Sophie Ginsburg, geb. Polak
Auch das Judenhaus Lortzingstr. 7 ist eines, dass so gar nicht in das Bild passen will, das man sich gemeinhin macht, wenn man an Judenhäuser denkt. Auch bei diesem handelt es sich nicht um ein eher verkommenes und wenig ansehnliches Gebäude irgendwo in einer verrufenen Ecke Wiesbadens, sondern um eine wunderschöne Villa am Bierstädter Hang. In diesem östlichen Villengebiet zwischen Bierstädter- und Mainzer Straße waren vier Judenhäuser gelegen. Neben dem in der Lortzingstraße, gab es zwei in der Mainzer Straße und eines in der Blumenstraße – alle gleichermaßen prachtvolle Gebäude.
Das in der Lortzingstraße war Anfang des 20. Jahrhundert errichtet worden und verbindet nach Ansicht der Autoren des Buches über die Denkmaltopographie Wiesbadens „konservative mit modernen Strömungen“ in der damaligen Architektur, sicher charakteristisch für die generelle Umbruchsphase um die Jahrhundertwende. Es stelle eine für die „Wiesbadener Villenarchitektur aufschlussreiche Kompromisslösung dar“, bei der aber „Repräsentationscharakter der Fassade“, also eher das traditionelle Moment, dominiere.[1]
In dem Gebäude, das vier Etagen besaß, gab es zwei Wohnungen. Eine bestand aus acht, die andere aus vier Zimmern. Ein Garage und ein Garten mit einem Sitzplatz, der von einer Pergola beschattet wurde, gehörten zu den weiteren Annehmlichkeiten der Immobilie.[2]
Den Grundbucheinträgen ist zu entnehmen, dass es schon mehrere Vorbesitzer gab, bevor es im Sommer 1922 von der Jüdin Sophie Ginsburg erworben wurde.[3] Der Kaufvertrag selbst war bereits am 21 März 1922 zwischen dem Vorbesitzer und Noch-Bewohner, dem Direktor Josef Hummel, und dem Ingenieur Samuel Ginsburg, der als Bevollmächtigter seiner Frau agierte, zustande gekommen. Der Preis der Immobilie belief sich damals auf 600.000 RM, ein Betrag, der in dieser Phase der Hochinflation aber keine realistische Wertbestimmung zulässt.[4]
Wo das Ehepaar zum Zeitpunkt des Kaufs gemeldet war, ist nicht bekannt. Im Kaufvertrag ist festgehalten, dass sie sich damals im Hotel „Kronprinz“, einem jüdisch geführten Hotel der Familie Rückersberg, das wegen seiner koscheren Küche gerade auch bei jüdisch-orthodoxen Gästen beliebt war, eingemietet hatten.[5]
Über die neuen Eigentümer der Immobilie Lortzingstr. 7 ist leider nur wenig bekannt, selbst der Name erscheint in den verschiedenen Dokumenten in unterschiedlichsten Variationen, etwa als Ginsberg, Ginzburg oder sogar als Gintsburg. Eines der Kinder von Samuel Ginsburg nannte sich später Gunsburg und dessen Kinder, nach ihrer Emigration in das benachbarte Frankreich, dann Gunsbourg.
Leider wurde die Familie, im Besonderen Sophie Ginsburg selbst, auch vergessen, als man im Jahr 2023 den Namensfries an der Gedenkstätte am Michelsberg neu gestaltete und mit bisher übersehenen Opfern des Nationalsozialismus aus Wiesbaden ergänzte.[6] Dies ist umso erstaunlicher, als das Judenhaus über all die Jahre der NS-Zeit im Besitz von Sophie Ginsburg geblieben war.
Es liegen zwar im Hessischen Hauptstaatsarchiv keine der sonst verwertbaren Akten, wie Entschädigungs-, Steuer-, Rückerstattungs- oder Devisenakten zur Familie Ginsburg vor, aber immerhin kann man dort eine dünne Hausverwaltungsakte finden,[7] die neben der Akte des Grundbuchamtes ein wenig Aufschluss über die Geschichte des Hauses liefert. Eine weitere Akte aus der Phase der Vermögenskontrolle durch die amerikanische Militärregierung, die das Haus am 31. August 1945 beschlagnahmte, liefert zwar kaum Informationen über die NS-Zeit, enthält aber dennoch einige Angaben zum Gebäude selbst.[8]
Was die Familie Ginsburg selbst betrifft, so existiert immerhin ein mehr als 600seitiges Konvolut von Briefen, Fotos und anderen Dokumenten, die eine Großnichte von Samuel Ginsburg, die Enkelin seines Bruders Albert, gesammelt hat. Zwar betreffen die Dokumente primär diesen Familienzweig, es ist darin aber auch ein umfassender Familienstammbaum enthalten, in dem zumindest die Lebensdaten der Mitglieder dieser großen Familie überliefert sind.[9]
Ursprünglich war sie ansässig im damaligen litauischen Grodno, das heute zu Belarus gehört und jetzt den Namen Hrodna trägt. Die Stadt im Grenzgebiet zwischen Russland, Polen und Preußen bzw. dem Deutschen Reich war zwar Spielball jeweiliger Machthaber der Region, eigentlich war es aber eine im Wesentlichen polnisch und jüdisch geprägte Stadt. Um 1900 bekannte sich die Hälfte der Bewohner zum jüdischen Glauben. Genau 100 Jahre zuvor war mit Oscher Ginzburg der erste bekannte Vorfahr der Familie dort zur Welt gekommen. 1817 heiratete er die ebenfalls aus Grodno stammende Jente Salk, die damals erst etwa 16 Jahre alt war. Das einzig bekannte Kind des Paares, Simcha Ginsburg, war erst 15 Jahre nach der Eheschließung geboren worden. Man wird sicher davon ausgehen dürfen, dass es nicht der einzige Nachkomme der beiden gewesen sein wird. Simscha Ginsburg und seine ein Jahr ältere Frau Golde, geborene Arkin, waren nicht nur reich an Kindern, sondern Dank eines Großhandelsunternehmens, das Heringe importierte und Holz exportierte, wohl auch recht vermögend. Allein aus den späteren Eheschließungen der Kinder, kann man auf ein bildungsbürgerliches Milieu schließen, in dem diese aufwuchsen. Auch Samuel Ginsburg musste eine höhere schulische Ausbildung absolviert haben, um den Beruf eines Ingenieurs ausüben zu können. Als seine Eltern Golde 1867 und Simcha Ginsburg 1899 in Grodno verstarben, hinterließen sie sieben Kinder, die alle noch in Grodno geboren worden waren, von denen aber keines mehr dort verstarb. Offenbar hatten sie alle in den folgenden Jahren ihre unmittelbare Heimat verlassen und sich in unterschiedlichen Ländern niedergelassen.
Der älteste David Ginsburg war mit seiner großen Familie allerdings zumindest in der nahe gelegenen Stadt Willowysk geblieben. Samuels jüngere Schwester verstarb in Baku.
Bezallel, verheiratet mit Rosa Perlis, hatte mit ihr in Königsberg gelebt, bevor beide zu einem nicht bekannten Zeitpunkt nach Israel auswanderten. Bemerkenswert ist, dass der Schwiegersohn der beiden der bedeutende Philosoph, Germanist und Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung Prof. Leo Löwenthal war. Er emigrierte mit seiner Frau Gertrude und seinem Sohn Daniel 1934 in die USA und war wesentlich dafür verantwortlich, dass auch das Frankfurter Institut um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die sogenannte Frankfurter Schule, ebenfalls in die USA übersiedeln konnte.
Model Ginsburg verstarb bereits mit 20 Jahren, wo ist nicht bekannt. Albert Ginsburg und seine Frau Selma, geborene Heymann, die Großeltern von Marianne Salinger, waren nach Berlin gezogen, wo sie ein Handelsgeschäft betrieben.
Mesche / Marie Ginsberg war mit ihrem Mann Benjamin Vischniak zunächst in die russische Hauptstadt Moskau gegangen. Nach dem Tod seiner Frau konnte der Journalist und Kenner der sowjetischen Politik nach Amerika auswandern, wo er als Korrespondent der New York Times Karriere machte. Wann und aus welchem Grund die jeweiligen Familienmitglieder ihre Heimat verließen, konnte im gegebenen Rahmen nicht recherchiert werden.
Das gilt leider auch für Samuel Ginsburg, den um 1859 oder 1857 geborenen zweitältesten Sohn von Simcha und Golde Ginsburg.[10] Auch konnte nicht ermittelt werden, wann und wo er seine Frau Sophie Sonja, geborene Polak,[11] geheiratet hatte. Die Tochter von Hirsch Abraham und Lea Breine Luise Polak, geborene Kowarski, war am 15. Oktober 1865 in der etwa 100 km südlich der belarussischen Hauptstadt Minsk gelegenen, damals noch litauischen Stadt Sluzk geboren worden.[12] Zusammen müssen sie aber eine längere Zeit in dem südlich von St. Petersburg gelegenen, etwa 1000 km von Grodno entfernten Nowgorod gelebt haben, denn dort wurden zwischen 1885 und 1899 alle ihre vier Kinder geboren.
Am 27. August 1885 kam dort als erste die Tochter Elisabeth Luise, genannt Lisa, zur Welt, gefolgt von drei Söhnen. Matwei / Mathias war am 7. März 1887, Simon am 26. Februar 1893 und Jakob um 1899 zur Welt gekommen. Aus den Geburtsdaten der Kinder lässt sich schließen, dass die Übersiedlung der Familie nach Westeuropa nicht vor dem Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden hatte – vielleicht im Gefolge der 1905er Revolution, vielleicht aber auch erst im Zusammenhang mit den Wirrnissen der bolschewistischen Revolution im Jahre 1917. In jedem Fall bleibt im Hinblick auf die Vita des nach Wiesbaden gekommenen Zweiges der Ginsburgs eine Lücke von mehr als 20 Jahren.[13]
Erst mit dem Kauf des Hauses in der Lortzingstraße im Jahr 1922 kann ihre Spur wieder aufgenommen werden. Samuel Ginsburg hatte leider nur noch wenig Nutzen vom Erwerb des schönen Domizils, denn er verstarb dort bereits nach nur einem Jahr am 2. Juni 1923 im Alter von 64 Jahren.[14]
Ungewiss ist, ob auch die Kinder damals mit nach Wiesbaden kamen. Zumindest zum Zeitpunkt des Todes von Samuel Ginsburg war sein Sohn Mathias anwesend, denn er zeigte beim Standesamt den Todesfall an. Aber ein sicherer Beleg für eine Wohnsitznahme ist das nicht, denn er erscheint auch in keinem Adressbuch der Stadt, was natürlich nicht ausschließt, dass er bei den Eltern gemeldet war. Allerdings war der Kaufmann, wie dem Sterbeeintrag zu entnehmen ist, bereits auch schon promovierter Jurist, müsste also zuvor zumindest eine Zeit in einer Universitätsstadt verbracht haben. Zudem ist hier in Wiesbaden weder eine Geschäftstätigkeit, noch eine Aktivität im Rechtswesen nachzuweisen. Von daher ist es eher unwahrscheinlich, dass er Bürger der Stadt war.
Wo sich Simon Ginsburg / Gunsburg in dieser Zeit aufhielt, konnte nicht ermittelt werden. Desgleichen fehlen Angaben darüber, wann er seine Frau Anne Marie Oppenheimer, geboren am 3. Dezember 1905 in Hannover, heiratete. Möglicherweise geschah das aber erst im französischen Exil, denn dort kamen die beiden Kinder des Paares zur Welt, zunächst Nina Marie am 1. Dezember 1938 in Paris, dann am 12. November 1940 der Sohn Jakob Samuel Karl, dessen Name später zu Jacques Samuel Charles wurde. Er kam in Boulogne-sur-Mer, südlich von Calais, zur Welt. Wenn man sich die Daten und Orte betrachtet, so kann man ahnen, welche Geschichte sich möglicherweise dahinter verbirgt: Anne Marie muss gerade seit einigen Wochen schwanger gewesen sein, als die deutschen Truppen in Paris einmarschierten. Fluchtartig werden die Eltern die Stadt verlassen haben, um über Calais außer Landes zu kommen – allerdings vergeblich.
Elisabeth erscheint später als verwitwete Kowarski, was vermuten lässt, dass sie eine Ehe im weiteren Familienkreis geschlossen hatte, denn – wie oben bereits angemerkt – war Lea Breine, ihre Großmutter mütterlicherseits, ebenfalls eine geborene Kowarski.[15] Ungewiss ist auch bei ihr, ob sie einmal in Wiesbaden lebte. Im Jahr, in dem ihre Eltern die Villa in der Lortzingstraße kauften, ist sie als Eigentümerin des Hauses Luxemburgplatz 2 im Wiesbadener Adressbuch eingetragen, allerdings mit dem Zusatz, dass sie in Paris leben würde. In keinem der folgenden Adressbücher ist sie noch einmal zu finden, weder als Eigentümerin, noch als Mieterin. Allerdings ist sie im Jüdischen Adressbuch von 1935 dann wieder als Bewohnerin des Hauses ihrer Mutter eingetragen. Es liegt nahe, muss aber reine Spekulation bleiben, dass die verwitwete, bisher in Paris lebende Elisabeth nach dem Tod des Vaters zu der nun ebenfalls verwitweten Mutter in die Lortzingstr. 7 zog und aus diesem Grund in den Adressbüchern nicht mehr erscheint.[16] Das Haus am Luxemburgplatz wurde dann schon nach einem Jahr offenbar wieder abgestoßen.
Wenn Elisabeth Kowarski schon 1922 in Paris lebt, dann kann man davon ausgehen, dass es bereits vor dem Machtantritt der Nazis und bevor Frankreich zu einem der Fluchtpunkte für viele wurde, eine – vielleicht familiäre – Verbindung dorthin gegeben haben wird. Von daher ist es verständlich, dass die gesamte Familie das Nachbarland zum Exil wählte, als die Situation in Deutschland immer bedrohlicher wurde. Allerdings ist nur für die Mutter Sophie Ginsburg nachvollziehbar, wann dies ungefähr geschah. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie bis 1933 alleine bzw. vielleicht zusammen mit ihrer Tochter in der Lortzingstraße. Im Adressbuch von 1935/36 sind erstmals weitere – ebenfalls jüdische – Mieter im Haus verzeichnet. Sie selbst, weiterhin Eigentümerin der Immobile, wohnte nicht mehr dort. Sie war – so ist dem Zusatz hinter ihrem Namen zu entnehmen – offenbar 1934 oder 1935 ins Ausland, sprich Frankreich, geflohen.[17] Da sie im Jüdischen Adressbuch, das die jüdischen Bewohner aus dem ersten Halbjahr des Jahres 1935 erfasste, als solche nicht mehr genannt ist, könnte ihre Auswanderung sich schon 1934 zugetragen haben. Allerdings erscheint sie dort noch in der Rubrik der Hauseigentümer, hier dann aber mit dem Vermerk „Anschrift unbekannt“. Ob sie bereits vor ihrer Tochter gegangen war, die in diesem Adressbuch noch aufgeführt ist, wäre möglich, aber diese Unstimmigkeit könnte auch auf eine ungenaue Datenerfassung der NSDAP-Verantwortlichen zurückzuführen sein.
Über das Leben der Geflohenen in ihrem Exil ist nichts bekannt, aber offenbar hatten sie sich zunächst alle in Paris versammelt. Vielleicht lebten sie zumindest zeitweise auch zusammen, aber auch dafür gibt es keine Belege. Spätestens mit dem Einmarsch der Deutschen suchten zumindest einige von ihnen andere Orte als Unterkunft bzw. als Station zur weiteren Flucht aus Europa heraus. Nicht nur Simon und seine Familie hatten offenbar die Hauptstadt verlassen, auch für die Mutter Sophie ist in den Akten als letzter bekannter Aufenthaltsort in Frankreich Nizza festgehalten. In einem amtlichen Schreiben vom September 1945, dessen Urheberschaft aber nicht angegeben ist, heißt es, dass das Grundstück Lortzingstr. 7 der Witwe Sofie Ginsburg, geb. Polak, wohnhaft in Nizza, auf Geheiß der Militärregierung ohne deren Zustimmung nicht übertragen werden dürfe.[18] Auch in verschiedenen Dokumenten der Vermögenskontrollbehörde ist ihr Aufenthaltsort mit der Hafenstadt an der Cote d’Azur angegeben.
Zu diesem Zeitpunkt lebte Sophie Ginsburg aber schon längst nicht mehr in Nizza. Ungewiss ist zudem, wann und wie lange sie sich dort überhaupt aufgehalten haben soll. Sie lebte zu diesem Zeitpunkt nirgendwo mehr. Am 2. März 1943 war sie von Drancy aus in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert worden.[19] Hintergrund dieses Transportes war der Beschluss zunächst ausländische Juden aus Frankreich zu deportieren, da die Inhaftierung und der Abtransport von Jüdinnen und Juden mit französischer Staatsangehörigkeit bisher nicht geregelt werden konnte. Unter der Ägide des Schlächters von Lyon, Klaus Barbie, war dort im Februar 1943 eine Gruppe von etwa 80 Juden verhaftet und nach Drancy gebracht worden. In Paris selbst wurden am 10. Februar 1549 zumeist ältere Jüdinnen und Juden verhaftet und zusammen mit denen aus Lyon in Viehwagen nach Auschwitz verbracht.[20] Sophie Ginsburg war eine von ihnen.
Ein Dreivierteljahr später musste Sophies Tochter Elisabeth vom Pariser Bahnhof Bobigny mit etwa 1000 anderen Opfern den gleichen Weg antreten.[21] Am 7. Dezember 1943 hatte der ebenfalls aus Viehwagen zusammengestellte Transport den Bahnhof verlassen, am 10. Dezember erreichte er sein Ziel: die Gaskammern von Birkenau. Vermutlich unmittelbar nach der Ankunft wurde nach der Selektion ein Großteil der Insassen in diese hineingetrieben und ermordet.
Im gleichen Transport saß auch Lisas Bruder Simon und ihre Schwägerin Annemarie Ginsburg.[22] Ein Todesdatum von Annemarie Ginsburg ist in Yad Vashem nicht festgehalten, aber anders als ihre zwanzig Jahre ältere Schwägerin könnte sie in Auschwitz noch zu einem Arbeitseinsatz herangezogen worden sein, durch den ihr Tod noch kurze Zeit hinausgezögert wurde. Ganz offenbar hatte man auch ihren Mann Simon noch „verwerten“ wollen. Er kam nämlich nicht in Auschwitz, sondern etwa ein Jahr nachdem er aus Paris deportiert worden war, im Konzentrationslager Buchenwald ums Leben. Ein Vierteljahr vor der Befreiung verstarb er dort am 30. Januar 1945 an einem „Kollaps bei allgemeiner Schwäche“.[23]
Die Namen von Simon und Annemarie Gunsbourg sowie von Elisabeth Kowarski auf dem Fries der Gedenkstätte für die aus Paris deportierten Jüdinnen und Juden
https://de.findagrave.com/memorial/31913528/simon-gunsbourg und https://de.findagrave.com/memorial/31915681/elisabeth-kowarsky
Gerettet wurden die beiden damals drei und fünf Jahre alten Kinder von Simon und Annemarie Ginsburg, Jacques und Nina Marie. Sie waren von einer nichtjüdischen, französischen Familie aufgenommen und versteckt worden. Marianne Salinger berichtet, dass sie, nachdem sie selbst mit ihren Eltern 1939 über Holland und England in die USA ausgewandert war, nach dem Ende des Krieges 1949 für zwei Jahre nach Paris zurückgekehrt sei, um dort zu studieren, aber auch um sich um die beiden Kinder zu kümmern.[24] Aus dieser Zeit in Paris blieb eine große Sammlung von Briefen erhalten, die sie an ihre Mutter und ihren Bruder in den USA geschickt hatte.[25] Leider sind die auf Luftpostpapier geschriebenen Briefe sehr verblasst und nur schwer, zum Teil auch gar nicht mehr zu lesen. Aber Marianne lebte in dieser Zeit zusammen mit der Familie, die die beiden Kinder aufgenommen hatte, und immer wieder berichtet sie, wie gut es ihnen dort ergangen sei und wie wohl sie sich dort fühlen würden. So schrieb sie am 5. April 1948: „When I said the kids don’t miss their parents, it is because Nana is like a mother to them, and Mata like a father. He is the one who goes out with on Sunday, who buys Jackies bycicle, brings the mitgebringe, and does all the things, a father would do. So for the time being, it is all right. They are healthy and happy children, but of course, they just (???). How to educate them & develop their characters in 2 or 3 years, that is a big problem. But so much can happen.”
Die beiden Kinder blieben in Frankreich, als Marianne selbst wieder in die USA zurückkehrte. Über ihr weiteres Leben dort konnte nicht viel in Erfahrung gebracht werden. Immerhin existiert ein Visum für Jacques, laut dem er als französischer Staatsbürger, damals aber noch Student in der Schweiz, im Spätsommer 1962 für mehrere Wochen nach Südamerika reiste.[26] Welchen Zweck die Reise hatte, ist nicht bekannt, aber vielleicht diente er dem Besuch eines geflohenen Verwandten, den es dorthin verschlagen hatte. Aus den Briefen von Marianne kann man entnehmen, dass die verschiedenen Mitglieder der Familie sich immer wieder besuchten.
Bezüglich Jacques Schwester Nina Marie konnte ermittelt werden, dass sie am 1. November 2014 im Alter von 75 Jahren in ihrer Geburtsstadt Paris verstarb.[27]
Weitgehend ungeklärt ist das Schicksal der beiden anderen Söhne von Samuel und Sophie Ginsburg, nämlich das von Mathias und Jacob. Von Mathias ist immerhin sicher, dass er – vermutlich irgendwo in Frankreich – die Jahre der Besetzung irgendwie überstanden hat. Nach dem Krieg soll er am 18. Dezember 1949 in Paris Zena Leitess geheiratet haben. Über sie konnte Marianne Salinger keine weiteren Angaben machen. Zumindest war Mathias bzw. Matei das einzige der Kinder, das laut dem Erbschein der Mutter sein Erbe noch antreten konnte. Nach Angaben von Marianne Salinger verstarb er im Februar 1967 in Paris.
Noch vager müssen die Angaben zu seinem Bruder Jacob Ginsburg bleiben. Ohne ein Todesjahr zu nennen, gibt Marianne Salinger an, er sei in München verstorben. Da er im Erbschein nicht erwähnt wird, muss das bereits vor dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur geschehen sein. Weder ist sein Name aber in dem Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz, noch in Yad Vashem gelistet, sodass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass er entweder zumindest nicht der unmittelbaren Gewalt des NS-Terrorregimes zum Opfer fiel oder aber Deutschland verlassen konnte und irgendwo im Exil verstarb. Nicht ausgeschlossen werden kann aber auch, dass er irgendwo im Osten verschollen blieb.[28]
Wenn man sich diese Familiengeschichte vor Augen führt, dann wird schon eher klar, wieso das von seinen Eigentümern verlassene Haus in der Lortzingstr. 7 von den Nazis auf die Liste der Judenhäuser gesetzt wurde. Über dieses Haus konnte man weitgehend frei verfügen, sofern man einen willfährigen Hausverwalter hatte. Ob die Hausverwaltung Beckhaus erst vom Finanzamt Wiesbaden eingesetzt worden war, oder noch von Sophie Ginsburg, ist nicht bekannt. Aber in der Zeit, in der er nach der Emigration der Eigentümerin die Federführung bei der Verwaltung der Immobilie innehatte, wurden in das Haus, das ursprünglich einmal für eine oder auch zwei wohl situierte Familien erbaut worden war, insgesamt knapp 30 jüdische Bewohner einquartiert, allerdings nicht alle zur gleichen Zeit. Auch dort gab es die übliche Fluktuation, deren Gründe meist nicht mehr nachvollziehbar sind.
Noch ehe die Judenhäuser in Wiesbaden eingerichtet wurden, konnte die Familie Nußbaum, die als erste Mieter in das Haus eingezogen war, zu Beginn des Jahres 1939 nach Holland fliehen. Sie blieben mit Adolf Reinstein, der zum gleichen Zeitpunkt das Haus Richtung London verließ, die einzigen Bewohner, die den Holocaust überlebten.
Berta Chambre war schon im Mai 1939 aus der Lortzingstraße in das Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 65 umgezogen, musste dann aber zwei Jahre später noch in das Judenhaus in der Mainzer Str. 2 wechseln. Von dort aus wurde sie bei der ersten großen Deportation im Mai 1942 nach Izbica abgeschoben.[29]
Bei der zweiten großen Deportation am 10. Juni 1942 wurden Selma Ebbe, Bella Levita, Clara Reinstein, Bertha Strauss, die Ehepaare Henriette und Siegfried Seligmann sowie Karl und Frieda Trief aus dem Haus geholt und über Lublin in die Gaskammern von Sobibor verbracht.
Die letzten jüdischen Mieter mussten das Haus am 1. September 1942 verlassen. An diesem Tag wurden die zumeist älteren Jüdinnen und Juden aus Wiesbaden über Frankfurt nach Theresienstadt deportiert. Mit Paula und Daniel Gallinger, Johanna Herz und ihrer Schwester Amalie Hirsch, Lilly und Theobald Hirschkind, Paula Kornblum und Lilly Mayer kamen allein an diesem Tag acht Personen aus dem Judenhaus in der Lortzingstr. 7.
Nur drei Wochen später wandte sich der rührige Hausverwalter August Th. Beckhaus mit folgendem Schreiben an das Finanzamt Wiesbaden:
“Nachdem sämtliche im Haus wohnenden Juden evakuiert sind und das Haus von Ihnen versiegelt wurde, bitte ich für dessen alsbaldige Räumung Sorge zu tragen, damit ich das Haus anderweitig verwerten kann.“ Für mögliche Schäden, die durch Verwehrung des Zutritts zum Haus entstehen könnten, wolle er keine Verantwortung übernehmen, für Nachteile, die ihm entstehen, werde er die Finanzverwaltung haftbar machen.[30]
Man könnte in diesen Tonfall fast etwas widerständiges gegenüber einer staatlichen Behörde hineininterpretieren, aber ob dem wirklich so war, ist eher zweifelhaft. Offenbar hatten schon zuvor Gespräche mit zumindest einem Interessenten für das Haus stattgefunden. Auf dem Schreiben des Hausverwalters ist zunächst von der für Liegenschaften zuständigen Abteilung beim Finanzamt notiert, dass Beckhaus nach eigenem Bekunden vom Reichskommissar für feindliches Vermögen mit der Verwaltung des Hauses beauftragt worden sei. Die Zuständigkeit ergäbe sich, weil die Eigentümerin die „litauische Jüdin Ginsburg (sei), die in Frankreich wohnt“. Sowohl Frankreich, wie auch Litauen waren zu diesem Zeitpunkt von Deutschen besetzte Territorien. Ob Sophie Ginsburg inzwischen die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, ist nicht bekannt, was auch die deutschen Behörden damals nicht wissen konnten. In jedem Fall war sie keine deutsche Staatsbürgerin, woraus sich die Zuständigkeit des Reichskommissars ergab.
Die Notiz wurde am 28. September gemacht. Am Tag zuvor hatte ein Oberstleutnant und Regimentskommandeur namens von Selasinsky, stationiert in Paris, einen Brief an die Verwertungsstelle beim Finanzamt Wiesbaden geschrieben, deren Leitung ein gewisser Emil Josef Schreck innehatte.[31] In diesem nahm er Bezug auf eine Unterredung, die er mit dem Amtsleiter bereits am 25. September gehabt hatte, einen Tag nachdem der Hausverwalter die Räumung des Hauses gefordert hatte. Es steht außer Frage, dass von Selasinsky über die Möglichkeit, eine Immobilie aus jüdischem Besitz günstig zu erwerben, informiert war, mutmaßlich von Beckhaus, der wohl auf eine entsprechende Provision spekulierte. Der Brief war somit nur die offizielle Bewerbung in einem bereits abgesprochenen Verfahren – so zumindest in der Erwartung des Aspiranten und des Hausverwalters.
In dem Brief legte von Selasinsky dar, wie sehr er mit Wiesbaden und Nassau verbunden sei – nassauische Vorfahren könnten bis ins 12. Jahrhundert nachgewiesen werden -, zudem werde man „mit 6 Köpfen“ einziehen. Sowohl er selbst, als auch schon sein Vater zuvor im Ersten Weltkrieg, hätten an der Front hinlänglich bewiesen, zu welchen Opfern für das Vaterland sie bereit seien. Er möchte das Haus käuflich erwerben, „sofern der Preis usw. meinen Mitteln entspricht und so gestellt ist, das er dem wohl derangierten Zustand des Hauses, verursacht durch die Bewohnerschaft von zuletzt 7 jüdischen Familien, die eng zusammengepfercht leben mussten, entspricht. Auch der Umstand, dass nach meinem Eindruck äußerlich manches wieder verbesserungsbedürftig ist, (…), muss berücksichtigt werden. Auch wäre wohl zur Übernahme des Hauses erforderlich, dass eine Bestätigung in der Richtung gegeben wird, dass ich Arbeitskräfte und Material zur Verfügung erhalte, um das Haus, dem sicherlich jahrelang durch den jüdischen Besitzer und seine Bewohner keine Pflege mehr zuteil wurde, wieder in einen solchen Zustand zu versetzen, der den Bedürfnissen arischer Bewohner entspricht.“[32] Die üblen Lebensbedingungen der „zusammengepferchten“ Juden waren als solches kein Problem für den Interessenten, im Gegenteil, sie dienten ihm noch als Argument, um den Preis des Hauses zu drücken.
Obwohl er im Tausch eine Offizierswohnung in der Hindenburgallee 23 anbieten konnte, kam das Geschäft nicht wie erhofft zustande. Schon am 29. September 1942 teilte das Liegenschaftsamt des Wiesbadener Finanzamt von Selasinsky mit, dass das Haus auch nach der Deportation der Bewohner nicht dem Reich „verfallen“ wird, somit auch nicht das Finanzamt Wiesbaden, sondern der Reichskommissar für feindliches Vermögen zuständig sei. Dieser wiederum habe Beckhaus mit der Verwaltung betreut. Er habe von dem Beamten Schreck eine andere Auskunft erhalten, konterte von Selasinsky und er würde, da „er im Felde stehe, wo (ihm) letzten Endes andere Aufgaben obliegen, als Briefe doppelt zu schreiben“ , darum bitten, den Kaufantrag dann an Beckhaus weiterzuleiten.[33] Offenbar war es danach zu einem Gespräch gekommen, denn beim Finanzamt wurde unter diesem Schreiben handschriftlich notiert: „Die Sache ist erledigt.“
War sie aber nicht. Der Reichskommissar hatte mittlerweile anstelle von Beckhaus mit dem Rechtsanwalt Dr. Mugele einen besonderen Abwesenheitspfleger für die Immobilie eingesetzt. Jetzt wurde die Wehrkreisverwaltung aktiv, ob aus eigener Initiative oder auf Geheiß des Oberleutnants von Selasinsky ist nicht nachzuvollziehen. In einem Schreiben an den Reichskommissar, Zweitschrift an das Finanzamt Wiesbaden – forderte sie, das Haus an den Reichsfiskus – also doch an die Finanzverwaltung – zu übertragen. Beim Reichskommissar für feindliche Vermögen blieben diese, auch wenn sie genutzt und verwertet werden konnten, formal im Besitz der jeweiligen Eigentümer. Man befürchtete bei einer Enteignung von Vermögenswerten nichtdeutscher Besitzer, dass ausländische Staaten auch deutsche Vermögen im Ausland einziehen könnten. Die Wehrkreisverwaltung forderte jetzt aber eine solche förmliche Eigentumsübertragung an das Deutsche Reich. Man benötige das Grundstück „dringend zu Unterbringung solcher kriegsversehrter Wehrmachtsangehöriger und solcher versorgungsberechtigter Hinterbliebenen von Wehrmachtsangehörigen, die z.Zt. noch in Kasernen- u. Dienstwohnungen der Wehrmacht wohnen; deren baldmöglichste Freimachung ist ein zwingendes und dringendes dienstliches Fordernis.“[34]
Zwar zählte von Selasinsky ganz sicher nicht zum Kreis der Genannten, aber das wäre im Zweifelsfall ganz sicher kein wirkliches Problem gewesen, wenn das Militär einmal den Zugriff auf die Immobilie bekommen hätte.
Es gab allerdings einen anderen Anwärter auf das schöne Wohngebäude, der in der NS-Hierarchie weit über dem aus nassauischem Kleinadel stammenden Selasinsky stand. Wann Friedrich Pfeffer von Salomon, genannt Fritz Pfeffer in die Lortzingsstr. 7 einzog, konnte nicht ermittelt werden, aber er war derjenige, der die Villa am Ende des Krieges bewohnte. Angesichts des vollen Namens ist man geneigt, bei dem Herrn auf einen jüdischen Hintergrund zu schließen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Fritz Pfeffer, wie er sich selbst nannte, um diese falsche Assoziation gar nicht erst aufkommen zu lassen, war ein Militarist und alter Nazi, der schon 1923 in Hagen einer völkisch orientierten Organisation beigetreten war und bereits 1928 Mitglied der NSDAP wurde. Auch deshalb heftete man dem „alten Kämpfer“ später das Goldene Parteiabzeichen an die Brust. Seit 1929 gehörte er der SA an und erhielt noch im gleichen Jahr eine Anstellung in der Obersten SA-Führung. Bis 1933 war er als Stabsführer der Generalinspektion der SA und SS in Kassel aktiv und stieg in den folgenden Jahren in den Rang eines Obergruppenführers auf. Bis 1936 übte er dort die Funktion des Polizeipräsidenten aus und leitete zugleich die dortige Staatspolizei. Danach kam er nach Wiesbaden, wo man ihm das Amt des Regierungspräsidenten übertrug. Damit offenbar nicht ausgelastet, erhielt er von Göring noch den Posten des Sonderbeauftragten für den Bau des Westwalls. Nach Kriegsausbruch war er in den Militärverwaltungen in Belgien und Frankreich tätig, kehrte aber im März 1941 als Regierungspräsident nach Wiesbaden zurück, wo er auch unmittelbar mit den Deportationen und den Arisierungen befasst war. Offenbar kam es aber zu Konflikten mit dem Gauleuter Sprenger, der ihn 1943 von seinen Ämtern abberief.[35]
Bis zum 2. Februar 1945 konnte Pfeffer weiterhin das Leben in der luxuriösen Villa genießen. An diesem Tag wurde das Haus durch den alliierten Fliegerangriff erheblich zerstört. Viele Zimmer waren nicht mehr bewohnbar, dass Dach stark beschädigt und viele Fenster waren samt Rahmen durch die Druckwelle herausgerissen worden. Eine französische Dienststelle – um welche es sich handelte, ist den Akten nicht zu entnehmen – hatte bisher die vier Zimmer im Parterre gemietet. Nach dem Bombenangriff waren die Franzosen ausgezogen, sodass Pfeffer, dem bisher die acht Zimmerwohnung zur Verfügung gestanden hatte, laut dem Beschlagnahmeschreiben der Militärbehörde zuletzt einziger „occupant“ war.[36]
Aber angesichts der Wohnungsnot musste er in Kauf nehmen, dass trotz des kaum mehr bewohnbaren Zustands des Hauses weitere Mieter einzogen. Zunächst hatte im Sommer 1946 das Großhessische Staatsministerium Interesse gezeigt, dort eigene Bedienstete unterzubringen. Die notwendigen Instandsetzungskosten waren damals auf etwa 30.000 RM geschätzt worden. Im Oktober kamen dann drei Mietverträge mit der ‚Immobilien-Verkehrs-Gesellschaft m. b. H.’, die die Immobilie verwaltete, zustande. Ob es sich dabei tatsächlich um Angestellte des Ministeriums handelte, konnte nicht geklärt werden. Mit dem Mietvertrag war für die Mieter die Bedingung verknüpft, die Schäden auf eigene Kosten zu beseitigen, um so den weiteren Verfall der Ruine aufzuhalten.[37] Mit ihnen geriet der von Pfeffer, der offenbar noch immer nicht einsehen wollte, dass sich die Zeiten geändert hatten und seine Machtansprüche kaum mehr durchsetzbar waren, bald in Streit um die Nutzung des Gartens, den er wie bisher für sich alleine beanspruchte.[38]
Noch 1947 wird in einem Schreiben der Immobilien-Gesellschaft als Eigentümerin des Hauses Frau Ginsburg, Nizza, litauische Staatsbürgerin, angegeben.[39] Am 22. Dezember 1949 hob das Amtsgericht Wiesbaden die Vermögenskontrolle über die Immobilie auf. Sicher ist immerhin, dass das Hausgrundstück im Grundbuch nicht auf das Deutsche Reich übertragen worden, sondern ganz offenbar als Vermögen einer ausländischen Staatsbürgerin formal in der Hand der längst ermordeten Sophie Ginsburg geblieben war.[40]
Auf Grund eines am 21. März 1957 ausgestellten Erbscheins erhielten dann die noch lebenden Erben von Sophie Ginsburg, die in Paris lebenden Mathias Ginsburg / Gunsbourg und die beiden Kinder von Simon und Annemarie Ginsburg, Nina und Jacques, das Haus zurück.[41]
Am 29. Januar 1965 verkauften diese, die kein Interesse an einer Rückkehr nach Deutschland hatten, ihren Wiesbadener Besitz an den Regierungsbaumeister Günther Wiederspahn.[42]
Im Kaufvertrag erscheint die Erbin Nina nun als Nina Benoit. Laut Stammbaum von Marianne Salinger hatte sie 1963 in Algier Philip Benoit geheiratet. Aus der Ehe waren dann vier Kinder hervorgegangen, Jean Marc, Pierre Alain, Marie Sophie und Antoinette, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Stammbaums alle in Paris lebten. Ihr Bruder Jacques, der 1966 in Paris Michelle Leman geheiratet hatte, bekam mit Emanuelle und Sophie zwei Töchter, die sich in Genf niederließen.
Veröffentlicht: 14. 03. 2024
Anmerkungen:
[1] Denkmaltopographie – Kulturdenkmäler in Hessen, Wiesbaden II, Villengebiete, S. 169. Der Bauantrag für das Haus wurde 1905 gestellt, geplant wurde es von dem Architekten Theodor Wiederspahn.
[2] Grundrisszeichnungen der einzelnen Etagen befinden sich in HHStAW 519-VA-1231-321.
[3] Aufgelassen wurde es am 7.7.1922, eingetragen am 3.10. des gleichen Jahres. Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 263 Bl. 3929 Innen.
[4] Ebd. Der Einheitswert der Immobilie wurde 1935 mit 10.300 RM taxiert, siehe Stadtarchiv Wiesbaden Wi/3 983.
[5] Zum Hotel „Kronprinz“ siehe Schreeb, Kronprinz, S. 258-261.
[6] https://www.michelsberg-wiesbaden.de/alle-namen-mit-den-nachtraegen-aus-dem-jahre-2023/. (Zugriff: 14.3.2024).
[7] HHStAW 519/2 2111.
[8] HHStAW 519-VA-1231-321.
[9] https://ia802700.us.archive.org/19/items/mariannesalinger01sali/mariannesalinger01sali.pdf. (Zugriff: 14.3.2024). Die im Folgenden genannten Lebensdaten sind, wenn nicht anders angegeben, diesem Stammbaum entnommen. Inwieweit sie als gesichert angesehen können, konnte insgesamt nicht überprüft werden. Allerdings ist eine gewisse Skepsis angebracht, da die Angabe des Geburtsjahres von Samuel Ginsburg nicht mit der Altersangabe im Sterbeeintrag beim Standesamt Wiesbaden übereinstimmt. Siehe unten Anm 10.
[10] Die Altersabgabe 1857 stammt von Marianne Salinger, die von 1859 errechnet sich aus der Altersangabe in seinem Sterbeeintrag, laut dem er bei seinem Tod 1923 64 Jahre alt gewesen sein soll. Siehe Sterberegister Wiesbaden 788 / 1923. Leider fehlt in dem Stammbaum von Marianne Salinger eine Angabe, ob die Daten nach dem julianischen oder gregorianischen Kalender gemacht wurden, was allerdings auch die Differenz von zwei Jahren nicht erklären würde.
[11] Auch der Name Polak erscheint in den Akten in unterschiedlichen Schreibweisen, oft in der Form Pollak, Polack oder auch Pollack. Die hier benutzte Schreibweise Polak basiert auf der im Grundbucheintrag verwendeten.
[12] https://www.geni.com/family-tree/index/6000000024261950669 und https://www.ushmm.org/online/hsv/wexner/cache/1709723951-1810019-13.jpg. (Zugriff: 14.3.2024).
[13] Nicht ausgeschlossen ist auch, dass die Familie zuvor schon in Deutschland, z.B. in Berlin gelebt hatte, bevor sie nach Wiesbaden kam. In Berlin gab es in den ersten beiden Jahrzehnten eine große Zahl von Ginsbergs, von denen einige besonders im Handel mit Russland aktiv waren. Siehe dazu die verschiedenen Adressbücher Berlins in diesen Jahren. So gab es noch 1918 in Berlin eine 1875 gegründete Häutehandlung der Gebrüder Ginsberg. 1918 zählte auch ein J. Kristeller zu den Inhabern dieser Firma. In einem Brief von Marianne an ihre Mutter aus Paris schreibt sie, dass sie am Sonntag Lunch mit Frau Kristeller hatte, die sie vielmals grüßen lässt. Ganz offenbar kannte man sich, vermutlich aus Berlin. Siehe den Brief vom 19.6.1948 unter https://ia801909.us.archive.org/9/items/mariannesalinger02sali/mariannesalinger02sali.pdf. (Zugriff: 14.3.2024). Da sich Marianne nach dem Krieg zeitweise um die beiden Kinder von Simon und Annemarie kümmerte, liegt es nahe, dass die jeweiligen Eltern, zumindest die Geschwister Simon und Gertrude, eine engere Beziehung hatten, vielleicht durch eine gemeinsame Zeit in Berlin.
[14] Sterberegister Wiesbaden 788 / 1923.
[15] https://www.geni.com/people/Lea-Polak/6000000024261950669. (Zugriff: 14.3.2024). Im genannten Stammbaum ist die Eheschließung nicht aufgeführt. Wer ihr Ehemann war, muss daher offen bleiben.
[16] Es gibt allerdings ein Adressbuch für das Jahr 1925/26, das nicht in der Reihe der von der Landesbibliothek digitalisierten Ausgaben erschienen ist. In diesem ist sie als Privatiere mit der Adresse Lortzingstr. 7 aufgeführt, siehe https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/79298949:60778?tid=&pid=&queryId=65bdeea3-15c9-431e-be04-d8c07694aa7d&_phsrc=svo3538&_phstart=successSource. (Zugriff: 14.3.2024).
[17] Die Einträge in den folgenden Adressbüchern für die Jahre 1937 und 1938 enthalten den gleichen Vermerk. Völlig falsch ist aber die im Zusammenhang mit der Todeserklärung der Mieter Trief gemachte Angabe des Wiesbadener Polizeipräsidiums, Frau Gynsburg (!) habe bis 1943 in der Lortzingstr. 7 gewohnte. Siehe HHStAW 469/33 2862 (5).
[18] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 263 Bl. 3929 Innen (113).
[19] https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=3177823&ind=1. (Zugriff: 14.3.2024).
[20] https://collections.yadvashem.org/en/deportations/5092621. (Zugriff: 14.3.2024).
[21] https://collections.yadvashem.org/en/deportations/5092636. (Zugriff: 14.3.2024).
[22] https://www.ushmm.org/online/hsv/wexner/cache/1709725681-1810739-16.jpg. (Zugriff: 14.3.2024).
[23] Sterberegister Arolsen 18 / 1954.
[24] Marianne Salinger hat in verschiedenen Briefen an ihre Mutter in den USA über ihre Zeit in Paris und auch über die Kinder berichtet. Leider sind die Briefe nicht online zugänglich
[25] https://ia801909.us.archive.org/9/items/mariannesalinger02sali/mariannesalinger02sali.pdf. (Zugriff: 14.3.2024).
[26] Das erste Visum für Brasilien war in Genf ausgestellt, das zweite in der brasilianischen Botschaft in Santiago de Chile.
[27] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/24075953:62201?tid=&pid=&queryId=1f1d43f3-db39-45a7-91d9-378f64d18539&_phsrc=svo3594&_phstart=successSource. (Zugriff: 14.3.2024).
[28] Nicht unerwähnt bleiben soll im gegebenen Zusammenhang ein Eintrag in der Liste der Studenten der Universität München aus dem Wintersemester 1906/07. Hier sind unmittelbar untereinander zwei Studenten mit den Namen Ginsburg Jakob und Ginsburg Matthias aufgeführt, die damals zusammen in der Theresienstr. 84 wohnten aus Nijni Nowgorod stammten, also genau dem Stadtteil von Nowgorod, aus dem auch die beiden gesuchten Brüder stammten. Was gegen eine Identität spricht, sind allerdings die von Salinger angegebenen Geburtsdaten der beiden. 1906/07 wären die Brüder erst etwa 8 bzw. 10 Jahre alt gewesen. Möglicherweise sind aber auch die Geburtsangaben nicht richtig und Jacob Salinger studierte tatsächlich in München im Fachbereich Naturwissenschaften, während sich sein Bruder Mathias ein geisteswissenschaftliches Fach belegt hatte. Siehe https://epub.ub.uni-muenchen.de/9661/1/pvz_lmu_1906_07_wise.pdf. (Zugriff: 20.2.2024).
[29] Siehe zu ihrer Biographie im Kapitel zum Judenhaus Mainzer Str. 2.
[30] HHStAW 519/2 2111 (o.P.).
[31] Zu seiner Person siehe Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, S. 186.
[32] Ebd. (o.P.).
[33] Ebd. (o.P.).
[34] Ebd. (o.P.).
[35] Siehe zu seiner Biografie den Eintrag im Stadtlexikon Wiesbaden, Meinl / Zwilling, Legalisierter Raub, S. 50 und 482, dazu https://www.lagis-hessen.de/pnd/139168648. (Zugriff: 20.3.2024) und https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Pfeffer_von_Salomon/ (Zugriff: 20.3.2024) mit weiterführender Literatur. Zu erwähnen wäre noch, dass Pfeffer nach dem Ende der NS-Zeit entnazifiziert wurde und eine Pension als Regierungsrat erhielt. Er versuchte in Wiesbaden als Mitglied der DP auch politisch wieder aktiv zu werden, scheiterte aber an der zu geringen Unterstützung in der Wiesbadener Wählerschaft.
[36] Die französische Behörde hatte bis zum Bombeneinschlag 120 RM, Pfeffer 215 RM monatliche Miete gezahlt. Nach dem Bombenschaden bezahlte er zuletzt noch 40 RM für das gesamte Haus, ein Betrag gegen den er Beschwerde einlegte, was aber nur zur Folge hatte, dass die Miete auf 65 RM angehoben wurde Siehe HHStAW 519-VA-1231-321 (o.P.).
[37] Im Frühjahr 1946 hatte eine Hebammenschwester Interesse bekundet, das Haus für 30.000 RM zu kaufen, um dort ein Entbindungsheim einzurichten. Dem Begehren konnte aber nicht nachgekommen werden, das eine Veräußerung der Immobilie wegen der Beschlagnahmung durch die Militärregierung nicht möglich war. Ebd. (o.P.).
[38] Ebd. (o.P.).
[39] Ebd. (o.P.).
[40] Es gibt in den Akten keinerlei Hinweis darauf, dass die in einem am 26.5.1945 geschrieben Brief von Alfred Reinstein, dem Sohn der Mieter Sally und Clara Reinstein, an seinen Schwager Carl Ehrlich gemachte Äußerung, er habe das Haus 1938 auf seinen Namen erworben, zutreffend ist. Er schrieb damals: „This house was bought under my name from a French woman in 1938 but I sure don’t know what happened during all this years. I can’t know whether they changed the books or never entered it in the books.” Ebd. (o.P.). Man muss sagen, dass auch damals in diesem Unrechtsstaat ein Hauskauf über einen Notar abgewickelt wurde und nicht ohne Spuren in amtlichen Akteien geblieben wäre. Nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann jedoch, dass Alfred Reinstein auf übelste Art betrogen und der Verkauf nur vorgetäuscht worden war, was für den unmittelbar danach zur Ausreise Gezwungenen nicht mehr kontrollierbar war.
[41] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 263 Bl. 3929 Innen (123). Eingetragen im Grundbuch wurde der Eigentumswechsel am 2.7.1959.
[42] Ebd. Da es eine Namensgleichheit zwischen dem ursprünglichen Architekten und Erbauer des Hauses und dem jetzigen Käufer gibt, liegt eine verwandtschaftliche Beziehung sehr nahe.