Karl und Berta Reininger


Regina Beck, Regina Sichel, Julius Beck
Das Judenhaus heute
Eigene Aufnahme
Regina Beck, Regina Michel, Julius Beck
Lage des ehemaligen Judenhauses
Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Herrngartenstr. 11

 

 

 

 

 

 

 


Berta und Karl Reininger,[1] die am 16. März 1940 mit ihrer Hausangestellten Franziska Horowitz in das Haus in der Herrngartenstraße einzogen, waren dort die ersten Judenhausbewohner im eigentlichen Sinne. Alle anderen zu diesem Zeitpunkt dort lebenden jüdischen Bewohner waren eingezogen, bevor man aus dem Haus ein Ghettohaus gemacht hatte. Seit dem Jahreswechsel 1939/40 war auch in Wiesbaden mit den Umquartierungen begonnen worden und Juden verloren immer häufiger ihre bisherigen Wohnungen, seit die Mieterschutzgesetze durch die Novellierung von 30. April 1939 für sie faktisch keine Gültigkeit mehr besaßen. Aber auch für die neuen Bewohner gibt es keinen expliziten Beleg dafür, dass der Umzug durch das städtische Wohnungsamt, die Partei, die Polizei oder die örtliche Geschäftsstelle der Reichsvereinigung angeordnet war – was natürlich nichts heißt. Zuvor hatte das Paar, das erst seit kurzer Zeit verheiratet war, in der Schlichterstr. 10 im zweiten Stock gewohnt. Für Karl Reininger war die Ehe mit der etwa 25 Jahre jüngeren Berta Strauss aus Pirmasens bereits die zweite Ehe. Er selbst stammte aus einer weit entfernten Region, nämlich aus dem kleinen, südlich von Wien gelegenen Ort Stotzing im Burgenland, heute dem Bezirk Eisenstadt zugeordnet.[2] Wann und aus welchen Gründen er seine Heimat verließ, ist nicht bekannt, auch über seinen familiären Hintergrund gibt es nur vage Informationen.[3]

Karl Reininger, Elise Wertheimer Reininger, Berta Strauss Reininger, Joseph Wertheimer, Minna Wertheimer, Siegfried Strauss, Rosalie Rosa Strauss, Judenhaus Wiesbaden, Herrngartenstr. 11
Stammbäume der Familien Reininger – Strauss – Moch – Ehrenfeld
Genealogische Datenbank der Juden Wiesbadens

In erster Ehe war Karl Reininger mit Elise Wertheimer verheiratet. Sie war am 22. März 1881 im badischen Kippenheim als achtes von insgesamt zehn Kindern von Joseph und Mina Wertheimer geboren worden.[4] In ihrem Heimatort, in dem es eine lange jüdische Tradition gab, war die Ehe am 10. Juli 1913 geschlossen worden. Ende des 18. Jahrhunderts lebten elf jüdische Familien in Kippenheim, einer der Familienvorstände war Naphtali Hirschel Wertheimer mit seiner Frau Kroenle Weil, die Urgroßeltern von Karl Reiningers Frau Elise. In den folgenden Jahrzehnten konnte die Gemeinde ein beträchtliches Wachstum verzeichnen, sodass im Jahr der Reichsgründung etwa 16 Prozent der Gesamtgemeinde Bürger jüdischen Glaubens waren. Danach nahm zwar ihre Zahl durch Ab- und Auswanderung wieder ab, aber 1933 waren immer noch fast 8 Prozent der Bewohner Angehörige dieser Konfession. Die alteingesessene und vielfach verzweigte Familie Wertheimer stellte davon einen beträchtlichen Teil, hatte dementsprechend in der Zeit der Verfolgung auch viele Opfer zu beklagen.[5]

Elises Vater, Joseph Wertheimer, geboren am 4. August 1841, der Sohn von Simon Wertheimer und Schönle Dreyfus, war mit Mina Eppstein aus einer anderen bedeutenden jüdischen Familie der Region verheiratet.[6] Er spielte nicht nur eine wichtige Rolle im Synagogenrat, sondern war mit seinen Söhnen auch Inhaber einer ortsansässigen Herrenkleiderfabrik.[7]

Das Schicksal der vielen Geschwister von Elise Reininger, geborene Wertheimer, kann im gegebenen Rahmen nicht umfassend untersucht werden.[8] Interessant ist aber, dass sich über ihre Schwester Sophie eine weitere Verbindung nach Wiesbaden ergab, die vielleicht auch erklärt, wieso es Karl Reininger und seine Frau dorthin verschlug.

Sophie war – wie auch die Schwester Ida – mit einem Sohn von Abraham und Fanny Moch verheiratet, Ida mit Josef Moch und Sophie mit Leo Ludwig Moch, einem Kaufmann aus Nonnenweier. Um die Jahrhundertwende hatte Letzterer mit seiner Frau in München gelebt, wo auch die beiden Söhne Max und Siegbert zur Welt kamen. Nach dem Ersten Weltkrieg, in den Ludwig Moch als Soldat eingezogen worden war, zogen er und Sophie Moch nach Limburg, wo dieser am 30. September 1926 verstarb.[9] Max, der später versuchte, über Belgien und Frankreich der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen, wurde gefasst und mit seiner Frau über Drancy nach Auschwitz deportiert.[10] Der jüngere, am 15. November 1903 geborene Siegbert, hatte am 11. Mai 1937 in Wiesbaden Rosa Ehrenfeld geheiratet,[11] eine Schwester von Selma und eine Halbschwester von Emma Ehrenfeld, einer späteren Bewohnerin des Judenhauses in der Grillparzerstr. 9. Siegbert Moch und seine Frau Rosa, wie auch seine Mutter Sophie Moch, geborene Wertheimer, gelang es, sich vor den Nazis durch ihre Flucht in die USA zu retten.

Etwa zur gleichen Zeit, in der Mochs nach Limburg zogen, waren auch Karl und Elise Reininger nach Wiesbaden gekommen. Das erste Adressbuch, in dem sie aufgeführt sind, stammt aus dem Jahr 1920. Das Paar wohnte auch in den folgenden Jahren in Biebrich in der Riehlstr. 18 im ersten Stock. Als seinen Beruf hatte Karl Reininger zunächst „Tabakfabrikant u. Handelsvertreter“ eintragen lassen, den „Tabakfabrikanten“ aber in den folgenden Jahren gestrichen. Leider liegen keine Steuerunterlagen oder andere Dokumente mehr vor, die über seine berufliche Tätigkeit in Wiesbaden genauer Auskunft geben könnten.

Karl Reininger, Elise Wertheimer Reininger, Berta Strauss Reininger, Joseph Wertheimer, Minna Wertheimer, Siegfried Strauss, Rosalie Rosa Strauss, Judenhaus Wiesbaden, Herrngartenstr. 11
Grab von Elise Reininger, geb. Wertheimer auf dem Jüdischen Friedhof Platter Straße in Wiesbaden
Eigene Aufnahme

1936 zog das Paar in die Wiesbadener Innenstadt in die Schlichterstr. 10 in den zweiten Stock.[12] Die Straße lag bereits in unmittelbarer Nachbarschaft zum Judenhaus in der Herrngartenstraße. Bald nach dem Umzug verstarb am 27. Januar 1937 Elise Reininger im St. Josefs-Hospital im Alter von 55 Jahren.[13] Kinder waren in der Ehe nicht geboren worden.

Noch im selben Jahr ging der 54jährige Karl Reininger am 16. September in Pirmasens eine neue Ehe mit Berta Strauss ein.[14] Die 29jährige Berta Strauss, geboren am 15. Juli 1908 in Pirmasens, war die Tochter von Siegmund, genannt Siegfried Strauss und seiner Frau Rosalie Jakob, genannt Rosa. Er war am 6. April 1875 in Bayreuth geboren worden, sie am 22. Dezember 1881 in Homburg an der Saar. Geheiratet hatten die beiden am 2. November 1904 in Pirmasens.[15]

Siegfried Strauss betrieb in der der Schuhstadt Pirmasens einen Ledergroßhandel, über dessen tatsächlichen Umfang im späteren Entschädigungsverfahren aber keine Klarheit gewonnen werden konnte. Paul Strauss, geboren am 20. Oktober 1905, war der ältere Bruder von Berta. Er hatte bis 1932 als kaufmännischer Angestellter im väterlichen Betrieb mitgearbeitet und musste daher die wirtschaftliche Lage des Geschäfts vor der Zeit der Verfolgung kennen. Er gab im Entschädigungsverfahren an, dass in den Jahren vor der NS-Zeit sein Vater mit dem Verkauf von Leder an die örtlichen Schuhfabriken einen Umsatz von 80.000 bis 100.000 RM jährlich gemacht habe und sein Jahreseinkommen bei etwa 5.000 RM gelegen habe.[16] Seine Schwester Berta, genannt Bertl, habe im elterlichen Betrieb, auch nach seinem Ausscheiden, mitgearbeitet und dafür monatlich etwa 250 RM bis 300 RM bezogen.[17] Das Warenlager war in einem abgetrennten Raum einer stillgelegten Schuhfabrik in der Schillerstr. 4 untergebracht, die 5-Zimmer-Wohnung der Familie, die nach verschiedenen Zeugenaussagen sehr gut ausgestattet war,[18] lag in der Kaiserstr. 5.
Die Industrie- und Handelskammer Pirmasens bezeichnete das Geschäft hingegen als „nicht bedeutend“, weitere Zeugen meinten, dass Siegfried Strauss einen Lederhandel „in bescheidenem Rahmen“ bzw. „in kleinem Umfang“ betrieben habe.[19] Neben Familienmitgliedern habe es in dem Betrieb keine weiteren Mitarbeiter gegeben. Steuerunterlagen, die die jeweiligen Aussagen bestätigen könnten, lagen schon in der Nachkriegszeit nicht mehr vor.

Dass spätestens mit den Boykottaktionen nach 1933 auch die Handelsfirma von Siegfried Strauss in Not geriet, steht außer Zweifel. Auch der Versuch von Paul Strauss, nach seinem Ausscheiden aus der Firma im gleichen Gebäude eine eigene Schuhfabrikation aufzubauen, scheiterte angesichts der politischen Verhältnisse schon bald.[20] Die jüdischen Schuherzeuger wurden, so Paul Strauss, schon sehr früh nicht mehr mit Leder beliefert. 1935 gab er die Produktion auf und zog noch für eine kurze Zeit nach Landstuhl, woher auch seine Frau Betty Reinheimer stammte, die er 1933 geheiratet hatte.[21] 1936 wanderte das Ehepaar nach Palästina aus, wo es sich in Ramatayim bei Kfar Saba niederließ.

Wie lange der Betrieb des Vaters noch aufrechterhalten werden konnte, ist nicht mehr feststellbar, aber vermutlich war auch er zu etwa der gleichen Zeit zum Erliegen gekommen, wie der seines Sohnes. 1936 oder 1937 war die Familie aus der großen Wohnung in der Kaiserstraße in eine 3-Zimmerwohnung in der Schillerstr. 9 gezogen.[22] Siegfried Strauss verstarb dort am 18. November 1937,[23] kurz nachdem seine bisher noch ledige Tochter Berta die Ehe mit Karl Reininger eingegangen war. Sie zog mit ihm nach Wiesbaden in dessen Wohnung in der Schlichterstr. 10 II, wo er bisher mit seiner ersten Frau gewohnt hatte.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Paar ursprünglich geplant hatte, gemeinsam den Lederhandel in Pirmasens fortzuführen, wie Paul Strauss im Entschädigungsverfahren verlauten ließ. Schon vor 1937 kann das keine realistische Perspektive mehr gewesen sein.[24]

Die verwitwete Rosa Strauss, Bertas Mutter, war zunächst noch in Pirmasens geblieben, Der damalige Vermieter der Wohnung der Schillerstr. 9 gab an, dass Frau Strauss zunächst beim Einzug, dann erneut nach dem Tod ihres Mannes das Mobiliar und den größten Teil ihres Hausstandes verkauft habe, sodass die Wohnung am Ende sehr notdürftig ausgestattet war. Zuletzt bewohnte sie nur noch ein Zimmer mit Küche im Dachgeschoss des Hauses. Wenn dies den Tatsachen entspricht, dann muss es sich beim Verkauf der Einrichtung um einen Akt der „Verschleuderung“ gehandelt haben. Paul Strauss, der allerdings bereits in Palästina lebte, gab hingegen an, die Möbel seien untergestellt worden und später abhanden gekommen.[25]

In jeden Fall bereitete sich Rosa Strauss offensichtlich darauf vor, ihre Heimatstadt sobald als möglich zu verlassen, zumal ab 1938 der Druck auf alle noch in Pirmasens verblieben Juden weiter verschärft wurde, sodass auch die anderen noch dort lebenden sich genötigt sahen, die Stadt zu verlassen.[26] Zudem lag die Stadt in der „Roten Zone“, einem breiten Grenzstreifen entlang der französischen Grenze, der unmittelbar vor Kriegsbeginn evakuiert wurde. Aber anders als den übrigen Bewohnern gestattete man den Juden 1940 nicht die Rückkehr in dieses Gebiet. Samuel, der Onkel von Berta Strauss, zog mit seiner Frau und seinen beiden Schwestern Isabella und Hedwig nach Mannheim, wo ein nichtjüdischer Bekannter oder Verwandter für sie eine Wohnung angemietet hatte.[27] Die verwitwete Rosa Strauss hingegen war damals nach Wiesbaden zu ihrer Tochter gezogen. Zwar ist auf ihrer Gestapokarteikarte nicht vermerkt, wann sie dort eintraf, aber die erste auf der Karte eingetragene Adresse ist die Schlichterstr. 10, wo Karl und Berta Reininger damals wohnten. Der Briefschreiber, der Paul Strauss nach dem Krieg über die letzte Zeit im Leben seiner Mutter und Schwester informierte, führte weiter aus:
“Nachdem Deine Mutter in Wiesbaden auch keinen Halt mehr hatte, war sie wochenweise bei mir, bezw. bei ihren Schwestern zu Besuch. Als Deine Mutter auch nicht mehr hierher konnte, durch Reiseverbot, fuhr ich Sonntags [sic] zu ihr und brachte das Notwendigste. Sie lebte mit Bertl und ihrem Mann zusammen in einer Wohnung.“[28]

Dass Rosa Strauss in Wiesbaden „keinen Halt“ mehr fand, spiegeln auch die Eintragungen auf ihrer Gestapokarteikarte wider. Unter Vermerken ist zunächst festgehalten, dass sie arbeitsunfähig und krank sei. Noch bezeichnender sind die vielen Wohnungswechsel in den folgenden beiden Jahren, wobei nicht mehr festzustellen ist, welche davon erzwungen und welche aus „freien“ Stücken vollzogen wurden. Anfang April zog sie aus der Schlichterstraße in die Eltviller Str. 7 in ein Haus, das nicht in jüdischem Besitz war. Es wird sich daher kaum um eine Zwangseinweisung gehandelt haben. Aber sie blieb dort nur etwa sechs Wochen. Ihre nächste Unterkunft war dann in der Moritzstr. 25, ein Haus, welches auf der NSDAP-Liste der Judenhäuser steht. Aus dieser Zeit liegt eine Aktennotiz der Devisenstelle vor, in dem ihre damalige finanzielle Lage festgehalten wurde. Sie besitze kein Vermögen und erhalte von der Jüdischen Wohlfahrtsvereinigung neben der Winterhilfe eine monatliche Unterstützung von 36 RM, zuzüglich eines Mietzuschusses von 7,90 RM.[29] In der Moritzstraße wohnte sie genau ein Jahr als Untermieterin „bei Haas“. Es handelt sich mit großer Sicherheit um die verwitwete Berta Haas, der es im März 1941 noch gelang zu ihren Kindern in die USA auszuwandern. Am 28. Mai des gleichen Jahres zog Rosa Strauss in die Riehlstr. 12, was wiederum kein Judenhaus war. Diesmal mietete sie sich für ein halbes Jahr bei dem jüdischen Ehepaar Max und Minna Berghausen ein, die am 1. September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurden. Am 25. November 1941 wechselte Rosa Strauss erneut ihre Unterkunft. Sie zog diesmal wieder zu ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, die bereits seit dem 16. März 1940 im Judenhaus in der Herrngartenstr. 11 wohnten. Vermutlich beziehen sich die Aussagen des oben zitierten Briefschreibers auf diese letzte Phase des Zusammenlebens, denn die Not, von der er sprach, muss gerade in diesen letzten Monaten bedrückend gewesen sein.

Im Juli 1940 wurde für Karl Reininger eine so genannte JS-Mappe angelegt, die dazu diente, die Vermögenswerte der Juden zu kontrollieren und für den Staat zu sichern.[30] In einem Schreiben, dem ein Formular beigefügt war, wurde auch er aufgefordert, auf diesem Bogen seine Vermögenswerte, sein Einkommen und seine monatlichen Ausgaben anzugeben. Wenn noch Vermögen vorhanden war, musste ein Sicherungskonto angelegt werden, auf das die Vermögenswerte zu transferieren waren. Nur ein bestimmter Betrag, der so genannte „Freibetrag“, durfte monatlich zum Lebensunterhalt verwendet werden. Vor der Abgabe einer genauen Vermögensaufstellung wurde dieser Freibetrag im Allgemeinen vorläufig auf 300 RM festgelegt, dann jeweils an die vorhandenen Mittel bzw. Ausgaben angepasst. Auch bei Karl Reininger betrug der vorläufige Freibetrag 300 RM, eine Summe, über die er schon längst nicht mehr verfügen konnte, weil er ein entsprechendes Einkommen nicht mehr besaß.

Karl Reininger, Elise Wertheimer Reininger, Berta Strauss Reininger, Joseph Wertheimer, Minna Wertheimer, Siegfried Strauss, Rosalie Rosa Strauss, Judenhaus Wiesbaden, Herrngartenstr. 11
Schreiben von Karl Reininger an die Devisenstelle Frankfurt
HHStAW 519/3 5950 (4)

Viele der mittellosen Juden hatten den Bürokratismus des nationalsozialistischen Machtapparats unterschätzt und die Formulare nicht ausgefüllt, weil sie kein Vermögen anzugeben hatten. So auch Karl Reininger. Er schrieb stattdessen auf einer Postkarte den knappen Satz an die Devisenstelle: „Anbei mir überlassenes Formular J.S. 13-6947 zurück, da ich vermögenlos, Sozial. Inval. Rentenempf. und unterstützungsbedürftig bin.“[31] Die Devisenstelle in Frankfurt gab sich damit aber keineswegs zufrieden, das Formular sei auszufüllen, zudem solle er angeben, welche Rente er konkret beziehe. Karl Reininger schickte daraufhin das Formular doch noch zurück – aber alle Fragen waren von ihm einfach durchgestrichen worden. In einem kleinen beiliegenden Schreiben erläuterte er seine und die finanzielle Situation seiner Frau: Er beziehe eine monatliche Rente von 54 RM und werde zusätzlich von der Jüdischen Kultusgemeinde mit Kleidung und Wäsche unterstützt. Er wohne frei, da er untervermietet habe, „um nur einigermaßen durchzukommen“.[32] Die Devisenstelle verzichtete auf die Anlage eines Sicherungskontos und setzte den Freibetrag auf 120 RM herunter [33] – auch über einen solchen Betrag verfügten Reiningers inzwischen nicht mehr.

Karl Reininger, Elise Wertheimer Reininger, Berta Strauss Reininger, Joseph Wertheimer, Minna Wertheimer, Siegfried Strauss, Rosalie Rosa Strauss, Judenhaus Wiesbaden, Herrngartenstr. 11
Meldung des Zellenwarts über die Wohnverhältnisse in der Herrngartenstr. 11 im Huni 1940
HAStAW 483 10127 (79)

Die Recherchen der Blockwarte, die die NSDAP 1940 in Vorbereitung auf die Verbringung von arbeitsfähigen Juden zum Einsatz im Osten anstellten,[34] enthielten auch Angaben über die damaligen Bewohner des Judenhauses Herrngartenstr. 11. Ihnen ist zu entnehmen, dass das Ehepaar Reininger damals drei Mansardenräume angemietet hatte, in denen insgesamt 5 Personen wohnten, somit neben Karl und Berta Reininger noch drei weitere Untermieter. Rosa Strauss war zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingezogen. Die gesamte Wohnung hatte etwa 50 qm, davon gingen etwa 12 qm für die Küche ab.[35] Faktisch bewohnten also fünf Personen zwei Zimmer. Bis auf zwei Namen sind die Untermieter von Reiningers nicht bekannt. Seit dem 16. Juli 1939 lebte in einem der Zimmer Franziska Horowitz, die Hausangestellte von Reiningers. Sicher ist auch, dass Eugen Blühdorn dort seit dem 1. Februar 1941 wohnte. Er hatte mit anderen im September 1941 bei der NSDAP einen Antrag auf Kohlelieferung für den Winter gestellt. Die NSDAP lehnte den Antrag ab, nachdem der Blockwart die folgende Auskunft erteilt hatte: „Blühdorn wohnt in Untermiete bei dem Juden Reininger und ist viel bei seiner Mutter in der Niederwaldstr. 4. Da Blühdorn sicher nicht kränklich ist, dürfte Kohlelieferung nicht in Frage kommen.“[36]

Es sind diese wenigen Hinweise und Informationen, die als kleine Mosaiksteinchen ein, wenn auch unscharfes Bild ergeben, das die Not und das Elend der in diesen wenigen Räumen zusammengepferchten Menschen zumindest erahnen lässt: Ein Leben in völliger Armut, ohne jede Privatsphäre, zusammen mit oft eher fremden Menschen, der winterlichen Kälte ausgesetzt und immer das Damoklesschwert der Deportation vor Augen.

Karl und Berta Reininger sowie deren Mutter Rosa Strauss wurden am 10. Juni 1942 „nach dem Osten evakuiert“, wie es in der verschleiernden Formulierung auf den Gestapokarteikarten heißt. Der Zug brachte sie mit insgesamt etwa 370 Juden aus Wiesbaden nach Frankfurt, wo er mit weiteren etwa 900 Juden aus Frankfurt und anderen Orten des gesamten Regierungsbezirks Wiesbaden auf insgesamt 1253 aufgefüllt wurde. Das erste Ziel war der Bahnhof Lublin im so genannten Generalgouvernement. Etwa 180 bis 250 Männer wurden dort aus dem Zug geholt, um deren Arbeitskraft vor ihrem baldigen Tod beim Aufbau des KZs Majdanek noch zu verwerten. Karl Reininger war nicht darunter. Er wurde mit seiner Frau unmittelbar in das Vernichtungslager Sobibor überführt. Wann sie dort ermordetet wurden, ist nicht bekannt, aber es wird, wie üblich unmittelbar nach Ankunft gewesen sein.[37]

Am 29. Mai 1951 setzte das Amtsgericht Wiesbaden den Todestag von Rosa Strauss auf den 8. Mai 1945 fest,[38] am 3. März 1952 den von Karl und Berta Reininger ebenfalls auf den Tag des Kriegsendes.[39]

 

Veröffentlicht: 19. 06. 2020

Letzte Änderung: 15. 10. 2020

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Für Berta und Karl Reininger hat auch das Aktive Museum Spiegelgasse ein Erinnerungsblatt veröffentlicht, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Reiniger-Karl.pdf. (Zugriff: 14.6.2020).

[2] Auf seiner Gestapokarteikarte ist sein Geburtsort mit Stotzina angegeben.

[3] Auf der folgenden Web-Site http://ahnenreich.de/retrospect/juden/index.php?m=family&id=I89786 (Zugriff: 14.6.2020). sind als Eltern von Karl Reininger ein Siegmund Reininger, geboren um1865 und dessen Frau Martha angegeben, allerdings ohne Quellenverweis. Dass es sich aber um den richtigen Karl Reininger handelt ergibt sich daraus, dass dessen Ehefrau Berta Strauss ebenfalls aufgeführt ist.

[4] Die Informationen zur Familie Wertheimer stammen aus https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/43227391/person/12634428273/facts. (Zugriff: 14.6.2020) und aus Köbele, Siefert Scheer, Ortssippenbuch Kippenheim, Grafenhausen 1979. Ein Auszug daraus wurde mir freundlicherweise von J. Stude, dem Vorsitzenden des Fördervereins Ehemalige Synagoge Kippenheim, zur Verfügung gestellt. Mina Wertheimer war eine geborene Eppstein. Sie lebte von 1845 bis 1905, ihr Ehemann von 1841 bis 1923. Joseph Wertheimer war der Sohn von Simon und Schönle Wertheimer, geborene Dreyfuss.

[5] http://www.alemannia-judaica.de/kippenheim_synagoge.htm. (Zugriff: 14.6.2020).

[6] Die Ehe war am 23.5.1867 in Kippenheim geschlossen worden. Ihre Eltern waren der Kaufmann Jesaias und Dorothea Eppstein aus Mühringen.

[7] Ebd. Joseph Wertheimer lebte von 1841 bis 1923, seine Frau von 1845 bis 1905. Von seinen Eltern Simon und Schoenle Wertheimer ist nur das Todesjahr der Ehefrau bekannt. Sie verstarb 1858

[8] Folgende Kinder wurden Joseph und Mina Wertheimer geboren: Julius, geboren am 11.3.1868, der vermutlich mit seiner Frau Dilla 1926 in die USA auswanderte. Ida, geboren 1870, verheiratet mit Joseph Moch, hatte eine Tochter Meta Moch. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Siegmund, geboren am 8.8.1872, war mit Ernestine Eppstein verheiratet. Beide wurden im Rahmen der Wagner-Bürckel-Aktion nach Gurs verbracht. Simon Sigmund kam am 13.1.1942 im Lager Les Milles ums Leben, seine Frau Ernestine wurde am 29.4.1944 in Auschwitz ermordet. Ihr 1899 geborener Sohn Hugo hat überlebt. Sofie, verheiratet mit Leo Ludwig Moch, lebte mit ihren beiden Söhnen Max und Siegbert zeitweise in Wiesbaden. Auch ihnen gelang nach dem frühen Tod von Ludwig Moch im Jahr 1927 die Flucht in die USA. Über Hermann, geboren 1876, gestorben 1940, liegen keine weiteren Informationen vor. Jakob, geboren am 17.4.1877, war verheiratet mit Dina Therese Nathan. Das Paar hatte die beiden Söhne Siegwart Stephan und Hans Harold. Die Familie überlebte den Holocaust in den USA, wenngleich Jakob Wertheimer unmittelbar nach Kriegsende im Juli 1945 verstarb. Max, geboren am 9.7.1879, verheiratet mit Betty Stern, wurde am 2.1.1921 die Tochter Ellen Minna geboren. Auch diese Familie überlebte in den USA, wo Max Wertheimer am 12.3.1950 verstarb. Es folgte 1881 Elise, die mit Karl Reininger verheiratet war. Gerda, geboren am 19.12.1883, war verheiratet mit Jakob Wechsler, geboren am 24.1.1882. Beide wurden im Rahmen der Wagner-Bürckel-Aktion am 22.10.1940 zunächst nach Gurs verschleppt, im August 1942 weiter nach Auschwitz deportiert und ermordet. Zuletzt Frieda, geboren am 19.3.1886. Sie verstarb bereits am 10.12.1909. Die Daten sind Ancestry und dem Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz entnommen und nicht überprüft worden.

[9] Sterberegister Limburg 133 / 1926.

[10] Die Stolpersteininitiative Limburg hat für ihn zur Erinnerung einen Gedenkstein setzen lassen und eine knappe Biographie veröffentlicht, siehe https://stolpersteine-guide.de/biografie/1707/max-moch. (Zugriff: 14.6.2020).

[11] Heiratsregister Wiesbaden 384 / 1937.

[12] Im gleichen Haus wohnte bei seiner Eheschließung mit Rosa Ehrenfeld auch Siegbert Moch. Das Paar zog aber dann in der Wohnung von Rosa in der Adolfstr. 16.

[13] Sterberegister Wiesbaden 198 / 1937.

[14] Heiratsregister Pirmasens 273 / 1937.

[15] Heiratsregister Pirmasens 273 / 1904. Rosalies Eltern waren der „Makler“ Isaak Jakob und seine Frau Johanna, geborene Baer, siehe HHStAW 518 38508 (34). Berta Strauss hatte noch einen Bruder Samuel, der den Holocaust in den USA überlebte, und die beiden Schwestern Isabella und Hedwig, siehe HHStAW 469/33 2906 (7). Isabella Remp, geboren am 22.10.1887 in Homburg / Saar wurde, wie so viele andere Juden dieser Region im Herbst 1940 nach Gurs verbracht und zuletzt in Auschwitz ermordet. Ihr offizieller Todestag ist der 31.12.1943. Siehe Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz. Über das Schicksal ihrer Schwester Hedwig, geboren am 26.1.1895, liegen keine Informationen vor.

[16] HHStAW 518 38508 (66, 81).

[17] HHStAW 518 38215 (78).

[18] HHStAW 518 38508 (13, 14, 57). Paul Strauss hatte für das Entschädigungsverfahren eine umfangreiche Liste des Mobiliars erstellt. Er bezifferte den Wert der Wohnungseinrichtung auf etwa 10.000 RM, den Wert der Büroeinrichtung auf knapp 4.000 RM, siehe ebd. (9-11).

[19] HHStAW 518 38215 (42 ff.).

[20] Welchen Umfang die tatsächlich hatte und welche Gewinne erzielt wurden, blieb im Entschädigungsverfahren ebenso unklar, wie beim väterlichen Betrieb, siehe ebd. (42, 48, 49).

[21] HHStAW 518 38508 (13).

[22] Ebd. (57, 65). Paul Strauss nennt das Jahr 1936, der Vermieter 1937 oder 1938. Da er aber auch angab, dass Siegfried Strauss in seinem Haus verstorben sei, kann 1938 nicht richtig sein.

[23] Ebd. (57).

[24] Man muss diese Einlassung von Paul Strauss im historischen Kontext sehen, in dem es auch darum ging, eine „angemessene“ Entschädigung für das erlittene Leid zu erhalten. Es waren – und das ist mehr als außergewöhnlich in diesen Verfahren – zwei Sachbearbeiter der Behörde, die Paul Strauss darauf aufmerksam machten, dass es besser sei, wenn er angeben würde, seine Schwester, deren Erbe er angetreten hatte, sei nicht nur Mitarbeiterin im Geschäft des Vaters gewesen, sondern auch als dessen Nachfolgerin eingesetzt worden. Das machte einen erheblichen Unterschied bei der Leistung für den erlittenen Schaden am beruflichen Fortkommen. Siehe HHStAW 518 38215 (72, 73, 78, 80). Nach Abschluss des Verfahrens bedanke sich Paul Strauss bei den beiden Mitarbeitern für ihre Mithilfe: „Sollten Sie, geehrter Herr B. oder Herr Assessor L. eine Mittelmeerfahrt unternehmen, was doch heute nicht mehr so unmöglich ist, so sind Sie beide herzlichst eingeladen, waehrend Ihres Aufenthaltes hier im Land unsere Gaeste zu sein. Auch dies gehoert zur Wiedergutmachung.“ Ebd. (88).

[25] HHStAW 518 38508 (57). Eine ähnliche Aussage machte ein weiterer Nachbar, ebd. (58), die Angabe von Paul Strauss, ebd. (65). Die Aussagen stehen im Zusammenhang mit der Frage nach einer Entschädigung für die zurückgelassenen Einrichtungsgegenstände, die Paul Strauss beantragt hatte. Trotz der Einlassungen wurden die Ansprüche als „Verschleuderungsschaden“ anerkannt. Es geht aus den Protokollen der Zeugenvernehmung deutlich hervor, dass diese sich gegenüber ihren ehemaligen jüdischen Mitbewohnern eine eher negative Einstellung bewahrt hatten. So verweist der eine völlig empathielos darauf, dass Frau Strauss ihm die Miete für drei oder vier Monate schuldig geblieben sei, der andere gab an, dass er Briefe von Paul Strauss an ihn, in denen dieser ihn um seine Mithilfe gebeten habe, unbeantwortet gelassen habe.

[26] Lebten 1933 noch etwa 800 Juden in Pirmasens, so nahm deren Zahl in den folgenden Jahren kontinuierlich ab. 1936 waren es noch 481, 1937 noch 444, 1938 noch 312 und 1940 gab es noch einen einzigen jüdischen Bewohner dort, siehe https://www.auswanderung-rlp.de/emigration-in-der-ns-zeit/zu-emigration-der-juden-aus-der-pfalz-im-dritten-reich.html. (Zugriff: 14.6.2020).

[27] Die Angaben beruhen auf einem Brief von einem Herrn Willy Claus an Paul Strauss aus dem Jahr 1954. In welchem Verhältnis er zur Familie stand, ist den von Straus zitierten Passagen nicht zu entnehmen.

[28] HHStAW 518 38508 (34).

[29] Ebd. (25).

[30] „JS“ steht für „Judensicherungsakte“, siehe dazu Meinl / Zwilling Legalisierter Raub, S. 429.

[31] HHStAW 519/3 5950 (4).

[32] Ebd. (6, 7).

[33] Ebd. (8).

[34] Siehe dazu oben die Ausführungen im Kapitel ‚Die Umsiedlung’.

[35] Siehe dazu oben die Grundrisse der Wohnungen im Judenhaus Herrngartenstr. 11.

[36] HHStAW 483 10127 (21).

[37] Zur Organisation des Massenmords in Sobibor siehe Wienert, Sobibor, S. 80-92.

[38] HHStAW 469/33 2906 (31).

[39] HHStAW 469/33 3562 (o.P.).