Vorbemerkung
Am 1. Juni 1941 zog in das Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 80 als Untermieter von Alfred und Maria Goldschmidt das Ehepaar Emil und Hannchen Neumann ein. Nur der Vollständigkeit halber wird im Rahmen dieser Dokumentation auch ein Kapitel über diese beiden Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik eingestellt. Nötig wäre es eigentlich nicht, denn es gibt, abgesehen von der Familie Guthmann, wohl kaum eine jüdische Familie Wiesbadens, deren Schicksal so umfassend dargestellt ist, wie das der Familie Neumann, die durch ihren Schwiegersohn und Kampfflieger des Ersten Weltkriegs Fritz Beckhardt weit über die Stadt hinaus Berühmtheit erlangt hat.
Sein Enkel, der Journalist Lorenz S. Beckhardt, hat ihm mit seinem Buch „Der Jude mit dem Hakenkreuz“ ein Denkmal besonderer Art gesetzt und damit zugleich ein liebevolles und sehr intimes Bild der beiden Familien Neumann und Beckhardt gezeichnet.[1] Er konnte dabei noch auf die authentischen Erfahrungen und das Wissen seines Vaters Kurt Beckhardt zurückgreifen. Aber das Buch ist weit mehr als eine Familiengeschichte. Es gelingt dem Autor auf einzigartige Weise diese Biographie in die Geschichte der Stadt Wiesbaden und die des gesamten Landes vor, während und nach den Jahren der NS-Diktatur einzubetten. Jedem, der etwas über die lokale Alltagsgeschichte dieser Zeit erfahren möchte, wer nachvollziehen will, wie das braune Gedankengut damals auch in Wiesbaden zunehmend die Köpfe der Menschen ergriff, dem sei dieses Buch unbedingt empfohlen. Mindestens genau so bedrückend und zugleich aufschlussreich ist die Darstellung des Kampfes der Familie um eine mehr oder weniger angemessene Entschädigung nach dem Krieg. Das Klima dieser Jahre, die Reaktion der Bevölkerung und der Behörden auf die Rückkehr dieser jüdischen Familie in ihre frühere Heimatgemeinde, macht einen wesentlichen Teil des Buches aus und gibt Zeugnis aus einer Zeit, die nur allzu gern von den Erinnerungen an das sogenannte Wirtschaftswunder überdeckt wird.
Das folgende Kapitel über die beiden Familien Neumann und Beckhardt beruht im großen Umfang auf dem Buch, das Lorenz S. Beckhardt über seine Familie veröffentlicht hat. Ihm sei daher vorab besonders gedankt.
Die beiden Familien Neumann und Beckhardt kamen durch die Hochzeit von Friedrich Beckhardt, genannt Fritz, und Rosa Emma Neumann zusammen. Die Trauung fand im Mai 1926 in Wiesbaden Sonnenberg statt, das damals noch eine selbständige Gemeinde war.[2] Während die Vorfahren der Braut schon seit vielen Generationen im Wiesbadener Raum ansässig waren, kamen die ihres Partners aus dem linksrheinischen Rheinhessen. Der älteste Ahn der Beckhardts war ein Joseph, der wohl noch im 18. Jahrhundert geboren worden war. Bekannt ist nur sein Todestag. Am 14. Mai 1824 wurde er in Planig, einem Stadtteil des heutigen Bad Kreuznach, beerdigt. Auch seine Ehefrau, eine geborene Zipora David, liegt auf diesem Friedhof begraben. Sie verstarb am 14. Februar 1827.[3] In Planig wurde am 24. Februar 1824 auch ihr einzig bekannter Sohn Ludwig / Loudwig geboren. Der fand seine Ehefrau in dem gut zehn Kilometer entfernten Wallertheim, wo es schon seit dem 16. Jahrhundert jüdische Bewohner gab. Johannette Mann, der Vorname sprachlich verkürzt auf Chanette, entstammte einer der ältesten jüdischen Familien des Ortes, die sich als sephardische Juden im 17. Jahrhundert über Frankreich kommend in dem Ort bei Alzey niedergelassen hatte.[4] Ludwig Beckhardt blieb nach seiner Eheschließung in Wallertheim und übte dort den für Landjuden typischen und auch in der Familie Beckhardt traditionellen Beruf eines Metzgers und Händlers aus. Als nach dem Ende der Napoleonischen Herrschaft das Gebiet dem neu gegründeten Großherzogtum Hessen zufiel, blieben in diesem Landesteil den Juden die zuvor gewährten Freiheitsrechte erhalten und nicht nur die Jüdische Gemeinde, bestehend aus etwa 70 Mitgliedern, konnte davon profitieren und sich unter dem Vorsitz von Ludwig Beckhardt den Bau eines Betsaals leisten, auch sein eigenes Geschäft prosperierte angesichts dieser liberalen Rahmenbedingungen, von denen die Juden im rechtsrheinischen Gebiet nur zu träumen wagten.
Am 27. Juli 1854 wurde als erstes Kind der Beckhardts ihr Sohn Abraham geboren, der vor dem Hintergrund der imperialistischen Handelspolitik europäischer Staaten das väterliche Gewerbe noch durch einen Laden für die begehrten Kolonialwaren erweiterte. Zwei Jahre später kam am 27. August 1856 ein weiterer Sohn zur Welt, der den Namen Simon erhielt.[5] Simon heiratete am 7. August 1888 in Kaiserslautern Eleonore Elbert aus Hassloch.[6] Die Familie, zu der die noch in Deutschland geborenen drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, gehörten, wanderte in einem nicht bekannten Jahr, aber mit großer Wahrscheinlichkeit noch in der Zeit der Weimarer Republik in die USA aus.[7] Über ihr weiteres Schicksal ist nur soviel bekannt, dass die Kinder dort jeweils eigene Familien gründeten. Wann die Eltern dort verstarben, konnte nicht ermittelt werden.
Simons älterer Bruder Abraham, der das väterliche Geschäft übernommen hatte, blieb in der Heimat und gründete in Wallertheim eine Familie. Seine Frau Franziska Mayer stammte aus dem nahe gelegenen Ober-Olm, wo sie am 14. November 1856 als Tochter von Jakob und Johanna Mayer, geborene Berney, zur Welt gekommen war.[8] Wann die Ehe geschlossen wurde, ließ sich nicht ermitteln, aber am 23. März 1889 wurde ihr Sohn Friedrich, genannt Fritz, geboren [9] – vermutlich war der Trauschein etwa ein Jahr zuvor ausgestellt worden. Seine Schwester Martha erblickte am 29. Januar 1892 ebenfalls in Wallertheim das Licht der Welt.[10]
Lorenz Beckhardt konnte bei seinen Recherchen in Wallertheim eine alte Dame sprechen, die die Familie noch persönlich kannte, mit ihr sogar befreundet war. Abraham, ein „kleiner, dürrer Mann“ sei immer „sehr zugänglich, immer ausgeglichen und froh“ gewesen. Die Beckhardts hätten mit keinem im Ort je in Streit gelegen. Diese sehr positive Erinnerung der alten Dame gründete, so die Vermutung von Lorenz Beckhardt, u.a. darauf, dass die Gesprächspartnerin als Kind, wie alle anderen Kinder des Dorfes auch, immer etwas von den „Gutsje“ zugesteckt bekam, den Bonbons, die auf der Theke des Ladens für alle bereit standen. Wie sehr man in das dörfliche Leben integriert war, sich dabei sogar über die jüdischen Speisegebote hinwegsetzte, kann man sicher auch daran erkennen, dass Franziska Beckhardt sich immer Wurst und Metzelsuppe abholen durfte, wenn irgendwo im Dorf ein Schwein geschlachtet wurde.[11] Man war sich seines Jüdischseins bewusst, nahm es aber offensichtlich nicht allzu genau damit, in erster Linie war man deutsch und kaisertreu. Nicht nur die Namen der Kinder, die deren konfessionellen Hintergrund verdecken, legen das nahe, Fritz wurde auch aktives Mitglied in der Turnerschaft, dem deutschesten Sport in dieser Zeit überhaupt. Konsequenter Weise wurde auch die zionistische Bewegung, die den Juden ein anderes als das deutsche Vaterland versprach, sehr skeptisch betrachtet.
Eigentlich hatte der mathematisch hoch begabte Fritz Ingenieur werden sollen, aber ein finanzieller Engpass, verursacht durch die Pleite eines Verwandten, für den Abraham Beckhardt eine Bürgschaft übernommen hatte, bedeuteten für Fritz, dass er nicht die höhere Schule, sondern nur die Volksschule besuchen konnte und den Beruf eines Kaufmanns erlernen musste – allerdings mit besonderen Qualifikationen. Neben der kaufmännischen Grundausbildung erlernte er in Bremen das Rösten von Kaffee, für einen Kolonialwarenladen ganz sicher eine passende Zusatzqualifikation. Anschließend ließ er sich in Hamburg auch noch als Textilkaufmann weiterbilden und entwickelte dabei die besondere Fähigkeit, die Qualität von Stoffen allein durch deren Berührung zu ertasten.[12]
Als dann der Erste Weltkrieg ausbrach meldete sich Fritz sofort freiwillig, auch um zu zeigen, mit welcher Opferbereitschaft die Juden für ihr Vaterland einstanden. Wellen antisemitischer Ressentiments hatte es im Kaiserreich schon in den vorausgegangenen Jahren immer wieder gegeben. Bei der Belagerung von Antwerpen wurde er verletzt und musste in ein Lazarett eingeliefert werden. Der Traum vom schnellen Sieg war bald ausgeträumt, aber der Stellungskrieg im Westen eröffnete Fritz völlig neue Möglichkeiten, sich als Soldat, als Patrouillengänger, zu beweisen. Erst das Eiserne Kreuz II. Klasse, dann schon bald darauf wurde ihm auch das der I. Klasse verliehen. Der Höhepunkt war die Verleihung des „Kreuzes der Inhaber des königlichen Hausordens der Hohenzollern mit Schwertern“, eine Auszeichnung, die, so Lorenz Beckhardt, im Ersten Weltkrieg nur 18mal verliehen worden war.[13] Hoch dekoriert nahm er an den mörderischen Schlachten an der Somme und auch in Flandern teil. Ausgestattet mit solchen Ehrenzeichen bewarb er sich Anfang 1917 erfolgreich als Flugschüler bei der Luftwaffe, die angesichts der erstarrten Fronten strategisch immer größere Bedeutung erlangte, in der zudem einem Mann wie Fritz Beckhardt, zwar muskulös, aber von eher kleiner Gestalt, sich die Möglichkeit bot, außerhalb der traditionellen Wege seine individuelle Karriere zu starten. Die Offizierslaufbahn war ihm als Jude von vornherein versagt. Nicht nur sein persönlicher Mut, auch seine technisch-mathematische Begabung prädestinierten ihn für diese neue Waffengattung. Am 2. März 1917 saß er erstmals alleine in einem Flugzeug. Damit begann seine außergewöhnlich Karriere als Flieger, die ihn u.a. mit Göring, in dem er schon früh den „selbstsüchtigen und eitlen Narziss“ erkannte, zusammenbrachte. Viele Einsätze hatte Fritz mit seiner Fliegerstaffel geflogen, viele feindliche Flieger abgeschossen und mehrfach wurde auch er selbst mit seinem Flieger getroffen. Bei einem solchen Treffer rettete der Talisman, den ihm seine Schwester Martha geschenkt hatte, sein Leben: Ein silbernes Hakenkreuz, das er in der linken Brusttasche immer mit sich führte. Bevor die Nazis das Swastika-Zeichen zum Symbol des Grauens machten, galt es als Glücksbringer, als eine Art Maskottchen. Das Hakenkreuz ist auch deutlich auf dem 1924 entstandenen Bild zu sehen, das Fritz Beckhardt mit seinem damit – seitenverkehrt – bemalten Flugzeug zeigt und immer wieder zu Befremden Anlass gegeben hat. Fälschlicherweise wurde es als Beleg dafür herangezogen, dass der Jude Fritz Beckhardt ein früher Anhänger der NS-Bewegung gewesen sei.[14]
Nach der als traumatisch empfundenen Niederlage kehrte Fritz Beckhardt 1919 nach Wallertheim zurück, wo der Vater sein weitgehend in Kriegsanleihen angelegtes Vermögen verloren hatte. In seinem Heimatort konnte die Dolchstoßlegende, zumindest soweit sie eine antisemitische Ausrichtung hatte, nicht greifen. Fritz, der 1921 der ‚Reichsvereinigung jüdischer Frontsoldaten’ beitrat und politisch inzwischen den Sozialdemokraten nahe stand, wurde trotz der Niederlage als Kriegsheld gefeiert.
Am 27. Mai 1926 heiratete er in Sonnenberg Rosa Emma Neumann, die am 18. Januar 1903 geborene Tochter von Emil und Johanna Neumann.[15] Nicht dass Fritz darauf angewiesen gewesen wäre, eine Ehefrau durch die Vermittlung eines „Schadchens“, einer jüdischen Heiratsvermittlerin, zu finden, er galt ganz sicher als gute Partie. Aber vielleicht war es der Tradition geschuldet, vielleicht suchte man angesichts der finanziellen Misere, in die der elterliche Laden geraten war, auch nach einer Braut aus einer Familie mit einem gleichen wirtschaftlichen Hintergrund, um so dem eigenen Geschäft wieder mehr Schwung zu verleihen. Ohne Zweifel entsprach die Sonnenberger Familie Neumann solchen Vorstellungen. In dem östlichen, damals noch selbstständigen und weitgehend ländlich geprägten Vorort von Wiesbaden betrieb Emil Neumann sehr erfolgreich ein Geschäft mit einem ähnlichen Angebot wie dem in Wallertheim und die Nähe zur aufstrebenden „Weltkurstadt“ versprach auch eine erfolgreiche Zukunft.
Ähnlich wie bei Beckhardts reichen auch die rekonstruierbaren Wurzeln der Familie Neumann bis ins 18. Jahrhundert zurück. Anfang des 19. Jahrhunderts, als man im Herzogtum Nassau den Juden den Leibzoll erließ, war der verwitwete Eisen- und Stoffhändler Moses Abraham nach Sonnenberg gezogen, nachdem schon in den Jahren zuvor – fast nicht zu glauben ! – die dortigen Bewohner sich eindringlich mehr jüdische Händler auf dem Markt vor Ort gewünscht haben sollen.[16] Moses Abraham war der Sohn des Bierstädter Handelsmanns Abraham Moses und seiner Frau Salome Samuel. Der damals 29jährige und schon verwitwete Moses Abraham war mit seinem Sohn Jacob 1829 nach Sonnenberg gekommen, um dort in zweiter Ehe die Bräunle Samuel zu heiraten – möglicherweise eine nahe Verwandte seiner verstorbenen ersten Frau. Sie war nicht nur relativ reich, ihre verstorbenen Eltern hatten ihr auch ein gut gehendes Textilgeschäft hinterlassen. Vor diesem Hintergrund gab es von Seiten der Obrigkeit keine Einwendungen gegen die Aufnahme von Vater und Sohn in die Gemeinde.[17]
Nach dem Tod von Moses Neumann am 10. Dezember 1861 [18] heiratete sein Sohn im folgenden Jahr Sarah / Sahrle Joseph aus Griesheim, die ihrem Mann acht Kinder gebar, aber fünf verstarben vermutlich bereits in frühestem Kindesalter oder kamen sogar tot zur Welt.[19] Die erstgeborenen Zwillinge Jettchen und Kätchen wurden am 24. März 1863 geboren, Jettchen verstarb am 30. September des gleichen Jahres. Von Kätchen liegen keine Todesdaten vor, aber es ist zu vermuten, dass auch sie bald nach der Geburt starb.
Der folgende Sohn Moritz, geboren am 4. Juli 1864, wurde 37 Jahre alt, blieb zeitlebens ledig und verstarb am 11. Oktober 1901 in Wiesbaden.[20]
Ihm folgte mit Emil, geboren am 1. Dezember 1867, ein weiterer Sohn. Als einziger Spross der Familie erlebte er die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Die am 7. Mai 1869 geborene Tochter kam vermutlich tot zur Welt, denn ein Name ist für sie nicht mehr eingetragen worden.
Julius, um 1873 geboren, wurde immerhin 22 Jahre alt, bevor er am 31. Januar 1895 in Sonnenberg verstarb.[21]
Es folgten noch einmal zwei Töchter, zunächst Jenny im Jahr 1874, dann Bertha am 15. Juli 1876. Jenny wurde nur wenig älter als ein Jahr, sie verstarb am 28. Februar 1975, und Bertha überlebte nur den ersten Monat nach ihrer Geburt. Sie starb am 25. August 1876 in Sonnenberg, wo auch alle Kinder geboren worden waren.
Und nur vier Jahre nach der Geburt des letzten Kindes verstarb auch Jacob Neumann am 30. Oktober 1880,[22] sodass die Witwe von da an das Geschäft alleine führen musste. Die beiden Söhne Moritz und Emil waren zu dieser Zeit selbst noch Kinder bzw. mit 14 und 16 Jahren bestenfalls Jugendliche. Obwohl Sarah Neumann vor dem Hintergrund des Verlusts so vieler Kinder sicher persönlich sehr gelitten haben muss, hat sie die Führung des Geschäfts mit Bravour gemeistert. Sie baute, so Lorenz Beckhardt, die „Kolonial- und Manufakturwarenhandlung zu einem blühenden Unternehmen aus, das ringsum in der preußischen Provinz Hessen-Nassau Geschäftsbeziehungen unterhielt. Um 1900 war sie in Sonnenberg eine der angesehensten und beliebtesten Persönlichkeiten; in den umliegenden Taunusdörfern nannte man sie respektvoll ‚Mutter Neumann’“[23]
Aber nicht nur die Bauern aus der Umgebung kamen, um ihre Landprodukte gegen Güter des täglichen Bedarfs bei ihr zu tauschen, auch die wachsende Beamtenschaft der aufstrebenden Stadt und auch deren Kurgäste gehörten zu ihrem Kundenkreis, der im Besonderen von dem selbst geröstete Kaffee angesprochen war.
Die Einnahmen ermöglichten es ihr 1898 zu dem ererbten Haus An der Burgmauer, die spätere Langgasse, auch das Nachbargrundstück zu erwerben. Ein Jahr zuvor hatte sich am 10. Februar 1897 ihr Sohn Emil mit der aus Trebur stammenden Hannchen Mayer vermählt. Hannchen Mayer war am 19. Oktober 1870 dort als Tochter von Jonas und Jeanette Mayer, geborene Tribus, zur Welt gekommen, lebte aber inzwischen in Bingen, wo auch die Eheschließung registriert wurde.[24] Im Jahr darauf wurde am 9. Mai der Sohn Jakob Fritz geboren.[25] Knapp fünf Jahre dauerte es, bis nach einer Totgeburt im Jahr 1928 dann ein weiteres Kind, die Tochter Rosa Emma am 18. Januar 1903 in Sonnenberg das Licht der Welt erblickte.[26]
Interessant ist, dass Emil Neumann den Vornamen seiner Frau, z.B. in den Steuerunterlagen immer mit Johanna angegeben hat und auch Lorenz Beckhardt schreibt unter das Portrait seiner Urgroßmutter „Johanna Neumann, genannt Hannchen“.[27] Letzterer war aber tatsächlich nicht ihr Kosename, sondern der eingetragene Geburtsname.[28] Es scheint fast so, als habe man diesen jüdisch anmutenden Vornamen hinter einem ordentlichen deutschen Namen verschwinden lassen wollen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Hannchen oder auch ihrem Ehemann nur das Diminutiv des Namens nicht gefallen hat, denn anders als ihr Sohn Fritz hatten die Eltern auch in religiöser Sicht sich ihre jüdische Identität bewahrt. Jeden Samstag nahm Emil Neumann zu Fuß den recht langen Weg von Sonnenberg zur Wiesbadener Synagoge am Michelsberg auf sich, um dort in der liberalen Gemeinde seinen festen, bezahlten Sitzplatz „links in der Mitte“ einzunehmen.[29] Als traditionsbewusster Jude legte er zum Beten täglich seine Gebetsriemen an und der Schabbes wurde gemäß den überlieferten Gewohnheiten bei Brot und Wein mit dem Segensspruch des Familienoberhaupts begangen. Die Mutter führte bis zuletzt einen koscheren Haushalt und die Speisen zum Pessachfest servierte sie auf einem Geschirr, das nur zu diesem Anlass hervorgeholt wurde.[30] Eher zurückhaltend war das Engagement der Familie im übrigen Gemeindeleben, zumindest in der Zeit, als die Nazis an der Macht waren. Emil Neumann ist im Jüdischen Adressbuch von 1935 nur als Mitglied des ‚Jüdischen Lehrhauses’ und verwunderlicher Weise des ‚Hilfsvereins der Juden in Deutschland“, der sich um die Auswanderungsfürsorge speziell der aus Osteuropa eingewanderten Juden kümmerte, eingetragen.[31] Dies ist insofern erstaunlich, weil man den ostjüdischen Glaubensbrüdern, zumeist orthodoxe Juden, eher mit einer gewissen Distanz begegnete. Sie würden nach Meinung der Neumanns allein durch ihr Erscheinungsbild antisemitische Vorurteile beförderten. Sie selbst verfolgten die sich seit Jahrhunderten mehr oder weniger erfolgreich angewandte Überlebensstrategie des jüdischen Volkes, möglichst nicht in Erscheinung treten, nicht auffallen: „Bloß kein Risches machen !“ – war die Lebensdevise von Hannchen Neumann.[32]
Die Nazis scherten sich nur wenig um solche Unterschiede im Auftreten. Der assimilierte, reiche, national gesonnene Jude war ihnen nicht weniger Feind, als der arme Ostjude, der hauptsächlich das Wiesbadener Westend bevölkerte.
Aber als Rosa Emma und Fritz Beckhardt die Ehe schlossen, war es noch nicht soweit. Man erlebte damals in der sogenannten Stabilisierungsphase gerade die besten Jahre der Republik. Die Inflation war vorüber und die große Wirtschaftskrise war nur für weitsichtige Finanzanalysten zu erahnen.
1924 gab Emil Neumann beim Finanzamt Wiesbaden sein Vermögen mit fast 30.000 RM an.[33] Im folgenden Jahr hatte es sich dann halbiert. Der Grund dafür war aber kein geschäftliches Desaster, sondern die Übertragung des Hauses Langgasse 11 an die Tochter Rosa Emma,[34] die im folgenden Jahr die Ehe mit Fritz Beckhardt einging. Das Haus war vermutlich so etwas wie eine Mitgift oder ein vorgezogener Erbteil. Aber man führte weiterhin einen gemeinsamen Haushalt. Das junge Paar wohnte über dem Geschäft, die Eltern nebenan in dem von Sarah Neumann erworbenen Haus. Emmas Bruder Jakob Fritz wird vermutlich schon zuvor ausgezahlt worden sein, denn er war als Angestellter der Siemens-AG 1921 nach Lissabon gezogen, wo er auch die folgenden Jahre blieb. Nach dem Krieg lebte die Familie dann eine längere Zeit in Israel, vielleicht auch deshalb, weil das Salazar-Regime auf Dauer unerträglich wurde. Allein wegen der fremden Sprache war es aber wohl schwierig, in dem neu gegründeten jüdischen Staat Fuß zu fassen. Es bot sich daher an, wollte man nicht nach Deutschland zurück, in das portugiesisch sprechende Brasilien auszuwandern. Die Einreisepapiere waren im September 1956 in der brasilianischen Botschaft in Tel Aviv ausgestellt worden.[35]
Einreisevisa für einen permanenten Aufenthalt in Brasilien für die Familie von Fritz Neumann, ausgestellt 1957 in Tel Aviv
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Es war kein großes Vermögen, das Emil und Hannchen Neumann besaßen, aber selbst in der Weltwirtschaftskrise konnten sie 1931 dem Finanzamt noch ein Kapital von 8.000 RM melden.[36] Sogar sein jährliches Einkommen konnte Emil Neumann selbst in den schlimmsten Krisenjahren 1930 bis 1932 noch von 5.600 RM auf 7.200 RM steigern. In dieser Bandbreite hatte sich sein Einkommen auch in den vorausgegangenen Jahren bewegt.[37]Ab 1933 fiel das aber deutlich niedriger aus 1933 waren es noch rund 1.800 RM, 1934 nur noch knapp 1.400 RM.[38] Der Boykott und die antisemitische Propaganda zeigten unzweifelhaft ihre Wirkung. Ähnlich verlief die Entwicklung bei Fritz Beckhardt, mit dem Emil Neumann das Geschäft unternehmsrechtlich als O.H.G. gemeinsam führte. Für den Schwiegersohn liegen die Einkommenszahlen für die Jahre von 1930 bis 1936 in einer von ihm selbst abgegebenen eidesstattlichen Erklärung vor. Auch er konnte sein zu versteuerndes Einkommen von 1930 bis 1932 von 5.600 RM auf 7.200 RM steigern. Danach lag es in den folgenden Jahren zwischen 2.000 RM und 3.000 RM.[39] Selbst der Kaffeeverkauf, der eigentlich das Überleben des Geschäfts garantieren sollte, war allmählich eingebrochen.[40] Für die Jahre 1937 bis 1941 hat das Finanzamt Wiesbaden im Rahmen des Entschädigungsverfahrens Zahlen vorgelegt. Es handelt sich aber hier nur um den Gewerbeertrag aus dem Unternehmen, nicht um das gesamte Einkommen. 1937 lag der Ertrag noch bei etwa 2.000 RM, in den beiden folgenden Jahren nur noch bei der Hälfte und 1940, dem letzten Jahr der Veranlagung, konnte sogar nur noch ein negatives Ergebnis von 618 RM erwirtschaftet werden.[41]
Hinter diesen Zahlen bleiben die Ereignisse verborgen, die sich in diesen Jahren zutrugen und für die beiden Familien völlig neue Situationen schufen.
Als Hitler am 30. Januar die Macht übertragen wurde, ging auch Fritz Beckhardt, wie viele andere Oppositionelle und Juden, zunächst davon aus, dass er schon bald abgewirtschaftet haben würde. Dann kam der 1. April 1933, der Boykotttag, der von den Nazis zur Abwehr der angeblichen „Greuelpropaganda“ des Auslands ausgerufen worden war. Emil Neumann und Fritz Beckhardt hatten sich darauf vorbereitet und Flugblätter mit ihren Sonderangeboten in ganz Sonnenberg verteilt. In Ort schien am Morgen zunächst auch alles ruhig zu bleiben. Dann erschien die SA doch noch mit dem bekannten Schild ‚Kauft nicht bei Juden!’ und begann Kunden zu fotografieren und anzupöbeln. Einige wagten es, die SA-Truppe zu beschimpfen, andere kehrten um.[42] Kurt, der fünfjährige Sohn von Fritz Beckhardt, erinnerte sich später an diesen Morgen: „Ich spielte im Hof, als mein Vater in einem weißen Kittel kam und mich an der Hand nahm. ‚Komm mit!’, sagte er und ging mit mir durch den Laden raus auf die Straße. Da standen Männer in Uniform und in Zivil. Mein Vater zeigte mit dem Finger auf sie und sagte zu mir so laut, dass jeder ringsum es hören musste: ‚Schau sie dir an, Kurtsche! Die Hose vom Judd trache se unn könne se nit bezahle, unn solche Leut rufe gesche uns zum Boykott.“[43]
Ein Jahr später gaben Emil Neumann und sein Schwiegersohn das seit 1829 bestehende Geschäft in Sonnenberg auf.[44] Wieso man als Pächter bzw. Mieter das ortsbekannte NSDAP-Mitglied Karl Pfeiffer wählte, ist nur schwer nachzuvollziehen.[45] Vielleicht war zuvor auch eine entsprechende Drohkulisse aufgebaut worden, sodass Emil und Fritz gar keine andere Möglichkeit sahen.[46]
Das Geschäft in Wallertheim war etwa zu diesem Zeitpunkt sogar verkauft worden, allerdings nicht primär wegen antisemitischer Aktionen, sondern weil der Vater, der inzwischen fast 80 Jahre alt war, sich die Führung des Ladens nicht länger zumuten wollte. Bereits 1932, noch vor der „Machtergreifung“, zog das Paar in das nahe Alzey, wo ihre Tochter Martha mit Ludwig Koch verheiratet war. Ludwig Koch, ebenfalls Kaufmann, war am 16. Februar 1890 in dem nahe gelegenen Framersheim als Sohn von Albert und Bertha Koch, geborene Köhler, zur Welt gekommen.[47] Den Laden in Wallertheim hatte ihr Sohn Fritz zunächst weiterhin aufrecht erhalten, indem er einen Geschäftsführer, einen Wiesbadener Arbeitslosen namens Bös, einsetzte, selbst nur hin und wieder vorbeikam.[48] Als Fritz nach den Novemberwahlen 1933 erkennen musste, dass Hitler so schnell nicht von der politischen Bühne verschwinden würde, entschloss er sich zum Verkauf des traditionsreichen Geschäfts.[49]
Mit dem Geld aus dem Verkauf der beiden Läden – wobei es im Wesentlichen nur um die Berechnung der darin noch vorhandenen Waren ging – erwarb Fritz Beckhardt die Großhandlung für Speiseöl, Fette und Webwaren des in die USA emigrierten Berthold Kahn in der Moritzstraße 4. Am 9. August 1934 wurde der Betrieb angemeldet und anfangs sorgten der feste Kundenstamm und auch das eingespielte Personal für gute Umsätze.[50] Fritz hatte seinen Schwiegervater davon überzeugt, dass trotz der Boykottaktionen sich jüdischen Kaufleuten im Großhandel, wo man nicht unmittelbar auf arische Käufer angewiesen war, weiterhin gute Chancen bieten würden. Er hatte auch bisher mit seiner speziellen Kaffeemischung den jüdischen Großhändler Frohwein in Mainz beliefert, der sich auf koschere Speisen spezialisiert hatte.
Der autovernarrter Fritz Beckhardt fuhr mit seiner schweren Limousine, die er sich bald nach der Übernahme des neuen Geschäfts gekauft hatte, damals seine Kunden an, die sich zumeist in den katholisch geprägten Regionen links des Rheins befanden. Er glaubte, dort nicht so sehr auf judenfeindliche Ressentiments zu stoßen, was in Kenntnis der späteren Ereignisse sich ganz sicher als Irrtum erweisen sollte. Dass aber hauptsächlich dort seine Kunden saßen kann man an den Adressen der Briefe sehen, die er nach dem Erlass einer Sicherungsanordnung davon unterrichten musste, dass er Zahlungen nur noch über das gesicherte Konto entgegennehmen dürfe. Es handelte sich fast ausschließlich um Trierer Geschäftspartner, zumeist Konditoreien.[51]
Bereits ein halbes Jahr vor der Geschäftsübernahme, am 1. Februar 1934, waren die beiden Familien in die Innenstadt Wiesbadens gezogen, in die Rüdesheimer Str. 14, einem wunderschönen Haus, das wegen seiner baulichen Besonderheiten inzwischen in die Liste der Wiesbadener Kulturdenkmäler aufgenommen wurde.[52] Das vierstöckige Haus gehörte dem jüdischen Futtermittelhändler Josef Simon, der dort mit seiner Frau Paula und dem Sohn Walter-Ernst im Erdgeschoss wohnte.[53] Die Familie stammte aus dem rheinhessischen Gensingen und es ist nicht unwahrscheinlich, dass man sich über Geschäftsbeziehungen schon längere Zeit kannte. Die Familie Simon konnte im Herbst 1938 in die USA auswandern. Auch im ersten Stock wohnte mit Edwin und Hanni Halle, einem Sportlehrer, ein jüdisches Ehepaar. Ihr Sohn Hugo wanderte im Sommer 1934 nach Argentinien aus, die Eltern konnten ihm im Herbst folgen.[54]
Der zweite Stock wurde nach ihrem Umzug von Emil und Hannchen Neumann sowie der Familie Beckhardt belegt.
Auch auf der dritten Etage hatte sich eine weitere jüdische Familie eingemietet, bestehend aus dem Handelsgehilfen Max Nathan, seiner Frau Else und der Tochter Hanna Julie, die damals noch zur Schule ging. Auch diese Familie konnte 1938 in die USA auswandern.
Das sehr schöne Haus im Rheingauviertel war somit lange bevor die Judenhäuser in Wiesbaden eingerichtet wurden ein „jüdisches Haus“, das damals aber noch nicht mit Bedrückung, Enge und Not assoziiert war, sondern eher mit Geborgenheit unter seinesgleichen. Allerdings wohnten dort auch Nichtjuden, etwa eine Familie, deren Sohn mit den Judenkindern Kurt und Hilde nicht spielen durfte.[55]
Noch prächtigerals die Außenfassade präsentierte sich das mit vielen Jugendstilelementen ausgestaltete Treppenhaus und auch die einzelnen Wohnungen waren bestens ausgestattet. Neumanns und Beckhardts stand eine 150 qm große Wohnung zur Verfügung, mit Wohnküche, zwei Schlafzimmern, zwei Fremdenzimmern, großem Kinderzimmer, Salon und Herrenzimmer sowie einem Flur, so breit, dass Kurt darin Roller fahren konnte. Ihre gesamten wertvollen Möbel und auch die sonstige Ausstattung aus Sonneberg hatten sie in den Räumen unterbringen können.[56] Die Flucht aus dem dörflichen Vorort schien sogar eine Verbesserung der Lebenssituation zu sein – wären da nicht die bedrückenden politischen Veränderungen gewesen, die auch in der Stadt selbst immer deutlicher zu spüren waren.
Dort tobten inzwischen die Kämpfe zwischen den Nazis und oppositionellen Gruppen immer heftiger. Nicht Emil Neumann, aber sein Schwiegersohn Fritz, der zwar Distanz zum religiösen Judentum hielt, sich als Kriegsheld aber umso mehr im ‚Kampfbund jüdischer Frontsoldaten’ engagierte, war immer wieder auch handgreiflich an solchen Auseinandersetzungen beteiligt gewesen. Aus diesem Engagement resultierte auch die Freundschaft mit dem Rechtsanwalt und Vorsitzenden des ‚KjF’ Berthold Guthmann, dem späteren Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde. Die Gruppe, die sich früher im Cafe Maldaner traf und schon in den späten 20er Jahre immer wieder debattierte, wie man dem aufkommenden Antisemitismus am wirksamsten entgegentreten könne, umfasste etwa 300 Mitglieder, durch die Kriegserfahrungen alle kampferprobt, dennoch letztlich zu schwach, um das Verhängnis aufhalten zu können.[57]
Dem immer unerträglicher werdenden Klima entzogen sich Fritz und Rosa Emma kurz nach ihrem Umzug in die Stadt mit einer langen Reise. Geld war offensichtlich, trotz Umzug und Boykott, noch genug vorhanden. Im Frühsommer brachen sie zu einer siebenwöchigen Autofahrt über die Schweiz, Frankreich, Spanien quer durch Europa nach Portugal auf, um dort ihren Bruder bzw. Schwager zu besuchen, der in diesem Land noch immer für die Firma Siemens beim Aufbau des dortigen Telefonnetzes tätig war. Verheiratet war er mit Hansi Oppenheimer und seit 1933 gehörte auch der Sohn Eric zur Familie.[58] Unwahrscheinlich, dass man damals mit Friedrich Neumann schon Fluchtpläne erörterte. Im Gegenteil. Als die Familie von Friedrich im November zu einem Gegenbesuch nach Wiesbaden kam, bot ihm Fritz an, falls ihm als Jude bei Siemens gekündigt werden würde, könne er bei ihm einzusteigen. Mit „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir jemals nach Deutschland zurückkehren werden?“, lehnte der Schwager die Offerte ab. Er ziehe es vor, unter dem Diktator Salazar zu leben, der immerhin nichts gegen Juden habe. Unerwähnt blieb in dem Gespräch, dass Jakob Friedrich Neumann sogar mit einem Minister des Diktators befreundet war, was sich später aber noch als sehr vorteilhaft erweisen sollte.[59]
Bald hatte sich das Angebot ohnehin erledigt, denn auch dieses neue Geschäftsmodell stieß immer mehr an die politisch gesetzten Grenzen. 1937 gingen die Umsätze deutlich zurück und am 9. April 1939 meldete Fritz Beckhardt dem Finanzamt, dass er das Gewerbe seit dem 1. des Monats eingestellt habe.[60] Die Gewinne waren auch in den vorausgegangenen letzten Jahren eher bescheiden gewesen.[61] Der Versuch von Emil Neumann, mit einem kleinen Lebensmittelladen im Hinterhof eines Hauses in der Eltviller Straße für weitere Umsätze und damit für ein größeres Haushaltseinkommen zu sorgen, scheiterte mangels Nachfrage schon nach drei Monaten.[62]
Bedrückender als die finanziellen Probleme, vielleicht sogar als die politischen Verhältnisse war in den Jahren aber für Emil und Hannchen Neumann und noch mehr für ihre Tochter Rosa Emma, dass Fritz Beckhardt seit vielen Jahren eine Beziehung mit der 23 Jahre jüngeren Hausangestellten Lina Lahr eingegangen war, aus der 1934 auch ein Sohn namens Werner hervorging. Fritz Beckhardt hat die Beziehung und auch die Vaterschaft nie geleugnet und – von den Kindern Kurt und Hilde abgesehen – wusste nicht nur die Familie, sondern auch die Sonnenberger Bevölkerung Bescheid. Man sprach darüber allerdings zumeist nur unter vorgehaltener Hand. Nach dem Umzug in die Rüdesheimer Straße wohnte Lina, die aus Alzey stammte und Beckhardts durch den dort lebenden Schwager Ludwig Koch vermittelt worden war, nicht mehr im Haushalt, sondern in Mainz. Fritz hielt aber nach einer kurzen Unterbrechung weiter an dieser Liebesbeziehung fest. Dieses außereheliche Verhältnis bedeutete im Privaten für seine Frau sicher unendlich viel Leid, zumal es Probleme genug gab. Die Urlaubsreise durch Europa konnte nur vorübergehend die eheliche Krise überdecken. Öffentlich hätte die Affäre im schlimmsten Fall eine gesellschaftliche Ächtung zur Folge gehabt, unter den gegebenen politischen Verhältnissen waren damit aber auch strafrechtliche Konsequenzen verbunden, denn Lina war arischen Blutes.
Fritz Beckhardt entsprach mit dieser Liebesbeziehung ganz den Horrorgemälden, die Streichers Kampfblatt ‚Der Stürmer’ seiner triefenden Leserschaft wöchentlich vor Augen führte: Der ewig geile Jude verführt oder vergewaltigt das unschuldige arische Hausmädchen, um nicht nur seine Lust zu befriedigen, sondern damit zugleich das Blut der deutschen Frau auf ewig zu vergiften.[63] Und seit den Nürnberger Rassegesetzen galten solche Beziehungen als „Rassenschande“, die sogar mit dem Tode bestraft werden konnte. Es war wohl eine ehemalige Hausangestellte, die die Sache – aus welchen Gründen auch immer – bei der Gestapo zur Anzeige gebracht hatte.
Am 28. Oktober 1937 wurde Fritz Beckhardt verhaftet und zunächst in das Wiesbadener Polizeigefängnis eingeliefert. Am 14. Dezember des gleichen Jahres verurteilte ihn das Landgericht Wiesbaden wegen des Verbrechens gegen das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und neun Monaten, ein im Hinblick auf das mögliche Strafmaß noch recht milde Strafe. Sogar das Zuchthaus war ihm erspart geblieben.[64] Abgesehen davon, dass der renommierte Anwalt und Freund Dr. Guthmann die Verteidigung übernommen hatte, waren dafür in erster Linie der Einsatz und die Auszeichnungen des Angeklagten im Ersten Weltkrieg verantwortlich. Am 7. Januar 1938 wurde der Gefangene in die Strafanstalt Frankfurt Preungesheim überführt. Ein Gnadengesuch nach Ablauf der Hälfte der Strafzeit, das auch an seinen ehemaligen „Fliegerkamerad“ Göring gerichtet war, konnte zunächst nichts bewirken. Der Gefängnisdirektor hatte ihm zwar untadeliges Verhalten attestiert – er habe sich „hausordnungsgemäss geführt und auch zufrieden stellend gearbeitet“ – weigerte sich aber „in Anbetracht der Straftat“ das Gnadengesuch zu befürworten.[65] Aufseher hatten auf dem Gefangenenbogen immer wieder kurze Einschätzzungen hinterlassen, die sicher auch Grundlage für die Entscheidung des Direktors waren. „B. ist Jude u. denkt u. fühlt als solcher,“ oder „Beckhardt, Fritz ist Rassejude, kommt für die Stufe II nicht in Frage. Führung und Arbeit sind gut.“ Desgleichen: „Beckhardt gibt sein strafbares Verhalten unumwunden zu. Er macht aber nicht den Eindruck eines einsichtigen und reuigen Menschen, lässt auch nicht erkennen, dass ihn die Strafe besonders drückt u. bessernd beeinflusst. Kommt für Stufe II nicht in Frage.“ [66]
Das Gesuch ging auch über den Schreibtisch des später mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten, schillernden Wiesbadener Oberstaatsanwalts Dr. Hans Quambusch. Er habe „keine Veranlassung gefunden, einen Gnadenerweis zu befürworten“, ließ er den Gefangenen wissen. [67] Gegenüber dem Gefängnisdirektor ergänzte er nach Meinung Beckhardts: „Lediglich unter der Voraussetzung, dass B. sich verpflichten würde, zu einem genau bestimmten Zeitpunkt auszuwandern“, hätte er gegen einen Gnadenerweis nichts einzuwenden gehabt, da er die Förderung der Auswanderung der Juden zum gegenwärtigen Zeitpunkt befürworte. [68]
Diese Voraussetzung zu erfüllen, war angesichts der restriktiven Einwanderungspolitik anderer Staaten schwierig, zumal für eine sechsköpfige Familie, Eltern und Kinder eingeschlossen. All das wurde durch die eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten – nur drei Briefe im Monat und ein viertelstündiger Besuch alle sechs Wochen – noch schwieriger, weil obendrein auch geschäftliche Angelegenheiten immer wieder zu klären waren. Aber ganz sicher hätte auch Fritz Beckhardt den Niedergang seiner Firma nicht aufhalten können. Die regelmäßigen Besuche im Gefängnis nahm sein Schwager Ludwig aus Alzey wahr. Rosa Emma hatte ihn in all der Zeit nur ein einziges Mal besucht, aber trotz allem stand sie hinter ihrem Mann und hoffte auf eine gemeinsame Zukunft. Die Kinder hatten ihren Vater seit seiner Inhaftierung nicht mehr gesehen, auch wussten sie nichts über die tatsächlichen Hintergründe der Haft. Dass Menschen alltäglich verschwanden, völlig grundlos, gehörte auch schon zu ihren Alltagserfahrungen.
Alle Vorbereitungen zur Emigration wurden dann auch noch durch die Ereignisse des Novemberpogroms jäh unterbrochen. Die unmittelbare Bedrohungssituation, die Angst um Leib und Leben, war das eine, die völlig neue Situation, die sich daraus für die Ausreisewilligen ergab, das andere. Zwar war Neumanns und auch den Kindern und Enkeln unmittelbar nichts geschehen und sogar das Warenlager des Geschäfts, das inzwischen in die Moritzstr. 15 verlegt worden war, blieb im dortigen Hinterhof unbehelligt. Kurt musste die städtische Schule verlassen und auf die Jüdische Schule in der Mainzer Straße wechseln. Alte Freunde gingen auf Distanz, sodass ihm nur seine neuen Mitschüler als Spielkameraden blieben. Eine weitere Veränderung für die Familie ergab sich daraus, dass viele Juden nach dem Pogrom aus ihren ländlichen Orten, wo die Verfolgung oft noch dramatischer verlaufen war, flohen und Unterkunft in den Städten suchten. In ihrer großen Wohnung in der Rüdesheimer Straße fand so eine Familie Hirsch aus Hassloch in der Pfalz ein neues Zuhause. Zunächst waren es nur Frau Hirsch und ihr Sohn Hermann, da auch ihr Mann bis Dezember in Buchenwald interniert worden war.[69]
Schlimmer als in Wiesbaden waren die Familienmitglieder in Alzey betroffen. Der 85jährige Abraham Beckhardt, der sich den Eindringlingen entgegengestellt hatte war niedergeschlagen worden und durch einen umstürzenden Kleiderschrank schwer verletzt worden. Ihre Wohnung in der Antoniusstr. 60 wurde von der SA und dem sie begleitenden Mob von Zivilisten völlig demoliert. Gleiches geschah im Hinterhaus, wo Ludwig und Martha Koch ihre Wohnung hatten. Ludwig gehörte zu denjenigen, die auf der Grundlage vorbereiteter Listen zunächst verhaftet und dann in einem Sammeltransport von Worms aus in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht wurden.[70] Am 13. Dezember 1938 wurde er schwer gezeichnet wieder entlassen.[71] Sein Schwiegervater, der Vater von Fritz und Martha, verstarb am 3. März 1939 an den Folgen der bei dem Pogrom erlittenen Verletzungen. Ein Jahr später starb auch Franziska Beckhardt. Sie hatte, so ihr Urgroßenkel, nach dem Tod ihres Mannes das Haus zehn Monate nicht mehr verlassen und zuletzt auch die Nahrungsaufnahme verweigert. 84 Jahre alt war sie geworden und sie muss sich sicher gewesen sein, dass in den Jahren, die ihr noch blieben, sich nichts mehr würde zum Guten wenden. Hatten bei der Beerdigung ihres Mannes noch sechs Angehörige am Grab gestanden, so waren bei ihr nur noch die Tochter Martha und deren Ehemann Ludwig Koch zugegen.[72]
Zweieinhalb Jahre später sollte auch das Leben von Ludwig und Martha Koch zu Ende gehen. Ein Grab auf einem Friedhof war ihnen aber nicht mehr vergönnt. Wo ihre Asche verstreut wurde, weiß man nicht. Im Frühjahr 1942 begann die Gestapo den Mord an den Juden, die der Bezirksstelle der Reichsvereinigung Mainz zugeordnet waren, zu organisieren.[73] Zu dieser Zeit lebten im Kreis Alzey noch 69 Jüdinnen und Juden, davon 41 in der Kreisstadt selbst, darunter auch das Ehepaar Koch. Am 25 März 1942 fand dann die erste große Deportation aus Rheinhessen statt. Ein Zug mit etwa 1000 Personen aus dem Volksstaat Hessen verließ an diesem Tag den Mainzer Bahnhof mit dem Ziel Piaski bei Lublin.[74] Ludwig und Martha Koch hatte man noch ein halbes Jahr Aufschub gewährt. Im September wurde der nächste Transport nach dem gleichen Muster organisiert. Die Listen der zu Deportierenden hatten die Vertreter der Reichsvereinigung nach den Vorgaben der Gestapo selbst anzulegen. Das übliche Merkblatt zu dem, was mitgenommen werden durfte und was zurückzulassen war, war zuvor ausgegeben worden.
Die noch in Alzey lebenden 37 Juden wurden zunächst nach Mainz in die zentrale Sammelstelle, die am Bahnhof gelegene Goetheschule, verbracht. Am 27. September nahm der Zug mit diesmal fast 1300 zumeist alten, zum Teil auch gebrechlichen Jüdinnen und Juden seine Fahrt über Darmstadt nach Theresienstadt auf, das am folgenden Tag erreicht wurde.[75] Ludwig und Martha Koch überlebten das angebliche Vorzeigeghetto trotz des schrecklichen Hungers und der grassierenden Seuchen mehrere Monate. Deshalb musste man sie am 29. Januar 1943, dem 51sten Geburtstag von Martha, mit einem weiteren Transport, er hatte die Kennung ‚Ct’, in die Todesfabrik Auschwitz bringen. Wann sie dort ermordet wurden, ist nicht bekannt, aber vermutlich geschah das bald nach der Ankunft.[76]
Trotz vieler Hindernisse war es der Wiesbadener Familie Beckhardt inzwischen gelungen, aus Deutschland herauszukommen. Die ersten, die in Sicherheit gebracht wurden, waren die beiden Kinder Kurt und Hilde. Unmittelbar nach den Novemberereignissen war in London der Beschluss gefasst worden, mehrere Tausend jüdische Kinder aus Deutschland herauszuholen, eine Nachricht, die über verschiedene Kanäle verbreitet wurde und auch Rosa Emma Beckhardt erreichte. Der erste Zug konnte schon am 1. Dezember 1938 Berlin mit mehr als 200 Kindern Richtung London verlassen und ein Vierteljahr später meldete die Mutter nach vielen quälenden Überlegungen zunächst nur den älteren Kurt für einen der nächsten Transporte an. Am 13. Juni 1939 kam für ihn der Tag des Abschieds. Von der Jüdischen Schule hatte er sein Abgangszeugnis bereits eine Woche zuvor erhalten, jetzt stand die Trennung von der Familie an. Die Ambivalenz dieses Moments ist zigfach beschrieben worden. Durfte man sein Kind in dieser aus den Fugen geratenen Welt alleine lassen ? Würde man sich überhaupt einmal wiedersehen und wenn, wie kaputt würde diese Beziehen sein, wie viel Vertrauen würde verloren sein. Zumeist war das zumindest im Augenblick für die Eltern belastender als für die Kinder, die, je nach Alter, die Ausreise zunächst eher als großes Abenteuer erlebten.[77]
Drei Wochen später bestieg auch die neunjährige Hilde den Zug in die Freiheit. Ein Mädchen hatte es in England leichter und Hilde wurde von einer Witwe aufgenommen, die mit ihrer Tochter in einem Städtchen in der südwestlichsten Ecke Englands lebte. Sehr schnell lernte sie Englisch, konnte ihre schulische Karriere bruchlos fortsetzen und genoss die liebevolle Zuwendung, die sie durch ihre Pflegemutter erfuhr. Für Jungs, so auch für Kurt, war die Situation im Exilland ungleich schwieriger. Er verbrachte die Zeit in verschiedenen Heimen und musste dann nach dem Ende der Pflichtschulzeit als Vierzehnjähriger zur Arbeit in die Kriegsproduktion gegen. Diese Jahre in der Arbeitswelt und auch das Zusammensein mit Seinesgleichen haben ihn grundlegende geprägt, auch politisch, insofern er sich immer stärker nach links orientierte.
Im Sommer 1941 trafen die beiden Geschwister erstmals wieder zusammen. Hilde hatte inzwischen mit Charles und Dorethea Singer neue Pflegeeltern gefunden, die ihr noch weit mehr bieten konnten, als die Witwe zuvor. Beide entstammten „altem jüdischen Hochadel“, wie Lorenz Beckhardt sich ausdrückte,[78] und Hilde wohnte in einem von einem großen Park umgebenen Schloss an der wunderschönen Küste von Cornwall. Eine große Dienerschaft samt Gärtner und Chauffeur waren allzeit zudiensten und auch Kurt wurde bei seinem Besuch in einer schweren Limousine vom Bahnhof abgeholt. Einer der Gäste, die damals zur gleichen Zeit das große Haus bevölkerten, war Aldous Huxly, der berühmte Autor von ‚Brave New World’. Es muss trotz aller Freude sicher ein eigenartiges Zusammentreffen der Geschwister gewesen sein – unbegreiflich, welche unterschiedlichen Wege das Schicksal für sie bereitgehalten hatte.
Als die Kinder Deutschland verließen, war Fritz Beckhardt noch immer in den Fängen der Nazi-Justiz. Seine Frau hatte die Entscheidungen im Wesentlichen alleine treffen müssen. Im Juli 1939 wäre die verhängte Haftstrafe ihres Ehemanns eigentlich abgelaufen, aber der Gefängnisdirektor von Preungesheim bescheinigte ihm seine staatsfeindlich Gesinnung und erneut war es der Wiesbadener Oberstaatsanwalt, der mit der bekannten Formel – „Ich habe keine Veranlassung gefunden, einen Gnadenerweis zu befürworten“ -, diese Einschätzung teilte. Das Schreiben stammte zwar nicht von ihm persönlich, sondern von dem Ersten Staatsanwalt Caesar, allerdings in Vertretung von Quambusch und sicher nicht ohne dessen Zustimmung.[79] Die Gestapo ordnete darauf hin am 29. Juli „Schutzhaft“ an, woraufhin Fritz Beckhardt am 6. Oktober 1939 als „Rasseschänder“ in das KZ Buchenwald eingeliefert wurde.[80]
Weiterhin musste seine Frau die Auswanderung alleine organisieren. Dies war seit der Pogromnacht alleine schon deshalb schwieriger geworden, weil der NS-Staat zunächst einmal bei der jüdischen Bevölkerung mit der sogenannten „Sühneleistung“ abkassieren wollte. 20, nach einem Jahr sogar insgesamt 25 Prozent des vorhandenen Vermögens sollte an den Fiskus zur Behebung der in den Pogromtagen durch den Nazi-Mob angerichteten Schäden übertragen werden.
Beckhardts hatten insgesamt einen Betrag von 7.500 RM aufzubringen.[81] Emil Neumann zunächst nur 4.000 RM [82] – Geld, das nur durch die Veräußerung von Vermögenswerten aufzubringen war. Zur Finanzierung der ersten Rate wurde schon im Dezember 1938 das von Fritz so geliebte Auto verkauft, im Januar des folgenden Jahres besuchte Ludwig Koch, der inzwischen aus Buchenwald zurückgekehrt war, seinen Schwager im Gefängnis, um mit ihm die Aufgabe des Geschäfts in der Moritzstraße zu besprechen.[83] Weiterhin waren sie gezwungen, eine Hypothek auf das Haus in Sonnenberg über 7.500 RM zu Gunsten des Deutschen Reiches aufzunehmen, um die „Judenschuld“ zu finanzieren. Zwar wurde das Geschäft in der Sonnenberger Langgasse inzwischen von dem Nazi Pfeiffer geführt, das Haus war aber weiterhin Teil des Vermögens und auch die ehemalige OHG existierte als Torso noch weiter. Aus der Bilanz von 1938 geht hervor, dass zumindest Teile der Einrichtung noch mit einem Wert von 200 RM bemessen waren. Den größten Posten der Aktiva machten allerdings Außenstände von mehr als 2.500 RM aus, wovon mehr als 2.000 RM der neue Inhaber Pfeiffer für die Warenübernahme schuldig geblieben war.[84]
Da das Vermögen von Emil und Hannchen Neumann mit etwas mehr als 13.500 RM deutlich über dem von den Nazis gesetzten Limit von 5.000 RM lag, war der Versuch des Steuerberaters, die Verpflichtung zur Zahlung der fünften Rate abzuwenden von vornherein zum Scheitern verurteilt.[85]
Nachdem zunächst einmal mit Hilfe der Sühneleistungen ein großer Teil der jüdischen Vermögen vom NS-Staat abgeschöpft worden war, ging es ihm anschließend darum, auch die gebliebenen Reste zu sichern, d.h. zu verhindern, dass Ausreisewillige ihr Vermögen einfach mit ins Ausland nehmen würden. Die entsprechenden Sicherungsanordnungen, die den freien Zugriff auf die eigenen Konten verhinderten, waren immer verbunden mit der Verpflichtung, eine aktuelle Vermögenserklärung abzugeben.
Emil Neumann erhielt seine Sicherungsanordnung am 19. Juli 1940.[86] Er gab in diesem Zusammenhang an, noch ein Vermögen von etwa 14.000 RM zu besitzen, 8.000 RM in Form von Wertpapieren und 5.100 RM betrug der Wert seines Grundbesitzes, das Haus in Sonnenberg. Sein jährliches Einkommen, vermutlich Miete und Zinserträge, bezifferte er auf 500 bis 600 RM im Jahr. Für seinen Lebensunterhalt, so gab er an, benötige er monatlich 295 RM.[87] Genau diese Summe wurde ihm als monatlicher Freibetrag zugestanden.[88]
Für Fritz und Rosa Emma Beckhardt war bereits im Februar eine solche Sicherungsanordnung, geführt unter dem Aktenzeichen JS 1588, ergangen.[89] Das in ihrer Vermögenserklärung angegebene Vermögen betrug rund 21.300 RM, 5.300 in Form von Wertpapieren, 1.000 RM Außenstände und rund 15.000 RM an Grundvermögen. Bewertet war damit das Haus in der Langgasse 11, dass 1935 noch mit einem Einheitswert von 18.500 veranschlagt worden war.[90] Da aber die Judenvermögensabgabe noch nicht gezahlt war, sondern nur als Grundschuld auf das Haus eingetragen war, reduzierte sich das tatsächliche Vermögen der Beckhardts im Frühjahr 1940 auf etwa 12.000 RM. Da zu dieser Zeit Fritz noch im KZ inhaftiert war, setzte seine Frau ihren monatlichen Bedarf mit nur 217 RM an.[91] Bewilligt wurden ihr sogar 250 RM. Nachdem Fritz aus Buchenwald nach Hause gekommen war, bat er um eine Erhöhung und tatsächlich wurde der Betrag am 1. April 1940 sogar auf 400 RM heraufgesetzt.[92]
Fritz war am 16. März 1940 tatsächlich freigekommen, nachdem er bereits zuvor wegen seiner Verdienste im Ersten Weltkrieg drei Wochen zuvor aus der Strafkompanie entlassen worden war. Angeblich hatte sich der Konsulent Berthold Guthmann für seinen Klienten, Freund und ‚RjF’-Kameraden bei Göring persönlich eingesetzt. Auch sei durch seine Vermittlung den Beckhardts ein Visum für die USA erteilt worden.[93] Ob die Erinnerungen und die Kenntnisse von Charlotte Opfermann als gesichert angesehen werden können, sei dahingestellt. Lorenz Beckhardt gibt an, seine Großmutter habe noch zu den Zeiten der Inhaftierung von Fritz den liberianischen Generalkonsul in Bremen aufgesucht und von dem finanziellen Zuwendungen zugetanen Konsul zwei Visa für Liberia erhalten, ein ihr bis dahin völlig unbekanntes Land. Vielleicht war dieser Kontakt tatsächlich durch Malzbender zustande gekommen.[94] Entscheidend für die NS-Behörden war nur, dass man ein Zielland mit entsprechendem Visum nachweisen konnte. Ob man dort letztlich tatsächlich hinwollte, war gleichgültig. Fritz, wie nahezu alle Juden, favorisierten stattdessen die USA und der Schwager in Lissabon hatte auch notwendige Zahlungen, wie das Landegeld, bereits geleistet.[95] Aber mit dem Beginn des Westfeldzugs im Mai 1940 wurde dieser Weg in die Freiheit immer undurchdringlicher. Noch schwieriger war es jetzt nach England zu den Kindern zu gelangen. Das würde nur über Umwege möglich sein.
Die besten Kontakte gab es über Jakob Friedrich Neumann natürlich nach Portugal und dorthin hatte Rosa Emma auch schon die Fühler ausgestreckt, seitdem feststand, dass man Deutschland verlassen wolle.[96] Inzwischen hatte aber auch Portugal die Grenzen dicht gemacht. Bei Eltern, deren Kinder schon vor 1938 in dem Land ansässig geworden waren, wurde allerdings noch eine Ausnahme gemacht. Das traf auch für Emil und Hannchen Neumann zu. Im Februar1939 teilten sie dem Finanzamt Wiesbaden ihre Auswanderungsabsicht „innerhalb der nächsten 6 Monate“ mit. Dafür würden sie etwa 5.000 RM benötigen.[97] Am 16. August bestätigte die Behörde, dass sämtliche Steuern gezahlt seien, der Antragsteller sei als „steuerlich zuverlässig zu betrachten“ und „Nachteiliges (über ihn sei) nicht bekannt“ [98] – eine bei Juden keineswegs gängige Bewertung, auch nicht bei solchen, die ihre Steuern immer bezahlt hatten. Ihr Vermögen betrug im Mai 1939 nach eigenen Angaben 17.355 RM und von der Reichsfluchtsteuer sollten sie sogar befreit sein.[99] Noch im August erhielten sie die für die Ausstellung der Reisepässe notwendige steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung.[100]
Wieso die beiden dennoch in Wiesbaden zurückblieben, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Lorenz Beckhardts Vermutung, dass es ihnen an Geld mangelte, nachdem sie zur Zahlung der 5. Rate der Judenvermögensabgabe gezwungen wurden, ist angesichts des Vermögens von etwa 15.000 RM nicht überzeugend. Sicher war ein beträchtlicher Teil nicht so ohne weiteres flüssig zu machen, aber ganz sicher hätten auch Fritz und Rosa Emma und noch leichter auch der in Lissabon lebende Sohn ihnen unter die Arme greifen können. Devisen ins Land zu bringen, war nicht verboten, vielmehr hochwillkommen. Vielleicht hatten die beiden alten Menschen – 1940 war Emil Neumann 73 und Hannchen 70 Jahre alt geworden – zuletzt noch Angst vor der eigenen Courage bekommen und sich ein Leben in der Fremde doch nicht mehr vorstellen können. Zwar wurden die Einschränkungen im Alltag immer drastischer und im Nachbarhaus Rüdesheimer Str. 16 war inzwischen ein Judenhaus eingerichtet worden, aber die Transporte in den Osten rollten noch nicht.
Am 10. Dezember 1940 rollte stattdessen für Fritz und Rosa Emma ein Zug quer durch Europa Richtung Lissabon. Nachdem das erste Visum für Liberia verfallen war, hatte Rosa Emma erneut das liberianische Konsulat aufgesucht und ein weiteres „gekauft“. Mit diesem angeblichen Ziel in Afrika, das auch in den Ausreiseunterlagen genannt ist,[101] traten sie nun von Berlin aus in einem verplombten Zug die viertägige Fahrt nach Portugal an, die die Reichsvereinigung noch hatte organisieren können. Auch dem Ehepaar Beckhardt war die steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt worden und auch die Umzugskisten, deren Inhalt am 18. November mit einer 16-seitigen Auflistung dem Zoll vorab zur Kontrolle vorgezeigt werden mussten, war genehmigt worden. Noch einmal hatte Fritz im Begleitschreiben auf seine Kriegsauszeichnungen, die er ebenfalls genau auflistete, hingewiesen.[102] Die Ausfuhr wurde genehmigt, nachdem die geforderte Zahlung der sogenannten DEGO-Abgabe für neuwertige Güter in Höhe von 250 RM überwiesen worden war.[103] Eine Reichsfluchtsteuer wurde auch von ihnen, die zum Zeitpunkt der Ausreise ein Gesamtvermögen von 11.500 RM besaßen, nicht verlangt.[104]
Die Fahrt verlief – wie zu erwarten – nicht wie geplant. Nachdem sie über Paris und Spanien die portugiesische Grenze erreichten, wurde ihnen mitgeteilt, dass eine Weiterreise nach Liberia infolge des Krieges nicht mehr möglich sei, sie deshalb nach vielen Stunden Wartezeit zurück nach Frankreich müssten. Ihr Spanien-Visum war ein reines Durchreisevisum, das einen Aufenthalt in dem Land nicht erlaubte. In einem kleinen Pyrenäenort warteten sie unter größten Ängsten, von der Vichy-Polizei doch noch den deutschen Behörden ausgeliefert zu werden, auf ein neues Visum. Ihr altes war inzwischen verfallen und auch das Schiff, mit dem sie eigentlich in die USA fahren wollten – Liberia war wohl nie ernsthaft in Erwägung gezogen worden -, hatte den Hafen von Lissabon längst verlassen. Rosa Emmas Bruder Jakob Friedrich ließ seine Beziehungen spielen und erreichte es tatsächlich, dass sie, ausgestattet mit neuen Visa für die Durchreise durch Spanien und die Einreise samt Aufenthaltsrecht in Portugal, nach etwa einem Monat am 16. Januar 1941 wieder einen Zug besteigen konnten, der sie dann endgültig nach Lissabon brachte.[105] Dort konnten sie bei dem Bruder bzw. Schwager unterkommen, der zwar als Jude seine Stellung bei Siemens inzwischen verloren hatte, dafür aber mit Erfolg ein eigenes Elektrofachgeschäft eröffnet hatte. Zudem nahm er eine führende Rolle bei einer zionistischen Organisation ein, die sich um die in Portugal in immer größerer Zahl gestrandeten Flüchtlinge kümmerte.
In Wiesbaden gab es niemand mehr, der sich um die zurückgebliebenen Eltern kümmerte. Die Umarmungen beim Abschied waren anders als bei den Kindern. Da hegte man noch die Hoffnung, sich vielleicht sogar bald wiederzusehen. Diese Hoffnung gab es jetzt nicht mehr. Es war ein Abschied für immer. Dessen werden sich alle bewusst gewesen sein.
Das Ehepaar Hirsch war schon am 26. April 1940 wieder aus der Rüdesheimer Str. 14 ausgezogen,[106] ob es neue jüdische Nachmieter in der großen Wohnung gab, ist nicht bekannt. Fritz und Rosa Emma Beckhardt hatten nur Kleidung und ihren Hausrat mitnehmen können, bzw. der Lift mit diesen Gegenständen war zunächst beschlagnahmt und erst später frei gegeben und nach Portugal verschifft worden. Ihre Möbel hatten sie in der Obhut der Eltern zurücklassen müssen, wo sie später von der Gestapo beschlagnahmt wurden.[107] Vermutlich geschah das, als das Ehepaar Neumann ihre Wohnung selbst verlassen musste und in das Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 80 einzog. Ob es eine explizite Aufforderung seitens des Wohnungsamts gab oder ob allein die Mietkosten für die große Wohnung diesen Zwang ausübten, ist nicht bekannt. Der Umzug erfolgte laut Eintrag auf der Gestapokarteikarte am 1. Juni 1941, somit etwa ein halbes Jahr nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten. In der Wohnung des Arztehepaars Goldschmidt konnten sie zwei Zimmer bewohnen,[108] sodass sie vermutlich wenigstens einen kleinen Teil der Möbel hatten mitnehmen können.
Als finanzielle Hilfe hatte ihnen Fritz die noch offenen Außenstände aus der alten Firma übertragen lassen. Ob aber von diesen Geldern – es handelte sich um rund 660 RM – noch irgendetwas in die Hände des Paares gelangte, ist eher unwahrscheinlich.[109] Sie hätten es dringend gebraucht. Im Sommer 1940 hatte Emil Neumann angegeben, über ein Jahreseinkommen von etwa 500 RM verfügen zu können, nicht einmal 50 RM im Monat. Davon war sicher ein Teil Mieteinnahmen, die ihnen von dem Nazimieter in Sonnenberg zustanden – gezahlt hatte der aber bestenfalls nach Gutdünken.
Nach dem Krieg berichtete ein ehemaliger nichtjüdischer Mitbürger aus Sonnenberg, Adolf Kunz, der unter erheblichen Gefahren für sich selbst das Ehepaar mehrmals in dem Judenhaus besuchte, das die beiden schrecklich unter Hunger gelitten hätten: „Voller Scham berichtete er, wie die beiden Alten am Tisch saßen, auf dem ein verschimmelter Blumenkohl lag. Adolf brachte ihnen frisches Gemüse: ‚Die alde Leudscher hadde so’n Hunger,’“ zitiert Lorenz Beckhardt diesen mutigen Mann, der auch später nach der Rückkehr der „Juden“ in ihren Heimatort, anders als die meisten Sonnenberger, den Kontakt zu Beckhardts wieder suchte.[110]
Abgesehen von diesem kleinen Einblick in den traurigen Alltag im Judenhaus gibt es fast keine Informationen über die Monate bis zur Deportation des Ehepaars. Lorenz Beckhardt berichtet von „ständigen Hausdurchsuchungen“, die in den Judenhäusern stattfanden, berichtet von Schikanen, Beschimpfungen und Prügeln. Das gab es ganz sicher in vielen Ghettohäusern, aber eine konkrete Quelle dafür, dass solche Aktionen auch im Kaiser-Friedrich-Ring 80 stattfanden, nennt er nicht. Bei einem dieser Überfälle sollen die Urkunden zu den Ordensverleihungen von Fritz aus dem Ersten Weltkrieg konfisziert worden sein. Er soll diese als Beweis für die Vaterlandstreue der Familie bei seiner Flucht aus Deutschland bewusst zurückgelassen haben. Woher diese Information stammt, bleibt ebenfalls offen.
Im Juni 1942 war das Ehepaar Neumann noch einmal von der Devisenstelle aufgefordert worden, ihre Lebenshaltungskosten darzulegen, damit der Freibetrag neu berechnet werden könne. Emil Neumann gab an, 220 RM monatlich zu benötigen. Mit seiner sehr schönen und klaren Unterschrift versicherte er die Richtigkeit der gemachten Angaben. Der Betrag wurde für die wenigen noch verbleibenden Monate gewährt[111] Ob ihm überhaupt noch so viel Geld auf seinem gesicherten Konto zur Verfügung stand, ist nicht sicher. Das letzte Schreiben in seiner Devisenakte ist an die Dresdner Bank gerichtet. In diesem wird ihr mitgeteilt, dass Emil und Johanna Neumann „nach dem Osten evakuiert“ worden seien und das Konto beschlagnahmt sei. Buchungen ohne Zustimmungen der Finanzbehörden seien nicht erlaubt.[112]
Etwa eine Woche vor ihrer Deportation waren auch Emil und Hannchen Neumann von der ‚Bezirksstelle der Juden in Hessen-Nassau’ – wie es ausdrücklich hieß: „auf behördliche Anordnung“ – davon unterrichtet worden, dass sie sich am Samstag den 29. August, dem Schabbat, am Vormittag bis 13 Uhr in der Friedrichstraße im Gebäudekomplex der orthodoxen Synagoge, einzufinden hätten, weil auch sie am 1. September „zur Gemeinschaftsunterbringung außerhalb des Altreichs“ bestimmt seien. Gemeint war Theresienstadt. Genaue Anweisungen über Verhalten, mitzunehmendes Gepäck und finanzielle Angelegenheiten waren in einem Beiblatt beigefügt.
Zusammen mit dem MItbewohnern, dem Ehepaar Rosenau und Clara Merten, gehörten Neumanns zu den insgesamt 365 zumeist älteren Jüdinnen und Juden, die sich am letzten Augustwochenende in der Sammelstelle zusammenfanden und die erniedrigenden Registrierungsprozedur über sich ergehen zu lassen. Wer noch mindestens 1.000 RM auf seinem Konto hatte, wurde zum Abschluss eines völlig wertlosen Heimeinkaufsvertrags genötigt, der Unterkunft und Verpflegung bis zum Lebensende versprach. Dass damit Strohsäcke auf dem Zementboden zugiger Baracken und eine dünne Wassersuppe gemeint waren, hatte man den Unterzeichnenden natürlich vorenthalten. Die meisten werden nach den Erfahrungen der letzten Jahre geahnt haben, dass die Verträge nur ihrer Ausplünderung dienten. Dass das Geld direkt auf einem Konto der SS landete, die sich damit ihren Beuteanteil auf Kosten des Reichsfiskus sicherte, ahnte aber wohl keiner. Den Juden trat der NS-Staat als eine fest verschworene Mörderbande gegenüber. Auch Neumanns haben vermutlich durch einen solchen Vertrag ihre letzte Habe ihren Mördern zwangsweise „gespendet“.[113]
Am 1. September 1942 startete der Zug, der endgültig in Frankfurt zusammengestellt wurde, mit insgesamt 1110 Personen seine Fahrt nach Theresienstadt. Nicht nur in Wiesbaden hatten sich viele dieser Tortur und noch mehr, dem, was sie „im Osten“ erwarten würde, durch die Flucht in den Tod entzogen.
Auch Hannchen und Emil Neumann wurden bald von ihrem Leiden erlöst. Nach nur drei Wochen starb zunächst Hannchen am 21. September 1942 laut dem Arzt, der den Totenschein ausfüllte, an einem akuten Darmkatarrh.[114] Nicht viel mehr als eine Woche überlebte sie ihr Mann. Für ihn war Theresienstadt aber noch nicht die letzte Station. Am 29. September brachte ihn ein Zug mit etwa 2000 weiteren Opfern in das Vernichtungslager Treblinka. Das völlig überfüllte Lager in Theresienstadt sollte auf Anweisung von Eichmann wenigstens teilweise geräumt werden. Im Herbst 1942 verließen 10 Transporte mit insgesamt 18000 Menschen das Altersghetto mit dem Ziel Treblinka, dem letzten im Rahmen der ‚Aktion Reinhardt’ errichteten Lager, das – anders als etwa Auschwitz – als reines Vernichtungslager konzipiert war. Der Transport, in dem sich der Gefangene Emil Neumann befand, war der fünfte dieser Serie. Zwei Tage nachdem er Theresienstadt verlassen hatte, ereichte der Zug mit der Bezeichnung ‚Bs’ sein Ziel.[115] Empfangen wurden die Insassen auf der Rampe vom ‚blauen Kommando’, einer Gruppe von etwa 30 bis 50 Arbeitsjuden, die die Neuankömmlinge mit Schlägen, Gebrüll und scharfen Hunden aus den Waggons zum Umschlagplatz trieben, wo sie getrennt nach Geschlechtern sich entkleiden mussten, um anschließend durch den als Schlauch bezeichneten Gang zu den Gaskammern gedrängt zu werden. Hier übernahmen die deutschen Aufseher, unterstützt von zumeist osteuropäischen Hilfskräften, den sogenannten Trawniki-Männern. Mit Knüppeln, Eisenstangen und auch wieder mit Hunden zwang man die Menschen in die Kammern, von denen alle wussten, dass dort aus den Duschamaturen kein Wasser, sondern Gas strömen würde.[116] Man kann sicher sein, dass der Tag der Ankunft in Treblinka auch der Todestag von Emil Neumann war. Das wäre aber dann der 1. oder 2. Oktober 1942 gewesen, nicht aber, wie fälschlicherweise in der Wiesbadener Opferliste und auch auf dem Erinnerungsblatt für das Ehepaar Neumann des Aktive Museum Spiegelgasse angegeben, der 29. September.[117]
Von dem Schicksal ihrer Eltern bzw. Schwiegereltern werden die Flüchtlinge in Lissabon nichts mehr erfahren haben. Ein brieflicher Kontakt nach Wiesbaden bestand laut Lorenz Beckhardt bis Mai 1941.[118] Inzwischen hatten diese ihre Pläne, in die USA auszureisen, längst aufgegeben. Sie setzten stattdessen alles in Gang, um zu ihren Kindern nach England zu gelangen. Beim britischen Geheimdienst ließ Fritz Beckhardt verlauten, er würde über wichtige militärische Informationen verfügen. Tatsächlich gingen die Briten darauf ein und im März 1941 ermöglichten sie ihm und seiner Frau die Einreise per Flugzeug nach England.[119]
Zwar wurden auch sie, nachdem Fritz einige mehr oder weniger wichtige Informationen etwa über die Struktur der NSDAP in Wiesbaden preisgegeben hatte, als ‚enemy aliens’ zunächst auf der Ilse of Man interniert, dann aber Ende Oktober nach einem Prüfverfahren der Kategorie „C“ – keine Gefahr für die Sicherheit Großbritanniens – zugeordnet, was ihnen eine Aufenthaltsgenehmigung und das Recht auf Freizügigkeit einbrachte.
Die ausgewanderte, jüdische Familie Frohwein aus Mainz, mit der Fritz Beckhardt lange in guten geschäftlichen Verbindungen gestanden hatte, bot ihnen in London eine Unterkunft an, in der die Familie wieder zusammen würde leben können. Wie bei vielen Familien, die ihre Kinder mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht hatten, war es auch – anders als bei dem älteren Kurt – zwischen den Eltern und ihrer Tochter Hilde zu einer Entfremdung gekommen. Sie wollte die Gastfamilie, die ihr alles bot und in der sie sich aufgehoben fühlte nicht verlassen. Es muss eine sehr konfliktreiche Zeit gewesen sein, aber zuletzt beugte sich Hilde dem Wunsch der Eltern. Als dann aber die Bomben auf London fielen, erlaubten die Eltern, dass sie um ihrer Sicherheit wegen doch wieder zurück nach Cornwall konnte.
Der 16jährige Kurt hingegen blieb bei den Eltern, meldete sich dann als Kadett bei der britischen Armee, genauer bei der Air Force, und tat dort einmal wöchentlich Dienst in Vorbereitung auf einen späteren Kriegseinsatz. Bis er aber alt genug war, um gegen Hitlers Armee zu kämpfen, war der Krieg vorüber und in einen Krieg zur Aufrechterhaltung des britischen Kolonialreiches zu ziehen, war Kurt, der noch immer staatenlos war und keine britische Staatsangehörigkeit besaß, nicht bereit. Auf Grund seiner Interessen an Technik und Ingenieurskunst, aber ohne entsprechende akademische Grade, begann er eine berufliche Laufbahn in einer renommierten Autowerkstatt. Als aber nach Kriegsende die Situation auf dem Arbeitsmarkt durch die rückkehrenden Soldaten immer schwieriger wurde, stand Kurt vor der Alternative, arbeitslos zu werden oder aber als britischer Soldat doch in einen fernen Krieg zu ziehen. Es gab allerdings auch noch eine dritte Möglichkeit: Die Rückkehr nach Deutschland.
Sein Vater, der zunächst durch seine Hilfsarbeit in einer Metallfabrik für den gemeinsamen Unterhalt sorgen konnte, fand später einen Job als Kaffeeröster in seinem alten Metier. Trotz aller positiven Erfahrungen war er in England nicht mehr heimisch geworden. Als im Juni 1947 ein Aufruf an alle aus Deutschland Geflüchteten erging, sie sollten zurückkommen und sich am Aufbau des neuen Deutschland beteiligen, da traf Fritz für sich und die Familie die Entscheidung, diesem Aufruf zu folgen. Dass damit nicht unbedingt die Juden gemeint waren, musste die Familie alsbald erfahren. Hilde, die inzwischen den Vornamen Sue angenommen hatte, weigerte sich dem Beschluss Folge zu leisten: „Deutschland – niemals!“ entgegnete sie dem Vater [120] und auch Kurt, allerdings erst viel später, sollte seine Entscheidung noch des Öfteren bedauern.
Im Januar 1948 reiste Fritz Beckhardt erstmals wieder in seine Heimatstadt Wiesbaden, „besuchte“ den schockierten Nachfolger in seinem Geschäft in Sonnenberg. Noch aus Portugal hatte er ihm geschrieben, dass er zurückkommen werde, um seine Forderungen gegen an ihn einzutreiben.[121] Der Nazi Pfeiffer war keiner, der einen Juden mit dem Knüppel totgeschlagen, keiner, der den Gashahn in einem KZ aufgedreht hatte, aber einer, der sich hinter den Führer gestellt, den Arm zum Gruß gehoben und auf subtile oder sogar auf offene Weise die Ausgrenzung der Juden und anderer Staatsfeinde mitgetragen und daraus auch noch seinen eigenen Nutzen gezogen hatte. Dieser Nazi Pfeiffer steht für all die Nazis, mit oder ohne Parteibuch, die nach dem geplatzten Weltmachtraum auf einmal mit ihrer Vergangenheit, mit ihrem Tun oder auch Nichttun konfrontiert waren – eine Herausforderung, der sich nur die wenigsten stellen wollten. Lorenz Beckhardt zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz von Adorno, der präzise die Haltung der Nachkriegsdeutschen in ihrer Mehrheit zum Ausdruck bringt: „Ich habe, außer ein paar rührend marionettenhaften Schurken von altem Schrot und Korn, noch keinen Nazi gesehen, und das keineswegs bloß in dem ironischen Sinne, dass keiner es gewesen sein will, sondern in dem weit unheimlicheren, dass sie glauben, es nicht gewesen zu sein.“[122]
So schwangen sich bald diejenigen, die nur wenige Jahre zuvor noch willfährige Vollstrecker des Führerwillens gewesen waren, nun auf, um über die Entschädigungsansprüche der Verfolgten zu befinden. Es ist eines der großen Verdienste des Buches von Lorenz Beckhardt, diese für die Opfer des Nationalsozialismus zutiefst unwürdigen Entschädigungsverfahren am Beispiel seiner Familie en détail nachgezeichnet zu haben. Anders als in den Jahren zuvor sind die Schreiben der Behörden in der Diktion immer freundlich gehalten, aber in ihrem Kern zeugen sie von einer unveränderten Haltung gegenüber den Juden: Juden ist prinzipiell nicht zu trauen, ihr einziges Ziel ist es, Geld zu scheffeln – früher durch Gemauschel und Schmu, jetzt mit Hilfe von Entschädigungsverfahren. Und – so die Grundeinstellung der Behörden – es war zu erwarten, dass auch hier Zahlungen mit viel Schmu eingefordert wurden. Jude bleibt eben Jude. Dass es nach einer langen, oft überstürzten Flucht kaum möglich war, die geforderten Belege vorzulegen, stieß nur selten auf Verständnis. Und wenn man schon eidesstattliche Erklärungen akzeptierte, dann gab der kleinste, nach so viel Jahren unvermeidliche Widerspruch bei Aussagen und Urkunden Anlass für weitere demütigende Fragen und Beweisforderungen. Und für was überhaupt entschädigen ? Waren die, die jetzt ihre Forderungen stellten, doch irgendwo in Sicherheit gewesen, während die Deutschen den Luftangriffen der Feinde ausgesetzt waren und oft alles verloren hatten.
Exemplarisch sei hier ein Schreiben der Entschädigungsbehörde vorgestellt, in dem alle Forderungen von Fritz Beckhardt zunächst einmal mit juristischen Finessen abgeschmettert wurden:
Schreiben der Entschädigungsbehörde vom 17. 7. 1953 an Fritz Beckhardt
HHStAW 518 713 (104
Die Unterscheidung zwischen Rückerstattung und Entschädigung mag juristisch von Belang sein, aber worum es eigentlich geht, ist die Intention dieses Schreibens: Alles wird abgelehnt, „der Jude“ bekommt erst mal nichts. Da ist außer abstrakten Formeln kein Hinweis darauf, wie er zu seinem Recht kommen kann, da ist nichts zu spüren von Empathie für das erlittene Leid, da findet man nur in juristischen Formeln verklausulierte Abwehr.
Nicht immer waren es die konkreten Sachbearbeiter, die die Hürden aufbauten, auch die Gesetze selbst waren zum Teil völlig wirklichkeitsfremd formuliert. So wurde Fritz Beckhardt zunächst die Haftentschädigung verweigert, weil das Gesetz vorsah, nur Personen zu entschädigen, die spätestens am 1. Januar 1947 wieder in Hessen gemeldet waren. Welcher verfolgte war, wenn überhaupt, bereit, nach dem sogenannten „Zusammenbruch“ sofort wieder in das Land der Verfolger zurückzukommen ? [123] Und all diese Demütigungen konnten jetzt sogar noch mit dem Glorienschein des neu zu schaffenden Rechtsstaats ummantelt werden. Alles musste seinen rechtsstaatlichen, sprich: bürokratischen Weg gehen – und der konnte sehr lange sein. So wurden etwa die Kosten für die Rückwanderung von England nach Deutschland erst 1964 erstattet, also etwa zwanzig Jahre nach Kriegsende. Die 633,66 DM, die Rosa Emma dafür erhielt, wurden ihr aber nicht ausgezahlt, sondern mit einer Soforthilfe verrechnet, die sie 1958 erhalten hatte.[124] Der erste Umzug von Sonnenberg nach Wiesbaden sollte gar nicht entschädigt werden, weil er ja „nicht auf Veranlassung von SS-Stellen verursacht“ worden war.[125] Mit einem ähnlichen Argument wurde Fritz ein Darlehen verweigert, das er zum Aufbau seines früheren Geschäfts beantragt hatte. Wer sein rückerstattetes Unternehmen durch „Entzug“ und nicht durch „Verdrängung“ verloren hatte, sollte keinen Anspruch auf ein solches Darlehen haben, „weil er nicht aus seinem Beruf durch eine NS-Staats- oder Parteistelle verdrängt worden war.“ Ansprüche wegen entgangener Nutzung, seien aber ausschließlich durch das Gesetz 59 der amerikanischen Militärregierung geregelt [126] – will sagen: Wir haben mit deinem Problem nichts zu tun, wende dich bitte an die Besatzer! Wie sehr die Amerikaner damals als solche und nicht als Befreier empfunden wurden, ist auch hier zwischen den Zeilen zu lesen. Einen Anspruchsberechtigten musste ein solcher undurchschaubarer juristischer Wirrwarr eigentlich in die Resignation treiben und viele haben angesichts dieser abwehrenden Haltung der Ämter auf ihre Ansprüche verzichtet.
Noch dreister sind die weiteren Erläuterungen: Ein Darlehen „zur Wiederaufnahme oder vollen Entfaltung einer freiberuflichen oder gewerblichen Tätigkeit“ sei „aber nicht unbedingt zu verstehen, dass der frühere Zustand der Tätigkeit bezw. ihr Umfang wiederhergestellt werden muss. Der Verfolgte muss vielmehr eine allgemeine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse auch gegen sich ergehen lassen. Auch aus diesem Gesichtspunkt heraus kann dem Antragsteller ein Darlehensanspruch nicht gewährt werden.“[127] Die Juden sollten doch bitte einsehen, dass auch sie gefälligst die Last dieses Krieges mitzuzahlen hätten, der, so Hitler in seiner Rede vom 30. Januar 1939, die Vernichtung der jüdischen Rasse zur Folge haben sollte.
Beckhardts hatten nach vielen und langen Kämpfen Geld erhalten, für den Verlust an Freiheit, für Schaden am wirtschaftlichen Vorankommen usw., Entschädigungen, die sie in ihrem eigenen Namen erhielten, der ihnen aber auch als Erben der ermordeten Eltern bzw. der Schwester Martha zustand. Auch waren ihnen die beiden Häuser in Sonnenberg, die am 15. Juli 1943 im Grundbuch auf das Deutsche Reich überschrieben worden waren, durch Beschluss des ‚Amtes für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung’ am 28. September 1949 zurückgegeben worden.[128] Ein Heim wurden die Häuser aber nicht mehr. Zunächst weigerte sich der Nazi-Mieter auszuziehen, bekam sogar Recht,[129] sodass die Familie über Monate eine Lagerhalle für Käse als notdürftige Unterkunft beziehen musste. Als Meldeadresse fungierte die Bahnhofstr. 25, die Wohnung von Claire Guthmann, der Witwe von Berthold Guthmann, die mit ihrer Tochter das KZ Theresienstadt überlebt hatte und ebenfalls nach Wiesbaden zurückgekehrt war. Eine Meldeadresse war notwendig, damit überhaupt Anträge auf Soforthilfe oder andere Ansprüche geltend gemacht werden konnten. Aber eine Meldeadresse nützte auch nichts, wenn man in eine gesetzliche Krankenkasse aufgenommen werden wollte. Selbst diesen grundlegenden Schutz verweigerte die AOK den Rückkehrern.
Im Oktober 1950 konnten Beckhardts wieder ihr durch Kriegseinwirkungen stark beschädigtes Haus in Sonnenberg beziehen und auch den Laden wieder eröffnen. Trotz aller Anstrengungen, trotz verschiedener Modernisierungsversuche, trotz Veränderung des Angebots blieben die Kunden aus. Die Parole „Kauft nicht bei Juden!“ hatte in Sonnenberg kaum etwas an Überzeugungskraft eingebüßt. Ein Höhepunkt antisemitischer Ausschreitungen war erreicht, als einige Dorfbewohner 1950 nach einem Dorffest vor dem Haus der Beckhardts Flaschen zertrümmerten und eine Neuauflage der „Reichskristallnacht“ inszenierten: „Hier wohnt de Judd Neumann, de Bormass von Summerich !“ grölte der Trupp.[130] Unter Alkoholeinfluss war offenbar die Selbstkontrolle verloren gegangen und es trat zu Tage, was man über die zurückgekehrten Juden wirklich dachte. Vermutlich hätte man wohl gern die Geschichte noch einmal wiederholt, dann aber erfolgreich. Aber nicht nur das Geschäft, auch privat wurden die Rückkehrer gemieden. Sie stellten unangemessene Forderungen, wo doch für jeden offenbar sein musste, dass es auch den Deutschen schlecht ging. Waren die Juden zunächst noch in den großen Einheitsbrei der Opfer mit eingerührt worden, alle waren auf einmal Opfer, so sah man das im Laufe der Zeit „differenzierter“. In der Entschädigungsfrage wurden neue Prioritäten gefordert: Kriegswitwen und –waisen sollten an erster Stelle stehen, gefolgt von den Luftkriegsopfern und den Vertriebenen. Für die Juden blieben da bestenfalls Brosamen.
Bei all diesen Kämpfen verlor Fritz allmählich die Kraft. Ein erster Schlaganfall 1954 ging noch glimpflich aus, weitere sollten folgen und immer weniger war er in der Lage, das Geschäft zu führen, das inzwischen weitgehend von seinem Sohn Kurt gemanagt wurde. Dieser hatte im Februar 1961 Melitta Hillbrenner geheiratet und war mit ihr nach Sonnenberg gezogen.[131] Zuletzt lag Fritz zumeist auf seinem Sofa, kaum mehr in der Lage zu sprechen, aber noch immer im Kampf mit den Entschädigungsbehörden. Lorenz Beckhardt berichtet, dass er im August 1961 letztmals einen ihrer Briefe mit klarem Verstand gelesen habe. Damals waren ihm 22.000 DM für den Verlust des Schmucks und Hausrats seiner Schwester Martha zugesprochen worden. Am 13. Januar 1962 verstarb Fritz Beckhardt nach – in jeder Hinsicht – langem Leiden.[132]
Seine Frau Rosa Emma führte den Kampf mit den Behörden weiter. Viele Entschädigungsangelegenheiten waren nicht geklärt, weshalb ihr weder eine Rente aus einem Härtefond, noch die gesetzliche Rente zugesprochen wurde. Sie lebte von der Unterstützung durch ihren Sohn Kurt, dem inzwischen das Haus und das noch immer schlecht gehende Geschäft übertragen worden war.[133] Dort stand die Mutter an der Kasse bis sie 74 Jahre alt war. Man lebte, so Lorenz Beckhardt, von der Hand in den Mund. Am 31. Dezember 1977 wurde der Laden aufgegeben und an einen arischen Nachfolger übergeben. Wen wundert es, dass das Geschäft nach dem Ende des faktisch seit 1933 von der Sonnenberger Bevölkerung eingehaltenen Boykotts jetzt wieder aufblühte.
Im November 1982 verstarb dann auch Rosa Emma Beckhardt an einem Herzinfarkt wenige Wochen vor ihrem 80sten Geburtstag. Tatsächlich hatte der Staat nach unendlichen Kämpfen ihr in den letzten eineinhalb Lebensjahren noch eine monatliche Rente von 203. DM gewährt.[134]
Hilde bzw. Sue, die in England geblieben war, hatte 1954 die britischen Staatsbürgerschaft angenommen und einen Polizisten namens Ron geheiratet, der aber noch ein Studium absolvierte und als Soziologe eine Dozentenstelle übernahm. Sie selbst war Lehrerin geworden. Drei Söhne waren in der Ehe geboren worden. Mit diversen Tieren lebte die Familie in einem Naturparadies im Nordwesten der Insel und engagiert sich seit vielen Jahren im Naturschutz.[135] Vermutlich im Jahr 2001 ist sie in ihrem Exil, das zu ihrer neuen Heimat wurde, verstorben.[136]
Werner, der Halbbruder von Kurt und Hilde, wusste nichts von seinem Vater, wusste nicht, dass auch er jüdische Wurzeln hatte. All das hatte ihm die Mutter verschwiegen, so konnte er auch nicht verstehen, wieso ihm die Mutter die Aufnahme aufs Gymnasium verweigerte, wieso er nicht zum Jungvolk durfte.
Erst nach dem Krieg, nachdem Lina Lahr den Vater ihres Sohnes nach dessen Rückkehr zufällig aus der Straßenbahn heraus gesehen, aber nicht angesprochen hatte, gestand sie ihrem Sohn, wer sein Vater war. Ein Versuch des Jungen, mit ihm in Kontakt zu treten, wurde von diesem schroff abgewehrt, sodass dieser sich völlig konsterniert zurückzog. Erst Jahre später, Lina war bereits verstorben und der ehemalige Klempnergeselle hatte sich inzwischen zum Prokuristen bei der Firma Blendax hochgearbeitet, wagte er noch einmal eine Kontaktaufnahme. Diesmal sprach er seinen Halbbruder Kurt an, der völlig offen reagierte. So entstand mit der Zeit zwischen den beiden ein sehr enges und vertrauensvolles Verhältnis. Kurt Beckhardt verstarb am 5. August 2016 in Bonn, wurde aber auf dem Jüdischen Friedhof an der Platter Strasse in seinem Heimatort Wiesbaden begraben.[137]
Werner Lahr engagiert sich genauso wie sein „Halbneffe“ Lorenz mit Vorträgen in der Erinnerungsarbeit, besucht Schulen und berichtet dort über sein ganz besonderes Schicksal.[138] Lorenz Beckhardt geht mit seinem Buch über das Schicksal der Familien Neumann und Beckhardt immer wieder auf Lesereisen quer durch Deutschland, einem Land, in dem die antisemitischen Vorurteile nicht nur unmittelbar nach 1945 fast ungebrochen weiterleben konnten, sondern auch heute wieder mit Gewalt aufzubrechen drohen.
Veröffentlicht: 21. 08. 2023
Anmerkungen:
[1] Beckhardt, Lorenz S., Der Jude mit dem Hakenkreuz. Meine deutsche Familie, Berlin 2014.
[2] Heiratsregister Sonnenberg 10 / 1926.
[3] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/179666231/person/412339808677/facts. (Zugriff: 20.08.2023).
[4] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 35 f.
[5] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/179666231/person/412339808596/facts. (Zugriff: 20.08.2023).
[6] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/119380228/person/162094549467/facts. (Zugriff: 20.08.2023). Ihre Eltern waren Abraham und Friedericke Elbert, geborene Mayer.
[7] Der älteste Sohn Friedrich Wilhelm / William war am 31.5.1889 wie auch sein am 19.4.1891 geborener Bruder Paul Albrecht in Wallertheim zur Welt gekommen, ihre Schwester Eleonor Olga dagegen am 29.5.1894 in Kaiserslautern. Paul Albrecht heiratete am 4.10.1922 in seinem Heimatort Barbara Blondine Gutmann, geboren am 29.7.1896 in Dilkirchen. Eleonor Olga hingegen ging ihre Ehe mit dem am 15.5.1894 in New York geborenen Samuel Siegel am 10.5.1929 in dessen Heimatstadt ein. Das begründet die Annahme, dass die Familie vermutlich zwischen diesen beiden Daten ausgewandert war. Friedrich Wilhelm, der erst am 26.6.1949 in New York Paula Frank heiratete, verstarb dort am 9.10.1957, seine Frau im Juli 1978. Paul Albrecht Beckhardt verstarb am 25.5.1951 in Hartford, am 18.6.1866 seine Witwe in New York. Eleonor Olga Siegel wurde 90 Jahre alt, sie starb am 6.6.1994 in Madison. Da war ihr Mann, der am 26.7.1957 in Beverly Hills zu Grabe getragen wurde, schon viele Jahre tot. Die Angaben sind dem Stammbaum von Simon Beckhardt bei ancestry entnommen, siehe https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/119380228/person/162094543708/facts. (Zugriff: 20.08.2023). Die dortigen Angaben konnten durch amtliche Dokumente bisher nicht verifiziert werden.
[8] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/119380228/person/162094616806/facts?_phsrc=svo1960&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.08.2023).
[9] Geburtsregister Wallertheim 11 / 1889.
[10] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/179666231/person/412339809265/facts. (Zugriff: 20.08.2023).
[11] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 41 ff.
[12] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 52, 54 f. Die Kenntnisse als Textilkaufmann erweiterte er bei einem längeren Aufenthalt in der Textilmanufaktur eines Onkels in Marseille.
[13] Ebd. S. 16. wurde
[14] HHStAW 3008/1 14369. Der Archivar im HHStAW hat in Unkenntnis des historischen Hintergrunds angemerkt, dass die Datierung des Bildes mit dem Jahr 1924 nicht stimmen könne, weil das Flugzeug das Hakenkreuz tragen würde.
[15] Heiratsregister Sonnenberg 10 / 1926.
[16] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 20 f.
[17] Ebd. S. 21 f.
[18] https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/gsrec/current/17/sn/juf?q=Neumann. (Zugriff: 20.08.2023).
[19] Siehe zu den folgenden Angaben, sofern nicht anders angegeben, die Genealogische Datenbank der Paul Lazarus Sammlung, Wiesbaden.
[20] Sterberegister Wiesbaden 1204 / 1901.
[21] Sterberegister Sonnenberg 8 / 1895.
[22] Datenbank Jüdische Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs Wiesbaden. Am 2.11.1880 wurde er auf dem jüdischen Friedhof Schöne Aussicht beigesetzt.
[23] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 25 f.
[24] Heiratsregister Bingen 8 / 1897.
[25] Heiratsregister Sonnenberg 10 / 1926.
[26] Geburtsregister Sonnenberg 50 / 1898 und 12 / 1903. Die namenlose Totgeburt ist im Sterberegister Wiesbaden unter 1015 / 1928 registriert.
[27] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 19. Auch in dem von ihrer Tochter Rosa Emma gestellten Antrag auf Entschädigung läuft sie durchgehend unter dem Namen Johanna, siehe HHStAW 518 4156. Ebenso trägt der Stolperstein in Sonnenberg den falschen Namen Johanna Neumann.
[28] Geburtsregister Trebur 102 /1877. Der richtige Vorname Hannchen ist auch in der Geburtsurkunde ihrer Tochter Rosa Emma angegeben, siehe Geburtsregister Sonnenberg 12 /1903.
[29] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 117 f.
[30] Ebd. S. 120.
[31] Jüdischen Adressbuch 1935 S. 226 und 234.
[32] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 109.
[33] HHStAW 685 613 (35).
[34] Ebd. (49).
[35] Ein Schreiben des Regierungspräsidenten aus dem Jahr 1962 an seine alte Adresse in Lissabon war als unzustellbar zurückgekommen. Die neue Adresse wurde dem RP durch seine Schwester Rosa Emma am 30.8.1962 mitgeteilt. Siehe HHStAW 518 840 (84, 85).
[36] HHStAW 685 613 (57).
[37] HHStAW 518 840 (20).
[38] Ebd. (18).
[39] HHStAW 518 713 HHStAW 518 840 (18).
[39] Ebd. (19).
[40] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 132, 147.
[41] Ebd. (17).
[42] Ebd. S. 12
[43] Ebd. S. 32. Die Hosen, die halb Sonnenberg trug, wurden von einem frühen Freund von Fritz Beckhardt aus Wallertheim genäht. Peter Bittmann war Sozialdemokrat und hatte Fritz Beckhardt schon früh politisch dahingehend beeinflusst, dass er, für einen Kaufmann damals eher ungewöhnlich, später immer diese Arbeiterpartei wählte.
[44] Auf Zuckertütchen, die mit dem Kaffee an die Restaurants und Cafes der Region geliefert wurden, stand der Spruch: „Sonnenbergs Wälder und Auen locken zum Schauen – drum nach Sonnenberg ! Emil Neumann – gegründet 1829“. Ebd. S. 147.
[45] Ebd. S. 186.
[46] Pfeiffer bzw. sein Anwalt behauptete im Rückerstattungsverfahren nach dem Krieg dreist, „dem Abschluss des Vertrages gingen monatelange freundschaftlich geführte Verhandlungen voraus, bei denen die Parteien sich gleichberechtigt gegenüberstanden und in freier loyaler Weise ihre Wünsche und Interessen abwägen konnten.“ Zudem könne die Zustimmung zum Vertrag schon deshalb nicht „unter dem Einfluss eines moralischen oder physischen Zwanges erteilt worden sein“, (…) weil sie – obwohl Juden – sich des Schutzes des ehemaligen Reichsministers Hermann Göring versichert hatten“. HHStAW 519 A 215 (o.P.).
[47] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/1631/images/31433_bh09278-00133?pId=9971918. (Zugriff: 20.08.2023). Albert Koch war in den Zwanziger Jahren einer der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde von Framersheim.
[48] HHStAW 685 68a (7).
[49] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 159, 184.
[50] HHStAW 685 68 Deckblatt der Umsatzsteuervoranmeldungen. So waren in dem ersten Teiljahr fast 28.000 RM, im folgenden dann fast 60.000 RM und 1936 sogar nahezu 65.000 RM Umsätze getätigt worden.
[51] HHStAW 519/3 5918.
[52] HHStAW 685 613 (139). Siehe zum Haus selbst Denkmaltopographie – Kulturdenkmäler in Hessen, Wiesbaden, Bd. I–3, S. 657.
[53] Siehe Wiesbadener Adressbuch 1934/35.
[54] Hanni Halle, geborene Schmitt, war nach der Eheschließung 1933 zum jüdischen Glauben konvertiert
[55] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 189. Hier werden auch andere Bewohner noch vorgestellt.
[56] Lorenz Beckhardt hat die Ausstattung der Wohnung und auch das Haus selbst sehr genau beschrieben, siehe S. 187-189.
[57] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 98-105.
[58] Hansi Oppenheimer war am 6.2.1909 in Bingen als Tochter von Max und Fanny Oppenheimer zur Welt gekommen. Der Sohn Eric, geboren am 1.2.1933 in Lissabon, besaß die portugiesische Staatsangehörigkeit. https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/119380228/person/162094621579/facts. (Zugriff: 20.08.2023).
[59] Ebd. S. 202 f. Zu erwähnen ist zudem, dass auch Portugal die Grenzen für jüdische Flüchtlinge dicht machte.
[60] Ebd. 157.
[61] 1937 lag der Gewerbeertrag bei 2.200 RM, im folgenden Jahr hatte er sich mehr als halbiert, ein Ergebnis, dass auch 1939 in etwa erreicht wurde. Siehe ebd. (passim).
[62] Ebd. S. 216.
[63] So schrieb Streicher in seinem Buch ‚Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden’ 1935: „’Artfremdes Eiweiß’ ist der Same eines Mannes von anderer Rasse. Der männliche Same wird bei der Begattung ganz oder teilweise von dem weiblichen Mutterboden aufgesaugt und geht so in das Blut über. Ein einziger Beischlaf eines Juden mit einer arischen Frau genügt, um deren Blut für immer zu vergiften. Sie hat mit dem ‚artfremden Eiweiß’ auch die fremde Seele in sich aufgenommen. Sie kann nie mehr, auch wenn sie einen arischen Mann heiratet, rein arische Kinder bekommen, sondern nur Bastarde, in deren Brust zwei Seelen wohnen und denen man körperlich die Mischrasse ansieht. Auch deren Kinder werden Mischlinge sein, das heißt, hässliche Menschen von unstetem Charakter und mit der Neigung zu körperlichem Leiden. (…) Wir wissen nun, warum der Jude mit allen Mitteln der Verführungskunst darauf ausgeht, deutsche Mädchen möglichst frühzeitig zu schänden; warum der jüdische Arzt seine Patientinnen in der Narkose vergewaltigt; (…) das deutsche Mädchen, die deutsche Frau soll den artfremden Samen eines Juden in sich aufnehmen, sie soll niemals mehr deutsche Kinder gebären!“ Zit. nach Kennzeichen „J“, S. 83 f.
[64] HHStAW 409/4 312 (12-17).
[65] Ebd. (o.P.).
[66] Ebd.
[67] Ebd.
[68] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 269. Das zweite Zitat befindet sich in der Akte wenige Seiten nach Quambuschs erster Stellungnahme auf einem Schreiben mit – weil zum Teil mit Bleistift geschrieben und verblasst – nur schwer lesbaren handschriftlichen Vermerken. Einer der Vermerke, mit Tinte geschrieben, stammt mit größter Sicherheit vom Gefängnisdirektor, denn in ihr wird auf seine eigene Beurteilung des Gefangenen Beckhardt vom 7.3.1938 verwiesen. Zwischen dieser Notiz und dem Stempel, der Gefängnisleitung, datiert mit dem 8.12.1938, befindet sich die Bleistiftnotiz, die, obwohl oberhalb der Unterschrift des Gefängnisdirektors, von anderer Hand zu stammen scheint. Lorenz Beckhardt hat sie dem Oberstaatsanwalt Quambusch zugeordnet. Dafür fehlt allerdings ein Beleg, da der Vermerk nicht unterschrieben ist und auch ein Schriftvergleich nicht angestellt wurde. Die Lesart des teilweise nur schwer zu entziffernden Zitats ist bei Beckhardt ihrem Sinne nach sicher richtig, nicht aber was den exakten Wortlaut angeht. Statt „Lediglich unter der Voraussetzung, daß B. sich verpflichten würde, zu einem genau bestimmten Zeitpunkt auszuwandern, hätte ich gegen einen Gnadenerweis nichts zu erwidern, da ich die Förderung der Auswanderung der Juden im gegenwärtigen Zeitpunkt für angezeigt erachte,“ muss es heißen: „Lediglich unter der Voraussetzung, daß B. sich verpflichten würde, zu einem genau bestimmten Zeitpunkt auszuwandern, hatte ich gegen einen Gnadenerweis nicht zu erinnern, da ich die Förderung der Auswanderung der Juden im vaterländischen Interesse für angezeigt erachte.“
Quambusch, den die Amerikaner zunächst seines Postens enthoben hatten, wurde im Spruchkammerverfahren als Mitläufer kategorisiert, „als einen aufrechten, mutigen Mann rehabilitiert“ und wieder in den Justizapparat aufgenommen. Er stieg zum Generalstaatsanwalt auf und erhielt die Oberaufsicht über alle Entschädigungsverfahren in der britischen Zone. 1952 wurde ihm für seine Verdienste beim Aufbau des neuen Deutschland das Bundesverdienstkreuz verliehen. Nicht nur im Fall Fritz Beckhardt spielte Quambusch eine mehr als fragwürdige Rolle, auch bei der Verfolgung anderer Wiesbadener Juden hatte er seine Hände im Spiel. Siehe dazu ausführlich den Exkurs „Quambusch“ im Kapitel Aurelie Kahn, Bewohnerin des Judenhauses Adolfsallee 30.
[69] Die Eltern wurden mit der Deportation am 10. Juni in den Osten verbracht und ermordet, ihr Sohn Hermann konnte noch rechtzeitig aus Deutschland herauskommen.
[70] Zu den Novemberereignissen in Alzey siehe ausführlich Hoffmann, „… wir sind doch Deutsche“, S.248-273.
[71] https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/5278249?s=Ludwig%20Koch&t=751042&p=0. (Zugriff: 20.08.2023).
[72] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 241, 284.
[73] Hoffmann, Wir sind doch Deutsche, S. 308.
[74] Ebd. S. 314, dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 186 f.
[75] Hoffmann, Wir sind doch Deutsche, S. 316 f., dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 333 ff.
[76] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/19191-ludwig-koch/ und https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/19192-martha-koch/. (Zugriff: 20.08.2023). Allerdings ist hier mit dem 2.9.1892 ein abweichendes Geburtsdatum angegeben. Allerdings handelt es sich mit großer Sicherheit um die Ehefrau von Ludwig Koch. Vermutlich war aus dem 29. ein 2.9. geworden und die 1 für Januar ist verloren gegangen. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz ist sie mit dem richtigen Geburtsdatum vermerkt. Dort ist aber fälschlicherweise Theresienstadt statt Auschwitz als Sterbeort von Ludwig Koch angegeben, siehe https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de900348. (Zugriff: 20.08.2023).
[77] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 242 ff.
[78] Ebd. S. 261, dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Singer. (Zugriff: 20.08.2023). Sie wohnte damals in dem Haus, in dem später die Autorin Daphne du Maurier lebte.
[79] HHStAW 409/4 312 (40).
[80] https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/5499137?s=Fritz%20Beckhardt&t=0&p=1. (Zugriff: 20.08.2023).
[81] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 274.
[82] HHStAW 685 613c (9).
[83] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 273. Spätestens 1940 war die Firma nicht mehr existent, zumindest ist ein Betriebsvermögen in der Vermögensaufstellung von Fritz Beckhardt vom 14.2.1940 nicht mehr aufgeführt, siehe HHStAW 519/3 24177 (7). Ob die Firma liquidiert oder arisiert wurde, ist den Unterlagen nicht zu entnehmen.
[84] HHStAW 685 613c (12, 14).
[85] Ebd. (14-17). Nicht nachvollzogen werden konnte die Angabe von Lorenz Beckhardt, Emil habe nur noch 50 RM nachzahlen müssen, siehe Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 289. Allerdings verzichtete der Reichsfiskus darauf, die 5. Rate in Höhe von 350 RM von Emils Frau Hannchen einzutreiben. Die hatte bereits mit den ersten vier Raten 1.400 RM zahlen müssen, siehe HHStAW 685 613d (8).
[86] HHStAW 519/3 5918 (1).
[87] Ebd. (12).
[88] Ebd. (19).
[89] HHStAW 519/3 2417 (1). Lorenz Beckhardt vermutet in seinem Buch S. 283, dass das Kürzel „JS“ für „Justizsache“ stehen würde, er es allerdings, angelehnt an die mittelalterliche Begrifflichkeit, als „Judensache“ lesen möchte. Beide Deutungen sind allerdings falsch. „JS“ steht vielmehr für „Judensicherung“, d.h. eine „JS-Akte“ war eine Judensicherungsakte, die selbstverständlich nicht der Sicherheit von Juden diente, sondern der Sicherung jüdischer Vermögen für den NS-Staat. Siehe dazu Meinl / Zwilling, Legalisierter Raub, S. 429.
[90] Stadtarchiv Wiesbaden WI / 3 983.
[91] HHStAW 519/3 2417 (7). Fritz Beckhardt musste die Vermögenserklärung im KZ unterschreiben.
[92] Ebd. (8, 9, 10).
[93] Lotte Guthmann / Opfermann gab dazu in einem Interview mit Lothar Bembenek 1986 folgende Auskunft: „Er [Berthold Guthmann – K.F.] hatte unter seinen Klienten einen Mann namens Beckhard (!), der kurz nach Verkündung der Nürnberger Gesetze wegen Rassenschande verhaftet und ins KZ gebracht wurde. Damals hat sich mein Vater für diesen Klienten eingesetzt. Er hat beim Reichsinnenminister Göring vorgesprochen, denn Herr Beckhard (!) war während des Krieges eine Zeitlang mit Herrn Göring in der Richthofen-Staffel gewesen. Mein Vater brachte vor, daß, wenn ich mich recht erinnere, die Rassenschande-Anklage gar nicht richtig nachgewiesen war und der Beschuldigte damals eigentlich keinen richtigen Prozeß bekommen hatte, sondern von der Untersuchungshaft direkt ins KZ gebracht worden war. Mein Vater bat nun dessen ehemaligen Kriegskameraden Herrn Göring, doch seinem alten Kameraden insofern behilflich zu sein, daß er ihn aus dieser Notlage befreien möge. Herr Beckhard (!)wurde dann auch sehr bald entlassen, und wenn ich mich recht erinnere, war Herr Malzbender aus Berlin behilflich, mit dem mein Vater in ähnlichen Sachen bei Auswanderungen verhandelt hatte. Es wurde ein Einreisevisum für die USA für Herrn Beckhard (!) sehr schnell zur Verfügung gestellt. Damals waren ja die Auswandererquoten für Amerika oft völlig ausgeschöpft, und Leute konnten gar nicht auswandern, selbst wenn sie gewollt hätten. Herr Malzbender kannte eben sehr viele prominente Leute, die Ehrenkonsuln von irgendwelchen kleinen südamerikanischen Ländern waren und Konsulatstempel zur Verfügung hatten, und die haben dann in einigen Fällen Visen erteilt für diese Länder, so daß ein Zwischenland-Visum leichter erhältlich war, weil ja das erste Gastland sicher sein konnte, daß dieser jüdische Einwanderer nicht bleiben und dort den Wohlfahrtsämtern zur Last fallen würde. Soweit ich mich erinnere, war die Ausreise des Herrn Beckhard (!) sehr schnell ermöglicht worden, und er ist dadurch einem viel schwereren Schicksal entgangen.“ Opfermann, Stationen, S. 25 f. Ob die Geschichte sich tatsächlich so zugetragen hat, ist nur noch schwer zu beurteilen. Zumindest sind verschiedene Angaben von Charlotte Opfermann, etwa zum Prozess und zur Inhaftierung definitiv falsch. Die Angabe, dass Berthold Guthmann sich bei Göring eingesetzt hatte, wurde allerdings auch von einer ehemaligen Angestellten der Beckhardts bestätigt. Unklar ist aber, woher sie diese Information erhalten hatte, womöglich ebenfalls von Charlotte Guthmann.
[94] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 287, 291.
[95] HHStAW 519/3 2417 (12).
[96] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 240.
[97] HHStAW 519/3 613c (7).
[98] HHStAW 685 613a (2, 79).
[99] Ebd. (80).
[100] Ebd. (7) Das Dokument ist offensichtlich falsch nummeriert oder falsch eingeordnet worden.
[101] HHStAW 519/3 32571 (3).
[102] Ebd. (1). Die folgenden Seiten der Akte beinhalten die Umzugslisten.
[103] Ebd. (22, 23).
[104] Ebd. (3), die Hypothekenbelastung für die noch nicht gezahlte Judenvermögensabgabe ist allerdings auch auf diesem Dokument noch einmal festgehalten.
[105] HHStAW 518 713 (136, 164). Dazu Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 296-306. Er gibt an, dass die Einreise nach Portugal beim ersten Versuch durch Spannungen verhindert wurde, die durch einen Konflikt bei einem Fußballspiel hervorgerufen waren. Solche Zufälle machten in diesen Zeiten jede Planung obsolet.
[106] Hier ist die Aussage von Lorenz Beckhardt, im Winter 1940/41 hätte das Ehepaar Hirsch noch immer in der Wohnung gelebt und den Urgroßeltern „die neuesten Gerüchte von der Straße“ mitgebracht, d.h. über die Judenhäuser und auch die ersten Deportationen, nicht richtig. Siehe Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 328 f.
[107] HHStAW 518 713 (164, 184). Beckhardt hingegen schreibt, dass Neumanns das Herrenzimmer ihrem früheren Hosenschneider aus Wallertheim schenkten und die Nachbarn sich über die restlichen Möbel hermachten. Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 329.
[108] Unbekannte Liste X1. Beckhardt schreibt auch hier fälschlicherweise, dass ihnen nur ein Zimmer zur Verfügung gestanden hätte, Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 329.
[109] HHStAW 519/3 2417 (14, 15, 17). Bei den Schuldnern handelte es sich fast ausschließlich um Konditoreien aus Trier.
[110] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 372.
[111] HHStAW 519/3 5918 (30, 31).
[112] Ebd. (32).
[113] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 335. Sie sollen dafür 3.080 RM überwiesen haben. Dazu auch HHStAW 518 840 (32f.), wonach Fritz Beckhardt nicht sicher war, ob seine Schwiegereltern einen solchen Vertrag abgeschlossen hatten.
[114] https://ca.jewishmuseum.cz/media/zmarch/images/3/1/9/13432_ca_object_representations_media_31966_large.jpg. (Zugriff: 20.08.2023).
[115] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 227, dazu https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4749140&ind=3. (Zugriff: 20.08.2023).
[116] Zum Ablauf des Massenmords in Treblinka siehe ausführlich Im Schatten von Auschwitz, S. 98-115.
[117] Die Erinnerungsblätter sind derzeit offline. Aber sein Enkel Kurt und sein Urenkel Lorenz Salomon haben in Yad Vashem ‚Pages of Testimony’ für Emil und seine Frau Johanna / Hannchen Neumann hinterlegt. Siehe https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_id=&s_lastName=Neumann&s_firstName=Emil&s_place=Wiesbaden&s_dateOfBirth=&cluster=true und https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_id=&s_lastName=Neumann&s_firstName=Johanna&s_place=Wiesbaden&s_dateOfBirth=&cluster=true. (Zugriff: 20.08.2023).
[118] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 403.
[119] Ebd. S. 307 f.
[120] Ebd. S. 346.
[121] HHStAW 518 713 (25).
[122] Zit. nach Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 354.
[123] HHStAW 518 713 (39). Diese absurde Gesetzesbestimmung wurde später tatsächlich aufgehoben.
[124] HHStAW 18380 (17 f.).
[125] HHStAW 518 713 (143).
[126] Ebd. (63).
[127] Ebd.
[128] HHStAW 519 A-215 A (17).
[129] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 361. Es wurde beschieden, dass er solange in dem Haus beleiben dürfe, bis er sich anderweitig etabliert habe.
[130] Ebd. S. 385. Summerich = Sonnenberg, Bormass war der jüdische Eigentümer eines großen Warenhauses in der Innenstadt, heute steht dort das Warenhaus Karstadt.
[131] Ebd. S. 417. Die Geschichte der Familie von Melitta Hillbrenner, die selbst aus einer „Mischehe“ stammte, kann hier nicht geschildert werden. Ihr Vater, Willi Hillbrenner, war als Soldat im Zweiten Weltkrieg eingesetzt, während seine katholisch getaufte Frau Edith, geborene Boldes, ihre jüdische Abstammung lange verbergen konnte. Ihren Brüdern gelang es, rechtzeitig Deutschland zu verlassen, drei von ihnen gingen mit ihren Familien nach Palästina. Sie haben einen beträchtlichen Anteil daran gehabt, dass Lorenz Samuel Beckhardt später zu seiner eigenen jüdischen Identität finden konnte. Siehe zur Familie Boldes ebd. S. 451-470.
[132] Sterberegister Wiesbaden 94 /1962.
[133] Zur Übertragung des Hauses siehe HHStAW 518 18380 (34). Der Mutter war lebenslanges Wohnrecht im Haus eingeräumt worden.
[134] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 449.
[135] Ebd. S. 324 f.
[136] Information von Lorenz Beckhardt vom 22.8.2023.
[137] Ebenso.
[138] Zum Beispiel https://www.hansenberg.de/news/werner-lahr-zeitzeuge-der-ns-zeit-zu-gast-am-hansenberg.html, https://www.cvossietzky.de/uploads/files/2017/Zeitzeugengespra%CC%88ch.pdf und https://www.hms-dtzb.de/der-jude-mit-dem-hakenkreuz/. (Zugriff: 20.08.2023). Auf den jeweiligen Seiten sind auch Fotos von Werner Lahr zu finden.