Ähnlich wie das Ehepaar Lang, waren auch Hugo und Lina Kessler im engeren Sinne keine Bewohner des Judenhauses Kaiser-Friedrich-Ring 80, denn erst nachdem die beiden wieder ausgezogen waren, hatte das Haus diese Funktion offiziell erhalten. Allerdings waren in anderen Städten im Sommer 1939, als Kesslers für vier Wochen dort wohnten, solche Judenhäuser bereits eingerichtet. Zudem gab es längst die neuen Mietgesetze und es ist nicht auszuschließen, dass auch sie damals vom Wohnungsamt dort eingewiesen worden waren. Da nach ihrem relativ kurzen Aufenthalt dort sie in keinem anderen Judenhaus mehr wohnten, sie aber gleichwohl später von Wiesbaden aus deportiert wurden, soll auch ihnen hier in diesem Kapitel gedacht werden.
Die Familie Kessler
Hugo Kessler stammte aus einer großen Familie,[1] die – so kann man wohl sagen – erst nach einer längeren Wanderung in Gießen heimisch geworden war. Hugo war ein Sohn von Moses Kessler und seiner Frau Lina, geborene Rothschild. Der Vater wurde am 18. Juni 1851 im westfälischen Hagen geboren, seine Frau Lina Rothschild am 13. Januar 1857 im südniedersächsischen Sudheim.[2] Geheiratet hatten die beiden am 2. April 1876 in Siegen,[3] aber die ersten beiden von insgesamt zehn Kindern, es war die Söhne August und Karl, kamen im westfälischen Plettenberg zur Welt.[4] Erst die Geburten der nächsten drei Kinder, Hermann, Hugo und Frieda, wurden dann in Siegen registriert. 1886 ließ sich die Familie in Gießen nieder, wo mit Paula, Friedrich, genannt Fritz, Alexander, Helene und Louis noch fünf weitere Nachkommen das Licht der Welt erblickten. Im dortigen Neuenweg 33 betrieb die Familie eine Pferdemetzgerei und nebenbei auch noch das Wirtshaus ‚Zum weißen Ross’. In geringerem Umfang widmete man sich auch dem Handel mit Vieh, sogar mit Hunden. Nahezu alle männlichen Nachkommen übten den Beruf des Pferdemetzgers aus, heirateten in Metzger- oder Viehhändlerfamilien ein und auch die Töchter blieben bei der Wahl ihrer Ehemänner zum größten Teil diesem Metier treu.
Schon bald nachdem die Geschäfte in Gießen erfolgreich ins Laufen gebracht worden waren, wurde 1889 in dem nahe gelegenen Wetzlar in der dortigen Lahnstr. 46 noch eine kleine Dependance eröffnet, die später von dem ältesten Sohn August und seiner Frau geführt wurde. 1923 verstarb zunächst Lina Kessler, dann im folgenden Jahr ihr Sohn August und dann, wiederum ein Jahr später, das Familienoberhaupt Moses.[5]
August Kessler
August Kessler, geboren am 26. April 1877,[6] der 1907 den Laden in Wetzlar übernommen hatte, war damals schon seit fünf Jahren mit Meta Königsthal verheiratet. Die beiden waren am 8. Juli 1902 in Karlshafen in Nordhessen, der Heimatstadt der Braut, die Ehe eingegangen.[7]
Es sollte nicht die einzige Verbindung zwischen diesen beiden Familien bleiben. Als Viehhändler und Metzger gingen Metas Eltern Abraham Königsthal und seine Frau Fanny, geborene Stern, dem gleichen traditionellen Gewerbe der Landjuden nach wie Kesslers und auch die Zahl der Kinder war mit neun etwa gleich groß. So ist es nicht verwunderlich, dass in den folgenden Jahren noch zwei weitere Ehen zwischen den Familien zustande kamen.
Mitglieder der Familien Kessler und Königsthal im Hof des Hauses in Gießen um 1935/36
Linda Kileishik nannte in ihrem Interview zwar die Namen der Personen, ohne zu erklären wer wer ist. Daher ist die folgende Identifizierung nicht gesichert und beruht im Wesentlichen auf Bildvergleichen.
Von links die stehenden Personen: Karl Kessler, Betty Klein, geb. Kahn, Alwin Kessler, Meta Kessler, geb. Königsthal, Friederike Kessler, geb. Königsthal, Jenny Hess, geb. Kessler, Helene Königsthal, geb. Kessler, Gustav Königsthal, Recha Kessler, Hugo Kessler, Lina Kessler, geb. Mayer.
Linda Kileishik, geb. Hess, ist das mittlere der drei Kinder, die anderen sind nicht bekannt.
Das Bild wurde aufgenommen bevor Helene und Gustav Königsthal zu ihren Töchtern nach Palästina emigrierten.
USC Shoah Foundation
In der Ehe von August und Meta Kessler waren fünf Töchter und ein Sohn geboren worden: Frieda am 7. November 1902, Martha am 30. Mai 1904 und Jenny am 26. August 1905. Während die bisher genannten alle in Gießen zur Welt kamen, erblickten Karl am 19. Januar 1907 und Recha am 22. April 1909 in Wetzlar das Licht der Welt.[8] Die Familie wurde im Holocaust fast vollständig ausgelöscht. Fünf der sechs Kinder wurden zum Teil mit ihren Partnern und Kindern ermordet.
Einen Einblick in das Leben und das Schicksal der Familie von August und Meta Kessler verdanken wir der Tochter von Jenny und Enkelin von Meta, Linda Keleishik, die noch als Kind in die USA flüchten konnte und am 10. Oktober 1996 der Shoah Foundation ein Interview gab.[9] Zu Meta Kessler, ihrer Oma, hatte Linda eine besonders intensive Beziehung, weil sie es war, die nach dem Tod ihres Ehemanns August – er war bereits am 5. März 1924 in Wetzlar verstorben –[10] die Metzgerei weitgehend selbständig führte und sich trotz allem liebevoll um die Enkelin kümmerte. Lindas Mutter Jenny selbst war berufstätig, arbeitete bei der Wetzlarer Weltfirma Leitz, sodass die Oma im täglichen Leben für Linda die eigentliche Bezugsperson und später auch ein bewundertes Vorbild war: Eine Frau, so liebevoll und zugleich so emanzipiert und tatkräftig. Das Schlachten der Pferde erledigte sie, die ja auch selbst aus einer Metzgerfamilie kam, routiniert und ohne viel Aufhebens.
Meta Kessler wohnte mit ihrer Tochter Jenny und der Enkelin über dem Laden im ersten Stock des Hauses in der Wetzlarer Lahnstr. 28 – sozusagen eine Drei-Generationen-Frauenetage, wäre da nicht noch der ein Jahr ältere Bruder von Linda gewesen. Alfred war am 6. Februar 1926,[11] Lina, die aber nur Linda genannt wurde, nach eigenen Angaben am 5. Mai 1927 geboren worden.[12] Von ihrem Ehemann Max Hess aus Kierspe, den sie am 15. Oktober 1923 geheiratet hatte, ließ Jenny sich 1928 wieder scheiden.[13] Der Grund dafür wird die wiederholte Straffälligkeit ihres Mannes gewesen sein, der wegen Betrugs mehrfach angezeigt worden und inhaftiert worden war. Zu dieser Zeit lebte die Familie noch in Kierspe, dem Heimatort des Mannes, dann von 1924 bis 1927 in Lüdenscheid, wo sie in der Schillerstr. 13 ihren Viehhandel betrieb. Dort war auch Alfred zur Welt gekommen. Noch vor der Geburt von Linda war die schwangere Mutter in ihr Elternhaus nach Wetzlar zurückgekehrt.[14]
Im oberen Stockwerk wohnte Metas älteste Tochter Frieda, die am 10. Dezember 1925 in Wetzlar den evangelisch getauften Heinrich Janz geehelicht hatte.[15] Er brachte aus einer ersten, inzwischen geschiedenen Ehe zwei Kinder mit nach Wetzlar. Offenbar war durch die Eheschließung der Mann Inhaber des Geschäfts geworden, zumindest prangt sein Name deutlich lesbar auf einer Fotografie aus der damaligen Zeit im Schaufenster des Ladens. Aber auch die Ehe von Frieda scheiterte. Wann sich das Paar trennte, ist nicht bekannt, immerhin ist der offizielle Scheidungstermin, der 30. Januar 1939, im Heiratsregistereintrag von Wetzlar notiert.[16] Unbekannt ist, ob der Druck der NSDAP auf solche Mischehen den Ehemann zu diesem Schritt bewogen hatte. Frieda verlor damit zugleich ihren relativen Schutz, da die Ehe kinderlos geblieben war. Nach der Scheidung verließ sie Wetzlar und zog nach Wiesbaden. Die Gestapokarteikarte, die hier für sie ausgestellt wurde, enthält zwar kein Ankunftsdatum, aber bereits den Vermerk, dass sie geschieden sei. Sie muss also nach dem Januar 1939 gekommen sein. Welche Absicht sie mit Ortswechsel verband, ist nicht bekannt. Möglicherweise war sie in der Hoffnung gekommen, als Hausgehilfin in einem der vielen jüdischen Haushalte eine eigenständige Arbeit zu finden. Vielleicht hoffte sie auch, bei ihrem Onkel Hugo wohnen zu können. Eingemietet hat sie sich dann allerdings in der Mauritiusstr. 1.
Frieda kehrte schon am 5. März 1939 – so der Eintrag auf ihrer Gestapokarteikarte – wieder nach Gießen, genauer nach Beuren bei Gießen, zurück, wo sie wohl zunächst als Hausangestellte in einer Matzenbäckerei aushalf. Ob die Angabe der Stadt Gießen richtig ist, dass sie erst 1940, nachdem ihr Arbeitgeber in die USA emigrierte, in die Stadt selbst, in die Ludwigstr. 14 zog , ist insofern fraglich, als sie laut einem Eintrag im Giessener Adressbuch von 1939 bereits in demselben Jahr dort wohnte. Vermutlich schon in Vorbereitung auf die kommenden Deportationen musste sie später in das Judenhaus in der Walltorstr. 42 umziehen, konnte dann aber zuletzt doch noch in ihrem Großelternhaus im Neuenweg unterkommen, in dem ihr Onkel Friedrich lebte.[17]
Das alles hatte ihre Nichte, die kleine Linda, nicht mehr erlebt, aber sie erfuhr noch am eigenen Leib, welcher Wandel sich mit dem Jahr 1933 auch in Wetzlar, wo es nur relativ wenige Juden gab, in kürzester Zeit vollzog. Die anderen Kinder wendeten sich sofort von ihr ab, Spielkameraden hatte sie nicht mehr und den Weg in die Schule musste sie alleine gehen. Schon 1933, so erinnerte sie sich, wurden bei ihnen zu Hause die Scheiben eingeschlagen. Der Laden, der bisher eine sichere wirtschaftliche Basis dargestellt hatte, brachte faktisch keine Umsätze mehr, sodass man schon früh auf die innerfamiliäre Solidarität und auf Ersparnisse angewiesen war. Linda wollte angesichts dieser alltäglichen Ausgrenzungen schon als kleines Kind nur noch weg aus Deutschland. Und tatsächlich bot sich dann eine solche Gelegenheit, als sie bei ihrem Onkel Friedrich in Gießen zu Besuch war. Zufällig war ein Mann dort im Gasthaus, der ihr bzw. ihrer Mutter anbot, sie nach Amerika bringen zu können. Linda muss schon damals ein äußerst toughes Mädchen gewesen sein. Mit acht Jahren fuhr sie alleine nach Stuttgart und wurde dort von einer Frau am Bahnhof abgeholt, um die notwendigen Papiere in der Botschaft zu besorgen. Alleine trat sie dann wieder den Rückweg nach Wetzlar an. Bis zuletzt war sie sich sicher, dass sie die Reise nach Übersee alleine schaffen würde. Aber dann als der Abschied kam, brach alles zusammen. Die Trennung von der geliebten Oma noch in Wetzlar, dann die Trennung von der Mutter auf dem Hamburger Bahnhof, die selbst weinend auf dem Bahnsteig neben dem Zug herlief, der Linda nach Bremen zum Schiff bringen sollte. Es handelte sich um keinen Kindertransport, wo sie zumindest in einer Gruppe aufgehoben gewesen wäre.[18] Sie war völlig allein, getrennt von allem was ihr bisher lieb und teuer gewesen war.
Auch auf dem Schiff, auf dem es zwar so etwas wie Betreuer gegeben haben soll, blieb sie weiterhin völlig auf sich gestellt. Nur eine kleine Kammer unter Deck, direkt neben den lärmenden Maschinen, die ihr den Schlaf raubten, war ihr zugewiesen worden. Auch das Schiff war kein jüdisches Auswandererschiff, wo sie vielleicht Trost oder Anschluss bei anderen Familien hätte finden können, sondern ein ganz normales Passagierschiff, auf dem die Reisenden die große Fahrt übers Meer genossen, sofern sie nicht seekrank wurden. Als sie dann in New York ankam, konnte sie aber zumindest ein wenig die Euphorie der Mitpassagiere beim Anblick der Freiheitsstatue und der Skyline von New York teilen.
Aber das Schlimmste stand ihr noch bevor. Die Familie, der sie in Boston zugeteilt wurde, scheint nur aus Sadisten bestanden zu haben. Zumindest ist das die Erinnerung, die sie an diese folgenden schweren sieben Jahre später hatte. Besonders die „Pflegemutter“ und deren adoptierter Sohn behandelten sie wie Dreck – man kann es kaum anders sagen. Sie wurde permanent beschimpft, auch als Jüdin mit einem eindeutig antisemitischen Zungenschlag, musste den ganzen Tag im Haushalt arbeiten und hatte kaum die Möglichkeit Kontakt unter Gleichaltrigen zu finden. Unter diesen Bedingungen die neue, völlig fremde Sprache zu lernen, war verständlicherweise nicht einfach. Am übelsten muss sich – vielleicht aus Eifersucht – der „Bruder“ ihr gegenüber verhalten haben. Einmal zerschnitt er eines der wenigen Bilder ihrer Familie, die sie als Erinnerung mit in die Fremde hatte nehmen können. Das Wort, das sie am häufigsten benutzte, wenn sie über diese Zeit sprach, war „awful“ – „awful, awful, awful“. Zwar hatte sie damals noch brieflichen Kontakt mit Zuhause, aber geschrieben, wie es ihr wirklich erging, hat sie der Mutter nie.
Die Ehe, die sie noch recht jung im Jahr 1945 einging – ihr Mann Henry Kileishik, den sie auch erst im selben Jahr kennen lernte, war gerade aus dem Krieg heimgekehrt – scheint auf den ersten Blick eine reine Flucht aus dieser Hölle gewesen zu sein. Aber tatsächlich bedeutete sie offenbar viel mehr, denn es muss eine sehr glückliche Beziehung geworden sein. Sie führten ein sehr einfaches Leben, ohne Reichtum und Luxus – ihr Mann war bei der Post beschäftigt -, aber dennoch zufrieden.
1945 erfuhr sie auch, was mit ihrer Mutter, ihrer Oma und all den anderen Familienmitgliedern geschehen war. Im Juni 1942 hatte sie noch ein Telegramm von der Mutter erhalten, in dem diese ihr schrieb, dass sie jetzt „wegmüsse“ – was das tatsächlich bedeutete, konnte Linda damals nicht ahnen.
Am 4. Juni hatte die Frankfurter Gestapo die Landräte der in Frage kommenden Kreise des Regierungsbezirks Wiesbaden, darunter auch Wetzlar, informiert, dass eine „Evakuierung von Juden nach dem Osten“ anstehen würde. Sie hätten dafür Sorge zu tragen, dass ein Transport aus ihrem jeweiligen Kreis spätestens am 10. Juni 1942 in der Großmarkthalle eintreffen müsse, damit am folgenden Tag der Weitertransport „in den Osten“ möglich sei.
Unter ihnen waren aus dem Haus in der Lahnstr. 28 auch Meta Kessler und ihre Tochter Jenny Hess, die Mutter von Linda, mit dem inzwischen 16jährigen Sohn Alfred, Lindas Bruder. Er hatte 1940 noch versucht in einer Werkstatt der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt das Schlosserhandwerk zu erlernen, vermutlich mit dem Ziel über Holland nach Palästina zu gelangen.[19] Der Plan scheiterte jedoch und so musste auch er den Zug in die Gaskammern besteigen.
Auf der Transportliste stand auch Karl Kessler, der einzige Sohn von August und Meta Kessler. Der am 19. Januar 1907 Geborene [20] hatte ebenfalls das Metzgerhandwerk erlernt und sollte vielleicht sogar ursprünglich das Geschäft in Wetzlar später einmal übernehmen. Diese Möglichkeit blieb ihm unter der Herrschaft der Nationalsozialisten verwehrt.
Als auch in Wetzlar im Gefolge der Reichspogromnacht viele männliche Juden verhaftet wurden, traf es auch ihn. Eine Nacht musste er im dortigen Polizeigefängnis verbringen, dann brachte man auch ihn in das Konzentrationslager Buchenwald, wo er unter der Häftlingsnummer 4743 registriert wurde. Verschiedene Verwandte schickten ihm Geld, um ihm das Leben dort erträglicher zu machen.[21] Erst am 12. April 1939 entließ man ihn nach Hause in die Wetzlarer Lahnstr. 28.[22].Vermutlich blieb er dort auch wohnen, bis auch er drei Jahre später die Aufforderung erhielt, sich für die „Evakuierung in den Osten“ bereitzuhalten.
Die Zahl der aus dem Kreis Wetzlar deportierten Juden betrug 75, die Gesamtzahl etwa 1250.[23] In der Frankfurter Großmarkthalle, der zentralen Sammelstelle für die Opfer, die aus den unterschiedlichsten Städten herangekarrt wurden, mussten alle nach einem genau geplanten logistischen Verfahren die letzten organisatorischen Abläufe über sich ergehen lassen: Erniedrigende Leibesvisitationen, die Abgabe der Vermögenserklärungen und der Lebensmittelkarten usw.[24]
Am Morgen des 11. Juni verließ der Transport das Bahngleis in der Großmarkthalle und fuhr nach Lublin in Polen. Karl gehörte zu denjenigen, die dort zum Aufbau des Konzentrationslagers Majdanek selektiert wurden. Während die übrigen Insassen nach ihrer Ankunft im Gas von Sobibor umkamen, „schenkte“ man ihm noch rund sechs Wochen Leidenszeit in Majdanek. Dort kam er am 29. Juli ums Leben – auf welche Weise, ist nicht bekannt.[25] Die Todesdaten der im Gas Ermordeten sind nicht bekannt, aber es wird wahrscheinlich der Ankunftstag des Transports, der 13. Juni, in diesem reinen Vernichtungslager gewesen sein, bestenfalls wenige Tage später.[26]
Zu einer sehr engen innerfamiliären Ehe kam es zwischen Martha, der Schwester von Frieda und Jenny, die Anfang der zwanziger Jahre ihren Onkel Louis heiratete. Der zeitliche Abstand zwischen dem erstgeborenen August, dem Vater von Martha, und dem letztgeborenen Louis / Ludwig betrug fast zwanzig Jahre, sodass es zumindest im Hinblick auf das Alter möglich war, dass er die nur acht Jahre jüngere Nichte heiraten konnte.[27] Dass diese Ehe aus verständlichen Gründen von der Familie nicht gebilligt wurde, ist dennoch nachvollziehbar.[28] Louis hatte sich am 29. Juni 1920 von Gießen abgemeldet. In Weißenfels, der heute zu Sachsen-Anhalt gehörenden Stadt westlich von Leipzig, lebte das Paar in den folgenden fünf Jahren.
Recha, die jüngste Tochter von August und Meta Kessler, war 1927 mit 18 Jahren nach Gießen zu ihrem Onkel Friedrich gezogen, der das Haus der Eltern im Neuenweg 33, die Metzgerei und auch die Gastwirtschaft des Vaters Moses übernommen hatte. Offenbar war Recha ledig geblieben und arbeitete vermutlich im Betrieb des Onkels mit. Später, ab November 1940, wurde sie zur Zwangsarbeit bei der Firma Poppe eingesetzt.[29] Sie konnte allerdings bis zu ihrer Deportation im Haus des Onkels wohnen bleiben, wo inzwischen auch ihre Schwester Frieda untergekommen war.
Friedrich Kessler
Ihr Onkel Friedrich, genannt Fritz Kessler, der ebenfalls zuletzt vor seiner Deportation für fast ein Jahr noch als Zwangsarbeiter im Straßenbau eingesetzt wurde,[30] war am 12. Juni 1889 als siebtes Kind von Moses und Lina Kessler geboren worden.[31] Er hatte das ererbte Areal in Gießen ganz wesentlich erweitert und auch die Nachbargrundstücke Neuenweg 29 und 31, jeweils bebaut mit den typischen Hofreiten, erworben.[32] Das lässt darauf schließen, dass die Metzgerei und auch die Gastwirtschaft – inzwischen war auch noch ein Tabakwarenladen dazugekommen – sehr gute Umsätze erzielten. Das bestätigte auch seine Nichte Meta Königsthal, die Tochter von Helene und Gustav Königsthal, die in ihrer Jugend ein ganzes Jahr bei ihrem Onkel in Gießen wohnen durfte. Verheiratet war auch Friedrich mit einer Tochter aus der Familie Königsthal. Friedericke, geboren am 6. März 1896 in Hofgeismar, war die Schwester von Meta Königsthal, der Ehefrau seines Bruders August. Eigentlich war Meta daher so etwas wie eine Doppelnichte, denn Friedrich Kessler war der Bruder ihrer Mutter und dessen Frau Friedericke die Schwester ihres Vaters – komplizierte Verhältnisse allemal. Sie schrieb in ihren Erinnerungen:
“Das Jahr in Gießen war für mich in allen Teilen sehr angenehm. Mein Onkel war sehr vermögend; es gab kaum ein Wochenende, an dem wir nicht irgendwohin fuhren, nach Bad Nauheim sicher einmal im Monat, nach Wiesbaden oder einfach spazieren an der Lahn oder den Rhein entlang, sehr oft auch nach Frankfurt a.M. Meine Tante hatte ein Abonnement für das dortige Theater, und sooft ich wollte, nahm sie mich voller Freude mit. Auch in der Schule war ich gern gesehen. In meiner Klasse gab es noch einige jüdische Mitschüler und –schülerinnen, aber meine beste Freundin war eine Christin.“[33]
Ganz offenbar lebte die Familie vor 1933 völlig integriert, nahm Teil an dem, was man mit deutscher Kultur bezeichnen würde. Man fühlte deutsch und auch bei den Gästen des Wirtshauses wurden keinerlei Unterschiede im Hinblick auf das Bekenntnis gemacht. Gleichwohl erwähnte die Großnichte Linda, die ebenfalls als Kind sehr oft in Gießen war, in ihrem Interview, dass man dort viel mehr auch unter jüdischen Menschen, als in Wetzlar war, es offenbar trotz der Integration so etwas wie eine jüdische Identität in der Familie Kessler gegeben haben muss. Vielleicht war die auch durch Friedrichs Frau eingebracht worden, die zumindest mütterlicherseits aus einer eher strenggläubigen, aber nicht orthodoxen Familie stammte.
Aus der am 25. Mai 1914 geschlossenen Ehe von Friedrich und Friedericke war am 18. April 1915 der Sohn Alwin, ihr einziges Kind, hervorgegangen.[34] Alwin, ebenfalls Metzger, verließ Gießen 1934 und zog zunächst nach Köln. Am 19. Dezember 1938, wenige Wochen nach der Reichspogromnacht, bestieg er in Bremen das rettende Schiff, das ihn innerhalb von zehn Tagen nach New York in Sicherheit brachte.[35] 1941 trat er in die Armee ein und kämpfte gegen das Regime, das seine Eltern und Verwandten später ermordet und ihn gezwungen hatte, seine Heimat zu verlassen. Nach dem Ende des Krieges ließ er sich in New York nieder und gründete eine Familie. Seine Frau Sophie, geborene Braunschweig, war am 26. Mai 1920 in Sulzburg in Bayern geboren worden und im Juli 1938 ebenfalls in der Ostküstenmetropole gelandet.[36] Sie gebar ihm die beiden Töchter Frances und Linda, die bei der Volkszählung 1950 sechs Jahre bzw. ein Jahr alt waren.[37]
Alwin Kessler selbst verstarb in New York am 29. September 1982,[38] seine Frau überlebte ihn um viele Jahre. Als sie am 26. September 2018 ebenfalls in New York zu Grabe getragen wurde, war sie fast einhundert Jahre alt geworden.[39]
Was Alwins Eltern davon abgehalten hat, ebenfalls rechtzeitig auszuwandern, ist im Nachhinein nicht mehr wirklich zu erklären. Am Geld wird es nicht primär gelegen haben, eher an der Einschätzung der tatsächlichen Bedrohung. Wer sich so sehr als Deutscher verstand, wird lange nicht geglaubt haben, dass ihm etwas geschehen könnte – bis es zu spät war, bis die Länder ihre Grenzen schlossen und die Reichsregierung 1941 ein Auswanderungsstopp verkündete.
Im August 1942 wurden die Deportationen besonders der älteren Menschen auch aus Mittelhessen und anderen hessischen Gebieten geplant. Die Reichsvereinigung war aufgefordert worden, die entsprechenden Listen bis Mitte September zu erstellen.[40] Am 15. und 16. September wurden dann aus den verschiedensten Orten Oberhessens etwa 600 Jüdinnen und Juden nach Gießen und Friedberg verbracht und dort in Schulen, die freigeräumt und mit Stroh ausgelegt worden waren, gesammelt. Für die Gießener Juden war die nahe am Bahnhof gelegene Goetheschule dafür ausgewählt worden. Wie üblich gab es genaue Vorgaben, was mitzunehmen und was zurückzulassen war. Viele nutzten die verbleibende Zeit, um einen letzten Abschiedsgruß an Verwandte zu schreiben. Solche traurigen Briefe sind in dem genannten Werk mehrfach zitiert.[41] Aber neben allem geschilderten Leid, kann man darin auch lesen, wie hilfsbereit die Menschen untereinander waren, besonders gegenüber den vielen alten und gebrechlichen. Von Mitgliedern der Familie Kessler sind solche Zeugnisse leider nicht erhalten geblieben.
Zwei Tage später wurden sie per Zug nach Darmstadt gebracht, wo der eigentliche Transport zusammengestellt wurde. Ludwig Stern aus Gießen schrieb über den Weg von der Schule zum Bahnhof:
“Beim Verladen im Giessener Bahnhof bekamen die Juden bereits einen kleinen Vorgeschmack von dem, was sie zu erwarten hatten. Es hagelte nur so von Schimpfworten übelster Art, von Fußtritten und Schlägen auf Männer, Frauen und Kinder. Die Eisenbahnwagen wurden verschlossen, die Fenster durften nicht geöffnet werden.“[42]
In Darmstadt war wieder eine Schule in Bahnhofsnähe für die Ankömmlinge geräumt worden. Dort verbrachten sie unter unsäglichen Bedingungen die nächsten zwei Wochen. Am 27. September fuhr dann der erste Zug mit den älteren Menschen nach Theresienstadt ab. Friedrich Kessler, seine Frau Friedericke und die Nichten Recha und Frieda, die Töchter seiner Schwester Meta, wurden dem zweiten Transport zugeordnet, der nach Plan eigentlich nach Sobibor hätte fahren sollen, wegen Schäden an den Bahngleisen hinter Lublin dann aber nach Treblinka umgeleitet wurde.[43] Man muss davon ausgehen, dass alle vier unmittelbar nachdem sie unter dem Vorwand, sie müssten vor dem Weitertransport in das eigentliche Arbeitslager noch desinfiziert werden, in die dort erst kürzlich fertig gestellte und von den Abgasen eines Panzermotors gespeiste Gaskammer geführt und ermordet wurden.
Karl und Louis Kessler
Auch Karl, der zweitälteste Sohn von Moses und Lina Kessler, war nicht nur ebenfalls Pferdemetzger geworden, sondern auch er hatte am 18. August 1902 eine Frau geheiratet, die aus dem eigenen Familienkreis stammte, allerdings genetischen weniger nahe als die Verbindung zwischen seinem jüngeren Bruder Louis und seiner Nichte Martha. Es handelt sich um Frieda Kahn, die am 10. Januar 1880 in Gießen geborene Tochter des Schneidermeisters Jakob Kahn und seiner Frau Jeanette, geborene Rothschild.[44] Jeanette war 1847 in Lollar geboren worden und die Schwester von Lina, der Frau von Moses Kessler, deren Mädchenname daher logischerweise ebenfalls Rothschild war.
1902 waren Karl und Frieda Kessler nach Lüdenscheid gezogen,[45] ihr einziges Kind, die Tochter Betti, kam am 6. März 1913 aber in Sudheim, dem Heimatort der Rothschilds zur Welt.[46]
Möglicherweise bedingt durch den vorausgegangenen Krieg war das Paar 1919 wieder nach Gießen, genauer in das nahe gelegene Wieseck zurückgekehrt.[47]
In dem Familienstreit wegen der Ehe seine Bruders mit ihrer Nichte Martha hatte Karl offenbar zu seinem Bruder gehalten. Nachdem Louis sich am 26. Juni 1920 nach Weißenfels abgemeldet hatte, war auch Karl mit Familie dorthin gezogen. Zusammen betrieben sie dort eine Pferdehandlung und –metzgerei sowie eine Gastwirtschaft mit dem Namen „Kleiner Bahnhof“.[48]
Wie lange die beiden Familien gemeinsam in Weißenfels blieben, ist nicht mehr mit Sicherheit zu klären. Bis etwa 1928, dem Jahr, in dem Karl Kessler am 2. Juli verstarb,[49] existierte vermutlich die gemeinsame Firma der Brüder, zumindest ist sie im Adressbuch des genannten Jahres noch aufgeführt. Während die verwitwete Frieda auch danach noch mit ihrer Tochter in Weißenfels blieb,[50] zog Louis mit seiner Familie nach Siegen. Dort erscheint er erstmals im Jahr 1928 im Adressbuch der Stadt. Allerdings ließ er bereits im Oktober 1925 in der Siegener Zeitung eine Anzeige schalten, in der er sich als Abnehmer von Schlachtpferden zu höchsten Preisen anbot. Da er auch eine Geschäftsadresse, der Kornmarkt 32, und sogar eine Telefonnummer angab, muss man davon ausgehen, dass er 1925 schon in Siegen wohnte und vielleicht nur noch mit einer Kapitaleinlage an dem Weißenfelser Geschäft beteiligt war.
Ihr Sohn Karl soll an einem landwirtschaftlichen Trainingsprogramm für seine Auswanderung nach Palästina teilgenommen haben, allerdings ohne Erfolg, sodass ihm die Emigration dorthin verwehr blieb.[51] Am 28. April 1942 wurde die gesamte Familie über Dortmund nach Zamosc im sogenannten Generalgouvernement deportiert, wo zuvor die dort lebenden einheimischen Juden und auch die Polen in Konzentrations- bzw. Arbeitslager verbracht worden waren. Die Region hatten die Nazis als Modellprojekt für den geplanten Germanisierungsprozess im Osten ausgewählt, weshalb auch die jetzt dort zugeführten Jüdinnen und Juden aus Deutschland nur übergangsweise dort bleiben sollten. Im Oktober 1942 wurde das Ghetto liquidiert und spätestens jetzt wurde auch die Familie von Louis Kessler ermordet. Wo sie den Tod fand, ist nicht bekannt. [52]
In Siegen wurden am 16. Dezember 2010 vier Stolpersteine zu ihrer Erinnerung vor ihrem Haus am Kornmarkt 32 verlegt.
Karl Kessler blieb es durch seinen Tod 1928 erspart, die Zeit des Nationalsozialismus noch erleben zu müssen, unbekannt ist aber, was mit seiner verwitweten Frau und dem Kind geschah.
Hermann Kessler
Auf Karl Kessler folgte am 14. April 1881 sein Bruder Hermann. Er war das erste Kind, das in Siegen zur Welt kam, woraus zu schließen ist, dass Moses Kessler und seine Familie um 1878 von Plettenberg in das Siegerland verzogen sind. Hermann erreichte allerdings nicht einmal das Alter von einem Jahr. Er verstarb am 28. Januar 1882 in seiner Geburtsstadt.[53]
Hugo, der spätere Bewohner des Judenhauses in Wiesbaden, wurde am 14. März 1883 ebenfalls in Siegen geboren.[54] Ihm und seiner Familie ist unten ein eigener, ausführlicher Abschnitt gewidmet.
Frieda Süskind, geb. Kessler
In Siegen kam zwei Jahre später am 5. Juni 1885 auch Frieda zur Welt.[55] Nachdem die Eltern nach Gießen verzogen waren, heiratete sie dort den Kaufmann Heymann Hermann Süskind. Er war am 13. Mai 1883 in Lingen geboren worden, lebte aber inzwischen mit seinen Eltern Bernhardt und Eva Süskind in Hannover. Nach der Eheschließung am 14. Juni 1905, bei der Friedas Brüder, die Metzger August und Karl, als Trauzeugen fungierten, führte auch dieses Paar, das seinen Lebensunterhalt mit einem Manufaktur- und Schreibwarenhandel, zeitweise auch durch den Handel mit Kleidern, Lumpen, Haaren, Fellen und anderem Trödel verdiente, ein eher unstetes und sicher auch eher ärmliches Leben. Zunächst hatten sie offenbar für ein paar Jahre einen Wohnsitz in Lüdenscheid, wo sie eine Metzgerei betrieben und wo auch die ersten beiden Kinder, die Söhne Walter und Karl Max zur Welt kamen.[56] Mit Robert Salzberg nahmen sie noch einen Pflegesohn an, der auf Hawaii die NS-Zeit überlebte.[57]
Von Lüdenscheid zogen sie in die Niederlande, das später auch zum leider vergeblichen Fluchtpunkt für mehrere andere Familienmitglieder wurde. Dort blieben sie aber zunächst noch nicht lange. Weitere Stationen auf ihrem rastlosen Lebensweg waren dann Münster und Königsborn in der Nähe von Unna, wo am 4. Juni 1911 ein weiterer Sohn namens Alfred geboren wurde.[58] Auch er wechselte als Erwachsener ständig seinen Wohnsitz, pendelte sogar mehrfach zwischen Holland und verschiedenen Orten in Deutschland, darunter auch Danzig, wohnte dann zwischenzeitlich auch mal bei den Eltern in Gießen. Ihm gelang es, vermutlich in den Niederlanden, sich der Verfolgung zu entziehen. Zumindest lebte er dort noch nach dem Ende des Krieges. Zwei weitere Kinder von Heymann und Frieda Süskind starben noch am Tag ihrer Geburt, Erna 1917 und ein namenloser Sohn ein Jahr später in Gießen.
Dorthin waren Frieda und Heymann Süskind inzwischen wieder zurückgekehrt, um aber bald darauf wieder nach Münster in Westfalen zu ziehen. Nach einem erneuten Zwischenaufenthalt in Gießen ließen sie sich im Saarland nieder, kamen dann 1929 endgültig zurück in die mittelhessische Stadt an der Lahn. Dort verstarb Heymann Süskind am 29. August 1931.[59]
Nach seinem Tod lebte seine Witwe zwei Jahre in Koblenz, kam erneut kurz zurück nach Gießen, von wo aus sie sich am 29. Mai 1934 nach Düsseldorf abmeldete.
Angesichts dieses eher unsteten familiären Hintergrunds ist die Karriere, die ihr ältester Sohn Walter machte, umso erstaunlicher.[60] Nach Abschluss einer kaufmännischen Ausbildung reüssierte er als Handelsvertreter für billige Margarine, wurde schon mit 23 Jahren Direktor des ‚Preußisch-polnischen Margarine-Handelsverbandes’ und stieg dann noch in eine führende Position des Weltkonzerns Unilever in den Niederlanden auf. Das war allerdings zu einem Zeitpunkt, als er und seine Familie Deutschland bereits verlassen hatten.
Seine Familie bestand zunächst aus seiner Frau Johanna Natt, die am 11. Januar 1906 in Gießen geborene Tochter eines dortigen Metzgers. Am 5. Juni 1930 hatte er sie in Saarbrücken geheiratet.[61] Ihre Tochter Yvonne kam erst neun Jahre später am 28. März 1939 in holländischen Bergen op Zoom zur Welt,[62] wohin die Familie sich im Jahr zuvor geflüchtet hatte. Ebenfall gehörten die jeweiligen verwitweten Mütter von Walter und Johanna zu ihren Mitbewohnern. Bergen op Zoom war allerdings nur die offizielle Adresse, tatsächlich wohnten sie in der Prinsengraacht 51, etwa 500 Meter vom Versteck der Familie Frank entfernt.
Als die deutschen Besatzer 1941 begannen, systematisch die einheimischen und geflüchteten Juden zu jagen und in das Sammellager Westerbork zu bringen, wurde Walter Süskind, der in organisatorischen Dingen beschlagene Unilever-Manager, vom Amsterdamer Joodse Raad, mit der Aufgabe betraut, die Sammelstelle in Amsterdam zu leiten, die im ehemaligen Theater „De Hollandse Schouwburg“ eingerichtet worden war. Durch diese perfide Vorgehensweise, die auch in Deutschland die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden oder der Ghettos im Osten in unerträgliche Gewissenkonflikte brachte, wurde Walter Süskind für viele Juden zum Kollaborateur, zum Mittäter. Er war es, der sie in den Zug nach Westerbork setzte, für viele die letzte Station vor Auschwitz oder Treblinka. So verständlich dieses Urteil ist, es wird Walter Süskind nicht gerecht, denn diese Funktion bot auch Möglichkeiten. Es sollen an die 3000 Jüdinnen und Juden durch ihn vor dem sicheren Tod bewahrt worden sein, darunter allein etwa 1000 Kinder. Er überzeugte die Eltern, ihre kleinen Kinder, oft noch Säuglinge, die nicht registriert waren, unmittelbar vor der Deportation durch geschickte Täuschungsmanöver in die Hände holländischer Familien zu geben, die sie dann als eigene Kinder aufzogen.
Nur seine eigene Tochter, die kleine Yvonne, aber auch sich und die übrigen Familienmitglieder konnte er nicht retten. Bereits im September 1943 war Walter Süskind erstmals inhaftiert, aber dann doch wieder entlassen worden, um seine Arbeit als Organisator der Deportationen fortzusetzen. Nachdem die Sammelstelle im November 1943 geschlossen wurde, war diese Aufgabe hinfällig und er nicht länger gebraucht.
Der Transport mit der Nr. XXIV/7 verließ das Lager Westerbork am 4. September 1944 mit dem Ziel Theresienstadt. In den Viehwaggons, in die jeweils etwa 80 Menschen eingepfercht worden waren, saßen auch Walter, Hanna und Yvonne Süskind. Den gleichen Weg hatten Hannas und Walters Mütter schon am 2. August 1944 zurückgelegt.[63] Gemeinsam traten sie dann am 23. Oktober von dort die Fahrt nach Auschwitz an. Zumindest die Großmutter, Mutter und Yvone wurden – so Zeugenaussagen – vom Zug aus direkt in die Gaskammern gezwungen, Walter wurde einer kleinen Gruppe von Zwangsarbeitern zugeordnet. Er soll sogar noch die Befreiung des KZs durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 erlebt haben, dann aber vier Wochen später am 28. Februar an Entkräftung verstorben sein.[64]
Paula Kahn, geb. Kessler
Friedas jüngere Schwester Paula, geboren am 2. Juni 1887 in Gießen, heiratete ebenfalls im näheren Familienkreis. Am 1. November 1906 ehelichte sie ihren Schwager Adolf Kahn, den Bruder von Karls Frau Frieda Kahn. Dieser war am 26. Juli 1886 wie seine Schwester in Gießen geboren worden.[65] Wie bereits erwähnt, war sein Vater Schneider, dennoch lernte Adolf nach Beendigung der Schule das Metzgerhandwerk. 1905 war er vermutlich nach der üblichen Wanderzeit nach Gießen zurückgekommen und die Ehe mit seiner bereits schwangeren Braut eingegangen. Ihre Tochter Betty kam am 13. Januar 1907 in Gießen zur Welt.[66] Bald danach, verließen sie aber die Stadt und zogen zunächst nach Siegen, wo am 20. September 1908 ihr Sohn Siegfried zur Welt kam.[67] Anschließend wechselten sie erneut ihren Wohnort und gingen nach Hanau, dann wieder zurück nach Gießen.[68]
Im Februar 1911 kam die Familie nach Wiesbaden, wo sie laut der Adressbücher von 1911 und 1912 in der Kirchgasse 17 im ersten Stock des Hinterhauses wohnte. Welchem Erwerb Adolf in Wiesbaden nachging, ließ sich nicht mehr feststellen, aber vermutlich war er hier in einer Metzgerei angestellt. Anschließend setzte die Familie ihre Wanderung quer durch Deutschland fort. Über Lennep bei Remscheid kam sie im September 1914 nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erst einmal wieder zurück nach Gießen, wo sie im Haus von Paulas Bruder Friedrich eine Bleibe fand.[69] Nach dem Ende des Krieges, zu dem Adolf Kahn eingezogen wurde, zog die Familie 1919 nach Lüdenscheid, wo sie in der Konkordiastr. 4 eine Pferdemetzgerei und eine Pension eröffnete.[70] Beide Unternehmen müssen sich dort sehr positiv entwickelt haben, denn bald konnten Kahns zwei weitere Häuser in der Stadt, die Häuser Schillerstr. 11 und 13, erwerben.
Ihre Tochter Betty heiratete 1928 mit Herbert Klein aus Witten ebenfalls einen Pferdemetzger. In der Heimatstadt des Bräutigams übernahm das Paar das väterliche Geschäft in der Oberstr. 7. Am 5. Oktober 1929 wurde ihnen die Tochter Juliane und am 8. Mai 1931 eine weitere Tochter mit Namen Ruth geschenkt.[71]
In Schwierigkeiten kamen Adolf und Paula Kahn wegen mehrfacher Vergehen ihres Sohnes Siegfried, der wegen Sexualdelikten bereits in der Zeit der Weimarer Republik mit dem Gesetz in Konflikt geraten und mehrfach verurteilt worden war.[72] Dass der „Stürmer“ das aufgriff, um seine Hetzkampagne gegen die Juden überhaupt zu befeuern, war vorauszusehen. In einem ausführlichen Artikel wurden die keinesfalls zu rechtfertigenden Taten des damals schon erwachsenen Mannes – er soll zwei in der elterlichen Pension angestellte Mädchen „geschändet“ haben – genüsslich ausgebreitet, wobei die Taten selbstverständlich nicht als individuelle Devianz, sondern als jüdisches Rassemerkmal gedeutet wurden. Noch waren die Nürnberger Gesetze, die eine solche, auch beidseitig gewollte Verbindung als „Rassenschande“ zum Straftatbestand erhoben, nicht verabschiedet, aber als Legitimation für solche Gesetze diente auch der Lüdenscheider Fall allemal.
Dennoch gelang es Siegfried als einzigem in der Familie, rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen. Laut Angabe in der Residentenliste hatte er sich 1938 nach Palästina absetzen können. Näheres ist über sein weiteres Schicksal aber nicht bekannt.[73] Die vierköpfige Familie seiner Schwester, deren Geschäft in der Reichspogromnacht völlig demoliert worden war, wurde am 30 April 1942 von Dortmund in das Ghetto Zamosc deportiert, wo zu einem unbekannten Datum alle vier ihr Leben verloren.[74]
Adolf Kahn, der Vater von Betty und Siegfried, war bereits im Juni 1938, also noch vor der Reichspogromnacht, verhaftet und in das KZ Sachsenhausen überstellt worden.[75] Dillmann vermutet, dass das geschah, um ihn zum Verkauf seiner Häuser zu bewegen. Ob die NSDAP damit Erfolg hatte, wird allerdings nicht ausgeführt.[76] Aber schon 1936 hatte er die Metzgerei aufgegeben und die bisherige Wohnung verlassen, um mit seiner Frau in ihr Haus in der Schillerstraße zu ziehen. Etwa ein halbes Jahr nach seiner Entlassung aus dem KZ im Oktober 1938 verließen Paula und Adolf Kahn Lüdenscheid ganz und gingen zu ihrer Tochter nach Witten. Als Paula Kahn dort schwer erkrankte, es aber vor Ort keinen „Krankenbehandler“ gab, der sie hätte ärztlich versorgen können, musste sie sich nach Köln begeben, um sich dort im Jüdischen Krankenhaus betreuen zu lassen. Als ihre Wohnanschrift gab sie allerdings das dortige Judenhaus am Horst-Wessel-Platz 15 an. Wenn man die Gesamtumstände in Betracht zieht, dann verstarb sie am 9. November 1941 in Köln nur scheinbar eines „natürlichen Todes“ im Jüdischen Krankenhaus“.[77]
Über die letzten Monate des Lebens von Adolf Kahn liegen keine gesicherten Informationen vor. Er soll zuletzt in Witten noch als Zwangsarbeiter eingesetzt worden sein und war dann nach Angabe des Kölner NS-Dokumentationszentrum bei Bonn in der ehemaligen Klosteranlage „Zur ewigen Anbetung“ interniert worden. Laut Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz wurde er am 31. März 1942 von Gelsenkirchen über Münster und Hannover in das Warschauer Ghetto gebracht. Wann er dort ums Leben kam, ist nicht bekannt.[78]
Alexander Kessler
Über Alexander Kessler, den am 8. März 1891 geborenen Sohn von Moses und Lina Kessler,[79] liegen fast keine Informationen vor. Er verstarb im Jahr 1920 und wurde auf dem Neuen Friedhof in seiner Heimatstadt begraben.[80]
Jenny Kessler
Auch die jüngere Schwester Jenny, geboren am 4. Januar 1893 erlebte die Zeit der Verfolgung nicht. Sie war gerade mal drei Jahre alt, als sie am 6. Juli 1896 verstarb. Auch sie wurde in Gießen, allerdings noch auf dem Alten Friedhof beigesetzt.[81]
Helene Königsthal, geb. Kessler
Helene war das zweitletzte Kind von Moses und Lina Kessler. Geboren wurde sie am 10. September 1894 in Gießen.[82] Tatsächlich war sie die einzige der insgesamt zehn Kinder, die durch ihre rechtzeitige Flucht den Holocaust überlebte. Am 17. Juni 1913 hatte sie ihren 14 Jahre älteren Schwager, den Handelsmann und Metzger Gustav Königsthal in Gießen geheiratet.[83] Im folgenden Jahr war am 12. März die Tochter Meta geboren worden und wiederum ein Jahr später am 15. Oktober 1915 die Tochter Esther Irmgard.[84]
Auch über das Leben und Schicksal dieses Familienzweigs sind wir recht gut durch das beeindruckende Erinnerungsbuch von Helenes Tochter Meta Frank „Schalom, meine Heimat“ informiert.[85]
Helene hatte in die bereits erwähnte Familie Königsthal aus Karlshafen eingeheiratet, die im Hinblick auf den gesellschaftlichen Status, auf die Erwerbstätigkeit und auch bezüglich der Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft sehr der ihrer eigenen ähnelte. Wirtschaftlich sehr erfolgreich als Metzger und Viehhändler besaßen Königsthals in ihrer Heimatstadt zwei Häuser. Eines hatte ihr Mann Gustav samt dem Geschäft als der ältester von zwei Brüdern und sechs Schwestern geerbt, sein Bruder Isidor das andere. Während die Brüder mit ihren Familien den Holocaust überlebten, wurden alle sechs Schwestern ermordet.
Ein Jahr nach der Hochzeit begann der Erste Weltkrieg und Gustav Königsthal musste 1915 an die russische Front, wo er schwer verletzt wurde und lange Zeit im Lazarett verbringen musste. Für Helene begann damit eine erste schwierige Zeit in der noch fremden Stadt.
“Wir [Meta und Irmgard – K.F.] blieben während dieser Zeit allein mit der Mutter und einer Hausgehilfin. Das Geschäft konnte meine Mutter nicht führen; sie war viel zu jung und unerfahren und auch noch fremd in der für ihre Begriffe kleinen Stadt. Sie erzählte mir später, sie wäre einfach nicht daran gewöhnt gewesen, daß jeder jeden kannte, grüßte und auch einige wenige Worte mit Leuten wechselte, zu denen man auch nur die kleinste Beziehung hatte.“[86]
Auch musste sie lernen, die Rolle zu übernehmen, die ihre Schwiegermutter bis zu ihrem Tod im Sommer 1915 in Karlshafen ausgeübt hatte. Sie, die aus einem sehr gläubigen jüdischen Elternhaus bei Nordhausen stammte, galt als Wohltäterin des Ortes, die an jedem Schabbat nach einer ihr vom Arzt übergebenen Liste seit vielen Jahren die örtlichen Armen und Kranken mit Nahrung, Suppe und Fleisch, versorgte. Eine Erwartung, der Helene angesichts rückläufiger Einnahmen während des Krieges nicht mehr gerecht werden konnte. Erst nach dem Ende des Krieges konnte sie diese Tradition in einem jüdischen Frauenverein wieder aufnehmen.
Aber die Zeiten waren auch weiterhin schwierig, da ihr Mann Gustav noch an seinen Verletzungen litt und über einen längeren Zeitraum nur beschränkt arbeitsfähig war. Die Kinder erlebten aber die Jahre, in denen sie wie alle anderen die Schule besuchten, als glückliche Zeit ohne jede Ausgrenzung. Auf Grund einer schweren Erkrankung konnte Meta nicht auf das Gymnasium wechseln und schloss ihre schulische Ausbildung daher nur mit der Mittleren Reife ab. In dieser Zeit, noch als Mädchen mit nur 14 Jahren, lernte sie ihren späteren Ehemann Kurt Frank kennen, mit dem sie trotz aller Widerstände der Eltern in enger Freundschaft verbunden blieb. Es folgte das Jahr, das sie bei ihrem Onkel Fritz in Gießen verbringen durfte, wo sie auch einen Abschluss an einer privaten Handelsschule machen konnte. Verbunden war damit der Wunsch der Eltern, dass sie in den eigenen Betrieb einsteigen würde. Sie selbst hatte eigentlich vor, in Marburg eine Stelle an der Universität anzunehmen, konnte sich aber gegen den Willen der Eltern nicht durchsetzen.
Als dann zu Beginn der 30er Jahre es auch in Karlshafen immer häufiger zu antisemitischen Aktionen kam, waren sich die Eltern zunächst sicher, dass ihnen als alteingesessene Juden nichts passieren könne. In diesem Glauben wurden sie von vielen christlichen Mitbürgern bestärkt, die damals noch fest zu ihnen standen. Es war Irmgard, die als erste spürte, wie sich die bisherigen Freundinnen und Freunde von ihr distanzierten, sie nicht mehr einluden und nichts mehr mit ihr unternehmen wollten. Schon früh entschied sie, dass sie in dieser feindlichen Atmosphäre nicht länger leben wolle.
1933 änderten sich die Verhältnisse auch in Karlshafen sehr schnell. Der Boykott entfaltete seine Wirkung, der mit der Familie befreundete Bürgermeister wurde aus dem Amt gedrängt und Kurt Frank, der bisher in Bonn Medizin studiert und sein Physikum bereits abgeschlossen hatte, wurde die Fortsetzung seines Studiums verwehrt. Als Helene Königsthal angesichts dieser zunehmend bedrohlichen Situation sich an den neuen NSDAP-Bürgermeister in Karlshafen wandte, in der Hoffnung von ihm eine Art Schutzgarantie zu erhalten, musste sie sich anhören, dass die „Juden ein Unglück für das deutsche Volk (seien). Sie (seien) eine Eiterbeule am Körper des Menschen und müssten ausgerottet werden.“ Er verabschiedete sie mit den Worten: „Ich weiß sie haben zwei Töchter und sie tragen sich mit der Absicht, ins Ausland zu gehen. Wenn Sie die Töchter retten wollen, so tun sie das, je schneller, je besser. Hören Sie auf meinen Rat.“ [87] Diese unverblümte, offene Drohung löste bei Helene Königsthal Angst und Entsetzen aus, aber noch immer verschlossen die meisten der Karlshafener Juden die Augen vor dieser drohenden Gefahr. Noch immer auch ihr Mann Gustav. Dann kam es in der Stadt zu den ersten brutalen Übergriffen – und keiner der Christen, die bisher alles als Panikmache abgetan hatten, sprang den Misshandelnden zur Seite.
Immerhin war jetzt auch Gustav Königsthal davon überzeugt, dass er seine beiden Töchter ziehen lassen müsse, wollte er Schlimmeres verhüten. Irmgard fand in Jugoslawien eine Stelle in einem Camp, das die auswanderungswilligen, jungen Menschen auf das schwere Leben in Palästina vorbereiten sollte. Schon am 27. September 1933 verließ sie, die jüngere Tochter Karlshafen. Nur ein einziges Mal kehrte sie noch dorthin zurück.
Auch Kurt Frank hatte, nachdem im klar geworden war, dass es keine Chance gab, seine Ausbildung als Arzt zu Ende zu bringen, sich in einem solchen Vorbereitungslager in Holland auf eine Auswanderung nach Palästina entschlossen, obwohl er ursprünglich für die zionistische Bewegung keinerlei Sympathie hegte. Für Meta stellte sich damit die Frage, ob sie ihm folgen, d. h., ob sie ihn heiraten und dann diesen Weg mit ihm gemeinsam gehen wolle.
Sie entschied sich für die Heirat und auch für die Auswanderung. Am 4. September 1934 fand in der Synagoge von Helmarshausen die Eheschließung statt und sechs Wochen später verließ das Paar von Triest aus den europäischen Kontinent, nachdem man in Gießen noch von den dortigen Verwandten Abschied genommen hatte.[88]
Es ist hier nicht der Raum, um genauer auf den Kulturschock einzugehen, mit dem die Neuankömmlinge in Palästina konfrontiert waren. Aber zumindest knapp soll der erste Eindruck von Meta Frank hier wiedergegeben werden:
„Als wir ankamen, war es November und für unsere Begriffe unerträglich heiß. Alles war voller Staub, die Straßen nicht sauber, weder in Haifa noch in Tel Aviv. Mit Deutschland war Palästina in nichts zu vergleichen! Keine Bäume, kein Schatten, die Wege ohne Asphalt und ausgefahren. Wenn man überhaupt Bäume sah, so waren es Orangenpflanzungen. In den kleineren Ortschaften lebten Araber. Sie gingen in langen schwarzen Gewändern, die Köpfe mit den typischen Tüchern bedeckt. Die Frauen sah man nur mit verschleierten Gesichtern. Meistens trugen sie einen Korb mit Gemüse oder Früchten oder einen Wasserkrug auf dem Kopf. Ich weiß noch heute nicht, wie sie das geschafft haben. Wenn wir mit Autobussen fuhren, dann sahen wir überall am Wegesrand Araber sitzen, die in aller Ruhe Läuse und Flöhe am Körper suchten. In den arabischen Dörfern lebten sie in Baracken aus Holz oder Blechhütten. Die Beduinen wohnten in Zelten. Es stank nach Schafen, Ziegen und verbranntem Holz. Alle gingen ohne Schuhe. Überall gab es nur Sand und noch mehr Steine. Es war aus unserer Sicht einfach unmöglich! Nes Ziona war von den Einwohnern her damals halb jüdisch und halb arabisch. Die Straßen teilten die Bevölkerung in zwei Teile. Ich muß zugeben, ich war vollkommen entsetzt über das Land.“[89]
Hinzu kamen die Probleme mit der fremden Sprache, die Hürden bei der Suche nach Arbeit und einem halbwegs geeigneten Ort zum Wohnen. Nur langsam konnte sich Meta an diese fremde und feindliche Welt im ‚gelobten Land’ gewöhnen. Ihr Mann schaffte es schneller, er arbeitete auf einer Orangenplantage und Meta fand eine Stelle im Haushalt der Eigentümerfamilie, kämpfte dort tagein tagaus mit der alltäglichen Invasion von allem möglichen Ungeziefer, das über die Lebensmittel wie auch die Menschen herfiel.
1935 kam auch Irmgard und ihr zukünftiger Ehemann Lothar Holzinger nach Palästina nachdem auch sie die notwendigen Zertifikate für die Einreise erhalten hatten. Ihren ursprünglichen Plan, ein Leben in einem Kibbuz zu führen, gab sie aber schon nach wenigen Tagen auf und zog in die Stadt und arbeitete dort in einem Haushalt.[90] Ihr Mann wurde Busfahrer in einer Art Genossenschaft und verdiente relativ gut. Sie erlebten daher nicht die drückende Not, die Meta und Kurt in den ersten Jahren ertragen mussten.
Die Situation für die Eltern hatte sich mittlerweile in Karlshafen erheblich verschlechtert. Gustav Königsthal war der Gewerbeschein entzogen worden, sodass er seinen Viehhandel nicht länger betreiben konnte. In der Metzgerei hatte ein SA-Trupp Müll auf den Verkaufstresen ausgeschüttet und dann Fotos davon in der lokalen Zeitung veröffentlichen lassen. Es waren treue Bauern aus der Umgebung, die Helene und Gustav Königsthal noch mit den notwendigen Lebensmitteln versorgten. In dieser Situation trafen auch sie die schwere Entscheidung, ihren Töchtern zu folgen. Allerdings blieb Irmgard zurecht skeptisch, ob die Eltern überhaupt in der Lage sein würden, mit diesen primitiven und ungewohnten Verhältnissen in Palästina zurechtzukommen.
Im November 1935 kam zunächst die Mutter zu einem Besuch.
„Von Anfang an gab es nur Schwierigkeiten. Es gab nichts, aber auch gar nichts, was meiner Mutter in Palästina gefallen hätte! »Nicht gefallen« ist noch gelinde gesagt. Über alles war sie entsetzt, über das Klima, den Schmutz, das Ungeziefer, die Unsauberkeit der Geschäfte, die puritanische Einfachheit der Wohnungen, über unser kleines Zimmer … Sie hatte überhaupt kein Verständnis dafür, daß wir einverstanden waren, ja einverstanden sein mußten, in so einem »Loch« – so nannte sie es – zu leben.“ Als sie dann in Jerusalem die Klagemauer sah, da war sie nicht beglückt, wie man hätte erwarten können, sondern angesichts der frommen, sich im Gebet wiegenden Menschenmassen verlor sie ihre Fassung und verließ fluchtartig diesen heiligen Platz.[91]
Aber die Eltern hatten, wenn sie überleben wollten, keine Wahl. Im März 1936 verließen auch sie Deutschland und kamen per Schiff nach Jaffa, fanden – sofern man überhaupt davon sprechen kann – eine Unterkunft in dem winzigen Haus von Meta und Kurt Frank. Unmittelbar nach ihrer Ankunft begannen die gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den arabischen Bewohnen, die angesichts der Flüchtlingswelle, die damals von Europa hereinschwappte, zunehmend in Sorge um ihr eigens Land und ihre Identität waren. Angriffe auf Juden mit Messern und Knüppeln gehörten zur Tagesordnung. Die Eltern fürchteten nicht zu Unrecht, sie seien vom deutschen Regen in die palästinensische Traufe geraten.
Die Familie siedelte in Beth Chanan, kämpfte über Jahre mit unzähligen Hindernissen, mit Krankheiten und finanziellen Problemen. Aber auch Metas erstes Kind wurde in dieser Zeit der Entbehrungen geboren, der Sohn Dan, der von seinem Großvater Gustav in die Welt des bäuerlichen Lebens eingeführt wurde. Es folgten noch die beiden Söhne Chanan und Gideon. Auch ihrer Schwester Irmgard wurden zwei Söhne, Michael und Salomon, geboren.
1937, nachdem die Eltern ihr letztes Aktienpaket hatten verkaufen können, konnte ein Kuhstall finanziert werden. Neben dem Verdienst von Kurt Frank, der weiterhin auf einer Apfelsinenplantage arbeitete, waren ein paar Kühe, ein kleiner Mittagstisch für ledige Bewohner des Ortes und wenige Obstbäume die finanzielle Basis für ein nur kärgliches Leben. Dann erkrankte die gesamte Familie auch noch an Malaria und es dauerte lange, bis die Fieberschübe zurückgingen und alle wieder arbeitsfähig wurden. Besonders in dieser Zeit war Irmgard, die nicht betroffen war, weil sie in der Stadt lebte, die einzige Stütze, auf die sie bauen konnten.
Dies war umso notwendiger, als ein Hirntumor Helene Königsthal ans Bett fesselte und Meta wegen eines Rückenleidens sich kaum noch schmerzfrei bewegen konnte. Hinzu kamen die Sorgen um die zurückgebliebenen Verwandten und um die Glaubensgenossen überhaupt. Schon 1943 verbreitete sich in Israel die Nachricht, dass es in Polen Vernichtungslager geben würde, aber keiner konnte das damals wirklich glauben, so Meta Frank.[92]
Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft, als dann die Bilder mit den Leichenbergen zu sehen waren, kamen besonders die Eltern nicht darüber hinweg: 99 Mitglieder allein ihrer Familie waren diesem Wahnsinn zum Opfer gefallen.
Der Staat Israel wurde ausgerufen, wodurch der erste Krieg um die Existenz der neuen Heimat ausgelöst wurde, zu dem auch Horst Frank eingezogen wurde. Allmählich verbesserte sich aber die Lebenssituation in Beth Chanan zumindest unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Eine permanente Bedrohung blieben allerdings die nächtlichen Angriffe der Fedajin.
Auch verschlechterte sich in den folgenden Jahren die gesundheitliche Verfassung von Helene. Am 28. April 1954 verstarb sie im Haus ihrer Tochter Meta im Alter von 59 Jahren.[93] Gustav Königsthal wurde 80 Jahre alt und verstarb ebenfalls in Beth Chanan.[94]
Metas Ehemann Kurt Frank wurde sieben Jahre später am 24. Februar 1987 zu Grabe getragen,[95] sie selbst im Jahre 2004.[96]
Trotz allem Leid und aller Entbehrungen, die die Familie von Hugo Kesslers Schwester in Palästina und dann auch in Israel zu erdulden hatte, der Staat wurde letztendlich doch zur Heimat, einem Ort, der bei allen weiterhin existierenden Bedrohungen das Überleben gesichert hatte.
Hugo und Emma Kessler, geborene Kahn
Über die Kindheit und Jugendzeit von Hugo Kessler liegen keine Informationen vor. Wo er den Beruf des Metzgers gelernt hatte, ist daher auch nicht bekannt. Allerdings existiert eine Verlobungsanzeige, die im Juni 1905 im Giessener Anzeiger veröffentlich worden war, laut der er die Absicht hatte, mit einer Selma Cantor in Osnabrück eine Ehe einzugehen. Offensichtlich scheiterte dieses Vorhaben, denn schon in der ersten Nummer des Anzeigers aus dem folgenden Jahr 1906 wurde die Verlobung mit Emma Kahn aus Bischofsheim bekannt gegeben.[97]
Im Wiesbadener Adressbuch erscheint sein Name erstmals im Band des Jahres 1906/07, seine damalige Anschrift war die Hellmundstr. 17. Im gleichen Jahr, nämlich am 15. Februar 1906, wurde dann die angekündigte Ehe mit Emma Kahn, der Tochter des bereits verstorbenen Handelsmanns und Metzgers Heymann Kahn und seiner Frau Rosa in Bischofsheim geschlossen.[98]
Die Kahns gehörten zu den wenigen alteingesessenen jüdischen Familien von Bischofsheim, wo es jüdisches Leben etwa seit dem 18. Jahrhundert gab. So ist ein Kappel Kahn, geboren 1744 in Bischofsheim, als erster bekannter Ahn dieser in der sogenannten Rheinspitze weit verzweigten Familie registriert. Sein Sohn Heyum, verheiratet mit Rifka Marx, war der Vater von Moses Kahn, geboren am 11. Dezember 1817, der zwei Ehen eingegangen war. In der ersten Ehe mit Babette David wurde am 1. November 1856 der Sohn Herrmann / Heymann geboren, der sich in Bischofsheim als Metzger und Viehhändler etablieren konnte, was aber nicht heißt, dass nicht auch seine Vorfahren und deren weitere Nachkommen bereits in diesem Gewerbe tätig waren. Einige von ihnen erweiterten aber ihre Angebotspalette auch mit Textilprodukten, darunter auch Mitglieder der Familie Kahn, die nicht Nachkommen von Heymann Kahn waren.
Heymann Kahn hatte am 12. Mai 1881 in Bischofsheim die aus Schaafheim bei Dieburg stammende Rosa Dornberg geehelicht, die am 11. Februar 1853 geboren worden war. Neben der großen Familie Kahn gab es im 19. Jahrhundert zwei weitere jüdische Familien, die eine bedeutende Stellung in der Gemeinde einnahmen. Während die Familie Selig sich primär im Landhandel betätigte, übten Kahns als Metzger und Viehhändler den zweiten traditionellen Beruf der Juden aus. Die Familie Blumenthal ging im Prinzip dem gleichen Geschäft nach, allerdings in wesentlich geringerem Umfang und auch nur mit Kleinvieh wie etwa Ziegen. Die Familie galt als verarmt. Seligs und Kahns dagegen gehörten zu den angesehenen Familien des Ortes.[99]
In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Heymann Kahn an der Ecke Spelzengasse / Darmstädter Straße sein Geschäfts- und Wohnhaus errichten lassen, das etwa hundert Jahre später abgerissen wurde. In seiner Metzgerei gab es ein breites und nicht nur koscheres Fleisch- und Wurstangebot, sowohl von Ochsen, Rindern, Kälbern und Schweinen.
Ein lokaler Mundartdichter reimte etwas unbeholfen auf dieses Angebot den Vers:
„Hammelsköpp, die gibt’s net mehr,
do esse mer Rindfleisch jetzt,
für 45 Pfennig,
vom Heymann festgesetzt.“[100]
Zwar könnte man aus dem Wort „festgesetzt“ eine unterschwellige Kritik im Sinne eines Monopolpreises herauslesen, aber vermutlich war das nicht so gemeint, denn die Kahns waren in Bischofsheim gerade deshalb so anerkannt, weil sie ihre Waren so billig anboten, dass auch arme Leute hin und wieder in den Genuss von fleischlicher Nahrung kamen. Verarbeitet wurde zumeist Fleisch von alten Tieren, das zwar etwas zäh, aber dafür kostengünstig zu erwerben war.
Heymann und Rosa Kahn hatten insgesamt sieben Kinder, vier Mädchen und drei Jungen. Emma, die Frau von Hugo Kessler, war die zweitälteste. Wenn auch nicht in dem erschreckenden Ausmaß wie in der Familie Kessler, so gab es auch in diesem Zweig der Kahns mehrere Opfer des Holocausts zu beklagen. Es ist scheint wieder typisch zu sein, dass die drei männlichen Nachkommen alle rechtzeitig aus Deutschland herauskamen, während zwei der vier Töchter ermordet wurden. Allerdings muss man einschränkend zur Kenntnis nehmen, dass deren Männer ebenfalls zu den Opfern zählen.
Emma gehörte nicht zu den Opfern der Shoa, sie verstarb bereits im Alter von 32 Jahren am 17. Mai 1916 in den Städtischen Kliniken von Wiesbaden.[101]
Zurückgelassen hatte sie neben ihrem Mann auch noch zwei Töchter im Kindesalter. Herta Bertha war am 23. November 1906 und ihre Schwester Irma Johanna am 23. März 1910 zur Welt gekommen.[102] Allein wegen der Kinder wird Hugo Kessler schon nach einem Dreivierteljahr am 6. Februar 1917 eine zweite Ehe geschlossen haben. Wieder wählte er mit Karoline, genannt Lina, Mayer eine Frau, deren Eltern und Großeltern als Metzger und Viehhändler ihr Brot verdient hatten. Die Braut war am 16. Juni 1892 als Tochter von Jonas und Bertha Mayer, geborene Rosenberg, in Wetzlar zur Welt gekommen.[103]
Über die wirtschaftlichen Verhältnisse aus der Zeit des Kaiserreichs liegen keine Unterlagen mehr vor, erst aus den frühen Jahren der Nachkriegszeit sind solche archiviert worden. So betrug das zu versteuernde Einkommen von Hugo Kessler im Jahr 1920 fast 28.000 RM und auch ein Jahr später waren es noch etwa 20.000 RM. Aber es ist nur schwer einzuschätzen, welchen Wert diese Zahlen haben, denn in diesen Krisenjahren war sicher die Nachfrage nach Fleisch eher zurückhaltend, andererseits spiegelten die absoluten Einnahmen der bereits fortgeschrittenen Inflation kaum den tatsächlichen Wert der Zahlen wider. Noch deutlicher wird das im folgenden Jahr, in dem sogar 400.000 RM zu versteuern waren.[104]
Aber schon 1910 hatte Hugo Kessler möglicherweise im Zusammenhang mit der Geburt seiner zweiten Tochter das Haus in der Hellmundstr. 22 erworben und war dann im Juli des gleichen Jahres dorthin verzogen. 1920 kam mit dem Haus Bleichstr. 21 eine weitere Immobilie zum Vermögen hinzu.[105] Immobilien waren in Inflationszeiten schon immer eine begehrte Wertanlage.
In den späten Jahren der Republik geriet aber dann auch Hugo Kessler mit seiner Metzgerei in den neuen Krisenstrudel der Deflation. Aber einen genauen Überblick über die Geschäftsentwicklung war auch den Steuerprüfern des Finanzamts Wiesbaden nicht möglich, als sie 1929 den Betrieb einer intensiven Prüfung unterzogen. Im Besonderen waren die Ausgaben, die Hugo Kessler geltend machte, nicht zu belegen und auch mancher Fleischeinkauf war – „eine im Interesse der steuerlichen Verschleierung stets geübte Taktik vieler Metzger – an der Waage vorbei freihändig“ am Schlachthof eingekauft worden, sodass die tatsächlichen Umsätze nicht wirklich zu ermitteln waren.[106] Kessler war wohl auch in den vergangenen Jahren vom Finanzamt mehrfach für diese Mängel in seiner Buchhaltung gerügt worden. Aber immerhin ist in diesem Bericht bei aller Kritik an den Geschäftsgebaren noch kein antisemitischer Zungenschlag zu vernehmen. Auch nichtjüdische Metzger versuchten offenbar mit solchen Tricks ihre Steuerlast zu senken.
Ein weiteres Problem scheint der Versuch gewesen zu sein, angesichts der heraufziehenden Krise das Geschäft zu expandieren. Es sei zu berücksichtigen, heißt es, „daß Keßler mit seinen Filialen einen Fehlgriff gemacht hat. Die Unrentabilität derselben ist, wie vertraulich festgestellt werden konnte, eine Folge seiner persönlichen Fahrlässigkeit und zu großen Vertrauens seinen Verwandten gegenüber, denen er die Leitung der Filialen anvertraute“.[107]
In einem Schreiben, in dem er Berufung gegen die Forderungen des Finanzamts nach einer weiteren Prüfung im Jahr 1930 einlegte, stimmte er dieser Einschätzung zu. Er schrieb: „Wohl habe ich einen Umsatz von 372.640 RM erzielt. Wie kam er zustande ? Ich hatte die fünf Filialen in Frankfurt, Mainz, Wetzlar, Homburg und Biebrich und mein Hauptgeschäft in Wiesbaden.“ Im Weiteren führte er die hohen Vertriebskosten auf, die mit dem Filialnetz verbunden waren. „Ich habe, und dies kann ich auch heute noch durch Annoncen aus 1928 beweisen und belegen, das Fleisch bedeutend billiger als meine Kollegen verkauft und war deshalb bei der hiesigen Metzgerinnung als Preisdrücker verfemt, während andererseits meine Kundschaft, die zum großen Teil aus Arbeitslosen und kleinen Leuten besteht, mein Vorgehen begrüßte, wie ich ebenfalls beweisen kann.“[108]
Ingesamt gab Hugo Kessler an, 1928 erhebliche Verluste gemacht zu haben, weshalb er die Nachforderungen des Finanzamts als unangemessen ablehnte. Auch in den Folgejahren kam es wegen der zu zahlenden Steuern immer wieder zu Auseinandersetzungen, weil diese von den Steuerbehörden wegen der unvollständigen Buchführung immer nur geschätzt werden konnten. Aber ganz offenbar war der Betrieb sicher nicht zuletzt wegen der allgemeinen Krise inzwischen in eine schwierige Situation geraten und Hugo Kessler sah sich im Juli 1930 veranlasst, um Stundung seiner Steuerpflicht zu bitten: „Es ist mir absolut unmöglich infolge des mehr als schlechten Geschäftsganges eine derartig hohe Summe, wie sie von mir gefordert wird, aufzubringen. Ich könnte das nur tuen, wenn ich von Neuem anfange, Schulden zu machen.“[109]
Das Finanzamt revidierte daraufhin seine Berechnungen und kam zu dem Ergebnis, dass die Firma 1928 keine Gewinne gemacht hatte und im Jahr 1929 die Einkünfte nur dazu ausreichten, um den Lebensbedarf der Familie zu decken. Hugo Kessler hatte bis Oktober 1930 auch alle Filialen geschlossen, um so aus der Verlustzone herauszukommen.[110]
Offenbar konnte er auch aus seinem Immobilienbesitz keine Erträge erzielen, die seine finanzielle Situation hätten verbessern können. Im Gegenteil. Laut einer Abrechnung aus dem Jahr 1934 machte er mit seinen drei Häusern in diesem Jahr Verluste von mehr als 600 RM. Neben dem Haus in der Hellmundstraße, das er selbst bewohnte,[111] besaß er noch das Haus in der Bleichstr. 21 und eine Immobilie in Frankfurt, die aber nur einen relativ kleinen Mietertrag einbrachte.[112]
Laut der Einkommensteuerunterlagen sanken die Einkünfte von etwa 3.000 RM im Jahr 1930 über 2.800 RM in 1931 auf nur noch 1.000 RM im Jahr 1933.[113]
Es ist im Nachhinein kaum möglich, die finanzielle Lage von Hugo Kessler in den späten zwanziger und frühen 30er Jahren richtig einzuschätzen und es kann hier auch nicht darum gehen, die von ihm oder dem Finanzamt vorgetragenen Angaben zu prüfen und zu bewerten, wichtiger ist vielmehr, inwieweit diese Auseinandersetzungen die Grundlage für die Anfeindungen schufen, denen er wenige Jahre später unter der Herrschaft der Nazis ausgesetzt war.
Hugo Kessler hatte nämlich in einem der Briefe auch die Probleme beschrieben, die sich bei dem Transport des Fleisches in die zum Teil weit entfernten Filialen ergaben, zumal im Sommer, wenn es – wie im Jahr 1928 – besonders heiß war:
“In den Filialen befanden sich als Verkäufer Leute, die Angestellte waren und demgemäß nicht die Sorgfalt aufwendeten, die bei dem leicht verderblichen Artikel Fleisch von Nöten war. Jedenfalls hatte ich von sämtlichen Filialen große Retouren, die mehrere Tage alt waren. Infolge Mangels von geeigneten Kühlräumen in den Filialen war das retournierte Fleisch minderwertig und zum teil verdorben. Das minderwertige Fleisch, das infolge der Retouren nach Wiesbaden zurückkam, für das aber mein Geschäft in Wiesbaden garnicht aufnahmefähig war, weil ich ja über meinen regulären Bedarf von vorherein disponierte, musste hier zu Schleuderpreisen verkauft, bzw. eingesalzen werden, um später, soweit dies überhaupt noch möglich war, zu billiger Wurst verarbeitet werden. Das verdorbene retournierte Fleisch mußte ich vernichten.“[114]
Wenn Hugo Kessler hier gegenüber dem Finanzamt so offen über die Verwertung des nicht mehr ganz frischen Fleischs spricht, so kann man davon ausgehen, dass das Usus bei allen Metzgern war, dennoch diente das als Angriffspunkt für die Nazis nach der „Machtergreifung“. Gerade wegen der billigen Angebote vieler jüdischer Metzger, offenbar aber besonders durch Hugo Kessler, waren diese schon früh den Denunziationen der arischen Konkurrenten ausgesetzt und in ihrer Geschäftstätigkeit stark behindert worden. Man verbot ihnen das Betreten des Schlachthofs und verhinderte damit den Einkauf billiger Waren, demütigte sie mit einem Marsch durch die Straßen der Stadt und rief zum Boykott auf. Auch die Bauern des Umlands wurden bedrängt, ihnen kein Vieh mehr zu verkaufen. Ob seine Spende von 100 RM am 12. September 1933 zur „Förderung der nationalen Arbeit“ tatsächlich freiwillig war, wie es auf der Spendenbescheinigung heißt, oder doch eher erzwungen war, wird man nicht mehr beurteilen können.[115] Vielleicht war es auch ein Versuch, die neuen Machthaber gnädig zu stimmen. Genutzt hat ihm die Opfergabe aber nichts.
Ein Angriff auf Hugo Kessler aus dem Jahr 1935 ist aktenkundig geworden. Ob dabei Bezug auf sein oben zitiertes Schreiben an das Finanzamt genommen wurde, das möglicherweise unbefugt in die Hände von NSDAP-Leuten gelangt war, ist nicht nachweisbar. Es war aber auch unabhängig davon eine übliche Methode, den jüdischen Metzgern mangelnde Hygiene vorzuwerfen, so ja auch bei Gustav Königsthal geschehen. Ekelgefühle ließen sich auf diese Weise assoziativ leicht mit dem Juden als solchem verknüpfen.
Im August 1935 wurde das folgende Flugblatt in Wiesbaden verbreitet.
Das noch vorhandene, angeblich verdorbene Fleisch im Wert von 3.000 RM wurde konfisziert und wurde angeblich vernichtet. Tatsächlich aber wurde es der DAF, der ‚Deutschen Arbeitsfront’, übergeben, die es wiederum gewinnbringend an ihr Klientel verkaufte.[116]
Am 5. September unterrichtete Hugo Kessler das Finanzamt Wiesbaden davon, dass sein Geschäft am 16. August durch die Polizei geschlossen wurde und er daher keine Einnahmen mehr habe.[117] Im Gegenteil. Im Jahr 1935 machte er, wie das Finanzamt im Entschädigungsverfahren bestätigte sogar Verluste von nahezu 2.000 RM.[118]
Bevor diese schwierige Phase begann, hatte Herta Bertha, die die Schule mit einem Realschulabschluss beenden konnte, am 27. Dezember 1929 in eine andere in Wiesbaden, genauer in Dotzheim, alteingesessene Metzgerfamilie eingeheiratet. Ihr Ehemann Julius Stein, geboren am 25. September 1904 in Dotzheim, war der Sohn von Isaak und Dina Stein, geborene Lieber.[119] Dort betrieb Isaak zusammen mit seinem Bruder Gustav in der Dörrgasse 13, wo die Eltern des Bräutigams auch wohnten, eine Metzgerei. In dem Haus war außer Julius auch zuvor am 16. Mai 1903 sein Bruder Alfred zur Welt gekommen.[120] Nach der Heirat von Julius und Herta Bertha im Jahr 1929 [121] zog das Paar in die Dotzheimer Römergasse 8, wo am 15. Juli 1930 zunächst ihr Sohn Erich, dann, bereits nach der „Machtergreifung“, am 26. Juni 1933 die Tochter Inge geboren wurden.[122] Hier bewohnten sie eine große 5-Zimmer-Wohnung, die damals neu mit Möbeln ausgestattet wurde.
Zunächst war Julius noch als Metzgergeselle bei seinem Vater angestellt. Nachdem ihm im Februar 1930 sein Meisterbrief verliehen worden war, kaufte das Paar mit Mitteln aus der Mitgift von Herta Bertha und den Ersparnissen des Ehemanns die Wiesbadener Metzgerei Ponat in der Roonstraße. Der Betrieb wurde erweitert und mit neuen Maschinen ausgestattet.[123] Am 20. November 1931 wurde der Betrieb bei der Wiesbadener Gewerbeaufsicht angemeldet, nachdem er am Tag zuvor bereits eröffnet worden war.[124] Aber nur kurz konnten sie von diesen Investitionen profitieren, denn in Folge des Boykotts kam auch ihr Betrieb bald zum Erliegen. Verständlicherweise waren im ersten Jahr wegen der Neuanschaffungen noch Verluste angefallen, aber schon 1932 wurden Gewinne von fast 4.000 RM erwirtschaftet. Danach ging es abwärts. In den Jahren 1933 und 1935 konnten gerade einmal die Kosten kompensiert werden, im Jahr 1934 waren aber sogar herbe Verluste von fast 1.500 RM eingetreten,[125] was das Metzgerehepaar im Juni 1935 zur Aufgabe veranlasste. Der Betrieb sei – so der Viehwirtschaftsverband Hessen-Nassau „wahrscheinlich an einen gewissen Stamm verkauft“ worden.[126]
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Man hatte Julius Stein zugetragen, dass er wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Schächtungsverbot verhaftet werden solle. Überstürzt floh er im November 1936 alleine, Frau und Kinder in Wiesbaden zurücklassend, nach Basel in die Schweiz,[127] wo er aber keine Arbeitserlaubnis erhielt. Mit Hilfe einer dortigen jüdischen Fürsorgeorganisation gelangte er nach Holland, von wo er ebenfalls ohne Einkünfte auf weitere Unterstützung angewiesen war. Nur über Umwege konnte seine Frau den Kontakt mit ihm in dieser Zeit aufrechterhalten. In Holland wurde er von seinem Bruder Alfred, der ihm auch mit Geld aushalf, unterstützt. Unklar blieb in Entschädigungsverfahren, ob er oder ein Freund in den USA ihm das Geld für die Überfahrt geliehen hatte. Vermutlich war es aber eher der Freund, da das Geld für das Ticket in Dollar zu entrichten war. Im Juni 1938 konnte er dann über das französische Le Harve in die USA ausreisen,[128] sein Bruder Alfred folgte ihm etwa vier Wochen später von Rotterdam aus.[129]
Steins hatten schon vor der Flucht von Julius bei der amerikanischen Botschaft Visen beantrag, allerdings so hohe Quotennummern erhalten, die eine Auswanderung damals nicht möglich machten. Dadurch, dass Julius jetzt in den USA war, profitierten seine Frau und die Kinder nun von einer Vorzugsquote, die auch ihnen 1939 die Ausreise ermöglichte. Am 18. April 1939 lief die „Bremen“ von ihrem Heimathafen mit Herta Bertha Stein und den Kindern an Bord nach New York aus, das am 24. April erreicht wurde.[130]
Aber die amerikanische Freiheit war zunächst einmal auch für sie alle mit sehr viel Not verbunden. Herta Bertha Stein berichtete im Rahmen des Entschädigungsverfahrens über ihre Situation nach ihrer Ankunft:
“Als ich im April 1939 in die USA einwanderte, habe ich meinen Mann Julius STEIN kaum wiedererkannt, da er zumindest 30 Pfund abgenommen und das Aussehen eines Schwinnsuechtigen hatte. Er war unter der Last der Verpflichtungen und Schulden, die er auch z.T. fuer die Finanzierung der fuer mich und die Kinder beschafften Buergschaftspapiere gemacht hatte, fast zusammengebrochen.
Er war völlig mittellos und nur durch die Grosszuegigkeit eines Verwandten, des leider inzwischen verstorbenen Herrn Simon Reis, war es uns moeglich ein Dach ueber dem Kopf zu haben, da er – Herr Reis – uns unentgeltliche Unterkunft in einem Zimmer seiner Wohnung gewaehrte.“[131]
Julius Stein konnte in den USA wieder als Metzger arbeiten, war aber, wie seine Firma bestätigte, immer wieder krank. Seine Frau verdiente als Haushaltshilfe oder Servierkraft in Restaurants noch ein wenig dazu. Bis 1942 kamen sie einen gemeinsamen Verdienst von etwa 1.000 Dollar im Jahr. Allerdings konnten sie dann in den folgenden Jahren ihr Einkommen verdoppeln, sogar in manchen Jahren verdreifachen.[132] Aber die Krankheit ihres Mannes, es handelte sich um eine Herzschwäche, die ihn in den letzten Jahren vor seinem Tod laut einem ärztlichen Attest zu 80 Prozent erwerbsunfähig machte,[133] verursachte erhebliche Kosten. Am 3. März 1955 erlag Julius Stein in Teaneck im Staat New York seinem Herzleiden.[134] Herta Bertha kämpfte danach einen langen Kampf mit den deutschen Behörden um eine monatliche Rente, die ihr dann tatsächlich zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes noch gewährt wurde.[135] Sie selbst verstarb am 19. Oktober 1989 im Alter von 89 Jahren ebenfalls in Teaneck.
Über die beiden Kinder, die auf eigene Entschädigungsansprüche zu Gunsten ihrer Eltern verzichtet hatten, konnten keine weiteren Informationen gefunden werden.
Auch Herta Berthas jüngere Schwester Irma war seit dem 16. Oktober 1934 mit einem Metzger verheiratet.[136] Ihr Ehemann Levy Leo Portmann stammte allerdings nicht aus dem heimischen Raum, sondern war am 14. Januar 1901 in Hattingen an der Ruhr geboren worden, wo die Familie spätestens seit dem 19. Jahrhundert mit ihrem Geschäft ansässig war.[137] Immerhin konnte sich ihre Metzgerei in der Heggerstr. 65 auch unter den Nazis noch bis etwa 1938 halten.
Wenig weiß man über die Flucht von Irma und Leo Portmann. Immerhin liegen zwei Einreisedokumente aus dem Oktober 1946 vor. Demnach reisten die beiden am 14. dieses Monats von Carracas per Flugzeug nach Miami, trugen 2.000 Dollar Bargeld bei sich und beabsichtigten, Herta Bertha und Julius Stein zu besuchen.[138] Drei Monate, so gaben sie an, wollten sie in den USA bleiben. Offenbar hatten Portmanns die Zeit des Nationalsozialismus als Staatenlose – so in dem Dokument vermerkt – in Venezuela überlebt. Als seinen Beruf gab Leo Portmann Kaufmann an und er übte diese Tätigkeit offenbar mit recht großem Erfolg in seinem Exil aus. In einer Lebensbescheinigung, die im Rahmen des Entschädigungsverfahrens von Irma gefordert wurde, bestätigt der deutsche Konsul in Caracas, dass sie am 29. April 1957 noch dort leben würde. Allerdings war ihr Nachname jetzt mit Beyer und nicht mehr mit Portmann angegeben.[139] Wie aus einem Entschädigungsbescheid vom 19. Januar 1959 hervorgeht, hatte sie noch einmal geheiratet, wann und wen ist dort allerdings nicht verzeichnet.[140]
Ob und wie lange der Kontakt der Kinder zu den Eltern in Wiesbaden noch aufrechterhalten werden konnte, ist nicht bekannt. Sie lebten nach der Geschäftsaufgabe vermutlich weitgehend von Erspartem und dem, was die vermieteten Immobilien abwarfen. In den Jahren 1936 bis 1939 konnten sie laut Angaben des Finanzamts Einkünfte zwischen 1.000 RM und 3.000 RM verbuchen.[141]
Vielleicht hatte man noch immer gehofft, die schwierige Zeit irgendwie überstehen zu können, denn man verfügte ja mit den Immobilien noch über ein zwar mit Hypotheken belastetes Vermögen, von dem man aber vermutlich zunächst noch annahm, dass dieses vor dem Zugriff des Staates sicher sei.
Dann kam es zu dem Pogrom im November 1938, mit dem eine neue Etappe in der Entrechtung der jüdischen Bevölkerung begann.
Auch Hugo Kessler wurde damals verhaftet, aber anders als die meisten männlichen Juden nicht in Buchenwald, sondern am 16. November in Dachau eingeliefert.[142]
Einen Tag vor Weihnachten wurde er entlassen. Ob diese mit der Auflage, Deutschland zu verlassen, verbunden war, ist nicht zu sagen, aber offenbar plante auch das Ehepaar Kessler spätestens jetzt die Ausreise. Allerdings gibt es ein Indiz, aus dem man schließen kann, dass man bereits im Spätsommer / Herbst ein solches Vorhaben in Angriff genommen hatte. In der Devisenstelle war nämlich bereits am 19. Oktober 1938, also gut drei Wochen vor dem Pogrom, eine sogenannte E-Mappe angelegt worden. Diese Mappe diente der Kontrolle des Umzugsguts von Ausreisewilligen durch die Devisenstellen.[143] In der damals für Kesslers angelegten Mappe sind allerdings keine Umzugslisten aufbewahrt,[144] sodass man davon ausgehen muss, dass die Pläne sich noch in einem frühen Stadium bewegten.
Umfassende Vorbereitungen wurden aber spätestens nach der Entlassung von Hugo Kessler aus Dachau getroffen. So gab Herta Bertha Stein im Entschädigungsverfahren zu Protokoll, dass die „Eltern erhebliche Neuanschaffungen fuer ihre Auswanderung vorgenommen und in Lifts und Kisten verpackt bei der Speditionsfirma L. Rettenmayer G.m.b.H. in Wiesbaden eingelagert (hatten)“.[145] Es sollen sich darunter auch neue Maschinen befunden haben, mit denen im Exil wieder eine Metzgerei hätte eingerichtet werden können.
Leider machte sie keine Angaben über den Zeitpunkt und auch die Speditionsfirma konnte wegen zerstörter Unterlagen keine Informationen liefern.
Auch die Ursachen, weshalb die Auswanderung von Hugo und Lina Kessler letztlich scheiterte, sind nicht mehr rekonstruierbar. Dafür ist aber genauer nachzuvollziehen, was mit ihrem eingelagerten Gut geschah: „Auf Grund einer Verfügung der Geh. Staatspolizei mussten seinerzeit sämtliche auf Lager befindlichen Möbel von jüdischen Eigentümern gemeldet und auf Anweisung dann zu den näher bezeichneten Auktionshäusern gebracht werden.“[146] Der Auktionator, dem das Umzugsgut der Kesslers übergeben wurde, war der auch in der Nachkriegszeit in Wiesbaden bestens bekannte und auch weiterhin erfolgreich agierende Auktionator Hecker, der für seine „Bemühungen“ jeweils eine zwölfprozentige Provision einstrich. Immerhin hat er mit deutscher Gründlichkeit genauestens Buch geführt und alle Stücke mit dem erzielten Erlös tabellarisch erfasst, von der kleinen Ordnermappe, die für 20 Pfg. über den Tresen ging bis zum vollständigen Speisezimmer, bestehend aus Büfett, Ausziehtisch, 4 Polsterstühlen und einer Vitrine. Dafür musste der arische Nutznießer solcher Auktionen 395 RM berappen. Bei acht Versteigerungen in den Jahren 1940 und 1941 war das gesamte Inventar unter den Hammer gekommen, ein Teil war allerdings auch frei verkauft worden.[147]
Im Frühjahr 1939 wurden die Juden gezwungen ihren Schmuck und Gegenstände aus Edelmetall den städtischen Leihanstalten zu übergeben. Der dafür erstattete Wert bezog sich nur auf den Metallwert, nicht aber die handwerkliche und künstlerische Verarbeitung, vom Erinnerungswert ganz zu schweigen. Brillantringe, eine mit Brillanten besetzte Krawattennadel, Goldarmbanduhren und Tafelsilber mussten sie damals abgeben, deren Wert Herta Bertha Stein später auf etwa 4.650 RM schätzte.[148] Wie viel die Eltern tatsächlich damals erhalten hatten, konnte sie nicht angeben, aber es war jedenfalls, wie man aus anderen Fällen weiß, absurd wenig. Der Erlös wurde auf das gesicherte Konto der Kesslers eingezahlt.
Wann diese Sicherungsanordnung ergangen war, ist in den Akten nicht festgehalten, vermutlich geschah es im Zusammenhang mit dem Verkauf der Immobilien. Vermutlich handelte es sich dabei um einen weiteren Schritt auf dem Weg in das geplante Exil.
Bereits am 19. August 1938 hatte Hugo Kessler seine bebaute Liegenschaft in Frankfurt in der Neugasse 30 für 2.200 RM an die Stadt verkauft. Aus dem Kaufpreis ist zu schließen, dass es sich entweder um eine Wohnung oder um eine Art Lagerhütte gehandelt haben muss.[149] Am 18. April 1939 wurde dann der Verkauf des Hauses Hellmundstr. 22 an eine Magdalene Schmitt vom Bürgermeister der Stadt Wiesbaden genehmigt. Der Kaufpreis betrug 32.000 RM.[150] Zuletzt trennte sich Hugo Kessler noch von seinem Haus Bleichstr. 31, das für 20.000 RM an den Transportgeschäftsinhaber Jakob Schneider ging. Der Vertrag, der am 25. Mai zustande gekommen war, wurde endgültig im Juli 1939 vom Regierungspräsidenten bestätigt.[151] Der Einheitswert der letzten Immobilie war 1935 noch mit knapp 25.000 RM angesetzt worden. Demgegenüber lag der Preis des Hauses in der Hellmundstraße deutlich über dem Einheitswert von 1935, der nur knapp 20.000 RM betrug. 1939 wurde der Wert allerdings durch eine Neubegutachtung durch das Feldgericht auf 31.000 RM angehoben.[152] Der Verkehrswert wurde aber vermutlich in keinem der Fälle gezahlt. Alle Gelder mussten auf das gesicherte Konto der Dresdner Bank eingezahlt werden. Von den 32.000 RM für das Haus Hellmundstr. 22 blieben Hugo Kessler nur 12.400 RM, da die Käuferin die Hypothek über 19.600 RM übernahm.
Vermutlich stand der Umzug von Hugo und Lina Kessler in den Kaiser-Friedrich-Ring 80 im Zusammenhang mit dem Verkauf der Häuser, auch dem in der Hellmundstraße, in dem die beiden bisher selbst gewohnt hatten. Auf der Gestapokarteikarte ist als Einzugsdatum der 1. Juli 1939 eingetragen. Räume erhielten sie in der Wohnung der Kahns, ebenfalls eine Viehhändlerfamilie, die sozusagen aus Idstein geflohen war und in Wiesbaden Schutz suchte. Wie viel Raum Kesslers dort hatten, ist nicht bekannt, auch nicht, ob der Einzug auf Veranlassung des Wohnungsamtes erfolgte oder durch eigen Initiative, etwa alte Geschäftsbeziehungen, zustande gekommen war. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt noch kein offizielles Judenhaus, aber die neuen Mietgesetze machten eine behördliche Einweisung dennoch möglich.
Vermutlich war der Einzug dort ohnehin nur als kurzfristige Übergangslösung gedacht, vielleicht in der Hoffnung, bald ausreisen zu können. Sie blieben auch nur vier Wochen und zogen dann in die Rauenthaler Str. 3, ihre letzte Adresse vor der Deportation.
Aber noch hofften Kesslers, dass sie ihre Emigrationspläne noch realisieren könnten. Das zeigt ein Brief, den Hugo Kessler am 2. August 1939 an die Devisenstelle schrieb und in dem er detailliert aufführte, was er mit dem eingegangenen Geld finanzieren wollte.
Der erste Betrag war für die Begleichung eines Teils der auch ihm auferlegten Judenvermögensabgabe vorgesehen. Insgesamt belief sich dieser Betrag zunächst auf 9.500 RM, allerdings wurde zuletzt auf die Eintreibung von 450 RM verzichtet.[153] Eine Summe von 3.880,55 RM sollte aus dem Verkaufserlös dafür gezahlt werden, einen Teil der ersten Raten hatte er vermutlich schon bar dem Fiskus überwiesen. Weiterhin beanspruchte der Makler 800 RM für seine „Dienste“ bei der Entjudung des Grundbesitzes.
Rund 7.800 RM beabsichtigte er für seine Auswanderung und für den Lebensunterhalt bis zu diesem Datum aufzuwenden.[154] Wie dem Schreiben zu entnehmen ist, war geplant, zur Tochter nach Venezuela zu gehen. Vermutlich war es leichter für dieses südamerikanische Land ein Visum zu erhalten als für die USA.
Die geplanten Ausgaben wurden von der Devisenstelle im Prinzip bewilligt, die Reisekosten natürlich nur gegen einen Beleg. Auch für Neuanschaffungen wurden 1.000 RM freigegeben und der monatliche Freibetrag wurde auf 500 RM gesetzt.[155]
Im Sommer 1940 musste Hugo Kessler gegenüber der Devisenstelle eine Vermögenserklärung einreichen, in der er sein noch vorhandenes Vermögen, seine monatlichen Einkünfte und seinen Bedarf zur Deckung des Lebensunterhalts angeben sollte. Er besaß nach eigenen Angaben noch knapp 5.200 RM, ein relativ kleiner Betrag, wenn man bedenkt, dass er erst ein Jahr zuvor drei Häuser verkauft hatte. Vermutlich hatte er den größten Teil der erhaltenen Beträge, soweit sie nicht an den Staat abgeflossen waren, in Güter und Inventar für die Ausreise investiert. 1939 hatte er auch noch Mieteinnahmen verzeichnen können. Die fielen jetzt weg, weshalb er schrieb, dass er 1940 kein Einkommen zu erwarten habe. Inzwischen hatte sich auch die Hoffnung, noch auswandern zu können, ebenfalls weitgehend zerschlagen, wie man seinen weiteren Angaben zu seinem finanziellen Bedarf entnehmen kann:
“Seither brauche ich zu meinem Lebensunterhalt, für 2 Persohnen RM 500,-. Durch den Krieg, sind wir an unserer Ausreise, auf ungewisse Zeit gehindert, deshalb müssen wir, mit längerem Verbleiben rechnen, müssen uns mehr Einschränken, dass wir Monatlich ab 1. Juni 1940 nur 300,- abheben.“[156]
Wie für so viele andere, war mit dem Kriegsbeginn auch für das Ehepaar Kessler die Falle zugeschnappt. Jetzt kamen nur noch die heraus, die besonders clever waren oder über beste Verbindungen verfügten. Für einen einfachen Pferdemetzger gab es da kaum mehr Hoffnung. Mit dem Kriegsausbruch war vermutlich auch die Verbindung zu den Kindern endgültig abgebrochen.
Hugo und Lina Kessler blieben noch ziemlich genau zwei Jahre in der Wohnung in der Rauenthaler Str. 3 im ersten Stock wohnen. Sie teilten diese mit der aus Laufersweiler bei Simmern stammenden Elsa Haendel, geborene Löser, deren Mann, der Kaufmann Hugo Haendel, am 22. September 1937 in Wiesbaden verstorben war. Nur die wenigen Briefe, die in dieser Zeit zwischen der Devisenstelle und Hugo Kessler ausgetauscht wurden, geben einen vagen Einblick in die Not, in die sie sich in den letzten Monaten ihres Lebens in Wiesbaden befanden.
Am 27. Juni 1941 bat er die Behörde um Erlaubnis, dass seine Frau, die zur Arbeit in der ‚Verbundstoff Fabrik Söhngen Co. in Wiesbaden „herangezogen wurde“, den Lohn in bar entgegennehmen dürfe. „Selbstverständlich, werden wir, monatlich, diesen bar Betrag, weniger abheben, an der Bank, als Sie mir, erlaubt haben.“ Die Bitte wurde ihm gewährt. [157]
Das nächste Bittschreiben verfasste er fast ein Jahr später im April 1942, als die Deportationen schon im Gange waren. Der Brief zeugt allerdings auch von den Illusionen, die sich die Menschen hier noch über den Zweck dieser „Evakuierungsmaßnahmen“ machten. Er schrieb:
“Ich bitte mir, die Erlaubnis zu Erteilen, kleine Pakete, und kleine Geldbeträge, nach Polen zu schicken. Ein Teil der Verwanden, befindet sich, in Piaski bei Lublin, der andere Teil, befindet sich momenthan noch, auf der Reise, Sie, schrieben letztmalig, aus Warschau !
Ich bitte, um baldigste Antwort.“[158]
Um welche Personen es konkret ging, ist nicht klar, aber möglicherweise meinte er seinen Schwager Adolf Kahn, der im März 1942 in das Warschauer Ghetto deportiert worden war. Aber offenbar verfügte er immerhin über irgendwelche Nachrichten von seinen deportierten Verwandten. Wie ihn diese erreicht hatten, bleibt allerdings ein Rätsel.
Der Adressat reagiert knapp. Der Brief ging an den Absender mit der Bemerkung zurück, dass „derartige Genehmigungen von der Devisenstelle nicht erteilt (werden).“[159]
Sechs Wochen später mussten dann auch Hugo und Lina Kessler ihren Verwandten folgen. Auch sie brachte der Zug, der am 10. Juni 1942 von Wiesbaden aus über Frankfurt in den Osten fuhr nach Lublin. Er hielt dort nur kurz, um arbeitsfähige junge Männer für den Aufbau des nahe gelegenen Konzentrationslagers Majdanek auszuwählen. Für die Übrigen ging die Fahrt weiter nach Sobibor, wo sie vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden.
Das Schicksal der Familie von Emma Kahn, der ersten Frau von Hugo Kessler
Es konnte nicht ermittelt werden, ob weitere Verwandte von Hugo Kesslers zweiter Frau Lina der Shoa zum Opfer fielen. Dies war allerdings in der Familie von Hugos erster Frau Emma, geborene Kahn, der Mutter von Herta Bertha und Irma Johanna mehrfach der Fall.
Ihre ältere Schwester Bertha, geboren am 3. August 1882 in Bischofsheim, hatte ebenfalls standesgemäß einen Viehhändler und Metzger aus Siegen geheiratet. Adolf Ferber, geboren am 10. Oktober 1874, stammte aus einer Familie, deren Reichtum schon im 19. Jahrhundert so manchen Bewunderer hatte.[160] Er war eines von sieben Kindern von Heinrich Ferber, genannt der „alte Ferber“, und seiner Frau Theresia, geborene Faßbender.
Adolf und Bertha Ferber wurden am 22. Oktober 1941 von Köln aus in das Ghetto Lodz / Litzmannstadt deportiert.
Da es sich bei diesem Transport um einen von Kölner Juden handelte,[161] muss man davon ausgehen, dass Adolf und Bertha Ferber schon vor längerer Zeit von Siegen in die Domstadt am Rhein gezogen waren. Im Adressbuch von Köln aus dem Jahr 1938 ist ein Adolf Ferber sogar als Eigentümer des Hauses Rosenstr. 5 verzeichnet.[162]
Der Transport selbst gehört zu den ersten systematischen Massendeportationen in den Osten, die mit dem von Göring erlassenen Auswanderungsverbot für Juden vom 23. Oktober 1941 begannen. Das Ghetto Litzmannstadt war das Ziel dieser Oktoberdeportationen, bei denen innerhalb weniger Tage etwa 20000 Jüdinnen und Juden aus den verschiedenen Zentren jüdischen Lebens in Mitteleuropa, wie Wien, Prag, Berlin, Frankfurt und auch Köln in dieses Ghetto verbracht wurden. Hier wurden schon im Dezember 1941 erste Versuche mit Gaslastwagen als Tötungsmaschinen unternommen.
Die Kölner Stadtverwaltung hatte das große Ziel, ihre Stadt schon zum Jahresende 1941 „judenfrei“ zu machen. Deshalb verließ am 30. Oktober 1941 sogar noch ein zweiter Transport mit ebenfalls etwa 1000 Menschen das Sammellager, die Messehallen bei Deutz, mit dem Ziel Litzmannstadt. Adolf und Bertha Ferber, die mit dem ersten, hauptsächlich für ältere Juden bestimmten Zug hatten fahren müssen, überlebten zunächst die menschenunwürdigen Bedingungen, die – so Gottwaldt / Schulle – „darauf angelegt (waren), seine Insassen durch Hunger, Krankheit und Überarbeitung zu zerstören.“[163] Im Mai 1942 wurden diejenigen der Oktobertransporte, die das letzte halbe Jahr trotz allem überlebt hatten, aber nicht mehr als arbeitsfähig galten, nach Chelmo / Kulmhof in den Tod geschickt. Am 6. Mai 1942 wurden auch Adolf und Bertha Ferber dort ermordet.[164]
Emmas jüngere Schwester Rebecca, genannt Ria, erlitt mit ihrem Mann das gleiche Schicksal. Sie war am 25. Januar 1886 in Bischofsheim geboren worden und hatte am 28. April 1907 dort den Metzger und Handelsmann Hermann Gottschall, den Sohn von Moses und Karolina Gottschall, geborene Kahn, aus Klein Gerau geheiratet.[165] Gottschalls waren ebenfalls eine alteingesessene jüdische Familie des Ortes, über die im Gemeindearchiv zu lesen ist, dass sie schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Getreide- und Viehhändler dort tätig waren. Hermann Gottschall baute die Metzgerei des Vaters in der Hauptstraße zu einer kleinen Wurstfabrik aus, deren koschere Würste bis nach New York geliefert worden sein sollen.
Das Paar hatte zwei Söhne, den 1908 geborenen Herbert und den am 8. Oktober 1911 geborenen Arthur. Während beide Söhne zu den Überlebenden der Shoa gehören, fielen die Eltern ihr zum Opfer.
Schon 1933 soll ihr Sohn Herbert mit der SA in Konflikt geraten und nach Holland geflohen sein, wo er 1939 in Amsterdam auch noch wohnte. Am 6. Juni 1939 bat der Vater die Devisenstelle, ihm die Möbel schicken zu dürfen, die bisher in einem Zimmer lagerten, das zukünftig seine verwitwete Schwester bewohnen wolle.[166] Ob die Genehmigung erteilt wurde, geht aus den Akten nicht hervor.
In Amsterdam wohnte zu dieser Zeit auch Herberts jüngerer Bruder Arthur. Er war bis 1933 bei der Firma ‚D. Oppenheim’ in Frankfurt als Kaufmann beschäftigt gewesen, wurde aber dann entlassen, weil sein jüdischer Arbeitgeber infolge des Judenboykotts in Schwierigkeiten geraten war. Da aber auch die Metzgerei seines Vaters, wo er zwischenzeitlich gegen ein kleines Gehalt aushalf, zunehmend unter den Aktionen zu leiden hatte, ging Hermann in der Hoffnung, dort eine Stellung zu finden, im Dezember 1936 ebenfalls nach Holland. Aber erst im Sommer 1938 fand er in Amsterdam als Hutverkäufer wieder Arbeit. Auch ihm wollte der Vater 1939 Möbel zukommen lassen, die in Frankfurt gelagert waren, wie einem Brief des Konsulenten Dr. Hoeniger an die Devisenstelle vom 1. März 1939 zu entnehmen ist.[167] Auch in diesem Fall ist nicht klar, ob die Ausfuhr genehmigt wurde.
Angesichts der unsicheren Lage für Juden in dem deutschen Nachbarland floh Arthur von dort weiter nach Spanien und dann über Kanada nach England. Dort trat er freiwillig der holländischen Exilarmee bei, der er bis 1945 angehörte und die er bei der Invasion im Juni 1944 unterstützte.[168]
Nach dem Krieg war er 1957, obwohl er die holländische Staatsangehörigkeit besaß, nach Deutschland zurückgekehrt.[169] In Aachen hatte er sich damals niedergelassen und ein Exportgeschäft für diverse Handelsartikel eröffnet. Möglicherweise hatte er in den damals schwierigen Zeiten damit aber nur wenig Erfolg, vielleicht hielt er es im Land der Täter auch einfach nicht länger aus. Seit dem 8. Oktober 1958 war er wieder nach Holland gegangen und hatte sich in Amsterdam und im Merwedeplein 6 angemeldet.[170]
Den Eltern, die nach der Emigration der Söhne am 6. Januar 1938 ebenfalls ihren Wohnort Klein Gerau verlassen und in Frankfurt im Röderbergweg 6 eine Bleibe gefunden hatten,[171] gelang 1939 ebenfalls noch die Flucht in das benachbarte Luxemburg. Nach dem Überfall der deutschen Truppen auf die westlichen Nachbarn konnten sie im Oktober 1941 noch nach Belgien entkommen, was natürlich auch keine größere Sicherheit bot. Sie wurden gefasst und in das SS-Lager Mechelen eingeliefert. Am 24. Oktober 1942 brachte ein Transport sie von dort in das Konzentrationslager Auschwitz. Wann sie dort ermordet wurden, ist nicht bekannt.[172]
In Klein Gerau wurden zu ihrem Gedenken, aber auch zur Erinnerung an ihre Söhne 2002 vier Stolpersteine verlegt. Eine Gedenkmauer mit einer Tafel zur Erinnerung an die Reichspogromnacht wurde aus den Steinen des Hauses von Hermann und Rebecca Gottschall errichtet, das gegen viele Proteste am Tag des Holocaust-Gedenktages im Jahr 2000 abgerissen worden war.[173]
Emmas übrigen Geschwistern Berthold, Marx, Julius und Dina hingegen gelang mit ihren jeweiligen Partner bzw. Familien die Flucht ins rettende Ausland.
Berthold Kahn, geboren am 7. Januar 1888 in Bischofsheim, war mit Selma Lehmann, geboren am 9. Oktober 1898 in Schaafheim, verheiratet. Die Ehe war in ihrem Geburtsort am 1. Juni 1920 geschlossen worden.[174] Berthold hatte die elterliche Metzgerei in Bischofsheim übernommen und hatte wegen seiner niedrigen Preise und auch wegen der Qualität seiner Würste einen festen Kundenstamm.[175] Auch gegen ihn gingen die Nazis mit Denunziationen vor. Er habe, so hieß es, Fleisch von verendetem Vieh verkauft, weshalb man ihn 1934 inhaftierte. 1935 griff man die Bauern, die weiter mit ihm Handel betrieben, mit einer sogenannten Prangertafel an, auf der sie als angebliche „Volksschädlinge“ geoutet wurden. 1937 gab er resigniert sein Geschäft auf. Nach der Reichspogromnacht wurde auch er verhaftet. Sein Name taucht auf einer nur schwer zu entziffernden Liste des KZs Buchenwald auf.[176] Zwar gelang ihm, seiner Frau und seinen drei Töchtern über Luxemburg die Flucht, aber zumindest er wurde vermutlich noch in Frankreich im Lager Les Milles Aix en Provence interniert,[177] bevor die Familie dann irgendwann, gemeinsam oder getrennt, nach England gelangte. In einem Brief seiner Tochter vom März 1946 aus Halifax in Yorkshire berichtete diese von verschiedenen Opfern in der Familie, sie schreibt aber auch, dass ihre Eltern und eine Schwester zur Zeit zusammen gesund in Luxemburg leben würden und ihre zweite Schwester in London verheiratet sei.[178]
Berthold Kahn verstarb am 7 Januar 1981 in Florida, seine Frau vermutlich 1968 in Rotterdam.[179]
Marx / Max Kahn, der jüngere, am 26. Oktober 1889 geborene Bruder,[180] war gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs am 16. Oktober 1914 in Frankreich gefallen.[181]
Die jüngste Schwester von Emma Kessler, Dina Kahn, geboren am 23. März 1897 heiratete am 31. Oktober 1919 in Bischofsheim den am 25. Juli 1882 geborenen Textilhändler Julius Stern.[182] Sie lebten in Frankfurt, wo auch die beiden Kinder, Werner am 7. Januar 1921 und Margot am 10. Januar 1922, geboren wurden. 1939 wurden die Eltern und ihr Sohn in England registriert,[183] eine Internierung für Julius Stern wurde am 12. Dezember 1939 aufgehoben.[184] Am 27. März 1940 kamen Dina und ihr Mann mit dem Schiff „SS Georgia“ in die USA. Als Dina Stern am 28. August in Chicago 1940 ihren Antrag auf Einbürgerung stellte, lebten auch die beiden Kinder in Illinois. Aber schon vier Jahre später war ihr Mann dort im Juni 1944 verstorben.[185] Wann Dina Stern verstarb, konnte nicht ermittelt werden.
Betrachtet man abschließend das Schicksal dieser weit verzweigten jüdischen Familie Kessler, das mehrfach auch mit Wiesbaden verbunden war, so ist man erschüttert über die große Zahl der Opfer die allein aus dem engeren Familienkreis zu beklagen sind. Stolpersteine zur Erinnerung an Hugo und Lina Kessler sind bisher in Wiesbaden nicht verlegt worden.
Veröffentlicht: 14. 09. 2023
Anmerkungen:
[1] Da die Familie Kessler sehr groß und vielfach verzweigt ist, zudem durch Ehen untereinander auch miteinander verwoben war, ist es sinnvoll den oben rechts eingefügten Stammbaum mit der rechten Maustaste in einem eigenen TAB zu öffnen, sodass man immer wieder problemlos auf ihn zurückgreifen kann. Allerdings enthält der Stammbaum nur die Nachkommen der Familie selbst, nicht aber die Stammbäume der jeweils eingeheirateten Familien. Andernfalls wäre der Stammbaum völlig unübersichtlich geworden. Nur von der Familie Königsthal sind die Eltern der jeweiligen Partner der Kessler-Kinder eingefügt.
Im ersten Teil werden die Kinder von Moses und Lina Kessler und wiederum deren Kinder in der Reihenfolge ihrer Geburtsdaten abgehandelt. Dadurch ist es immer wieder nötig, auf die erste Generation nach Moses Kessler zurückzuspringen. Diese Vorgehensweise ließ sich nicht immer durchhalten, weil es auch zu einer Eheschließung zwischen Onkel und Nichte kam. Im zweiten Teil wird dem Schicksal der Judenhausbewohner Hugo und Emma Kahn sowie ihrer Kinder nachgegangen. In einem letzten, kürzeren Abschnitt wird auch das der Geschwister der bereits früh verstorbenen ersten Frau von Hugo Kessler, Emma Kahn, knapp dargestellt.
[2] Müller, Juden in Gießen, S. 326.
[3] Information Aktives Museum Südwestfalen.
[4] Ebd.
[5] Lina Kessler starb am 6.12.1923, August am 5.3.1924 und Moses Kessler am 24.7.1925, Müller, Juden in Gießen, S. 326 f.
[6] Ebd.
[7] Heiratsregister Karlshafen 10./ 1902. Meta Königsthal war am 29.3.1884 geboren worden. Weitere Ausführungen zur Familie Königsthal sind unten in diesem Kapitel zu Helene Kessler zu finden.
[8] Siehe Müller, Juden in Gießen, S. 327.
[9] https://vha-1usc-1edu-1vd5a2vvf061e.proxy.fid-lizenzen.de/testimony/22168?from=search&seg=6&mm=img. (Zugriff: 20.09.2023). Um das Interview sehen zu können, bedarf es einer besonderen Lizenz.
[10] Müller, Juden in Gießen, S. 327
[11] Ebd. S. 226
[12] Dieses Geburtsdatum nannte sie in dem Interview. In Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 124 ist ihr Geburtstag ohne Quellenangabe dagegen mit dem 4. Mai 1927 angegeben.
[13] Müller, Juden in Gießen, S. 226.
[14] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 124. Max Hess ist später in Auschwitz ermordet worden, siehe https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de999428. (Zugriff: 20.09.2023).
[15] Heiratsregister Wetzlar 114 / 1925.
[16] Nicht richtig ist hier die Angabe bei Müller, Juden in Gießen, S. 327, wonach die Ehe bereits 1928 geschieden sein soll.
[17] https://www.giessen.de/index.php?ModID=7&FID=2874.2959.1&object=tx%7C2874.2959.1. (Zugriff: 20.09.2023).
[18] Dies wird fälschlicherweise in Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 124 gesagt.
[19] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 124.
[20] Müller, Juden in Gießen, S. 327.
[21] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01010503/0952/122958549/001.jpg. (Zugriff: 20.09.2023).
[22] Ebd.
[23] Kingreen, Gewaltsam verschleppt, S. 373, dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.S. 214. Unklar ist aber bisher in der Forschung geblieben, ob die jeweiligen Landräte bestimmte Zahlenvorgaben hatten.
[24] Kingreen, Großmarkthalle, S. 157.
[25] Er ist mit der Häftlingsnummer 11352 als einer der vielen am 29.7.1942 Verstorbenen im Memorial-Book von Majdanek eingetragen. https://www.majdanek.eu/en/prisoners-results?firstname=Karl&lastname=Kessler&day=&month=&year=&place-of-birth=&prisoners-search-submit=SEARCH. (Zugriff: 20.09.2023). Siehe auch https://de.findagrave.com/memorial/109367095/karl-kealer. (Zugriff: 20.09.2023).
[26] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 214.
[27] Müller, Juden in Gießen, S. 327. Wann und wo die Eheschließung stattfand, konnte nicht ermittelt werden. Die Vermutung, dies sei in Weißenfels geschehen, https://aktives-gedenkbuch.de/opfer/kessler-louis/, (Zugriff: 20.09.2023), wurde vom dortigen Stadtarchiv nicht bestätigt.
[28] https://aktives-gedenkbuch.de/opfer/kessler-louis/. (Zugriff: 20.09.2023).
[29] https://www.giessen.de/index.php?ModID=7&FID=2874.2960.1&object=tx%7C2874.2960.1. (Zugriff: 20.09.2023).
[30] https://www.giessen.de/index.php?ModID=7&FID=2874.1268.1&object=tx%7C2874.1268.1. (Zugriff: 20.09.2023).
[31] Müller, Juden in Gießen, S. 327.
[32] Ebd.
[33] Frank, Schalom, meine Heimat, S. 16.
[34] Heiratsregister Karlshafen 5 / 1914., dazu Müller, Juden in Gießen, S. 327.
[35] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2280/images/47294_302022005557_0584-00649?pId=6690985 (Zugriff: 20.09.2023).
[36] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2280/images/47294_302022005557_0578-00866?pId=6703908. (Zugriff: 20.09.2023).
[37] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/62308/images/43290879-New_York-167192-0055?pId=286796079. (Zugriff: 20.09.2023).
[38] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/67461428/person/322329200986/facts. (Zugriff: 20.09.2023).
[39] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/67461428/person/322329256742/facts. (Zugriff: 20.09.2023).
[40] Der Ablauf dieser September-Deportationen ist umfassend dokumentiert in Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 321-360. Im Rahmen dieser Arbeit können nur schlaglichtartig einzelne Punkte aufgegriffen werden.
[41] Ebd. S. 324 und 342.
[42] Ebd. S. 342.
[43] Dies ist nicht gänzlich gesichert, aber Kingreen und auch Gottwaldt / Schulle gehen nach intensiven Forschungsarbeiten davon aus. Eichler, der den Forschungsstand in dieser Frage widergibt, schreibt abschließend, dass „das Transportziel Treblinka im Folgenden als Faktizität gesehen (wird)“. Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 357.
[44] Heiratsregister Gießen 118 / 1902.
[45] Müller, Juden in Gießen, S. 327.
[46], Ebd.
[47] Ebd.
[48] Ebd. und Information des Stadtarchivs Weißenfels vom 6.9.2023.
[49] https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20345/Weissenfels%2015052013%20040.jpg. Hier ist auch sein Grabstein abgebildet.
[50] Das Karl und Frieda Kessler eine Adoptivtochter gehabt haben sollen, wie es im Beitrag des Aktiven Museums Südwestfalen heißt, https://aktives-gedenkbuch.de/opfer/kessler-louis/, (Zugriff: 20.09.2023), konnte vom Stadtarchiv Weißenfels nicht bestätigt werden. Das schließt aber nicht aus, dass es eine solche Tochter gab.
[51] Information von Anita und Dan Frank an das Aktive Museum Südwestfalen vom 4.3.2011.
[52] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 203, dazu https://www.rosalux.de/news/id/9211/gedenken-an-die-ermordeten-juden-von-zamosc. (Zugriff: 20.09.2023).
[53] Die Angaben beruhen auf Informationen des Aktiven Museums Südwestfalen. Er ist bei Müller, Juden in Gießen, nicht aufgeführt, vermutlich weil er bereits vor dem Umzug der Familie nach Gießen bereits verstorben war.
[54] Geburtsregister Siegen 130 / 1883.
[55] Auch zu den folgenden Angaben Müller, Juden in Gießen, S. 326 und 655f.
[56] Walter wurde am 29.10.1906 und Karl Max am 22.8.1908 in Lüdenscheid geboren, Karl Max hat die Zeit des Nationalsozialismus überlebt, er verstarb 1968 in Friedberg / Hessen, Müller, Juden in Gießen, S. 655.
[57] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 343.
[58] Müller, Juden in Gießen, S. 656.
[59] Ebd., S. 655.
[60] Siehe dazu auch im Folgenden Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 342-347.
[61] Ihre Eltern waren Hermann Natt und seine Frau Auguste, geborene Strauß, siehe Müller, Juden in Gießen S. 451.
[62] Hier ist die Angabe von Müller, Juden in Gießen, S. 656. der ihr Geburtsjahr mit dem Jahr 1938 angibt, falsch. Siehe dazu https://www.joodsmonument.nl/nl/page/150903/yvonne-suskind. (Zugriff: 20.09.2023).
[63] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 346 gibt fälschlicherweise an, dass auch Frieda Süskind mit dem gleichen Transport, wie ihr Sohn mit seiner Familie deportiert worden sei. Siehe dazu https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de980498. und https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de934784. (Zugriff: 20.09.2023).
[64] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 346, dazu https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11644753&ind=1 und https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4894237&ind=1. (Zugriff: 20.09.2023).
[65] Heiratsregister Gießen 190 / 1906.
[66] Müller, Juden in Gießen, S. 287.
[67] Ebd.
[68] Ebd.
[69] Ebd.
[70] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 127 f. Nicht stimmig ist allerdings die dortige Angabe zu seinem Bruder Leopold, der am 16.4.1904 als 15jähriger bei seinem Bruder Adolf und dessen Frau in Lüdenscheid in die Konkordiastr. 4 eingezogen sein soll, obgleich Adolf erst 1919 nach Lüdenscheid gezogen war, ebd. S. 131.
[71] Ebd. S. 130.
[72] Ebd. S. 129.
[73] https://mappingthelives.org/bio/3d88317c-7d4b-4011-8c26-052a0435c126?language=de. (Zugriff: 20.09.2023).
[74] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de899004 und https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de899066. Dazu auchhttps://www.kulturforum-witten.de/media/stadtarchiv_pdf/2022-01-24_AR_Stadtplan_Stolpersteine.pdf. (Zugriffe: 20.09.2023).
[75] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de891358. (Zugriff: 20.09.2023).
[76] Dillmann, Juden aus Lüdenscheid, S. 129.
[77] Ebd.
[78] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de891358. (Zugriff: 20.09.2023).
[79] Geburtsregister Gießen 149 / 1891.
[80] Müller, Juden in Gießen, S. 326.
[81] Ebd.
[82] Ebd. S. 336.
[83] Heiratsregister Gießen 98 / 1913.
[84] Frank, Schalom, meine Heimat, S. 11.
[85] Ebd. Das reich illustrierte Buch enthält eine Reihe von Familienbildern.
[86] Ebd. S. 11.
[87] Ebd. S. 23.
[88] Heiratsregister Helmarshausen 8 / 1934.
[89] Frank, Schalom, meine Heimat, S. 37.
[90] Ebd. S. 52
[91] Ebd. S. 58.
[92] Ebd. S. 112 f.
[93] Ebd. S. 135.
[94] Ebd. S. 145 f.
[95] Ebd. S. 158.
[96] https://www.landkreiskassel.de/der-landkreis/29-plus-eine/meta-frank-geb-koenigsthal.php. (Zugriff: 20.09.2023).
[97] Müller, Juden in Gießen, S. 326.
[98] Heiratsregister Bischofsheim 2 / 1906.
[99] Hartwig-Thümer, Fast vergessen, S. 9, 24.
[100] Ebd. S. 20.
[101] Sterberegister Wiesbaden 918 / 1916.
[102] Geburtsregister Wiesbaden 2257 / 1906 und 530 / 1910.
[103] Heiratsregister Wetzlar 9 / 1917. Ihr Vater Jonas Mayer stammte aus Wehr, lebte aber mit seiner am 10.3.1865 in Laasphe geborenen Frau zum Zeitpunkt der Eheschließung der Tochter in Montabaur. Auch ihre Eltern Simon und Rosalia Rosenberg, geborene Elsoffen, waren Metzger gewesen.
[104] HHStAW 685 400 IIa (2, 15, 26).
[105] Ebd. (2).
[106] Ebd. (53).
[107] Ebd. (54).
[108] Ebd. (89).
[109] Ebd. (97).
[110] Ebd. (98).
[111] In seiner Steuererklärung aus dem Jahr 1930 gab er an, dass er dort nur ein Zimmer bewohne, zwei weitere Zimmer habe er wiederum als Untermeiter von seinen Mietern für insgesamt etwa 70 RM monatlich angemietet – eine fürwahr eigenartige Konstruktion. Siehe ebd. S (119).
[112] Ebd. (181).
[113] Ebd. (113, 125, 152). Erstaunlich ist dann allerdings, dass sie im Jahr 1934 wieder auf 2.400 RM anstiegen, ebd. (164).
[114] HHStAW 685 400 IIa (89).
[115] Ebd. (153).
[116] HHStAW 518 788 (30, 36). Neben der Aussage von Leo Pfifferling, der angestellter Metzger bei Hugo Kessler war und bezeugte, dass das Fleisch „völlig einwandfrei“ gewesen sei, liegt auch eine Zeugenaussage von Wilhelm Sandel vom Vorstand der damaligen Metzgerinnung vor. Er war ebenfalls an der Aktion beteiligt, konnte aber nach eigenen Angaben keinen Einfluss auf die Beschlagnahmung nehmen. Eigentlich sei es darum gegangen, zu überprüfen, ob das Pferdefleisch vorschriftgemäß von dem übrigen Fleisch gesondert gelagert wurde, was der Fall war. Er sagte allerdings auch aus, dass bei dem gepökelten Fleisch ein „leichter Geruch“ festzustellen und das Äußere mancher Würste angeschimmelt gewesen sei, was aber – wie er betonte – nicht als Indiz dafür gewertet werden könne, dass sie verdorben gewesen seien. Ebd. (201).
[117] HHStAW 685 400 IIa (173). Das Geschäft wurde vermutlich an einen Metzger Stamm verkauft, aber die zuständige Behörde konnte nach dem Krieg dies auf Grund verlorener Unterlagen nicht mit Sicherheit bestätigen, siehe HHStAW 518 788 (37).
[118] HHStAW 518 788 (11).
[119] Geburtsregister Dotzheim 204 / 1904.
[120] Geburtsregister Dotzheim 88 / 1903.
[121] Heiratsregister 1042 / 1929. Die Hochzeit fand am 27. 12 1929 statt.
[122] Geburtsregister Dotzheim 889 / 1930 und 665 / 1933.
[123] HHStAW 518 81615 (4), ebenso HHStAW 893 I (13).
Ob das Geschäft verkauft oder liquidiert wurde, konnte im Entschädigungsverfahren nicht geklärt werden, siehe HHStAW 518 788 (37).
[124] HHStAW 893 I (34).
[125] Ebd. (9).
[126] Ebd. (8, 36).
[127] Ebd. (103e).
[128] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6165-0447?pId=1030809844. (Zugriff: 20.09.2023). Als Kontakt in den USA hatte er einen Freund namens L. Rapp in New York angegeben. Zur Ausreise siehe auch HHStAW 519 893 I (73). Wie so oft weigerte sich die Entschädigungsbehörde zunächst die Kosten der Ausreise in die USA, sogar die von der Schweiz nach Holland zu entschädigen. Es wurde behauptet, die Ausreise in die Schweiz sei bereits die Flucht gewesen, die ihn in Sicherheit gebracht hätte. Siehe dazu das Urteil der Entschädigungskammer Wiesbaden, die die Entscheidung der Behörde 1962 aufhob, ebd. (116).
[129] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6191-0694?pId=23617163. (Zugriff: 20.09.2023).
[130] HHStAW 518 893 I (110), dazu https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6191-0694?pId=23617163. (Zugriff: 20.09.2023).
[131] HHStAW 518 893 I (128).
[132] Ebd. (58).
[133] Ebd. (76).
[134] Ebd. (18).
[135] Ebd. (162).
[136] Datenbank Jüdische Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs Wiesbaden .
[137] https://www.hattingen.de/stadt_hattingen/Bildung%20und%20Kultur/Stadtarchiv/Stadtgeschichte/J%C3%BCdische%20Geschichte/16_juden.pdf. (Zugriff: 20.09.2023). Levy Leo war der Sohn von Nachmann Portman und seiner Frau Minna, geborene Kadden aus Wohra bei Kirchhain in Hessen. Minna Portmann wurde am 12.10.1942 in Theresienstadt ermordet. Nachmann Portmann war bereits am 1.5.1936 verstorben. In GENI wird als Geburtsdatum von Leo Portmann anders als in der Datenbank Jüdische Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs nicht der 14. Januar, sondern der 28. Januar 1901 angegeben, siehe https://www.geni.com/family-tree/index/4460696194090043628. (Zugriff: 20.09.2023).
[138] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/2845914:8842?tid=&pid=&queryId=dcaa5409efddf3f8840123cec6e8fb72&_phsrc=svo2104&_phstart=successSource. und https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/2845913:8842?tid=&pid=&queryId=e4ea530f49149c164322eebbf391fa40&_phsrc=svo2106&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.09.2023).
[139] HHStAW 518 788 (o.P.). In einem anderen Bescheid aus dem Jahr 1956 ist sie noch mit dem Namen Portmann adressiert, ebd. (96).
[140] Ebd. (91).
[141] Ebd. (11). !936 waren es etwa 1.300, 1937 etwa 2.900 RM, 1938 etwa 2.000 RM und 1939 etwas mehr als 1.300 RM.
[142] https://collections-server.arolsen-archives.org/V/Ous_partitions/33/01010602/aa/ah/de/001.jpg. (Zugriff: 20.09.2023).
[143] Meinl / Zwilling, Legalisierter Raub, S. 434 ff.
[144] HHStAW 519/3 3651
[145] HHStAW 518 788 (29).
[146] Ebd. (31).
[147] Ebd. (32-34).
[148] Ebd. 29).
[149] HHStAW 519/3 3651 (1).
[150] Ebd. (3, 4, 6). Dazu auch HHStAW 518 788 (88). Dazu auch HHStAW 518 788 (88). Das Haus wurde im Krieg schwer beschädigt und nach dem Krieg durch einen einfachen Zweckbau ersetzt.
[151] HHStAW 519/3 3651 (4).
[152] Stadtarchiv Wiesbaden WI / 3 983.
[153] HHStAW 518 788 (11).
[154] HHStAW 519/3 3651 (6), dazu HHStAW 518 788 (25).
[155] HHStAW 519/3 3651 (9, 11
[156] Ebd. (14). Orthographie und Zeichensetzung wie im Original. Die Devisenstelle hatte ihm am 23.5.1940 den Freibetrag bereits auf 400 RM heruntergesetzt. Ob er dann auf nur noch 300 RM abgesenkt wurde, ist den Akten nicht zu entnehmen.
[157] HHStAW 519/3 3651.
[158] Ebd. (18). Orthographie und Zeichensetzung im Original.
[159] Ebd.
[160] Es sei im Folgenden hier ein Auszug aus den Erinnerungen des Siegener Kaufmanns August Klingspohr wiedergegeben, in dem er auch auf die besagte Familie Ferber zu sprechen kam. Die Erinnerungen erschienen 1984 in Siegerländer Heimatkalender. Für die Übermittlung des Textes sei ganz herzlich Frau Traute Fries vom Aktiven Museum Südwestfalen gedankt, die auch bei anderen Fragen zu den in Siegen ansässigen Familienmitgliedern bereitwillig Informationen zur Verfügung gestellt hat:
“Am allerschönsten war es bei Ferbers in der Hundegasse! Sie hatten einen Viehhandel und wohnten in einem alten, schiefen Haus, das zwei Etagen hatte. Unten waren Flur und Ställe, aber ein Stockwerk höher, vorn ‚/.ur Hundgasse raus, war die große Stube. Dort saßen die alte Großmutter und die Mutter Lind erzählten uns von alten Zeiten.
Wenn es im Herbst oder Winter nachmittags früh dunkelte, wurde kein Licht angezündet, da die Straßenlaterne ihr Licht in die Stube warf, daß man sich noch sehen konnte. Wurde es dann gegen 6 Uhr ganz dunkel, so begann auf der Straße ein Spektakel mit „Ju“ und ..Hü“ und „Mu“ und „Bä“! Dann kamen die Männer, der alte Ferber und seine Treiber, mit dem Vieh, das sie gekauft hatten. Runter durften wir Kinder nicht, denn das konnte der alte Ferber nicht leiden, da uns etwas zustoßen konnte.
Aber dann, wenn das Vieh im Stall gefüttert war, wurde die alte Zuglampe über dem Tisch angezündet. Jetzt kam der große Augenblick, auf den ich mich schon immer freute: Der alte Ferber trat in die Stube ein, grüßte freundlich und zog seinen blauen Kittel in die Höhe, krempelte seine gestrickte Jacke hoch und knöpfte zwei oder drei schwere Lederbeutel von seinem Körper, die er auf den Tisch ausschüttete!
Ihr lieben Leute, was kam da für Geld heraus!!! Lauter Silbergeld, Taler oder Markstücke, auch Groschen und Pfennige. Gold oder Papiergeld habe ich nicht gesehen. Aber so viel Silbergeld, daß einem die Augen übergingen! Es war gerade wie in einem Märchen.
Als viele Jahre später der Herr Reichsbankvorsteher Wark mir eine Million Goldmark zeigte, zwar in Säcken verpackt, so machte dies auf mich längst nicht den Eindruck wie die Taler in Ferbers Haus in der Hundgasse.
Wenn aber jemand denkt, der Ferber habe das Geld nur so dahingeworfen, um damit anzugeben, so irrt er! Nun erst begann die Arbeit!
Die Großmutter mit ihren zittrigen Händen, die Mutter, das Mädchen und auch wir Jungen mußten nun immer zehn Geldstücke einer Sorte aufeinanderlegen, so daß der Tisch bald wie eine Festung mit vielen Türmen aussah. Dies machte uns Jungen „schrecklichen“ Spaß. Immer, wenn wir fertig waren, hätten wir am liebsten ein paar Türme wieder umgeworfen, um sie wieder aufzubauen. Aber nun kam der alte Ferber mit seinem großen Brett, wo alles draufgestellt wurde.
Er ging dann in ein anderes Zimmer, und wir Kinder bekamen einen Apfel. Ging ich darauf nach Hause, so dachte ich oft: „Wäre doch auch mein Vater Viehhändler, und wir könnten jeden Tag einen solchen Hauten Geld zählen!“
[161] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 74.
[162] https://www.digibib.genealogy.net/viewer/image/862076331_1938_1/330/. (Zugriff: 20.09.2023). Ob es sich dabei tatsächlich um die aus Siegen zugewanderte Familie handelt, ist damit allerdings nicht sicher und würde weiterer Recherchen bedürfen.
[163] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 66.
[164] https://aktives-gedenkbuch.de/opfer/ferber-adolf/. und https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1604551. (Zugriff: 20.09.2023).
[165] Heiratsregister Bischofsheim 9 / 1907.
[166] HHStAW 519/3 17600 (o.P.).
[167] Ebd. und HHStAW 518 36707 (25, 27).
[168] HHStAW 518 36707 (9, 16, 25).
[169] Ebd. (21,
[170] Ebd. (39).
[171] Ebd. (27).
[172] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de878248 und https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de877964. (Zugriff: 20.09.2023).
[173] https://www.alemannia-judaica.de/worfelden_synagoge.htm. (Zugriff: 20.09.2023). Hier werden auch weitere Informationen zu den Familien der Überlebenden Kinder von Rebecca und Hermann Gottschall gegeben.
[174] http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20337/WRoth%20JuedLeben%20Schaafheim.pdf. (Zugriff: 20.09.2023).
[175] Schleindl, Verschwundene Nachbarn, S.68.
[176] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01010501/0014/119865902/001.jpg. (Zugriff: 20.09.2023).
[177] HHStAW 518 17972 (3).
[178] Schleindl, Verschwundene Nachbarn, S.74. Der Brief ist dort als Faksimile abgedruckt.
[179] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/177240118/person/322302078275/facts und https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/177240118/person/322302078276/facts?_phsrc=svo2138&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.09.2023).
[180] Geburtsregister Bischofsheim 61 / 1889.
[181] https://www.alemannia-judaica.de/bischofsheim_gg_synagoge.htm. (Zugriff: 20.09.2023).
[182] Heiratsregister Bischofsheim 41 / 1919. Seine Eltern waren Elias Stern und seine Frau Elisabeth, geborene Grünewald.
[183] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/11692519:61596. (Zugriff: 20.09.2023).
[184] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/97967:61665. (Zugriff: 20.09.2023).
[185] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/451473119:61196. (Zugriff: 20.09.2023).