Umzug wohnten die Blumenthals, die am 11. September 1884 in Wiesbaden geheiratet hatten, zunächst im Geschäftshaus in der Kirchgasse 49. 1904 wurde das Areal Kirchgasse 39/41 vom Unternehmen, nicht von Blumenthals privat, erworben und als Firmenbesitz in das Grundbuch eingetragen.[7] Im gleichen Jahr kauften die Blumenthals ihr Haus in der Alwinenstr. 26, von nun an die Wohnadresse der Familie.[8] Ab 1910 wurde die Firma von Seligmann Blumenthal als Inhaber alleine geführt.
Die scharfen antisemitischen Anfeindungen der Nazis hatte Seligmann Blumenthal selbst nicht mehr erleben müssen, denn er verstarb bereits am 7. August 1919. Erben waren die drei Kinder des Paares, nämlich Theodora, Adolf und Else.[9] Der Witwe stand laut einem Schreiben des Rechtsanwalts Kinkel im späteren Entschädigungsverfahren bis zu ihrem Ableben das „Leibzuchtrecht nach normal nassauischem Güterrecht zu“, was ihr ein umfassendes Nutzungsrecht sicherte, das ihr auch von den formalrechtlichen Eigentümern, den Kindern, nicht genommen werden konnte.[10] Adolf Blumenthal wurde als persönlich haftender Komplementär zum Geschäftsführer ernannt und bezog als solcher dreiviertel der Gewinnausschüttung. Er war im Jahr zuvor, kurz vor dem Tod des Vaters, bereits als persönlich haftender Gesellschafter in die Firma eingestiegen. Julchen als Kommanditistin mit einer Kapitaleinlage von 1.000.000 RM erhielt das übrige Viertel.[11]
Nach den Recherchen der Detektei Blum, die im Rahmen des späteren Entschädigungsverfahrens mit Nachforschungen beauftragt worden war, lief das Warenhausgeschäft in den Jahren unter dem sehr beliebten und in seinen Kreisen hoch angesehenen Firmenchef Adolf Blumenthal sehr gut. Mit durchschnittlich 250 Angestellten habe man jährliche Umsätze zwischen 5 und 8 Millionen RM erwirtschaftet, allein der Lagerwert habe durchgängig einen Wert von etwa 500.000 RM gehabt. Erst ab 1934 seien die Umsätze rapide zurückgegangen.[12]
Man kann den Akten allerdings auch entnehmen, dass das Unternehmen von den Krisenjahren der Weimarer Zeit auch unmittelbar betroffen war und die Zeiten auch vor der Machtergreifung der Nazis nicht immer so glänzend waren. So scheint die Phase nach den Inflationsjahren besonders schwierig gewesen zu sein. Mit Verweis auf den „außerordentlich schlechten Geschäftsgang und (die) unverändert hohen Spesen insbesondere Löhne und Gehälter“ versuchte man 1924 wenigstens eine Stundung der fälligen Steuern zu erreichen: „Man könne augenblicklich keine weiteren Beträge flüssig machen.“ [13] Vielleicht war die Geldentwertung auch ein Grund dafür, dass Adolf Blumenthal im Jahr zuvor eine Villa in der Parkstr. 7 erworben hatte, die künftig von der Familie bewohnt wurde.[14] In den folgenden Jahren der Stabilisierungsphase stieg auch das Einkommen der Familie wieder an, verdoppelte sich sogar im Jahr vor der Weltwirtschaftkrise innerhalb von nur einem Jahr.[15]
Als diese aber am Ende der Zwanziger Jahre auch Deutschland erschütterte, war ein Handelsunternehmen wie Blumenthal natürlich unmittelbar betroffen. In einem Brief an das Finanzamt Wiesbaden gab die Prokuristin Schartenberg Auskunft über die desolate Lage: Gewinne im Geschäftsjahr 1931/1932 seien nicht zu erwarten, die Umsätze im letzten Vierteljahr seien katastrophal zurückgegangen, ohne dass die Kosten, wie eigentlich notwendig, hätten gesenkt werden können. Mehr als 40.000 RM Verluste standen am Ende des Jahres in der Bilanz.[16]
Spätestens seit den Boykottaktionen 1933, unter denen die Firma nach Aussage des langjährigen Buchhalters und Steuerberaters Löffler „außerordentlich litt“, konnten überhaupt keine Gewinne mehr erzielt werden.[17] Am 31. August 1935 gaben die Blumenthals auf.
Ob für den Niedergang allein die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich waren, oder aber, wie die Folgeeigentümer Krüger und Brandt meinten, auch die mangelnden kaufmännischen Fähigkeiten von Adolf Blumenthal, sei dahingestellt, aber die hohen Privatentnahmen, die auch von den Nachfolgern kritisiert wurden, sind nicht zu bestreiten.[18] Krüger war 1933 von dem Tietz-Konzern, von dem das Kaufhaus Blumenthal einen Kredit von 120.000 RM erhalten hatte, zunächst als Geschäftsführer eingesetzt worden. 1935 übernahmen er und sein Partner Brandt die Firma. Ob es sich dabei um die Übernahme eines in Schieflage geratenen Unternehmens oder um eine Arisierung handelte, war nach 1945 umstritten. In einem umfassenden Gutachten des ‚Ausschusses zur Untersuchung arisierter Unternehmungen‘ heißt es:
„Am 1. Febr. 1934 wurde Krüger von der Westdeutschen Kaufhof-A.G. in die Firma Blumenthal beordert und von Blumenthal angestellt. Der Zustand des Hauses war zu diesem Zeitpunkt schlecht. Es hatte zwar in der Stadt Wiesbaden eine sehr gute Lage und wäre durchaus lebensfähig gewesen, jedoch war Blumenthal selbst für ein derartiges Warenhaus nicht der geeignete Geschäftsführer. Er war persönlich von tadelloser und anständiger Gesinnung, jedoch kein versierter Kaufmann.
Krüger ist es nach seinem Eintritt als Geschäftsführer gelungen, für das Geschäftsjahr 1934 den Umsatz um rund RM 100.000,– zu steigern und eine gute Verdienstquote zu entwickeln. Die Belebung des Geschäftes führte jedoch dazu, dass Blumenthal seine persönlichen Entnahmen, die, wie bereits ausgeführt, bedeutend waren, noch erhöhte, so dass der Verdienst dem Geschäft nicht zugute kam. Die Zustände spitzten sich in der Folgezeit soweit zu, dass zu Beginn des Jahres 1935 dem Blumenthal entweder nur noch die Möglichkeit eines günstigen Verkaufs oder das Konkursverfahren offen blieb. Damals trat Blumenthal an Krüger mit der Bitte heran, er, Krüger, solle das Geschäft übernehmen. Krüger hat dazu ausgesagt, dass ihm bei der Stellung des Angebotes klar war, dass politisch gesehen Blumenthal als Jude in Deutschland auf die Dauer keine Erfolgsaussichten mehr haben würde. Es hätte also in Krügers Entschluss gestanden, solange zu warten, bis das Geschäft Blumenthal tatsächlich in Konkurs ging, um es dann billigst zu übernehmen. Diesen Entschluss hat Krüger jedoch nicht gefasst sondern, trotzdem er als Nichtparteigenosse in Wiesbaden schwer zu kämpfen hatte, und man ihm seitens der DAF unterstellte, dass er sich schützend vor Blumenthal stellte, erklärt er sich auf weiteres Drängen des Blumenthal nach Rücksprache mit seinem späteren Teilhaber Brandt und mit Direktoren der Vereinigten Seiden-A.G. in Krefeld zu einem Kauf zum 1. Sept. 1935 bereit.“[19]
Die Erben der Blumenthals hingegen sahen in dem „sogenannten Übertragungsvertrag“ eine getarnte Arisierung, durch die Krüger und Brandt erlaubt wurde, „das gesamte Warenhaus zu übernehmen sowie das im Warenhaus befindliche persönliche Eigentum einschließlich des Lagers, auf eine Art und Weise, dass sie für diese Werte nichts zu zahlen brauchten.“[20]
Richtig ist, dass bei der Übernahme kein Geld mehr floss, andererseits aber nicht nur die Aktiva, sondern auch die Passiva, d.h. Schulden in der Höhe von etwa 600.000 RM bei Banken, Lieferanten und anderen Kreditoren, übernommen wurden.[21]
Nicht erworben wurde allerdings das Grundstück im Wert von knapp 610.000 RM. Hierüber wurde ein am Umsatz orientierter Pachtvertrag geschlossen, nach dem 3 Prozent des Umsatzes an die Firma Blumenthal, deren einzige Geschäftstätigkeit in dieser Verpachtung bestand, gezahlt werden sollte.[22] Als Treuhänder dieser Firma wurde „auf Anregung und Wunsch der Kreisleitung der N.S.D.A.P. in Wiesbaden“ der bisherige Steuerberater Löffler bestellt.[23]
1941 versuchte Löffler das Grundstück Kirchgasse 39-41 zu verkaufen und beantragte eine entsprechende Vollmacht des Regierungspräsidenten. Nach dem Verkauf sollte dann auch die Firma S. Blumenthal & Co. KG endgültig liquidiert und aus dem Handelsregister gestrichen werden.[24] Dieses Ansinnen wurde aber abgelehnt. Gerade weil die Firma nur noch ein Grundstück besäße, käme „die Entjudung der Firma der Entjudung eines Grundstücks gleich“. Eine „Zwangsentjudung jüdischer gewerblicher Grundstücke während des Krieges“ habe der Reichswirtschaftsminister aber untersagt. Nach Kriegsende könne er den Antrag erneut stellen.[25]
Das Grundstück gehörte aber faktisch der Frankfurter Hypothekenbank, denn es lastete auf ihm eine Hypothek von 690.000 RM. Zu diesem Preis sollten die neuen Eigentümer des Kaufhauses das Recht haben „zu einem bestimmten Zeitpunkt“ auch Grund und Boden der Firma zu übernehmen. Von diesem Recht wurde aber bis 1942 kein Gebrauch gemacht.[26] Der Grund dafür mag darin gelegen haben, dass die eingehende Pacht angeblich nie ausreichte, um die Kosten für das Grundstück, im Besonderen für die anfallenden Steuern, zu begleichen. Zumindest konnte Löffler dem Oberfinanzpräsidenten Berlin beruhigend mitteilen, dass den Juden aus ihrem Grundbesitz kein Gewinn zugeflossen sei.[27] Aber auch der Fiskus ging leer aus: „Erträgnisse aus der Liegenschaft hat das Finanzamt nicht vereinnahmt,“ so das Hessische Finanzministerium an das Amt für Vermögenskontrolle im Rückerstattungsverfahren 1949.[28]. Wie viel Löffler selbst als Verwaltungsaufwand zugeflossen war – er erhielt die Pachtzahlungen – muss offen bleiben.
Mit dem Verkauf des Unternehmens ging der Entschluss der Familie einher, Deutschland zu verlassen. Die privaten Wohnhäuser in der Parkstr. 35 und der Alwinenstr. 28 wurden samt Mobiliar verkauft. Auch das zum Unternehmen gehörende Hausgrundstück Schulgasse 6 wurde zu einem Preis, der unter dem Einheitswert von 1935 lag veräußert.[29]
Adolf Blumenthal ging zusammen mit seiner Frau Irma in der irrigen Hoffnung, hier der Verfolgung entkommen zu sein, Anfang Dezember 1935 nach Holland.[30] Die beiden noch nicht erwachsenen Töchter, die am 27. August 1920 geborene Ruth Dora und die am 16. September 1922 geborene Ellen, waren, nachdem sie das Lyzeum am Schlossplatz verlassen mussten, zuvor zusammen nach England gelangt und hatten dort eine Privatschule besucht. Wegen der hohen Kosten mussten die Eltern sie jedoch wieder von dieser Schule nehmen. Im Frühjahr 1936 kamen die beiden dann auch nach Holland. [31] Vermutlich lebte die Familie danach zumindest eine gewisse Zeit zusammen in Amsterdam, wo sie eine Pension betrieb, die zur Anlaufstätte für Flüchtlingen wurde.
Mit der deutschen Besetzung im Mai 1940 begann die Hetzjagd aufs Neue. Irma erlitt in dieser Zeit in ihrem holländischen Exil einen Nervenzusammenbruch, von dem sie sich nicht mehr erholte. Im September 1942 wurde sie in die dortige jüdische psychiatrische Klinik Apeldoorn eingeliefert und am 21. Januar des folgenden Jahres von hier aus nach Auschwitz verbracht. Unmittelbar nach der Ankunft dort wurde sie am 25. Januar 1943 umgebracht.[32]
Zwar sind die genaueren Umstände seiner Verhaftung am 17. April 1943 nicht bekannt. aber Adolf Blumenthal wurde danach in das berüchtigte Lager Westerbork gebracht, von dem aus auch Anne Frank ihren Weg nach Auschwitz antrat. Zwischen März und Juli 1943 wurden von Westerbork aus mehr als 30.000 Menschen in das Vernichtungslager Sobibor deportiert. Am 13. Juli war auch Adolf Blumenthal darunter und nur drei Tage später wurde er dort vergast.[33]
Bereits im Januar 1943 war das Finanzamt Wiesbaden aktiv geworden und hatte bei der Gestapo Frankfurt angefragt, ob Adolf Blumenthal durch die Verlegung seines Wohnsitzes nach Holland ausgebürgert und somit sein Vermögen verfallen sei. Noch am selben Tag stellte die Gestapo dann beim Chef der Sicherheitspolizei und des SD in Berlin den Antrag auf Ausbürgerung und zugleich auf Anordnung des Vermögensverfalls.[34]
Die beiden Töchter Ruth und Ellen haben den Holocaust überlebt – Ruth war nach eigenen Angaben 1943 in den Untergrund gegangen und hatte als Dienstmädchen unter falschem Namen bei einer holländischen Familie gearbeitet.[35] Ob diese Ruth gedeckt und versteckt hatten oder nichts von ihrer wahren Identität wussten, ist nicht bekannt.
Undurchsichtig bleibt auch, wie es Ellen gelang, die Anerkennung als Halbjüdin zu erlangen.[36] Aber auf diese Weise ist es auch ihr gelungen, am Leben zu bleiben. Ruth ist nach dem Krieg in Holland geblieben, Ellen nach Kanada ausgewandert.[37]
Die älteste Tochter von Seligmann und Julchen Blumenthal, Theodore / Dora Rosenthal, geboren am 1. Juni 1885 in Wiesbaden, war bereits im September 1935 an Krebs verstorben und hat das weitere Schicksal der Familie nicht mehr erleben müssen. Sie war mit dem Rechtsanwalt Ignatz Rosenthal verheiratet, einem Sohn des Fellhändlers Julius Rosenthal aus Wetzlar. Als Sozius in der zunächst noch hoch angesehenen Kanzlei des jüdischen Anwalts Arnold Kahn verdiente er sehr gut. Anfang der 20er Jahre zog die Familie, zu der auch die drei Kinder Georg, Mathilde, genannt Till, und Richard gehörten,[38] in das Elternhaus in der Alwinenstraße. Sie nahmen auch den alten und völlig verarmten Vater von Ignatz auf, der zudem noch an einem aus dem Ersten Weltkrieg stammenden Nervenleiden litt und pflegebedürftig war.[39] Bereits im Juni 1925, zehn Jahre vor Dora, verstarb Ignatz Rosenthal und Dora arbeitete danach als Angestellte in der elterlichen Firma, um die sich noch in der Ausbildung befindlichen Kinder versorgen zu können.
Noch bevor auch sie am 10. September 1935 starb, muss zumindest einer der Söhne ins Ausland gegangen sein, denn in der Steuererklärung für 1934 machte Rechtsanwalt Kahn als Testamentsvollstrecker geltend, dass Dora den im Ausland befindlichen Sohn mit monatlich 200 RM unterstützt habe.[40]
Ihre Kinder konnten sich alle drei rechtzeitig ins Ausland absetzen. Georg lebte nach dem Krieg in Frankreich, Mathilde, verheiratete Goldschmidt, in Kalifornien und Richard, nun Ricardo, in Argentinien.
Elsa Öttinger,[41] die am 26. Januar 1892 geborene jüngste Tochter der Blumenthals hatte den Zahnarzt Dr. Richart Öttinger geheiratet. Sie lebten zusammen in München und hatten die beiden Kinder Irena, geboren am 12. Oktober 1915, und Peter, der am 14. Mai 1915 zur Welt gekommen war. Seit 1936 ohne Einkommen – sie hatte zuvor als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Mannes gearbeitet – kehrte sie mit ihrer Familie 1937 nach Wiesbaden zurück.[42] Bald darauf, im Februar 1938 verstarb ihr Mann und spätestens ab diesem Zeitpunkt wohnte sie in der Paulinenstr. 11, in der Pension von Frau Knipper, in der bereits die Mutter untergekommen war. Im Januar 1940 zog sie mit ihr noch einmal für 5 Wochen in die Sonnenberger Str. 37.
Schon zuvor hatte sie ihre eigene Auswanderung in die Wege geleitet, nachdem die beiden Kinder Irena und Peter bereits in Sicherheit gebracht worden waren. Die Schiffspassage in die USA war für den 22. Februar 1940 gebucht. Nach der erzwungenen Abgabe aller Edelmetallgegenstände und der Einzahlung der Dego-Abgabe über 400 RM konnte die Ausreise über Genua offensichtlich ansonsten problemlos realisiert werden. [43]
Auch Julchen Blumenthal plante 1938 Deutschland zu verlassen, wie eine Aktennotiz beim Finanzamt Wiesbaden offenbart, nach der sie um den Jahreswechsel 1938/39 einen Antrag auf eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung gestellt hatte. Laut Aufzeichnungen der Behörde verfügte sie 1935 über ein Vermögen von 367.000 RM, womit sie reichsfluchtsteuerpflichtig war. Da sie aber zum 1. Januar 1939 nur noch knapp 15.000 RM besaß, wurde die Steuerlast erheblich gesenkt. Sie wurde aufgefordert bis zum 1. Februar 1939 die fälligen 25 Prozent, d.h. nun 3.527 RM an die Finanzkasse zahlen.[44]
Der ungeheure Vermögensschwund zwischen 1935 und 1939 ist auf Grundlage der vorhandenen Akten nicht mehr nachzuvollziehen. Der größte Teil wird im arisierten Unternehmen gesteckt haben, für das aber faktisch nichts gezahlt wurde.[45] Es mag sein, dass sie auch einen Teil an bedürftige bzw. ausgewanderte Familienmitglieder gegeben hatte, um das Geld dem NS-Fiskus zu entziehen, aber Belege dafür gibt es nicht. Unklar blieb im Entschädigungsverfahren auch, was aus dem Geld wurde, das sie für den Verkauf des Hauses in der Alwinenstraße erhalten hatte. Dieses musste auf ein gesperrtes Konto eingezahlt und nach ihrem Tod eingezogen worden sein.[46]
Nachvollziehbar sind eher die kleinen Raubzüge des Staates und auch die der deutschen Volksgenossen. Im März 1939 war sie gezwungen worden, Silber, Schmuck, Tafelsilber für 18 Personen, zahlreiche silberne Platten und andere wertvolle Serviceteile abzuliefern. Unter dem Schmuck befand sich auch eine Brosche mit einem Brillant und Smaragd, wie das Städtische Leihamt notierte. Auch ein wertvoller Radioapparat war unter den abgelieferten Gegenständen. Der gesamte Wert all dieser Artikel wurde vom Leihamt auf nur unglaubliche 93,06 RM beziffert.[47]
Bei diesem oder einem anderen Termin musste nach der Erinnerung von Mathilde Rosenthal auch eine besonders schöne Halskette mit 225 ausgesuchten Perlen abgegeben werden. Ihren Wert schätzte die Enkelin im Jahr 1950 auf mindestens 50.000 DM.[48]
Wohl im Zusammenhang mit ihrer geplanten Ausreise hatte Julchen auch einen großen Teil der Wohnungseinrichtung dem Auktionshaus Jäger für eine Versteigerung übergeben. Julius Jäger in der Luisenstr. 9 gehörte zu denjenigen, die regelmäßig Versteigerungen „aus arischem und nichtarischem Besitz“ in den hiesigen Zeitungen wie im ‚Nassauer Volksblatt‘ ankündigten.[49] Auf 9 Seiten sind 457 Artikel aufgeführt, die an zwei Tagen, am 12. und 13. November 1938 in die Hände der kleinen Systemprofiteure übergingen: Geschirr, Vorhänge, Kleidung jeder Art, Tischwäsche Möbel und alle möglichen anderen Alltags- und Gebrauchsgegenstände in jeder Preislage, von 10 Pfg. bis 150 RM. Auch Kuriositäten wie ein Nachttopf, Wasserpfeife oder Zeitungshalter konnten ersteigert werden. Gemälde erzielten die höchsten Preise – aber ein Ölbild von Wilhelm Leibel, einem der bedeutendsten Maler des deutschen Realismus, ging für gerade mal 60 RM über die Ladentheke. Jäger hat genau Buch geführt und all die Namen gelistet, die sich bei diesem Beutezug beteiligten – und viele haben mehrfach zugeschlagen. Keinen Pfennig der Verkaufssumme hat Julchen Blumenthal davon je zu sehen bekommen – so Anwalt Kinkel im Verfahren.[50]
Was ihre Ausreise dann verhinderte, ist nicht bekannt. Nicht genau rekonstruierbar ist auch, wo sie die Wartezeit verbrachte. 1935 war sie laut Jüdischem Adressbuch noch in der Alwinenstr. 28 gemeldet. Im Adressbuch der Stadt Wiesbaden ist sie auch in den Folgejahren unter dieser Adresse eingetragen. Nachdem sie sich von dem Großteil ihrer Habe getrennt hatte, wird sie Ende 1938, Anfang 39 [51] mit ihrer Tochter Else ein oder mehrere Zimmer in der Pension in der Paulinenstr. 11 gemietet haben, in der Erwartung bald die Genehmigungen für die Ausreise zu erhalten. Im Januar 1940 zogen beide in die Sonnenberger Str. 37. Auf der Gestapo-Karteikarte ist „bei Knipper“ vermerkt. Auf den ersten Blick und auch vom Zeitpunkt spricht einiges dafür, dass es sich hier um eine der ersten Zwangsumsiedlungen handelte. Es war die Zeit, in der die Listen über die geplanten Judenhäuser erstellt wurden und die Blockwarte auf der Suche nach „entmietbaren“ Judenwohnungen waren. Dennoch scheint es sich hier eher um einen Fall arischer Solidarisierung gehandelt zu haben, denn Frau Knipper war die Inhaberin der Pension in der Paulinenstr. 11, in der Julchen bereits zuvor gewohnt hatte. Möglicherweise war auch die gesamte Pension mit ihrer Inhaberin und den Gästen aus der Paulinenstrasse in die Sonnenberger Straße gezogen.
Die folgenden beiden Jahre durfte Julchen Blumenthal dort bleiben. Erst am 14. April 1942 wurde sie nach den Angaben der Gestapo-Kartei in das Judenhaus Grillparzerstr. 9 einquartiert. Sie erhielt dort Zimmer bei Steinbergs im ersten Stock. Sieben Wochen lebten die einmal so erfolgreichen Wiesbadener Geschäftsleute hier zusammen. Um diese vergangene Zeit werden sich die Gespräche in der gemeinsamen Wohnung sicher gedreht haben, aber auch um die Frage, was jetzt noch zu erwarten sein würde.
Am 2. Juli 1942 hatte sich Moses Steinberg entschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Nur einen Tag nach seinem Selbstmord setzte auch Julchen Blumenthal in der gemeinsamen Wohnung mit Gift ihrem Leben ein Ende. Und wiederum fünf Tage später wählte auch Elfriede Steinberg diese letzte Alternative. Ob es sich hierbei um einen abgesprochenen kollektiven Selbstmord handelte, kann man nicht mit Sicherheit sagen, aber über diese letzte Alternative wird man ganz sicher miteinander gesprochen haben.
Eigenartig ist, dass ihr Name, versehen mit der Nummer 815, noch auf der Deportationsliste für den 1. September 1942 nach Theresienstadt erscheint. Die im HHStAW erhaltene Liste ist durchnummeriert von 421 bis 935, bis zur Nummer 815 sind die Namen alphabetisch geordnet, danach nicht mehr, so als habe man mehr oder weniger willkürlich nachträglich weitere Namen – etwa für „Ausfälle“ – hinzugefügt. Wann und von wem die Liste erstellt bzw. ergänzt worden war, ist nicht bekannt. Da aber Julchen darin aufgenommen ist, müsste sie eigentlich vor ihrem Tod, also vor Juli angefertigt worden sein, was aber schon deshalb unwahrscheinlich ist, weil der Schnellbrief der Gestapo Frankfurt, der die Kriterien für die Zusammenstellung der zu „evakuierenden“ Personen des Transports erst am 21. August 1942, also kaum mehr als eine Woche vor dem anberaumten Termin, an die entsprechenden Landräte herausgegangen war.[52] Erst zu diesem Zeitpunkt konnte demnach klar sein, wer auf die Liste kommen sollte.
Verwirrend ist zudem, dass eine Frau Fehres, Haushälterin bei der mit Julchen Blumenthal befreundeten Frau Dr. Rothschild, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesem Transport und dem Selbstmord von Julchen herstellt. „Am Tage vor ihrem angeordneten Abtransport nach Theresienstadt (habe sie sich) im Haus Kloppstockstraße zusammen mit anderen jüdischen Staatsbürgern das Leben genommen.“[53] Abgesehen davon, dass die Ortsangabe Kloppstockstraße definitiv falsch ist, ist es auch sehr unwahrscheinlich, dass die Evakuierungsanordnung zwei Monate vor dem Deportationstermin übergeben worden sein soll,[54] zumal dieser zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal feststand. Eine zu frühe Bekanntgabe solcher Termine wurde gerade in Anbetracht der dadurch immer wieder ausgelösten Selbstmordwellen tunlichst vermieden. Einen anderen Transport nach Theresienstadt, Anfang Juli, für den Julie vielleicht hätte ausgewählt worden sein können, hat es von Wiesbaden bzw. Frankfurt aus nicht gegeben.
Angesichts dieser Fakten wird man sicher davon ausgehen können, dass Julchen Blumenthal wie auch das Ehepaar Steinberg, sich ohne konkreten Bezug zu einer bestimmten Deportation umgebracht haben. Gründe genug gab es auch so. Verwunderlich bleibt aber, dass ihr Name in der Liste für den 1. September enthalten ist, Steinbergs hingegen tauchen in keiner der Deportationslisten mehr auf.
Die sich sehr komplizierten und sich lange hinziehenden Entschädigungs- und Rückerstattungsverfahren der Erben von Seligmann und Julchen Blumenthal, in denen diesen die Immobilien und andere Vermögenswerte zumindest partiell zurückerstattet wurden, können hier nicht nachgezeichnet werden. Aber ein Aspekt ist gerade im Hinblick auf das politische Klima, in dem diese Auseinandersetzungen stattfanden, von besonderem Interesse.
Neben einer ganzen Reihe von Fragen teilte der zuständige Sachbearbeiter in der Entschädigungsbehörde dem von den Antragstellern beauftragen Rechtsanwalt Kinkel mit, dass keine notariell beglaubigte, eidesstattliche Versicherung abgegeben worden sei, in der die Antragsteller bestätigen, „weder der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet (zu) haben, noch sonst wie die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft (zu) haben, noch dass ihnen nach dem 8.5.1945 rechtskräftig die bürgerlichen Ehrenrecht aberkannt“ worden seien.
Welche unglaubliche Zumutung darin enthalten ist, eine solche eidesstattliche Erklärung von den noch selbst Verfolgten und von deren Kindern zu verlangen, ist kaum zu fassen.[55] Der Anwalt antwortete auf dieses Ansinnen knapp: „Die gewünschten eidesstattlichen Versicherungen dürften sich erübrigen, nachdem feststeht, dass die Antragsteller auf das schwerste unter der nationalsozialistischen Judenverfolgung gelitten haben.“[56] Damit war der Amtsträger aber in keiner Weise zufrieden. In einem erneuten Schreiben wies er Rechtsanwalt Kinkel darauf hin, dass eine solche eidesstattliche Erklärung vom BEG (Bundesentschädigungsgesetz) unbedingt gefordert sei, wenn ein entsprechender Verdacht vorliege. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz von 1953 hatte tatsächlich keinen Anspruch auf Entschädigung, wer selbst die Nationalsozialisten unterstützt hatte, was nur sinnvoll ist, keinen Anspruch hatte aber auch, wer „einer anderen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet hat“ und „wer die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft“.[57]
Mit dieser, für die Zeit des aufkommenden Kalten Krieges typischen Bestimmung waren faktisch alle Kommunisten, u. U. auch Sozialisten, also diejenigen die am entschlossensten zumindest versucht hatten, sich den braunen Horden entgegenzustellen, von einer Entschädigung auszuschließen.
Der Sachbearbeiter wurde aber auch konkret und ergänzte, dass laut Testament von Theodora Blumenthal vom 12. Juli 1933, „die Söhne Georg und Richard für eine der Erblasserin nicht genehme politische Partei tätig waren und deshalb enterbt wurden.“[58] Und tatsächlich hatten sich beide Söhne im linken Spektrum, besonders im kulturpolitischen Bereich engagiert.[59] Nicht die politische Haltung von Dora Rosenthal, der Tochter von Julchen Blumenthal, noch deren Motive für die Enterbung der beiden Söhne stehen hier zur Debatte, das Skandalöse ist, dass ein Sachbearbeiter in der Entschädigungsbehörde, die – wie man heute weiß – durchsetzt war mit alten Nazis[60], sich anmaßte, die Opfer des NS-Regimes zu Tätern zu machen, denen Gerechtigkeit nicht zustehe.
Stand: 01. 01. 2019
Anmerkungen:
[1] Siehe Adressbuch der Stadt Wiesbaden 1934/1935 unter Blumenthal.
[2] David Clay Large bezeichnet in seinem Buch „The Grand Spas of Central Europe“ Wiesbaden um die Jahrhundertwende sogar als eine „high-end shoping“ Metropole, die mehr zu bieten gehabt habe als Paris oder London. „For a time, most of these high-end shopping still could be found in small specialty shops, but in the first decade of the new century Wiesbaden added two spectacular department stores, both located in the Old Town, to its commercial infrastructure. Significant, one of these new emporia was Jewish owned, as were many of the Warenhäuser going up in the larger cities across Central Europe. As is happened, Seligmann Blumenthal, the coplex’s owner had launched his commercial career in Wiesbaden with a small notions shop some twentyfive years earlier, but his deep roots in the town did not prevent him from being attacked as rapacious interloper bent on pushing smaller ‘German’ shops out of business.” David Clay Large, The Grand Spas of Central Europe – a History of Intrigue, Politics, Art, and Healing, London 2015, 236 f. Siehe zu den Wiesbadener Kaufhäusern auch den Beitrag ‘Kaufhäuser’ im Stadtlexikon Wiesbaden, S. 469 f.
[3] Siehe zur jüdischen Familie Julius, Moritz und Sophie Bormass das Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse unter http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-BormassSophieuMoritz.pdf.
[4] Siehe hierzu die Beispiele solcher Propaganda in Uhlig, Heinrich, Die Warenhäuser im Dritten Reich, Köln und Opladen 1956, S. 31-39.
[5] Dass die Nazis das strukturelle Problem in keiner Weise interessierte, sie dieses nur für ihre antisemitischen Ziele instrumentalisierte, zeigt sich daran, dass im Aufruf des „Abwehr-Komitees der NSDAP“ zur Durchführung des Boykotts am 1. April 1933 explizit gesagt wurde, „Einheitspreisgeschäfte, Warenhäuser, Großfilialbetriebe, die sich in deutschen Händen befinden, fallen nicht unter diese Boykottaktion. Ebenso fallen nicht darunter die ‚Woolworth’-Einheitsgeschäfte. Diese Firma ist amerikanisch und außerdem nicht jüdisch. Die sogenannten ‚Wohlwert’-Einheitspreisgeschäfte dagegen sind jüdisch und daher zu boykottieren.“ Zit. nach Kennzeichen ‚J’, Frankfurt 1979, S. 41.
[6] Im Wiesbadener Tagblatt vom 3.4.1933 heißt es im Bericht über diesen Tag „Die von der NSDAP angekündigten Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte setzten am Samstagvormittag auch in Wiesbaden ein. Bereits nach 9 Uhr entwickelte sich in den Hauptgeschäftsstraßen ein lebhafter Verkehr: zahlreiche Neugierige hatten sich eingefunden, um sich die Boykottmaßnahmen anzusehen. Die Inhaber jüdischer Geschäfte hatten bereits Einsetzung der Aktion größtenteils ihre Läden vollständig geschlossen. Nach den Richtlinien das Aktionsausschusses nahmen die SA-Doppelposten vor den jüdischen Geschäften – auch den geschlossenen – Aufstellung. … Gekennzeichnet wurden die Geschäfte und Wohnungen durch kleine Zettel mit der Aufschrift ‚Achtung Boykott! Hier ist ein jüdisches Unternehmen! Beitreten verboten!’ Teilweise sind auch Schilder mit der Aufschrift ‚Meidet Warenhäuser und jüdische Ramschbasare!’, ‚Keinen Pfennig den Juden!’ ‚Unterstützt den Einzelhandel!’ angebracht. … Am Mauritiusplatz waren in den Vormittagsstunden die Eingänge des Kaufhauses ‚Karzentra’ besonders von Neugierigen umlagert. Gegen Mittag wurde an dem Geschäft, das nicht geschlossen war, Plakate angebracht mit dem Hinweis, dass die Firma ‚Karzentra’, als zum Karstadtkonzern gehörig, auf Anordnung der Reichsleitung der NSDAP nicht boykottiert wird.“ 1932 hatte die Firma Lindemann & Co., die damalige Besitzer des Kaufhauses Bormass, mit der Karstadt-AG fusioniert. Das Kaufhaus firmierte seitdem unter dem Namen „Karzentra“. 1964 erhielt es den heutigen Namen „Karstadt“.
Über die „richtige“ Behandlung des Karstadt-Kaufhauses in Wiesbaden kam es 1935 noch einmal zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der NSDAP, der Karstadt-Geschäftsführung der Wiesbadener DAF und der NS-Handwerks- Handels- und Gewerbe-Organisation, da der Konzern das Schild „Deutsches Geschäft“ aushängen wollte, was aber auf erheblichen Widerstand der örtlichen Gewerbetreibenden stieß, siehe dazu HHStAW 483 10148.
[7] Das Jahr ist in den Anzeigen der Firma im Wiesbadener Adressbuch als Gründungsdatum genannt. Siehe z.B. Wiesbadener Adressbuch 1937, eine Abbildung der Anzeige ist auch im Erinnerungsblatt für Adolf und Irma Blumenthal des Aktiven Museums Spiegelgasse enthalten, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/Erinnerungsblatt-Julie-Adolf-Irma- Blumenthal080919.pdf. Siehe auch HHStAW 518 724 (88), Angaben der Auskunftei Blum an den Regierungspräsidenten im Jahr 1958.
[8] HHStAW 519/2 2209 (21).
[9] Theodora war am 1.6.1885, Adolf Julius am 23.6.1887 und Else am 26.1.1892 in Wiesbaden geboren worden.
[10] HHStAW 518 12921 (7).
[11] HHStAW 518 724 (88).
[12] HHStAW 518 724 (88).
[13] HHStAW 685 80 (72).
[14] HHStAW 685 80 (114).
[15] HHStAW 685 80 (120, 136, Einkommensteuererklärungen von 1927/28 und 1928/29.
[16] HHStAW 685 80 (180, 190) Der Verlust der Firma entsprach allerdings ungefähr genau dem reziproken Betrag, den Adolf Blumenthal in dem gleichen Jahr als Einkommen privat versteuerte, ebd. (181) Die weiteren Steuerakten der Firma nach 1932 und auch die von Adolf Blumenthal waren nach Auskunft des Finanzamts Wiesbaden leider verloren gegangen, siehe HHStAW 518/2 724 (72). In dieser Zeit hatte ihre Prokuristin Ricka Schartenberg der Firma Blumenthal ein privates Darlehen in der Höhe von etwa 33.000 RM gewährt, siehe dazu unten und HHStAW 685 748 Bd. 2 (20). Ricka Schartenberg war ebenfalls Jüdin und später auch Bewohnerin des Judenhauses in der Alexandrastr. 6. Zu ihrem Schicksal siehe den Artikel oben.
[17] HHStAW 518 724 (74). Auch Paul Kester erwähnt in seiner Autobiographie den Boykott gegen Blumenthal, wo bis zu diesem Zeitpunkt sein Cousin Albert Rosenbaum gearbeitet hatte. Nach den Aktionen beschloss dieser, Deutschland zu verlassen und nach Palästina auszuwandern. Siehe Kester, Paul Erinnerungen, KIndheit und Jugend in Deutschland und Schweden, Wiesbaden 2014, S. 32.
[18] HHStAW 519/2 2183 (o.P.). Diese Kritik wurde auch von dem 1947 eingesetzten „Ausschuss zur Untersuchung arisierter Unternehmungen“ geteilt.
[19] Ebd. Julchen Blumenthal erhielt laut Vertrag für die Jahre 1935 bis 1938 eine Vergütung von insgesamt 12.000 RM.
[20] Ebd.
[21] Ebd. Am 1.4.1943 wurde das Kaufhaus durch die NSDAP geschlossen und im Gebäude eine Stelle der Reichswehr, ein Luftkommando, eingerichtet.
[22] HHStAW 519/2 2209 (2) Der Übernahmevertrag befindet sich ebenfalls in der Akte. (o.P.).
[23] HHStAW 519/2 2209 Brief Löfflers an die „Regierung“ Wiesbaden am 5.7.1941, ebd. die Vollmacht vom 1.9.1940.
[24] Ebd.
[25] Ebd. Schreiben des Regierungspräsidenten vom 24.7.1941.
[26] HHStAW 519/2 2209 (2). In den Darlegungen der Auskunftei Blum im Jahre 1958 wird allerdings ohne Datum und Beleg geschrieben, dass Krüger & Brand das Grundstück für die darauf lastende Hypothek im Wert von 685.000 RM übernommen hätten. In der Nachkriegsliste des Vermessungsamtes und auch im Gutachten über die Arisierung des Kaufhauses ist ein Verkauf nicht dokumentiert.
[27] Ebd.
[28] HHStAW W/Wsb/A/523 (33).
[29] HHStAW 518 724 (88). Der Preis für die Parkstrasse betrug 35.000 RM und lag damit deutlich unter dem Einheitswert von 1935, nach dem das Haus auf 48.900 RM taxiert worden war. Für die Immobilie Alwinenstrasse 28, die der Mutter gehörte, konnten 37.000 RM erzielt werden, 4.000 RM mehr als der Einheitswert von 1935 vorgab. Für das Gebäude in der Schulgasse 6 lag der Preis von 46.000 RM 2.400 RM unter dem Einheitswert. Siehe Stadtarchiv Wiesbaden WI/3 983.
[30] HHStAW 519/2 2209 (33). Wie hoch die fällige Reichsfluchtsteuer war, konnte auf Grund fehlender Steuerakten im Entschädigungsverfahren nicht mehr exakt ermittelt werden. In einer zusammenfassenden Liste des Finanzamts Wiesbaden ist allerdings der Betrag von 6.100 RM für Blumenthal eingetragen. Zuvor hat es aber eine Sicherung über den viel höheren Betrag von 27.000 RM und dann einen Bescheid über 25.545,75 RM gegeben, gegen den allerdings Widerspruch eingelegt worden sei. Siehe HHStAW 518 724 (72).
Nach Auskunft der Detektei Blum im Entschädigungsverfahren gingen Blumenthals nach England. Es mag sein, dass sie dort kurzeitig waren, etwa um die Töchter zu besuchen, um einen längeren Aufenthalt kann es sich dabei aber nicht gehandelt haben.
[31] HHStAW 518 724 (43).
[32] HHStAW 518 3794 (4, 29). In einem Gutachten über die Ursache des nervlichen Zusammenbruchs von Irma Blumenthal im späteren Entschädigungsverfahren sah sich ein Dr. N. außerstande, einen Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der notwendigen Klinikeinlieferung zu sehen. Er vermutete eher eine „echte psychische Erkrankung“, die „verfolgungsunabhängig“ aufgetreten sei. „Großzügig“ riet er aber zu einem Vergleich mit einer Pauschalentschädigung, wie in ähnlich gelagerten Fällen praktiziert. Der „großzügige“ Vergleich kam dann auch zustande, siehe HHStAW 518 3794 (51, 59).
[33] HHStAW 518 724 (6, 8), zu den Transporten siehe auch Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 406. Einen beeindruckenden Einblick in das Lager Westerbork, aber auch in das Innenleben der Autorin, die allerdings aller Wahrscheinlichkeit nicht mit den hier behandelten Blumenthals verwandt war, liefert Ilse Blumenthal aus der Perspektive einer Jüdin, die mit Hilfe eines evangelischen Taufscheins hoffte, der Vernichtung entkommen zu können. In einem eigenen Block wurden die getauften und die ‚scheingetauften’ Juden von den übrigen separiert und im Glauben gelassen, sie blieben von der Deportation in den Osten verschont. Aber am 8.9.1944 mussten auch sie den Viehwaggon nach Theresienstadt besteigen. Eindringlich beschreibt Ilse Blumenthal auf den Seiten 66 ff. das Grauen dieses Transports. Siehe http://collections1.yadvashem.org/full_pdf_srika/3544236_03017957/0001.pdf.
[34] HHStAW 519/2 2209 (18, 19, 33). Auch diesmal dauerte die Durchsetzung längere Zeit. Erst am 20.3.1944 wird im Finanzamt Wiesbaden notiert, dass der Verfall zum 24.11.1943 eingetreten sei.
[35] HHStAW 518 37947 (30).
[36] HHStAW 518 724 (43).
[37] Ihre späteren, durch Heirat erworbenen Namen lauten Ellen Ripstein und Ruth Mesritz.
[38] George war am 25.5.1909, Richard am 8.9.1912 und Mathilde am 2.3.1916 geboren worden, siehe HHStAW 685 666a (1).
[39] HHStAW 685 666b (19, 23, 27).
[40] HHStAW 685 666a (31). Da Mathilde vermutlich die Pflege der kranken Mutter, die wohl das letzte Jahr bettlägerig gewesen war, übernommen hatte, war sie von der Mutter als Alleinerbin eingesetzt worden. Diese Regelung bezog sich aber ausschließlich auf das Privatvermögen, nicht aber auf den Anteil an der S. Blumenthal & Co. KG, die, wenn auch in Liquidation, immer noch Eigentümerin des Grundstücks Kirchgasse 39-41 war, siehe HHStAW 518 1291 (79).
[41] In den USA hatte sie den Namen Ottinger angenommen.
[42] HHStAW 518 78395. Man kann davon ausgehen, dass ihr Mann seine Approbation verloren hatte.
[43] HHStAW 518 78395 (24, 25).
[44] HHStAW 519/3 14180, siehe dazu den Übernahmevertrag oben.
[45] Die Judenvermögensabgabe kann den Verlust nicht erklären. Nachweislich war Julchen Blumenthal mit einem Betrag von 5.000 RM herangezogen worden, siehe HHStAW 518 12921 (14). Rechtsanwalt Kinkel,Vertreter der Erben im Entschädigungsverfahren, vermutete einen höheren Betrag. Die relativ niedrige Summe korrespondiert aber mit der ebenfalls relativ niedrigen Reichsfluchtsteuer.
[46] HHStAW 518 12921 (49, 56), auch WI/Wsb/A/523 (21).
[47] HHStAW 518 78395 (4, 5).
[48] HHStAW 518 12921 (14, 27).
[49] Siehe z.B. das Nassauer Volksblatt vom 21.2.1940, 6.3.1940, 21.4 1940 oder 25. 9.1940.
[50] HHStAW 518 12921 (14, 16, 26).
[51] Die Anlage der JS-Akte durch den Oberfinanzpräsidenten Kassel am 12.1.1939 mit ist bereits mit dieser Adresse versehen, siehe HHStAW 519/3 14180 (2) Das Wohnungsamt teilte der Entschädigungsbehörde allerdings 1955 mit, dass Julchen Blumenthal zwar Eigentümerin des Hauses Alwinenstr. 28 war, aber nie darin gelebt habe. Vgl. HHStAW 518 12921 (69).
[52] Siehe Gottwaldt / Schulle S. 317, Das Faksimile des Briefes mit allen Kriterien ist auf S. 318 abgedruckt.
[53] HHStAW 518 12921 (111). Frau Dr. Rothschild hatte sich am 20.8.1942 mit einem unbekannten Gift ebenfalls das Leben genommen, siehe STA-WI S 347, Wiesbadener Sterbebuch IV 1942 Eintrag vom 22.8.1942, Nr. 1779.
[54] Die große Zahl der Selbstmorde unmittelbar vor den Deportationen beunruhigte mitunter auch die Organisatoren, sie wurden quasi als Prozessstörung im normalen Ablauf wahrgenommen. Eine Störung, die in jedem Produktionsprozess zu vermeiden war, auch in dem des Todes. Siehe dazu Kwiet, Konrad; Eschwege, Helmut, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde – 1933-1945, Hamburg 1984, S. 198-204.
[55] HHStAW 518 12921 (61).
[56] HHStAW 518 12921 (62).
[57] BGBl I Nr. 62 §1 Abs. 4 vom 21.9.1953.
[58] HHStAW 518 12921 (74).
[59] Auf eine Anfrage bei Axel Ulrich vom Stadtarchiv Wiesbaden verwies dieser mich auf ein Interview, das er vor ca. 25 Jahren mit Eugen Lux über die Wiesbadener Gruppe vom „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) geführt hatte. Über diese der KPD nahestehenden Organisation heißt es dort: „Wir waren ein kleiner, lockerer Kreis von vielleicht neun jungen Leuten, die alle literarisch interessiert bzw. ambitioniert waren. Dazu gehörten neben mir u.a. Günther Berghahn, dessen Bruder Fritz Berghahn, Hermann Pörzgen, Hans John, der später im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 hingerichtet wurde, Max Niehaus, Hermann Maaß, der Sohn von Johannes Maaß, und ein gewisser Rosenthal, der bei uns sehr aktiv war. Alle waren wir kommunistisch eingestellt, allerdings ohne dass die meisten von uns Mitglieder der Kommunistischen Partei gewesen wären.“ Bembenek / Ulrich, Widerstand und Verfolgung, S. 147 [Hervorhebung – K.F.], zum BPRS siehe ebd. S. 145. Anhand der Geburtsdaten ließ sich ermitteln, dass es sich bei dem „gewissen Rosenthal“ um Georg Rosenthal gehandelt haben muss, der unter seinem Schriftstellernamen Georg W. Manfred Artikel in vielen Zeitungen und Zeitschriften, wie etwa dem „Simplicissimus“, dem „Eulenspiegel“, der „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“, dem „Berliner Morgen“ oder auch dem „Wiesbadener Kurier“ veröffentlicht hatte. Kurzfristig war er sogar Kulturredakteur bei der in Berlin vom „Kommunistischen Jugendverband“ herausgegebenen Zeitschrift „Die Junge Garde“. Siehe zu seinen damaligen kulturpolitischen und journalistischen Aktivitäten sein Bewerbungsschreiben, das er am 10.12.1931 im Rahmen einer Bewerbung für eine Dozentur an den Leiter der Wiesbadener Volkshochschule Johannes Maass gerichtet hatte, Stattarchiv Wiesbaden Best. NL75 Nr. 962. Dieser Lebenslauf wurde mir freundlicherweise von Axel Ulrich zugänglich gemacht. Weil beide Brüder enterbt werden sollten, wird man vermuten können, dass auch Richard hier in irgendeiner Weise aktiv gewesen war.
[60] Siehe dazu den Verweis auf dem Erinnerungsblatt des Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse für die Familie Lindt, http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Lindt-Ludwig.pdf. (Zugriff: 30.04.2018). Darin heißt es: „In den Jahren 1958/59 deckte der Journalist Thomas Gnielka in verschiedenen Artikeln in der Frankfurter Rundschau die verheerenden Zustände in der Wiesbadener Behörde auf. Ein seinerzeit 32jähriger Assessor Prozessbevollmächtigter der hessischen Entschädigungsbehörde beim Wiesbadener Landgericht habe sich, so der damalige Landgerichtsdirektor, einen Sport daraus gemacht, ‚als Vertreter des Landes laufend den Entschädigungsfordernden ein Bein zu stellen. Er türmte Schwierigkeiten auf, wo keine waren, und übertrieb sowohl Ermittlungen als auch allgemeine Verfahrensweisen.’“