Bahnhofstr. 25


Wiesbaden, Guthmann Jakob, Berthold, Claire Paul Charlotte Opfermann
Das Judenhaus in der Bahnhofstr. 25 heute
Eigene Aufnahme
Judenhaus Wiesbaden Guthmann Jakob Berthold Claire Paul Charlotte Opfermann Michel
Lage des Judenhauses Bahnhofstr. 25
Judenhaus Wiesbaden Juden
Belegung des Judenhauses Bahnhofstr. 25

 

 

 

 

 

 

 

 


Familie Guthmann

 

Das Haus in der Bahnhofstr. 25, seiner Zeit noch Nikolasstr. 1, wurde erstmals im April 1903 in das Grundbuch der Stadt Wiesbaden aufgenommen. Es war damals im Besitz des Rechtsanwalts Dr. jur. Oskar Gessert, der dort auch seine Kanzlei betrieb. Auf welchem Weg die Wiener Lebensversicherungsgesellschaft ‚Phönix’ im März 1936 in Besitz des Hauses gelangte, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Dass die Immobilie nur als Kapitalanlage fungierte, zeigt sich daran, dass sie schon innerhalb eines Jahres an eine weitere Versicherung, die ‚Isar-Lebensversicherung’ mit Sitz in München, weitergegeben wurde.[1]

Ein Jahr später, am 5. April 1937, wurde das Wohngrundstück je zur Hälfte von Jakob und Berthold Guthmann zu einem Kaufpreis von 33.000 RM erworben.[2] Dies ist insofern verwunderlich, als zu diesem Zeitpunkt die Juden in Deutschland eher darüber nachdachten, wie sie ihr Vermögen liquide machen könnten, um es möglichst vorteilhaft aus dem Land herauszubringen. War es Naivität, Blauäugigkeit, Trotz oder der bewusste Versuch, sich dem Machtanspruch der Nazis entgegenzustellen? Eine Antwort darauf wird sich nicht mehr finden lassen.

Stammbaum der Familien Guthmann – Michel
(GDB-PLS)

Sicher ist allerdings, dass sowohl die  Familie Guthmann, als auch die Familie Michel, die Familie von Berthold Guthmanns Frau Clara/ Claire Michel, zu diesem Zeitpunkt bereits hinreichend Erfahrungen mit antisemitischen Anfeindungen gemacht hatten. Alle Linien der Guthmann-Familie waren ursprünglich aus dem Landjudentum hervorgegangen, aus dem Raum um Worms, Groß-Gerau und aus Gladenbach im sogenannten Hinterland zwischen Herborn und Marburg. Beide Familienzweige waren in Deutschland tief verwurzelt, waren sich ihrer jüdischen Herkunft bewusst, aber keineswegs strenggläubig.[3] Wie die meisten Landjuden lebten auch sie vom Handel. Mit der wachsenden Differenzierung des Wirtschaftslebens vertrieben einige auch Güter aus den Kolonien oder industrielle Produkte wie Schuhe, Kleider und Fahrräder, die meisten aber lebten vom Handel mit den typischen ländlichen Produkten wie Getreide, Vieh und dergleichen. Und gerade die Juden dieser traditionellen Branche hatten auf dem Land in allen Krisenzeiten als Sündenböcke für jedes Ungemach herhalten müssen. Aber solche Phasen wechselten auch mit Zeiten, in denen sie in ihren Heimatorten geachtet und weitgehend in die Mehrheitsgemeinde integriert waren.

In Gladenbach, wo es seit dem 17.Jahrhundert ein jüdische Gemeinde gab, deren Mitglieder in der Hochzeit während des 19. Jahrhunderts durchgängig mehr als 10 Prozent der Einwohner stellten, wurden sogar noch im März 1933 zwei jüdische Bürger in den Gemeinderat gewählt.[4] Einer der beiden war Max Schiff, Mitglied einer alteingesessenen und weitläufigen Kaufmannsfamilie, der auch die Mutter von Claire Guthmann, Franziska Michel, geborene Schiff, entstammte. Aber auch das Hinterland blieb von den antisemitischen Strömungen in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik nicht unberührt.[5] In den kleineren Orten der Umgebung erreichte die NSDAP schon bei den Wahlen von 1932 mitunter etwa 90 Prozent Zustimmung, in Gladenbach selbst allerdings nicht. Hier war man sich wohl über die Bedeutung der vielen jüdischen Händler, besonders der Viehhändler, für die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinde – noch ! – im Klaren. Aber ab Januar 1933 begannen auch hier die zum Teil gewalttätigen Aktionen gegen die ortsansässigen Juden, angeführt von der örtlichen HJ und SA. Zwar wurden solche Attacken zunächst von dem zuständigen Schöffengericht in der ersten Instanz noch geahndet, die zweite Instanz hob die Urteile anschließend, als die NSDAP ihre Macht gefestigt hatte, freilich wieder auf. Nach den Boykottaktionen im März / April 1933 und noch mehr nach Verhaftungen und neuen Gewaltaktionen im Sommer 1935 verließen viele Juden ihren Heimatort. Manche kehrten noch einmal zurück, aber immer mehr wanderten endgültig ab. Im November 1938 lebten von den 1933 mehr als 100 Juden gerade mal noch dreizehn in der Gemeinde. Auch sie verließen in den folgenden zwei Jahren den Ort, der für viele jüdische Familien seit Generationen ihre Heimat war. Als am 17. Juni 1940 auch das letzte jüdische Ehepaar wegzog, war Gladenbach „judenfrei“: „Eine 330jährige Geschichte der Juden war zu Ende gegangen.“[6]

Ein Teil der Michel-Familie, zu der auch Claire Michels Eltern und Großeltern gehörten, erlebten diese letzten Jahre nicht mehr bzw. nicht mehr in Gladenbach. Die Großeltern Salomon und Betty Michel, die in Gladenbach einen Pferdehandel betrieben hatten, waren beide bereits vor dem Ersten Weltkrieg verstorben.[7] Bald nach dem Tod seiner Frau hatte Salomon Michel im Jahr 1896 das Geschäft auf die beiden Söhne Meier und Hermann, dem Vater von Claire, übertragen.[8] Meier Michel war bereits seit 1887 nach Gießen verzogen und hatte hier in der Bleichstr. 24 eine gut gehende Dependance des väterlichen Unternehmens aufgebaut. Im Jahr seines Wegzugs aus Gladenbach hatte er am 19. Juni 1887 Rosalie Schiff geheiratet.[9] Sie, geboren am 22. Juli 1865 ebenfalls in Gladenbach, war die Tochter von Moses und Johanna Schiff, eine geborene Stern, die noch mindestens fünf weitere Söhne hatten. Da Willy Schiff, eines dieser Kinder, wiederum Michels und Hermanns Schwester Fanny Michel geehelicht hatte, waren diese beiden für die Region des Hinterlandes wichtigen Kaufmannsfamilien wechselseitig miteinander verschwägert und arbeiteten vermutlich auch wirtschaftlich eng zusammen.[10] Aus der Ehe von Rosalie und Meier Michel gingen zwei Kinder hervor. Zunächst wurde am 9. Mai 1888 der Sohn Berthold geboren,[11] Am 15. März 1890 folgte die Tochter Johannah.[12]

Der zweite Sohn der Michels, Hermann Michel, heiratete am 12. Oktober 1893 in Gladenbach ebenfalls eine Frau aus der Familie Schiff. Franziska, geboren am 23. März 1873, war die Tochter des Handelsmanns Wolf Schiff und seiner Frau Sara, geborene Mai.[13] In der Ehe von Hermann und Franziska Schiff wurde nur ein Kind geboren. Klara, für die sich der Rufname Claire durchsetzte, kam am 1. September 1894 zur Welt. Wahrscheinlich führte das Paar bis zum Tod von Samuel Michel zunächst die Gladenbacher Filiale des väterlichen Geschäfts weiter. Nach dessen Tod zog auch Hermann Michel mit seiner Familie im Mai 1908 nach Gießen, [14] wo die beiden Brüder den lukrativen Pferdehandel nun gemeinsam betrieben. Sie bewohnten auch zusammen das wohl recht große Anwesen, eine Hofreite, in der Bleichstraße 24. Ein Geschäft für Pferdezubehör war im Haupthaus eingerichtet und die Ställe für den Handel mit Pferden lagen im Hinterhaus. Weitere Wohnungen in dem Gebäudekomplex waren an andere Familien vermietet oder von Verwandten belegt. Nach dem Tod von Meier Michel am 25. September 1919 betrieb Hermann Michel nun das Geschäft alleine. Franziska Michel war ebenfalls geschäftlich aktiv, allerdings in einer gänzlich anderen Branche: 1931 eröffnete sie in ihrem Haus eine Buchverleih und einen Handel mit Büchern in Kommission.[15] Das Ehepaar scheint zudem die Tochter des verstorbenen Meier Michel, Johanna, in die Familie aufgenommen und betreut zu haben. Charlotte Opfermann bezeichnete sie später in ihren Erinnerungen als „mother’s almost halfsister, cousin Hannah“.[16]

 

Ähnlich wie im Hessischen Hinterland änderten sich auch die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden im Rheinhessischen innerhalb kürzester Zeit. Unbegreiflich für diejenigen, denen man kurz zuvor noch alle Ehre, etwa bei Beerdigungen, erwiesen hatte, denen man öffentliche Ämter übertragen hatte, in der Gewissheit, sie würden für die gemeinsamen Interessen einstehen, und mit denen man Geschäfte abgeschlossen hatte, einfach weil sie sich über viele Jahre als vertrauenswürdige Partner erwiesen hatten. Durchweg patriotisch eingestellt, gab es viele, die in den Kriegen gegen Napoleon, im Deutsch-Französischen Krieg oder auch im Ersten Weltkrieg ihr Leben für die deutsche Nation geopfert hatten. Natürlich war es auch hier immer wieder mal zu den üblichen Anfeindungen gekommen, sogar zu Gewaltakten, aber aus dem Altrheingebiet sind – abgesehen von Vorfällen in Alsheim – solche Übergriffe nicht überliefert. Grundlegend veränderten sich auch hier die Verhältnisse erst mit dem Jahr 1933.[17]

Juda Guthmann, Berthold Guthmann
Todesanzeige Juda Guthmann in Eich
http://www.alemannia-judaica.de/eich_synagoge.htm.

Die Familie Guthmann stammte aus dem rheinhessischen Hamm und lässt sich auf den dort ansässigen Schutzjuden Mendle zurückführen, der im Gefolge der napoleonischen Namensreform von 1808 den Namen Guthmann angenommen hatte.[18] 1857 waren dessen Nachkommen in den Nachbarort Eich gezogen, wo Juda Guthmann den von seinem Vater Jakob Guthmann, ursprünglich ein Metzger und Viehhändler, noch in Hamm aufgebauten Handel mit Kurzwaren und allen möglichen Landprodukten weiterführte.[19] Es muss ein recht einträgliches Geschäft gewesen sein, denn als 1890 in Eich eine eigene Synagoge geweiht wurde, stiftete er aus diesem Anlass zwei Thora-Rollen, die später durch seinen Sohn Jakob nach Wiesbaden gelangten.[20] Da das erste Kind aus der Ehe mit Anna Kirchbaum, Johanna / Jeanette, 1875 bereits mit 14 Jahren verstarb, war der am 3. April 1868 geborene Jakob das einzige Kind von Juda und Anna Guthmann, welches das Geschäft des Vaters übernehmen konnte, als auch dieser 1909 im Alter von 82 Jahren entschlief.[21] Das Ansehen, das der Sohn Jakob Guthmann nicht nur unter seinen Glaubensbrüdern genoss, zeigt sich darin, dass er sowohl in den Vorstand der jüdischen Gemeinde, als auch in den örtlichen Gemeinderat gewählt wurde. Aktiv war er zudem in der örtlichen freiwilligen Feuerwehr und auch im Soldatenverein.[22] Über drei Generationen hinweg hatten sich die Guthmanns als Händler für Landprodukte wie Mehl, Feldfrüchte, aber auch Salz und andere „Spezereien“, aber auch als engagierte Bürger in der Altrheingegend einen Namen gemacht.[23]

Die enge Bindung der Landjuden untereinander wurde immer wieder auch dadurch gefestigt, dass man untereinander, auch innerhalb des Familienverbandes heiratete. So nahm sich Jakob Guthmann Lina Guthmann aus Groß-Gerau zur Frau. Beide hatten die gleichen Urgroßeltern, nämlich Elias Mendle Guthmann und Gütchen, geborene Eisemann.[24]

Aus der Ehe von Jakob und Lina Guthmann gingen vier Kinder hervor. Der älteste war der am 13. April 1893 geborene Berthold. Ihm folgte am 20. August 1894 mit Salomon, genannt Sally, ein weiterer Sohn. Genau zwei Jahre später, am 20. August 1896, wurde noch die Tochter Anna geboren und zuletzt, am 6. Februar 1898 Eduard.[25]

Guthmanns besaßen verkehrsgünstig gelegen ein Haus in der Bahnhofstraße, das sie auf Grund der prosperierenden Geschäftsentwicklung im Laufe der Jahre durch zusätzliche Nebengebäude erweitern konnten. Ein Telefon für den Geschäftsgebrauch und sogar ein Auto kennzeichnete den für ländliche Verhältnisse gehobenen Lebensstandard der Familie.[26] Unter Jakob Guthmann Führung wurde das Geschäft erheblich erweitert. Es gab fast nichts, was bei ihm nicht zu erhalten war. Fahrräder wurden genauso angeboten wie Backsteine. Feldfrüchte lagen neben Tuchen und Schreibwaren. Düngemittel, Wein und Brennstoffe konnte man hier genauso erwerben wie Mehl und Salz. Und zuletzt betätigte sich Jakob Guthmann auch noch als Geld- und Immobilienmakler.[27]

Berthold Guthmann, der älteste Sohn, sollte den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie fortsetzen. Er begann, nachdem er im benachbarten Worms an einem humanistischen Gymnasium 1912 sein Abitur abgelegt hatte, ein Jurastudium in Heidelberg.[28] Im Weiteren besuchte er die Universitäten in Freiburg, Leipzig und zuletzt Gießen, wo er seine spätere Frau Claire kennenlernte. An der dortigen Justus-Liebig-Universität legte er 1919 sein Erstes Staatsexamen ab.

Berthold Guthmann, Eduard Guthmann, Judenhaus Wiesbaden, Bahnhofstr. 25
Berthold (l) und Eduard Guthmann (r) als Soldaten im Ersten Weltkrieg.
(Archiv AMS)

Zwischenzeitlich war die Ausbildung durch den Ersten Weltkrieg, an dem Berthold als Freiwilliger in einer Staffel der deutschen Luftwaffe teilnahm, unterbrochen worden. Für die schweren Verletzungen, die er bei einem Absturz mit seinem Flugzeug erlitt, wurde er mit dem Eisernen Kreuz und dem Verwundetenabzeichen geehrt. Bei der Ordensverleihung verstieg sich der Vorgesetzte in seiner Laudatio zu dem für die Zeit so charakteristischen antisemitischen Topos: Berthold Guthmann sei „zwar Jude“, aber dennoch „ein ausgezeichnetes Vorbild für alle“.[29] Auch die Mutter und die Schwester setzten sich durch ihre Mitarbeit im Roten Kreuz und durch Spendensammlungen für die Soldaten an der Front für einen deutschen Sieg ein. Das größte Opfer aber war der Verslust von Salomon / Sally Guthmann, der am 27. August 1917 wenige Tage nach seinem 23sten Geburtstag in den Schützengräben von Verdun sein Leben verlor.

Noch bevor Berthold im April 1922 auch das Zweite juristische Examen ablegte, heiratete er am 12. Mai 1920 Claire Michel.[30] Kurz vor Abschluss seiner juristischen Ausbildung kam am 22. März 1922 Paul, das erste Kind des Ehepaars, in Wiesbaden zur Welt. Bevor am 1. April 1925 die Tochter Charlotte geboren wurde, war Berthold Guthmann im September 1923 auf eigenen Antrag aus dem Staatsdienst ausgetreten und hatte sich in Wiesbaden als Rechtsanwalt niedergelassen. Seine Zulassungen zu dem dortigen Amts- und Landgericht erhielt er am 19. Januar 1927.[31] Damit war der Grundstein für eine außergewöhnliche Karriere gelegt, bei der Berthold Guthmann gerade wegen seines Engagements für seine jüdischen Mitbürger unweigerlich, aber auch unfreiwillig in den Machtapparat des NS-Staates eingebunden wurde. Die Gewissenskonflikte, die aus dieser prekären Stellung resultieren mussten, sind nur zu erahnen.

Sowohl seine erste Kanzlei in der Langgasse 30, wie auch die zweite in der Kirchgasse 7, waren im Zentrum Wiesbadens gelegen. In die Kirchgasse 7, in der auch seine Privatwohnung lag, war er mit der Kanzlei 1930 umgezogen. Seine Klientel bestand etwa zur Hälfte aus Juden bzw. Nichtjuden.[32]

Guthmann Berthold, Blaire Michel, Judenhaus Wiesbaden Bahnhofstr. 25
Familie Guthmann um 1928
(Archiv AMS)

Aber Berthold Guthmann setzte sich nicht nur beruflich als Jurist für seine jüdischen Mitbürger ein, wie unzählige Akten belegen, die Familie Guthmann engagierte sich insgesamt auch im Vereinsleben der jüdischen Gemeinde auf vielfältige Weise. Im Vordergrund standen dabei die Vereine, die sich um soziale Belange kümmerten. So waren Guthmanns Mitglied in der „Wiesbadener Ferienkolonie für israelische Kinder“, die sich der Fürsorge erholungsbedürftiger Kinder annahm. Auch der „Verein jüdischer Frauen“, in dem Claire Guthmann Mietglied war, verfolgte ähnliche Ziele für bedürftige Frauen und die „Rituelle Küche“ hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Kranke und Arme mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Auch der „Israelische Waisenunterstützungsverein“ konnte auf die finanzielle und wohl auch tätige Hilfe der Guthmanns bauen. Die Pflege jüdischer Kultur, Geschichte und Literatur wurde durch ihr Engagement im „Jüdischen Lehrhaus“ gefördert. Die beiden Kinder waren Mitglied in der „Sportgruppe im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“. Verwunderlich ist allerdings, dass Berthold Guthmann, der hochdekorierte Soldat des Ersten Weltkriegs, 1935 kein Mitglied des „Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten“ („RjF“) mehr war.[33] Offensichtlich war er dort inzwischen ausgetreten, denn Fritz Beckhardt, der wie Berthold Guthmann Flieger im Ersten Weltkrieg gewesen war, berichtete, dass er ihn, den „Vorsitzenden der Ortsgruppe des RjF“, 1927 im Cafe Maldaner kennengelernt habe, als dieser dort „mit großen Detailkenntnisse“ Vorträge über den „’Stand der völkischen Bewegung in Wiesbaden und im Rheingau’ und ‚die ‚gegenwärtige Lage unserer Abwehrtätigkeit’“ gehalten habe.[34]

Judenhaus Bahnhofstr. 25 Wiesbaden , Claire Michel, Jakob Guthmann
Berthold Guthmann
(Archiv AMS)

Neben diesem Engagement in der Jüdischen Gemeinde, war er als Sprecher der örtlichen Sozialdemokraten auch politisch aktiv.[35] Zudem gehörte er der Loge B’nai B’rith an, einer Vereinigung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in New York von deutschen Juden gegründet worden war und den Zielen einer humanen, toleranten und sozialen Welt verpflichtet war. Die „Söhne des Bundes“ – wie die deutsche Übersetzung des hebräischen Namens der Loge lautet – betrachteten sich auch als ein Forum zur Reflektion über die Rolle des Judentums in der konkreten Welt. Leo Baeck war seit 1925 Präsident des deutschen Ablegers der Loge, die 1937 von den Nazis zwangsweise aufgelöst wurde.[36] Das wichtigste Engagement von Berthold Guthmann war aber sein Vorsitzend im „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, der nicht nur politisch gegen den wachsenden Antisemitismus einzuschreiten versuchte, sondern auch durch konkrete Rechtshilfe den jüdischen Glaubensbrüdern und –schwestern in Konfliktsituationen beistand. [37]

Auch in seiner Rolle als Rechtsanwalt konnte er diese Aufgabe, anders als viele seiner jüdischen Kollegen, dank seiner Kriegsauszeichnungen auch nach 1933 weiterhin erfüllen. Viele Akten, etwa Urkunden von Hausverkäufen auswanderungswilliger Juden oder Einsprüche gegen Steuerbescheide, tragen seine Unterschrift.

Die Guthmanns – so die Tochter Charlotte Opfermann – war eine der für die Zwischenkriegszeit so typischen, völlig assimilierten jüdischen Familien der oberen Mittelklasse.[38] Doch mit dem 30. Januar 1933 änderte sich alles, das berufliche, wie auch das private Leben. Und diese Veränderungen waren auch für die Kinder unmittelbar erfahrbar. So berichtete Charlotte in ihren biographischen Notizen, dass sie bis dahin viele Wochenend-, Ferien- und Feiertage in Gießen bei den Großeltern verbracht und dort unbekümmert mit den nicht-jüdischen Nachbarskindern gespielt hatte. Ab 1933 sei ihr von den Eltern dieser Kinder mitgeteilt worden, dass das „nicht mehr erwünscht“ sei.[39]

Charlotte Guthmann, Opfermann, Judenhaus Wiesbaden
Charlotte Guthmann
(Archiv AMS)

Bald begannen auch die Diskriminierungen und Demütigungen in der Schule. Charlotte war in der Hebbelschule für Mädchen und Paul in die gegenüberliegende Hebbelschule für Jungen eingeschult worden. Anhand der Biographie Hitlers habe sie damals Lesen und Schreiben gelernt – so berichtete Charlotte Opfermann 2004 bei einem ihrer späteren Besuche in Wiesbaden.[40] Überall in ihrem Alltag begegnete ihnen jetzt der Judenhass, ein Phänomen, für Kinder noch weniger begreiflich als für Erwachsene. Zwar hatten beide Geschwister wiederum wegen der Kriegsauszeichnungen des Vaters auch nach 1935 noch eine Höhere Schule besuchen zu dürfen, aber dort waren die alltäglichen Anfeindungen und Benachteiligungen noch umfassender und auch persönlicher. Es wurde nicht mehr nur allgemein gegen Juden gehetzt, sondern man wurde im Unterricht missachtet, in die letzte Reihe gesetzt oder mit schlechteren Zensuren für gleiche Leistungen bedacht.

Guthmann Judenhaus Wiesbaden
Paul Guthmann (2. von rechts) mit seinem Lehrer Edmund Isaak Capell auf dem Hof der Gutenbergschule
(Archiv AMS)

Dass von jüdischen Kindern auch mehr Schulgeld als von nichtjüdischen gefordert wurde, war gegenüber der permanenten psychischen Belastung noch eher leicht zu verschmerzen.[41] Während Charlotte das Lyzeum am Adolf-Hitler-Platz, ehedem Schlossplatz, besuchte, ging Paul seit dem Frühjahr 1932 an die Gutenbergschule. So wie Charlotte in ihrer Klasse noch die jüdischen Mitschülerinnen Hanni Neumann und Ellen Kahn hatte, teilte Paul sein Schicksal mit Herbert Koch und Erich Fackenheim.[42] Wie damals in vielen anderen Schulen in Deutschland, wurde auch hier von einem Lehrer, dem Pauls „minderwertige Rasseherkunft“ nicht bekannt war, dessen „urarische“ Kopfform mit den „wissenschaftlichen Methoden“ nationalsozialistischer Rassenbiologie unzweifelhaft nachgewiesen.

Noch schlimmere Konsequenzen hatte der Machtwechsel für die Großeltern. In Gießen sorgte die örtliche NSDAP dafür, dass jüdische Viehhändler vom Markt ausgeschlossen wurden, noch bevor entsprechende Direktiven von der Reichsregierung erlassen wurden. Zunächst hatte man sie auf Vormarkttage verwiesen, dann ab Oktober 1935 galten die oberhessischen Märkte als „judenfrei“. Im Zusammenhang mit dieser Vertreibung soll Hermann Michel einmal so verprügelt worden sein, dass er seit dem nicht mehr voll arbeitsfähig war. 1936 wurde die Pferdezubehörhandlung aufgegeben, der Kommissionshandel mit Pferden wurde aber noch bis 1937 betrieben. Großen Umfang wird er aber nicht mehr gehabt haben. Inzwischen waren Mieter in das Haus aufgenommen worden, die – neben dem Buchverleih von Franziska Michel und Erspartem – durch die Mieteinnahmen den Lebensunterhalt wenigstens einigermaßen sicherten.[43]

Nicht minder betroffen waren die Großeltern Lina und Jakob Guthmann in Eich. Ein Zeitzeuge, Ernst Jakob Kahn, berichtete, wie in dem kleinen Ort die Juden Zug um Zug ausgegrenzt und vertrieben wurden. 1935 wurde durch einen Gemeinderatsbeschluss der weitere Zuzug von Juden verboten, weil die „Anzahl der Juden für die Eicher Gemeinde schon lange eine unzumutbare Last“ sei. Die bisherigen Rechte, wie Nutzung der Allmende oder der Erwerb von Grundeigentum, wurden ihnen auf kommunaler Ebene sukzessive entzogen. Nichtjüdische Firmen, die mit ihnen weiterhin Geschäftsbeziehungen unterhielten, wurden von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen.[44] Im Besonderen hatte die Nazimeute Jakob Guthmann, die herausragende Persönlichkeit der jüdischen Gemeinschaft, im Visier. Unmittelbar nach der „Machtergreifung“ verschleppten sie ihn in das nahegelegene provisorische KZ Osthofen. Nicht nur die Tat als solche, sondern die Brutalität, mit der sie durchgeführt wurde, lässt einem noch heute erschaudern. Man hatte ihn so auf ein Auto gebunden, dass seine Füße die gesamte Strecke auf dem Boden schleiften, sodass am Ende dieser Tortur die Schuhe zerfetzt und das „rohe Fleisch zu sehen“ war.[45] Es war nur der Beginn permanenter Attacken und Demütigungen, die die Familie, aber natürlich nicht nur sie, seit diesem Zeitpunkt zu ertragen hatte. Nicht nur gingen durch die Boykottaktionen die Umsätze seiner bisher so erfolgreichen Firma deutlich zurück,[46] die SA erpresste auch Geld von ihm, zwang Guthmann sein Auto für ihre Aktionen zur Verfügung zu stellen und beschmierte sein Haus mit Hakenkreuzen. Mit einem Rasiermesser musste Jakob Guthmann auf demütigende Weise am nächsten Tag sein Haus selbst wieder reinigen. Ernst Jakob Kahn und auch die damals 11jährige Enkelin Margot[47] erinnerten sich später an eine andere Gewaltaktion, die sich 1935 zugetragen haben muss. Es begann mit einem Überfall, bei dem die Wohnung völlig zerstört wurde, aller Schmuck und auch vorhandenes Bargeld geraubt wurden. Wieder spielte das Auto, das offensichtlich den Neid der örtlichen SA-Männer erregte, auch bei dieser „Strafaktion“ eine wesentliche Rolle. Unter Führung des Bürgermeisters Widder wurde er wieder daran festgebunden und durch den Ort geschleift. Anschließend hängte man ihn kopfüber an den Beinen zwischen zwei Bäumen an der Straße zum Nachbarort auf. Ernst Jakob Kahn notierte in seinen Erinnerungen, dass Jakob Guthmann nach diesem Ereignis seinen Heimatort verlassen habe und nie mehr nach Eich zurückgekehrt sei. [48] Unter Zwang habe er sein Geschäft aufgegeben und sein Haus verkaufen müssen. „Bald darauf erschien an der Hauptstraße am Eingang zur Stadt das Schild ‚judenrein’. Gegenüber von diesem Schild stand das übliche Kruzifix. Niemand sah die Ironie dieser Bezeichnungen.“[49]

Seine Frau Lina hatte nur noch die erste Phase dieser schrecklichen Jahre erleben müssen. Sie war bereits am 18. Oktober 1934 in Eich verstorben. Daher musste sie auch nicht mehr mit erleben, wie ihr Elternhaus das gleiche Schicksal erlitt, wie das ihres Mannes. Sie war zusammen mit vermutlich neun Geschwistern in Groß-Gerau aufgewachsen, wo ihre Eltern, Lehmann und Babette Guthmann, geborene Guthmann, ein Schuhgeschäft in der Darmstädter Str. 1 betrieben.[50] Nach ihrem Tod im Jahr 1919 bzw. 1926 hatte die jüngere bereits verwitwete Schwester Minna mit ihren beiden Töchtern das Ladengeschäft übernommen und dort mit dem Verkauf von Kurzwaren ihre kleine Familie unterhalten. Ihr Mann Wolf Kahn war mit 37 Jahren am 21. Juli 1918 im Ersten Weltkrieg gefallen. 1935 wurde das Haus an einen ortsansässigen Optiker und seine Frau verkauft. Minna Kahn musste nach Frankfurt ziehen, wo auch ihr Bruder Jakob seit 1939 zu leben gezwungen war. Beide fielen dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer.[51]

 

Während des letzten Überfalls auf Jakob Guthmann hatten Nachbarn den Sohn in Wiesbaden von der Aktion unterrichtet, ihn aber zugleich gewarnt, selbst nach Eich zu fahren. Statt seiner war dann der Bruder Eduard, der in Köln lebte, gekommen und hatte Jakob Guthmann abgeholt. Ob er mit ihm zunächst nach Köln oder gleich nach Wiesbaden zu Berthold Guthmann ging, ließ sich nicht mehr feststellen. Am 27. März 1936 meldete er sich offiziell von Eich ab[52] und ließ sich in Wiesbaden nieder, wo er zunächst eine Wohnung in der Lessingsstr. 3 bezog.[53]

Am 5. April 1937 schlossen er und sein Sohn Berthold in Wiesbaden den Kaufvertrag über das Haus in der Bahnhofstr. 25 ab. Für 33.000 RM, 22.000 RM wurden sofort in bar gezahlt, erwarben sie je zur Hälfte die große Stadtvilla in einer der Prachtstraßen der Kurstadt. Am 27. Mai wurde der Besitzwechsel im Grundbuch der Stadt eingetragen, nachdem der Oberbürgermeister die notwendige Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt hatte und die fällige Grunderwerbssteuer von etwa 1.700 RM gezahlt worden war.[54]

Jakob Guthmann, Berthold Guthmann, Claire Guthmann, Charlotte Guthmann, Paul Guthmann
Familie Guthmann
(Archiv AMS)

Nach einer aufwendigen Renovierung zogen Jakob Guthmann mit seiner Hausgehilfin und Sohn Berthold mit seiner vierköpfigen Familie dort ein. Auch die Praxis wurde aus der Kirchgasse dorthin verlegt und im Erdgeschoss eingerichtet. Im ersten Stock lebte die Familie von Berthold, die darüber liegende Etage wurde geteilt, und zur Hälfte vermietet. Jakob Guthmann bewohnte mit der Hausangestellten die andere Hälfte. Die oberste Etage wurde ebenfalls vermietet. Charlotte Opfermann versuchte später diesen zu dieser Zeit geradezu aberwitzigen Hauskauf zu erklären: “The principal residence was light, spacious and beautifully decorated. Jacob and Berthold had not stinted on the renovations. He and his family may have been run out of their ancestral home, but he and his eldest son responded in kind, acquiring an even more lavish residence, not compromising their standard of living, not cowering before the approaching onslaught, let alone fleeing to safer ground. It showed courage and pride, but also a reckless disregard or fatal misunderstanding of the danger they faced. It was hubris that would cost most of the family their lives.”[55]

Trotz aller Einschränkungen und Zumutungen im alltäglichen Leben, verlief die Zeit bis zur „Reichskristallnacht“ für Guthmanns relativ ruhig, so Charlotte Opfermann. Aber auch sie registrierte damals, dass immer mehr ihrer ehemaligen Schul- und Spielkameradinnen von heute auf morgen verschwunden waren, Deutschland verlassen hatten.[56] Mit dem 10. November 1938 wurde die künstliche Normalität, die die Eltern den beiden Kindern gegenüber aufrechtzuerhalten versuchten, endgültig zerstört. In zwei Dokumenten beschrieb Charlotte Opfermann später umfassend und sehr eindringlich die Ereignisse dieses Tages aus der Sicht einer damals 13jährigen Schülerin.[57]

Ihr Vater war an diesem Morgen auf dem Weg nach Oppenheim zu einer Gerichtsverhandlung. Sie war mit ihrem Bruder wie gewöhnlich zur Schule gegangen, wenngleich auch sie beide von der Deportation der Ostjuden in den vergangenen Tagen geschockt und tief berührt waren. Es waren auch Kinder darunter gewesen, die sie aus ihrer Sportgruppe ‚Schild’ kannten. Nach der zweiten Unterrichtsstunde kam ein älteres Mädchen in Charlottes Klasse und flüsterte ihnen die Nachricht von der brennenden Synagoge am Michelsberg zu, die man aus dem darüberliegenden Stock sehen konnte. Charlotte und ihre Mitschülerin Ellen Kahn[58] wurden auf Anweisung des Schulleiters nach Hause geschickt, ebenso Paul in der Gutenbergschule.
Paul and I both reached home around eleven. Mother and Grossvater were agitated. We gathered at the kitchen table – Grossvater, his Jewish housekeeper, Senny, Mother, Paul and me. Mother had heard that homes were being raided, Jewish men arrested, property destroyed. Grossvater headed for the railroad station to intercept Father, to warn him that he was in danger. Mother took charge at home. I went to my room and started some homework, not knowing what else to do, wishing that Father were there. He would know what to do.“[59]

Etwa um Mittagszeit erreichte der Mob die Bahnhofstraße, zunächst wurde dort die Weinhandlung Simon angegriffen, die Scheiben zerschlagen und der Wein getrunken oder auf der Straße vergossen. Weiter ging es stark alkoholisiert zur Hausnummer 25. Claire Guthmann and die Kinder flohen in den vierten Stock, in dem die Wohnung an ein nichtjüdisches, estnisches Ehepaar vermietet war.
„We hid in her bathroom, four of us, perched on the bathtub, on the commode, leaning against the sink, hushed, listening. There was banging on the apartment door, followed by loud, drunken voices speaking the local dialect, cursing, demanding to know the whereabouts of the Jews Guthmann. The woman did not give us away. A few minutes after the mob stumbled downstairs, she opened the door and told us we must leave. In broken German, she explained that her husband would not approve of her giving shelter to his Jew landlords.”[60]
In einem winzigen Verschlag in der gleichen Etage verbrachten sie die folgende Zeit und hörten von dort, wie ihre Wohnung und die Kanzlei des Vaters zertrümmert wurden. Der Anblick, der sich ihnen bot, nachdem sie es wagten aus ihrem Versteck herauszutreten, war erschütternd:

„Mother had recently pickled beets. I last saw the jars lined up in the kitchen, the vegetables marinating in vinegar. They had been thrown against the walls in several rooms. A hanging tapestry, crisscrossed with a dozen cuts from a sharp kitchen knife, bled beet juice. Each window and light fixture, every bit of glass in the apartment was shattered. Books were everywhere, little carcasses, gutted, open pages smeared with food and beet juice. I had always been cautioned to open books carefully, lest their spines suffer. Not a concern now. Handfuls of pages were ripped out, stuffed into vases with fresh cut flowers, then thrown onto the parquet floors. Our beds were slashed, down feathers fluttering everywhere. The large framed print of Rembrandt’s Man with a Golden Helmet in the Herrenzimmer was beet red. Its ornate frame lay in pieces, surrounded by broken glass. The leather sofa and two matching club chairs were mutilated, spilling out stuffing, oozing pungent red liquid.
The telephone was ripped from the wall. My upright piano was transformed into a pile of splintered wood, broken ivory, twisted wires. The inlaid parquet floor was scratched and gouged. Cupboards and book cases were split open, their contents thrown out vacant windows. Our clothes had been yanked from their closets and tossed outside, some of them hanging in the lilac trees out back, others dangling from the evergreens in front, like bizarre holiday ornaments.
In my little bedroom, five or six of my childhood dolls lay on the floor, their heads and arms ripped off. Shelves were torn from the walls. The closet door hung by a single hinge. My clothes were ravished, a thick winter coat split down the back, my underwear lewdly shredded. There had been two large armoires stuffed into my small room, filled with Mother’s formal party dresses from her finishing school days. The chests and their contents lay amid the debris in the back yard. Remnants of my clothing were scattered on the ground with my books and toys, games and puzzles. Dismembered teddy bears and legless dolls lay there too, dead soldiers on a deserted battlefield.
My little wash-up sink in the corner was gone, water dribbling from the damaged pipes. Next door, Mother’s pride and joy, the custom-made marble double sink, was split into large pieces, water gushing out, slowly working its way through the ceiling, leaking into Father’s office below.
Our big silver tray, the polished tea and coffee pots, creamer and sugar bowl, were gone. None of the kitchen appliances or plumbing survived. The large oak buffet with its imitation Renaissance carving was overturned on an oriental carpet. It lay in a pool of red liquid, wooden carrion left behind after a bloody sacrifice. The storage closets were empty. The matching linens, neatly tied together with brightly colored satin ribbons to identify various sets of damask patterns, were gone. So were several collections of crystal glasses: a specially carved type for Mosel wine, another pattern with larger bowls for the reds, sturdy Römers for Rhine wine, always standing neatly on their shelves – stemware regiments, routed.
Several of our Venetian lace Klapperdeckchen were impaled on the edges of broken glass in the empty windows. These little doilies were used when setting the table with bone china plates, so that the serving dishes would make no sound when replaced during each dinner course. There were no plates left. The heavy oak table was fractured. I had dusted it only a few days earlier, cursing the tricky carved legs. Now it was toppled on its side like a trophy animal, two legs missing.
The mob had urinated on the walls and floors. In the middle of the kitchen was a pile of human excrement. The apartment wept beet juice. The comforting smells of fresh flowers, cooking odors, a hint of tobacco, the tang of leather furniture had all disappeared, permanently displaced by the stench of vinegar, feces, and the sweat and alcohol breath stink of drunken men.
We now inhabited a public toilet.“[61]

Nicht viel anders sah es im Büro des Vaters aus. Auch hier waren die Möbel zerschlagen, Leitungen aus der Wand gerissen, die Schreibmaschinen mit Hämmern bearbeitet und alles nur Mögliche über Boden und Wände geschüttet worden.

Auch im Hinblick auf die irrige Erwartung, die Versicherung würde für den entstandenen Schaden aufkommen, hatte man wenige Tage nach dem Überfall die Schadenssumme im Beisein eines Vertreters der Gesellschaft bilanziert. Im späteren Entschädigungsverfahren kamen unterschiedliche Zahlen zu Sprache. Claire Guthmann bezifferte den Schaden nach damaligen Werten auf etwa 40.000 RM. Vermutlich war der tatsächliche Schaden noch höher, zumal die Horde es nicht bei ihrem Wandalismus belassen hatte, sondern auch verschiedene wertvolle Gegenstände, darunter eine Kassette mit 51 Goldmünzen, raubte.[62] Die früheren Ausstatter der Büroräume von Berthold Guthmann kalkulierten 1950 für die weitgehende Instandsetzung des früheren Zustandes eine Summe von 16.000 DM, ohne dabei „sämtliche Büromaterialien“ oder „die gesamte Bibliothek“ erfasst zu haben“.[63]

Aber es ging nicht nur um die Zerstörung von Sachen, eine ganz andere Dimension hatte die Zerstörung von Vertraulichkeit und Intimität. Willkürlich waren die Akten aus dem Büro auf die Straße geworfen worden, für jeden Passanten einsehbar. Es waren Dokumente aus Scheidungsprozessen oder über Geschäftsvorgänge, Steuerunterlagen und andere private Schreiben – nicht nur von jüdischen Klienten. Auch die privaten Briefe, die ursprünglich gebündelt im Schlafzimmerschrank der Eltern auch vor den Augen der Kinder verborgen waren, lagen jetzt offen auf dem Gehweg.[64]

Unter Tränen begann die Mutter unmittelbar nach dem Anschlag mit den Aufräumarbeiten, eine trotzige, wenn auch gegenüber den Kindern vergebliche Geste, dass man sich nicht würde unterkriegen lassen – für Charlotte unbegreiflich. Berthold Guthmann, nachdem er mit seinem Vater unverletzt in der Bahnhofstraße angekommen war, blieb auch jetzt bei seiner Haltung: Man habe als Jude in Deutschland ein „Daseinsrecht“, nicht nur ein gesetzmäßiges, sondern auch ein moralisches Recht, geradezu eine moralische Pflicht zu bleiben.[65] Aber Zweifel scheinen auch ihm angesichts des Geschehenen gekommen zu sein:
Father could not look Paul or me in the eye as he reassured us that all this could be explained, that everything would be all right. He behaved as though we had just survived a natural disaster, a tornado or earthquake, not a raging mob of neighbours bent on murdering us. It was the most unnatural thing that had ever happened to me.”[66]

Wie wenig „all right” alles war, zeigte sich schon wenige Stunden später. Berthold Guthmann konnte gerade noch seine Anweisung für den Fall seiner Verhaftung schriftlich niederlegen, als die Gestapo-Beamten in Zivil erschienen und ihn mitnahmen. Wohin er gebracht wurde, erfuhr zunächst weder er noch seine Familie. Da Buchenwald zu dieser Zeit in Wiesbaden noch unbekannt war, mutmaßte man bei dieser Ortsangabe, dass er und die anderen Verhafteten in dem nahen Hohenbuchau, einem alten Schloss in der Nähe von Schlangenbad, interniert seien. Vergebens versuchten die Frauen dort Kontakt mit ihren Ehemännern aufzunehmen. Erst allmählich sprach sich herum, wohin die Verhafteten in Wirklichkeit verschleppt worden waren. Auch sein Schwiegervater Hermann Michel aus Gießen gehörte zu den dort Inhaftierten. Da Berthold Guthmann aus seiner Militärzeit Erfahrungen in Erster Hilfe hatte, fand er dort eine Stelle auf der Krankenstation.

Rechtskonsulent Berthold Guthmann Wiesbaden, Judenhaus, Bahnhofstr. 25

 

 

 

 

Handschriftlicher Lebenslauf von Berthold Guthmann anlässlich seiner Bewerbung zum ‚Konsulenten‘
(HHStAW 458 793)

Im Dezember 1938 wurden beide wieder entlassen. „Father looked nothing like himself when he arrived: tired, disheveled, shorn hair, filthy clothes. Like most of the inmates, he suffered from dysentery. He had methodically torn out the lining of his coat to use as toilet paper. He walked through the front door at twilight, a ghost.”[67]
Die Freilassung geschah wahrscheinlich auf Initiative des Wiesbadener Oberstaatsanwalts Hans Quambusch, der auch Vorsitzender der dortigen Anwaltskammer war. Er hatte wohl erreicht, das Berthold Guthmann die Funktion eines sogenannten Rechtskonsulenten erhielt, durch die er zuständig für alle Rechtsangelegenheiten der Wiesbadener Juden und damit auch für die NS-Bürokratie unabkömmlich wurde. [68] Rückwirkend zum 28. November 1938 wurde er vier Wochen vor seiner tatsächlichen Entlassung aus Buchenwald in das „Amt“ berufen und wurde zuständig für den gesamten Bezirk des Oberlandesgerichts Frankfurt.[69] Die Berufung galt zunächst für einen Monat, wurde dann aber immer wieder jeweils um den gleichen Zeitraum verlängert.

Rosenthal Michel Guthmann
Johanna Rosenthal, geborene Michel
(anchestry.com)

Die so erwirkte Freilassung hatte aber einen entscheidenden Nachteil: Aus Verantwortung gegenüber seinen Klienten, die auf seine Unterstützung bei ihren Angelegenheiten vertrauten, so auch bei der Überwindung der vielen bürokratischen Hindernissen bei der Auswanderung, fühlte er sich nicht mehr frei, selbst diesen Schritt zu vollziehen. Ein Angebot einer Verwandten, Johannah Rosenthal, mit der ganzen Familie nach Brasilien zu gehen, wo deren ältester Sohn schon Jahre zuvor eine große Kaffeeplantage aufgebaut hatte, lehnte er ab.[70] Bertholds Schwester Anna war ebenfalls bereits ausgereist und auch sein Bruder Eduard konnte mit Bertholds Hilfe mit seiner Familie und seinen Schwiegereltern in die USA emigrieren. Unter Missachtung aller Fakten – so Charlotte Guthmann – hätten ihre Eltern damals nicht erkennen wollen, dass es sich bei dieser Ablehnung um eine „life-or-death decision“ handelte. The provincial charm of Wiesbaden still held sway. No, we could not go to the theatre, or concerts, or move about as we wished. But in Brazil we probably would not indulge in much theatre or concert going either. Far out in the back country, there would be no Kultur. We did not speak the language. Father would no longer be a lawyer. We would be as out of place there as were the Ostjuden were in Germany. So we stayed.“[71] Es waren die Überlegungen und Ängste, mit denen alle Auswanderer konfrontiert waren, aber bei Berthold Guthmann waren sie obendrein verknüpft mit der Verantwortung, nach Charlotte Guthmann „eine übertriebene Einlösung der im auferlegten Verantwortung“, die man den Zurückgebliebenen gegenüber schuldig war. Er fand, so Charlotte Guthmann, „dass in dieser Situation, mit dieser Ausbildung, mit diesem Vertrauen und mit dieser Kenntnis der Sachlage man die Verantwortung hätte dazubleiben.“[72] Sicher spielte dabei auch eine Rolle, dass er nur durch die Übernahme der Funktion als Konsulent aus Buchenwald vorzeitig entlassen worden war, während andere noch Wochen, gar Monate dort verbleiben mussten. Dennoch: He regularly placed their interests before those of his family. I may judge him, even condemn him, but knowing what came after, how can I not forgive him? In the Guthmann tradition, however, forgiveness is a very private matter.”[73]

Statt auszuwandern wurde die zerstörte Wohnung auf eigene Kosten repariert, aber sie wurde nie mehr der Ort, der Sicherheit und Geborgenheit verkörpert. Charlotte Guthmann fühlte sich, so schrieb sie, seit den Ereignissen im November 1938 in der Fremde, im Exil – allerdings ohne das Sicherheitsversprechen, das diesem Wort gemeinhin auch anhaftet. Nach Charlottes Erinnerung dauerte es eine Woche, bis die Pogromstimmung sich allmählich legte. Zwar gab es keine Schläge, keine Brandstiftungen und Zertrümmerungen mehr, aber täglich kamen Leute vor das Haus und tuschelten: „’Die Juden sind unser Unglück’. It seemed that everyone had a personal story to justify revenge against the Jews, all leading to the same conclusion: we deserved what we got.“[74]

Auch aus ihrer bisherigen Schule, dem Lyzeum, das sie etwa eine Woche nach dem Pogrom wieder zu betreten versuchte, wurde sie sofort wieder verwiesen, sodass sie ab dieser Zeit nun die Jüdische Schule in der Mainzer Straße besuchen musste.[75] Damit zerbrachen all die Zukunftspläne, die sich Charlotte gemacht hatte, Abitur, Studium – all das, was bisher so selbstverständlich für ein Mädchen ihrer Herkunft zu sein schien, war mit einem Mal verloren.

Die arischen Mieter zogen sich ebenfalls zurück und suchten sich so schnell wie möglich eine andere Unterkunft, wohl nicht weil sie selbst die Juden hassten, aber sie wollten auch nicht in den Verdacht geraten, „Judenfreunde“ zu sein. Die Ausgrenzung hatte eine neue Stufe erricht. Es gab allerdings auch viel Solidarität von jüdischen Mitbürgern, oft ehemalige Klienten von Berthold Guthmann, die so ihre Dankbarkeit für seine Hilfe zum Ausdruck bringen konnten. Man brachte ihnen Möbel, Geschirr Wäsche und sogar Bücher.[76]

Genau ein Jahr später ereignete sich ein zweiter Anschlag auf Guthmanns. Mitten in der Nacht verschafften sich drei uniformierte SA-Leute, die allesamt auch städtische Angestellte waren, Zugang zur Wohnung, um diese unter dem Vorwand, Berthold Guthmann und sein Sohn Paul seien Spione, zu durchsuchen bzw. erneut zu verwüsten. Man hatte sich aber schon zuvor in dem SA-Sturmlokal „Zu den drei Hasen“ auf den eigentlichen Zweck der Aktion, die Juden „abzuschmieren“, geeinigt. Angeblich hatten sie laut der späteren Aussage von Franzreb, einem der Täter, vom Wiesbadener Gestapo-Beamten Bodewig anlässlich des Attentats auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller den entsprechenden Befehl erhalten. Berthold und Paul Guthmann wurden in eine Schrebergartenanlage seitlich der Biebricher Allee verschleppt und dort auf bestialischste Weise mit Fäusten, Tritten und mit den Dolchen traktiert. Nur weil einer der Mittäter nicht bereit war, dem Anführer der Meute seine Pistole zu geben, kam es nicht zur Erschießung der beiden.[77] Im Glauben, sie seien durch die Schläge und Messerstiche bereits tödlich verletzt, wurden sie von den Tätern auf dem Feldweg zurückgelassen. Beide konnten sich aber zu einem jüdischen Arzt am nahegelegenen Kaiser-Friedrich-Ring schleppen, der die lebensrettende Erste Hilfe leistete und sie anschließend in die Städtischen Kliniken brachte.[78] Sechs Wochen musste zumindest Berthold Guthmann dort bleiben, aber auch danach war er ein Vierteljahr nur beschränkt arbeitsfähig.[79]

Trotz dieser beiden Überfälle, hielt sich bis in die Nachkriegszeit in Wiesbaden das Gerücht, Guthmanns hätten damals unter dem besonderen Schutz der NSDAP gestanden. Gerade der letzte Anschlag nährte diese Vermutung, denn immerhin kam es zu einer Verurteilung der Täter durch die Gerichte. Dass sich die NS-Justiz scheinbar schützend vor Juden und gegen SA-Leute stellte, war nur schwer zu verstehen.[80] Hinzu kam, dass Berthold Guthmann durch sein Funktion in ständigem Kontakt zu allen möglichen Partei- und Staatsstellen stand, u.a. zu Walter Bodewig,[81] dem Leiter des „Judenreferats“ in Wiesbaden, wodurch es ihm immer wieder gelang, seinen jüdischen Klienten Vorteile zu verschaffen. Eine der spektakulärsten Fälle war in diesem Zusammenhang das Verfahren gegen Fritz Beckhardt, der angeklagt war, wegen einer Beziehung zur arischen Haushälterin gegen das „Blutschutzgesetz“ verstoßen zu haben. Berthold Guthmann hatte die Verteidigung für seinen ehemaligen „Fliegerkameraden“ aus dem Ersten Weltkrieg übernommen, konnte aber dessen Verurteilung nicht verhindern. Nach Ablauf seiner Gefängnisstrafe wurde er in das KZ Buchenwald überführt, dann aber im Februar 1940 „auf Grund seiner Verdienste im Weltkrieg“ unerwartet aus der Strafkompanie entlassen. Unzweifelhaft hatte Berthold Guthmann ihm durch eine Intervention bei Göring, ebenfalls ehemaliger „Fliegerkamerad“ im Ersten Weltkrieg, das Leben gerettet, wenngleich die genauen Umstände nicht bekannt sind.[82] Wer solche Verbindungen in die höchsten Parteikreise hatte, erschien irgendwie verdächtig, auch wenn er sich seit Jahren mit allen Kräften für seine jüdischen Mitbürger eingesetzt hatte, sogar bereit war, seine eigen Familie zu opfern.[83] Nicht immer haben die Geretteten im diesen Einsatz gedankt und mancher hat nach gelungener Ausreise versäumt, die fällige Rechnung zu begleichen.[84]

Ungeachtet dessen hatte Berthold Guthmann auch in der Zeit als Konsulent vom Dezember 1938 bis Mai 1943 recht beträchtliche Einnahmen. Die Einnahmen, die monatlich aufgeführt sind, summieren sich insgesamt auf rund 100.000 RM, d.h. monatlich im Schnitt 1.820 RM.[85] Davon sind allerdings die hier nicht angegebenen Kosten abzuziehen, zudem war das Einkommen noch auf der Basis einer diskriminierenden Gesetzgebung zu versteuern. Entscheidend aber ist, dass er nur die Hälfte dieser Einnahmen selbst behalten durfte. Die andere Hälfte war als „Ausgleichszahlung“ an die Rechtsanwaltskammer „Sonderkonto Ausgleichsstelle, Berlin“ zu überweisen. An wenn dieser Betrag von 50.000 RM letztlich ging, ist den Unterlagen nicht zu entnehmen. Auch ist nicht ausgeführt, auf welcher rechtlichen Grundlage diese Abgabe beruhte, aber man kann vermuten, dass sich damit der Fiskus oder die SS das gewährte „Privileg“, überhaupt noch in diesem Bereicht tätig sein zu dürfen, teuer bezahlen lies.[86] Aber auch die Restsumme, die er als „Eigentum“ behalten durfte, ging auf das gesicherte Konto, auf das er keinen freien Zugriff hatte.

Hatte seine Aufgabe als Konsulent bisher weitgehend darin bestanden, Auswanderungswilligen trotz der diskriminierenden Gesetze dabei behilflich zu sein, ihre Habe noch möglichst vorteilhaft über die Grenze zu schaffen oder zu verkaufen und den schier undurchschaubaren Dschungel notwendiger Bescheinigungen und Stempel zu durchdringen, so veränderte sich seit dem Beginn der Deportationen seine Funktion grundlegend.
„Schon während des Krieges, als mein Vater zum ersten Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde gewählt wurde, gab es interne Spannungen [in der jüdischen Gemeinde – K.F]. Da auch die Zeiten für Juden in Deutschland inzwischen sehr kritisch waren und die schlechten Nachrichten zunahmen, die mein Vater als Rechtskonsulent den betroffenen Menschen überbringen musste, entstand der Eindruck, dass die Leitung der jüdischen Gemeinde (also mein Vater) an dieser Verschlechterung der Situation schuld sei. Die Menschen nahmen dem Überbringer die schlechte Nachricht und die Folgen daraus übel, obwohl er doch auf die Entscheidungen selbst überhaupt keinen Einfluss hatte. Die jüdischen Gemeinden mussten ihre Deportationen quasi selbst organisieren.“[87]

Die Listen für die Deportationen waren zwar von der Gestapo, zum Teil, räumte Charlotte Opfermann ein, aber auch im Gemeindebüro aufgestellt worden, die jeweiligen persönlichen Aufforderungen, sich am Sammelplatz einzufinden, seien dann aber auch durch die Gemeinde übergeben worden, „Und das war wahrscheinlich das ‚Menschlichere’. Denn, man kann es eher ertragen, wenn jemand kommt, den man kennt und der sagt: ‚Also, nächste Woche bist du dran’, – als wenn ein Polizist kommt und sich hässlich benimmt.“[88]
Das ist sicher richtig, dennoch trug diese ambivalente Rolle wesentlich zu den Gerüchten über Berthold Guthmann bei, zumal bei den ersten Deportationen kein Familienmitglied betroffen war.

Dass aber auch Guthmanns in dieser Zeit von den Nazis wie alle anderen Juden behandelt wurden, lässt sich an vielen Dokumenten nachweisen. Eine Mitteilung des zuständigen Zellenleiters an den Ortsgruppenleiter Leuthaus vom Juni 1941, in dem eine strengere Überwachung des inzwischen zum Judenhaus gewordenen Wohnkomplex gefordert wird, zeigt zudem die große Bereitwilligkeit der Volksgenossen, sich an der Denunziation und Hatz der Nationalsozialisten zu beteiligen.

Schon im Jahr zuvor war auch Jakob Guthmann mit den Behörden in Konflikt geraten, wegen – so die wörtliche Anklage – „Verstoß(es) gegen die zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17.5.1938“. Er hatte es versäumt, bei der Unterschrift seiner „Reichsfett- und Reichsfleischkarte“ den Zwangsnamen Israel auszuschreiben. Statt mit „Israel“ hatte er nur „Isr.“ unterschrieben. Die fällige Strafe – 25 RM plus 2,50 RM Kosten – war innerhalb einer Woche zu zahlen, andernfalls hätte er eine Haftstrafe von 5 Tagen antreten müssen.[89]

Auch in finanzieller Hinsicht unterlagen Guthmanns den gleichen diskriminierenden Gesetzen wie alle anderen Juden. Die Verluste an Eigentum, abgesehen von den Zerstörungen während der Pogrome, ergaben sich aus der Verpflichtung Kleidung, Schmuck und Edelmetalle abzugeben. So sind in den Entschädigungsakten drei Listen erhalten geblieben, laut derer am 16. Januar 1942, am 3. Juni 1942 und noch einmal am 23. Juni 1942 ganze Berge an Kleidung bei der Sammelstelle der Reichsvereinigung abgegeben worden waren, darunter auch einige wohl recht wertvollen Pelze.[90] Welchen wirklichen Wert, welche ideelle Bedeutung das Schmuckstück für Jakob Guthmann hatte, das er am 22. April 1939 abgeben musste, lässt sich nicht mehr sagen, die städtische Pfandleihe, die einzig den Rohwert des Metalls wog, gab für die 350 Gramm Silber etwa 6 RM, für ein paar weitere Gramm Bruchgold noch einmal 9 RM.[91]

In einer Vermögensaufstellung von 1938 war der Wert der Schmucksachen, die Jakob Guthmann abgegeben hatte, noch mit 1.000 RM taxiert worden,[92] dennoch sicher ein materieller Verlust, der zu verschmerzen war. Aus einem späteren Vermerk der Entschädigungsstelle geht hervor, dass er im April 1940 noch ein Vermögen von 64.000 RM, allerdings abzüglich Schulden in Höhe von fast 55.000 RM, also rund 9.000 RM besaß. Der größte Teil des Vermögens bestand allerdings in Immobilienbesitz. Neben dem Anteil an der Bahnhofstr. 25 besaß er noch ein Haus in Mainz, in der Neckarstr. 10, das mit nahezu dem gleichen Wert angesetzt war. Über dieses Vermögen war am 12. April 1940 eine Sicherungsanordnung ergangen, die ihm einen Freibetrag von 200 RM gewährte. Im folgenden Monat hatte man den Betrag auf 350 RM erhöht. 1938 betrug sein Einkommen 2.770 RM, für das folgende Jahr erwartete er noch 1.700 RM.[93]

Die hohen Schulden ergaben sich zum einen aus Hypotheken auf die Immobilien, zum anderen war zu diesem Zeitpunkt die Judenvermögensabgabe zwar berechnet, aber noch nicht bezahlt worden. Sie sollte insgesamt 16.250 RM betragen. Um sie begleichen zu können, musste Jakob Guthmann das Haus in Mainz verkaufen.[94]

Am Beispiel von Jakob Guthmann konnte Meinl auch nachweisen, welche Wirkung die diskriminierende Steuergesetzgebung der Nazis für Juden hatte. Für die Jahre 1940 und 1941 war er mit einer Vermögensteuer von 165 RM, für 1942 mit 123,75 RM veranlagt worden. Ein Arier wäre dagegen auf Grund der für sie geltenden Freibeträge nur auf jährlich 15 RM Vermögensteuer gekommen. „Die zuviel gezahlten Steuern machten für die Jahre 1939 bis 1942 über 550 RM aus. Sicherlich auf den ersten Blick keine große Summe, bedenkt man jedoch die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten jener Jahre und den schleichenden Verarmungsprozess der in Deutschland verbliebenen jüdischen Bevölkerung, wird deutlich, wie der Staat den Juden bei jeder Gelegenheit ungeniert in die immer leerer werdende Tasche griff.“[95] Noch eklatanter wirkte sich diese steuerliche Diskriminierung allerdings bei Berthold Guthmann aus. Nach Mitteilung des Finanzamts Wiesbaden vom 23. März 1950 hatte er ihm Vergleich zu einem nichtjüdischen Steuerzahler mit gleichem Einkommen in den Jahren zwischen 1937 und 1943 allein bei der Einkommensteuer 18.194 RM mehr entrichten müssen.[96]

Auch das Vermögen von Berthold Guthmann unterlag einer Sicherungsanordnung, die am 11. Juli 1939 ergangen war.[97] Aber auch schon zuvor hatte er nicht mehr frei über seine Finanzen bestimmen können. Die Bitte, den Verkauf von Wertpapieren zur Deckung seiner laufenden Verbindlichkeiten zu erlauben, die von der Deutsche Bank an die Devisenstelle weitergeleitet wurde, löste dann die offizielle Sicherungsanordnung – mit einem Eil-Vermerk versehen – aus. In der damit verbundenen Vermögenserklärung gab Berthold Guthmann an, über ein Aktivvermögen von 47.000 RM zu verfügen, davon waren allerdings 30.000 RM im Haus festgelegt. 24.800 RM waren faktisch als Pfand für die Reichsfluchtsteuer entzogen, sodass nur ein Reinvermögen von etwa 22.000 RM übrig blieb. Sein Jahreseinkommen für 1938 gab er mit 4.800 RM, das für das kommende Jahr erwartete mit etwa 15.000 RM an. Der monatliche Bedarf für den vierköpfigen Haushalt belief sich damals auf 1.250 RM, wobei 175 RM zur Unterstützung der Schwiegereltern in Gießen angesetzt waren.[98] Als Hermann Michel am 12. Februar 1940 verstarb, musste Berthold Guthmann die Devisenstelle um die Freigabe von insgesamt 350 RM zu Finanzierung der Beerdigungskostenbitten, die dann auch freigegeben wurden.[99] Nach seiner Freilassung aus dem KZ-Buchenwald war der einstmals so tatkräftige Mann nur noch ein Schatten seiner selbst, so seine Enkelin. Das Elternhaus in Gießen in der Bleichstr. 28 wurde am 7. November 1941 zwangsweise an ein nichtjüdisches Ehepaar für 32.000 RM verkauft.[100] Der Erlös musste selbstverständlich auf ein gesichertes Konto fließen.[101] Nach dem Verkauf wurde Franziska Michel gezwungen, in ein Gießener Judenhaus in der Walpodenstraße zu ziehen. Über die kurze Zeit, die sie dort verbrachte, ist nichts bekannt. Vermutlich war sie für die Deportation vorgesehen, die am 22. November 1941 von Frankfurt aus fast 1.000 Menschen in das Ghetto Kowno brachte. Am Tag zuvor setzte sie ihrem Leben selbst ein Ende.[102]

Nach dem Verlust der von Charlotte so geliebten Großeltern in Gießen, war ihr Opa in Wiesbaden der nächste, den die Nazis holten. Es gibt Hinweise darauf, dass er noch 1941 versuchte, aus Deutschland herauszukommen. Darüber, wie weit er mit seinen Plänen kam, geben die Akten keine Auskunft. Da die Bitte an die Devisenstelle um Freigabe von 200 RM „für besondere Aufwendungen anlässlich der Vorbereitung meiner Auswanderung, insbesondere Telegramme – und Reise – Kosten“ dort erst am 5. März 1941 einging,[103] im folgenden Juli aber der generelle Ausreisestopp für Juden verfügt wurde, wird die Zeit wohl zu knapp gewesen sein, um das Vorhaben noch zu realisieren. Die Angaben in dem Schreiben deuten auch darauf hin, dass er erst am Anfang der Vorbereitungen stand.

Als Jakob Guthmann im folgenden Jahr, im August 1942, auf der Liste der zu Deportierenden für den 1. September stand – ein weiterer Beleg dafür, dass Berthold Guthmann es nicht vermochte, seine eigenen engsten Verwandten zu schützen -, musste auch er einen Vertrag unterschreiben, der nur scheinbar dazu diente, ihm einen sicheren Lebensabend in Theresienstadt zu garantieren. Medizinische Versorgung, Verpflegung auf Lebenszeit und eine sichere Unterkunft wurden versprochen und vertraglich durch einen sogenannten Heimeinkaufsvertrag zugesichert. Allerdings enthielt der Kontrakt auch einen Passus, nachdem die Unterbringung auch in einer Gemeinschaftsunterkunft außerhalb des Altreiches möglich sein könnte. Um in den „Genuss“ dieser Unterbringung zu kommen, mussten die zumeist älteren Juden faktisch ihr ganzes verbliebenes Vermögen über das Bankhaus Tecklenburg & Co. in Berlin der Reichsvereinigung übertragen. Bei Jakob Guthmann betrug die Summe 8.000 RM.[104] Das Geld gelang auf diesem Weg in die Hände der Gestapo, die Weisungs- und Aufsichtsbehörde der Reichsvereinigung war, und nicht in die der Finanzbehörden, die sich mit dem verblieben Rest und den zurückgelassenen Mobilien zufrieden geben mussten. Jakob Guthmanns Möbel im dritten Stock des Hauses waren bei dem Pogrom 1938 nicht zerstört worden, sie eignete sich das Finanzamt Wiesbaden erst nach der Deportation an.[105]

Jakob Guthmann Theresienstadt Judenhaus Wiesbaden Bahnhofstr. 25
Registrierung vor der Deportation am 1.9.1942 im Hof der Synagoge in der Friedrichstraße. Fünfter von vorne in der Reihe ist Jakob Guthmann (ohne Jakett)
(Sammlung Rudolph, HHStAW 3008/2 16557)

Der Fotograf  Rudolph hat in einem Bild vom Hof der Synagoge in der Friedrichstraße, wo sich alle gelistete Juden vor der Deportation einzufinden hatten, zufällig Jakob Guthmann eingefangen, als er, wie alle anderen durch ein umgehängtes Namensschild entwürdigt, in einer Reihe vor zwei SS-Leuten anzutreten hatte.[106] Am 1. September 1942 verließ der Transport Wiesbaden – Jakob Guthmann war die Transportnummer XII/2-667 zugeteilt worden – und gelangte über Frankfurt am 2. September an sein Ziel Theresienstadt.

Judenhaus Wiesbaden Bahnhofstr. 25
Sali Oppenheimer bezeugt den Tod von Jakob Guthmann in Theresienstadt
(HHStAW 469/33 2882 (7))

Es waren nur noch wenige Tage, die er in diesem Lager, einem „Elendsquartier“, wie Sali Oppenheimer schreibt, überlebte. Auch er war diesem Transport zugeteilt worden und war Jakob Guthmann in Theresienstadt bis zu seinem Tod, bei dem er persönlich anwesend war, noch täglich begegnet.[107] Da aber auch er kein genaues Todesdatum nennen konnte, wurde am 10.Oktober 1950 sein Todestag zunächst gerichtlich auf den 31. Dezember 1942 festgelegt.[108] Anhand des Totenbeschauscheins aus Theresienstadt konnte später das genaue Datum rekonstruiert werden. Er verstarb bereits zwei Wochen nach seiner Ankunft im dortigen Lager am 18. September 1942.[109]

Mit der letzten großen Deportation vom 1. September war Wiesbaden ebenfalls nahezu „judenfrei“. Neben denjenigen, die noch durch ihre Mischehe geschützt waren, durften nur noch drei weitere Familien für wenige Wochen bleiben. Nach Charlotte Opfermann waren das Dr. Georg und Margarete Goldstein, Arthur und Anna Straus und Berthold Guthmann mit seiner Frau Claire und den beiden Kindern.[110] Am 20. November 1942 wurden alle drei Familien gezwungen, ihre Wiesbadener Wohnung aufzugeben und stattdessen „auf staatspolizeiliche Anordnung“ nach Frankfurt in den Hermesweg 5-7 zu ziehen.[111] Seit dem 1. November war dieses Haus, in dem die Jüdische Gemeinde Frankfurts ihr Büro hatte, zur „Gemeinschaftsunterkunft für Juden“, zu einem Judenhaus, geworden. Ursprünglich stand hier die Synagoge, dann war der Komplex zu einer Ausbildungsanstalt für jüdische Kinder geworden. Bevor es als Judenhaus zu einem Durchgangslager für die Deportationen wurde, hatte es noch eine Zeit lang als jüdisches Altersheim gedient. In dem Judenhaus lebten anfangs etwa 50 Menschen zusammen unter einem Dach. Einige Familien hatten eine kleine Wohnung für sich, die meisten schliefen in Gemeinschaftsschlafsäälen, die nur nach Geschlechtern getrennt waren. Bald nach Ankunft der Wiesbadener Juden wurden viele der dort bisher Untergebrachten in die Todeslager deportiert.

Die Büroräume befanden sich im Parterre des Gebäudes. Unmittelbar neben dem Eingang hatte der Bewacher und Kontrolleur im Auftrag der Gestapo Ernst Holland, „Holland der Höllenhund“ – wie Charlotte Opfermann ihn bezeichnete -, seine Räume.[112] Von hier aus kontrollierte er alles, was im Hause vorging, erschien jeder Zeit in den „Privaträumen“ oder Büros, um die die Anwesenden aus nichtigsten Gründen niederzuschreien. Ständig wurden Juden – auch in Frankfurt waren nur noch die übrig, die in einer Mischehe lebten – vorgeladen und von den zuständigen Gestapobeamten verhört.[113] Die wichtigste Aufgabe, die Berthold Guthmann im Hermesweg zu erfüllen hatte, war die Abwicklung des Verkaufs von mehreren hundert jüdischen Friedhöfen im Bezirk Hessen-Nassau. Das waren nicht nur schwierige Verhandlungen mit einer Vielzahl von Bauern und Kommunalbeamten, die möglichst günstig an die Flächen kommen wollten, wenn man weiß, welche Bedeutung ein Friedhof, ein Grab im Judentum hat, dann kann man sich vorstellen, wie tief jeder dieser Verkäufe, jede Umwidmung und Entweihung ihn persönlich getroffen haben muss.
Neben diesem Büro unterhielt er ein weiteres in der Unterlindau 23, in dem er ebenfalls Klienten empfangen konnte. Hier verbrachte er die meiste Zeit, denn auf diese Weise konnte er der „bedrückenden Atmosphäre des Hermesweglagers“ entkommen.[114] Darüber hinaus musste er auch sein Büro in Wiesbaden aufrechterhalten, damit die dortigen Gemeindemitglieder aus den Mischehen bei ihren ständigen Konflikten und schwierigen Verhandlungen mit Arbeits-, Wohnungs- oder Finanzamt einen Ansprechpartner hatten. Das Büro, das er in unregelmäßigen Abständen besuchte, lag weiterhin im Haus in der Bahnhofstr. 25. „Es war [die] ausnahmslos deprimierendste Tätigkeit. Und letzten Endes aussichtslos. Er konnte den Klienten und Freunden Trost zusprechen. Aber helfen konnte er niemandem mehr.“[115]

Während Claire Guthmann im Hermesweg weitgehend in der Hauswirtschaft beschäftigt war, unterstützten die beiden Kinder durch Sekretariatstätigkeiten den Vater bei der ihm aufgetragenen Arbeit, legten Listen an oder tippten Briefe.

Die Zeit im Hermesweg war für Guthmanns eine Vorstufe, eine Art Eingewöhnungsphase in die Hölle, die auch sie zu betreten bald gezwungen waren. Die beschränkte Freizügigkeit im Wiesbadener Judenhaus war jetzt weiter limitiert, die Überwachung war durch die permanente Anwesenheit des Gestapo viel strikter und unmittelbarer und auch bei der Aufhebung der persönlichen Intimsphäre wurde hier eine neue Stufe erreicht. Nur durch aufgehängte Decken konnten die zwei bis drei Familien in den kleinen Zimmern einen winzigen Bereich für sich selbst abtrennen. Und auch das Essen bestand fast nur noch aus einer dünnen Suppe und Brot.[116] Aber all das war Luxus im Vergleich zu dem, was kommen sollte.

Guthmann Hewrmesweg Frankfurt Judenhaus Wiesbaden
Einzug des Vermögens der Guthmanns nach ihrer Deportation
(HHStAW 519/3 1932 (49))

Nachdem alles soweit abgewickelt war, die noch unerledigten Angelegenheiten in der Verwaltungsbereich der Bezirksstelle Hessen-Nassau an den letzten verbleibenden Konsulenten Max L. Cahn übergeben worden waren, mussten sich auch Guthmanns für die „Evakuierung“ nach Theresienstadt bereit machen. Auch sie wurden auf Veranlassung der Gestapo gezwungen, unmittelbar vor ihrer Abfahrt noch einen „Heimeinkaufsvertrag“ über 30.000 RM abzuschließen. Da die zur Verfügung stehende Summe auf den Konten nicht ausreichte, musste auf Anordnung der Gestapo und unter deren Aufsicht das in Wiesbaden zurückgelassene Mobiliar und der Hausrat versteigert werden. Der Erlös ging auf das bekannte Konto der Reichsvereinigung beim Bankhaus Tecklenburg & Co. in Berlin. Einen Teil des Hausrats hatte allerdings bereits zuvor ein Gestapo-Beamter in Kisten verpackt in die Dienststelle in der Paulinenstraße bringen und versteigern lassen. Charlotte Opfermann erinnerte sich, schon früher Schmuck abgegeben zu haben, daneben aber auch alle elektrischen Geräte, mehrere fast neue Fahrräder und auch eine seit drei Generationen ergänzte Briefmarkensammlung von beträchtlichem Wert.[117] Desgleichen wurde die Praxiseinrichtung, die zum Teil in Wiesbaden geblieben war, verwertet. Auktionator war hier die in diesen Angelegenheiten überaus aktive Firma Hecker. Die wenigen Möbel, die Guthmanns mit nach Frankfurt gebracht hatten, wurden zu einer Sammelstelle bei einer nahegelegenen Schule gebracht und ebenfalls preisgünstig den kleinen Profiteuren des Mordsystems überlassen. Ihr letztes Vermögen, aus dem sie ohnehin keinen Nutzen mehr ziehen konnten, ging damit vollständig in die Hände der SS oder des Reichsfiskus über.[118]

Es war eine kleine Gruppe von etwa 15 Personen, die am frühen Morgen des 10. Juni 1943 unter Aufsicht von fünf Gestapo-Beamten und einer gleichen Zahl von Wachtposten des SD, anders als bei früheren Deportationen, den Bahnhof nicht in Güterwagen, sondern in einem normalen Personenzug verließ. Aber das Ziel, Theresienstadt, war das gleiche. Mit im Zug saßen der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Frankfurt, Herr Lerner, Arthur Cahn, seine Frau und deren taubstumme Tochter. Charlotte Guthmann erhielt die Transportnummer XII/5-11. Diese Nummer – XII stand für der Herkunftsort, die 5 bezeichnete den fünften Transport aus diesem Ort und die letzte Ziffer war ihre persönliche Nummer – verkörperte, wie sie später erläuterte, in den kommenden Monaten den letzten Rest von dem, was einmal Identität im eigentlichen Sinn gewesen war.[119]

Als die SS- und Gestapoleute, die die kleine Gruppe begleitet hatten, bei Ankunft in Theresienstadt bei der Leitung anfragten, ob sie das Lager, über das ja überall geredet wurde, einmal persönlich besichtigen dürften, wurde ihnen das strikt verboten. Wieso nichts aus dieser „Stadt“, die der „Führer“ angeblich für die Juden gebaut hatte, nach außen dringen sollte, wurde den Ankommenden sehr bald klar. In Anlehnung an die griechische Mythologie vergleicht Charlotte Opfermann den Eintritt in das Lager mit einer Überquerung des Flusses Styx, dem Übergang vom Reich der Lebenden in das der Toten. In zwei Schriften hat sie ihre sehr bewegenden und zugleich sehr detaillierten Erinnerungen an diese Monate, in denen der Tod ein ständiger Begleiter war, festgehalten.[120]

Judenhaus Wiesbaden Theresienstadt Guthmann
Kennkarte von Klara / Claire Guthmann
(HHStAW 518 6784 (36))

Unmittelbar nach Ankunft wurden den neu Eingelieferten auch die letzte persönliche Habe genommen und die männlichen von den weiblichen Familienmitgliedern getrennt. Ihr Vater und Bruder kamen in die Hannover-Kaserne, sie selbst mit ihrer Mutter in die Hamburg-Kaserne, jeweils große, völlig verdreckte Gebäude, in denen die Gefangenen ihr dünnes Strohlager auf dem Boden ausgebreitet hatten. 3.000 Frauen, zusammengepfercht in einem Dachboden, ohne jegliche Intimität, auch beim Gang zur Toilette nicht. Sterben überall. Gleich am ersten Morgen wachte Charlotte neben der Leiche einer Frau auf, die sich in der Nacht das Leben genommen hatte. Und dennoch keine Einheit, keine Gemeinschaft der Frauen gegenüber den NS-Schergen, stattdessen der Kampf jedes bzw. jeder einzelnen ums Überleben. Vielleicht noch Solidarität unter den jeweiligen Nationen, hier auf diesem Dachboden gab es eine Gemeinschaft tschechischer Frauen. Die Neuankömmlinge gehörten nicht dazu. Auch deutsche Juden sprachen die Sprache der Mörder: „There was no solidarity here, at least none that included me. Even though we were all prisoners, I remained an outsider.”[121] Das blieb nicht so. Auch Charlotte Guthmann lernte im Laufe der Zeit die offenen und geheimen Regelwerke kennen, die das Überleben nicht sicherten, aber immerhin von Tag zu Tag erleichterten: Wie man an Essen herankommen konnte – der Hunger war neben der Angst vor dem Weitertransport in eines der Vernichtungslager die größte alltägliche Sorge -, welche Arbeiten gewisse kleine Vorteile bringen konnten oder auf welche Weise man sich ein wenig vor den überall grassierenden Krankheiten schützen konnte, die täglich Hunderte dahinrafften. Wichtige Hinweise erhielten die beiden Frauen gleich am Morgen nach ihrem Eintreffen von einer ehemaligen Angestellten von Berthold Guthmann, Eugenie Löwenstein bzw. Victor,[122] die – das interne mündliche Informationssystem unter den Gefangenen funktionierte immer sehr gut – sofort erfahren hatte, dass ein neuer Transport mit Juden aus Wiesbaden angekommen sei. Sie konnte die beiden auch über den Tod von Jakob Guthmann unterrichten. Wichtig war es, möglichst bald aus dem Dachboden herauszukommen und eine bessere Unterkunft zu finden. Dies gelang beiden auch dadurch, dass sie Arbeiten fanden, die in anderen Gebäuden ausgeführt werden mussten. Es war eine schwere Diphtherieerkrankung, derentwegen Charlotte zunächst in das Krankenlager verlegt wurde und anschließend durch die Vermittlung einer Freundin als Betreuerin in der Jugendkaserne, im Gebäude L414, eine Stellung fand.[123] Trotz allen Grauens gab es hier auch so etwas wie Gelöstheit, wie Freude und fast auch normale Beziehungen untereinander. Hier war man solidarisch untereinander, man half sich gegenseitig und übernahm auch freiwillig die Pflichten der anderen, wenn die nicht mehr konnten. Es waren gerade die tschechischen Mädchen, mit denen Charlotte Freundschaften schloss, mit denen bei eigentlich verbotenen Shabath-Feiern freitagabends sogar religiöse Traditionen gepflegt werden konnten. Auch Unterricht und kulturelle Veranstaltungen wie Theateraufführungen oder Konzerte wurden organisiert. Ein solches kleines „privates“ Konzert wurde für Charlotte im April 1944 zu ihrem 19ten Geburtstag an ihrem Bett im Krankenlager ausgerichtet. Bezahlt wurden die Musiker mit Brotscheiben, die ihre 38 Mitbewohnerinnen sich zuvor vom Munde abgespart hatten. Zugegen waren auch ihre Eltern und ihr Bruder. Eine völlige Trennung der Familie hatte nicht stattgefunden, mehrmals, so Charlotte, habe man sich in der Woche getroffen.[124]

Auch Claire Guthmann konnte nach einer gewissen Zeit den Dachboden verlassen. Sie hatte eine Arbeit in einer der Verwaltungsstellen des Lagers erhalten. Berthold Guthmann war „Bodenältester“ in den Hannover-Kasernen geworden, aber auch diese Stellung gewährte ihm keinen größeren Schutz. Er hatte vielmehr, wie schon in Wiesbaden, die unangenehme Aufgabe seinen Mitbewohnern die Mitteilung über deren anstehenden Abtransport in ein anderes Lager, sprich: in den Tot, zu übergeben.

Ende September 1944 standen wieder drei Züge bereit, um Platz für neue Ankömmlinge in Theresienstadt zu schaffen. Am 28. brachte der erste etwa 2.500 Insassen nach Auschwitz, am folgenden Tag waren es 1.500 und am 1. Oktober noch einmal die gleiche Anzahl.[125] In dem dritten Zug saßen nach Angaben von Charlotte Opfermann Berthold Guthmann und sein Sohn Paul. Sie hatten ihre Aufforderung ein oder zwei Tage zuvor erhalten. Zwei Gepäckstücke sollten ihnen mitzunehmen erlaubt sein. Charlotte Opfermann erinnerte die letzten Stunden, die die Familie zusammen verbringen durfte:

“Father, a lawyer to the last, took the precaution of writing and signing another general power of attorney in favor of my mother, one which would play a large role after the war in furtherance of her relentless efforts to obtain the return of or restitution for our lost property. Reading it today, its legalistic terms encapsulate the desperation of the moment, the recognition that this was likely the formal memorialization of Father’s final farewell to my mother. Although not styled as a Last Will and Testament, I believe that its substance, when considered within the context of the moment, achieves the same end. Written in German, its English translation reads:
I herewith issue a general power of attorney to my wife Clara Guthmann, nee Michel, XII/5-9 [her official Ghetto identification number], to take my place in all matters with full legal authority, before official institutions inside and outside this country, as well as with private individuals, wherever such representation is legally permitted.
Everything she negotiates agrees to on my be- half and in my name, applies for and declares, shall be considered as having been done by me personally.
Theresienstadt, September 28, 1944
(…)
The evening before their departure, my mother and I visited with Father and my brother. When I returned to L4141 at lights out, my mother remained behind to spend the night with them. Although such an action was entirely against regulations and subject to severe penalties, it wasn’t uncommon in such wrenching situations. (…)
I don’t know what Father and Mother did that evening. While it is possible that they had a last night of passion – the attic was no longer crowded, my brother was in and out spend- ing his last night with friends, and Father’s little Kumbal provided at least a modicum of privacy – I very much doubt it. I suspect that they just sat there together all night long, not saying much, each allowing his or her thoughts to wander, going back over 24 years of marriage, being as much together and apart as they al- ways had been. Their unhappy past could not be undone, remade, or patched-up. Time had run out. Even to my naïve eyes, they remained strangers to each other at this juncture in their journey together. I imagine a long, quiet night of mutual regret. They may have discussed what use my mother might make of the Power of Attorney after the war, but I doubt that either of them believed that she would live to see that day. That document was little more than a gentleman’s farewell, a formal expression of Father’s affection for her at the moment of his departure. (…)
Early the next morning, October 1, 1944,
[126], my mother and I accompanied Father and Paul to their designated train. Both were subdued, seemingly detached from what was going on around them. I suppose they were in a state of shock, as were my mother and I. They remained by the train with us for as long as possible, forgoing any attempt to obtain space on the few available seats in their compartment. We kissed them good-bye, hugged them, and watched as they clambered aboard. Our last sight was of them standing in the aisle of the third class passenger car – at least they were spared the discomfort and humiliation of the endless cattle cars that eventually made their way to the rail-side ramp at Auschwitz-Birkenau – as the train pulled out of the station. We never saw or heard from them again.”[127]

Bei allen drei Zügen nach Auschwitz gab es eine größere Zahl von Überlebenden, da bei der Selektion auf der Rampe die noch Arbeitsfähigen in andere Lager weitergeschickt wurden.[128] Berthold Guthmann, der durch die Gefangenschaft in Theresienstadt sehr schnell gealtert war und an Hungerödemen litt,[129] gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu den Auserwählten, denen man noch einmal eine kleine Chance zum Überleben gab. Er wurde, sofern er überhaupt das Ziel lebend erreicht hatte, an einem unbekannten Tag in den Gaskammern von Birkenau ermordet.[130]

Häftlingskarte von Paul Guthmann aus Mauthausen

Der zweiundzwanzigjährige Paul hingegen wurde als noch „verwertbar“ angesehen. Er durchlief in den wenigen Monaten, die ihm noch blieben möglicherweise drei weitere Lager. Eine frühere Freundin erzählte seiner Schwester später, sie sei ihm in Buchenwald begegnet.[131] In der Gefangenenkarteikarte von Mauthausen, wo er letztlich starb, ist dieser Aufenthalt in Buchenwald nicht vermerkt. Die Eintragungen in Mauthausen werfen zudem weitere Fragen auf. Nach seiner „Häftlings-Personal-Karte“ war er erst am 12. Oktober 1944 in Auschwitz registriert worden, also fast zwei Wochen nach Ankunft des Transports aus Theresienstadt ! Von dort sei er am 18. Januar 1945 in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin überstellt worden und dann am 16. Februar 1945 weiter nach Mauthausen verbracht worden sein. Auf welchem Weg er dorthin gelangte, ob vielleicht auf einem Todesmarsch,[132] ist nicht bekannt. Nach den Aufzeichnungen von Mauthausen soll Paul Guthmann, versehen mit der Häftlingsnummer 130908, am 12. März 1945 an Kreislaufschwäche und einem Darmkatarrh verstorben sein.[133]

Unter welchen unmenschlichen Umständen Kranke in Mauthausen damals vegetieren mussten, kann man grob ermessen, wenn man die Beschreibung des Krankenlagers von Mauthausen im Frühjahr 1945 liest:
In der Nacht durften die Baracken von Häftlingen nicht verlassen werden und deshalb stand in jeder Baracke ein großes Faß mit einem Brett als notdürftige Latrine. Da wegen der Verdunkelungsanordnung die Baracken während der Nacht nicht beleuchtet werden durften, bestrahlte eine blaue Glühbirne die unmittelbare Umgebung des Fasses. Selbstverständlich gab es immer bei einem Belag von 500, 600, ja sogar 800 bis 1200 kranken Häftlingen beim Latrinenfaß ein Gedränge. Die hin- und herschwankenden Kranken tappten im Dunkeln von Bett zu Bett, sie stießen zusammen, fielen auf den Boden; es wurde geschimpft, gerauft. Manche fanden nicht ins Bett zurück, weckten andere auf, wurden aus fremden Betten rausgeworfen. So mancher Kranke verrichtete dann seine Notdurft irgendwo im Block.

Judenhaus Wiesbaden Guthmann Paul
Sterbeeintrag von Paul Guthmann im Totenbuch von Mauthausen.

Die Bettgestelle waren aus weichem rohen Holz, nicht angestrichen. Eine Schmutzschicht bedeckte die Holzbretter, so daß alle Betten grau-braun wirkten. Aus den durchnäßten und zerrissenen Papierstrohsäcken fielen Holzwolle und Staub auf den unten liegenden Kranken. Selten kam es vor, daß die Strohsäcke ausgetauscht werden konnten. Die Betten waren ca. 75 cm breit, ca. 190 cm lang und die Höhe des jeweiligen Zwischenraumes innerhalb der Betten betrug ca. 80cm. Stets schliefen in einem Bett mindestens zwei Kranke. Nur einzelne, bevorzugte Kranke erhielten ein Bett für sich allein. Die absolute Mehrzahl der Betten war in den Jahren 1944 und 1945 mit mehreren Kranken belegt. So ist es immer wieder vorgekommen, daß schwache Häftlinge von den noch etwas stärkeren Häftlingen, vor allem in der Nacht, aus dem Bett hinausgeworfen wurden; manchesmal bewußt, manchesmal unbewußt. Bis ungefähr Ende 1944 lagen die Kranken mit Unterwäsche bekleidet im Bett. Dann hatten viele entweder nur ein Hemd oder nur eine Unterhose, größtenteils eine lange, manchesmal aber auch nur eine kurze an. Schließlich erhielten die Kranken Papierhemden und in den letzten Monaten gab es hunderte kranke Häftlinge im Sanitätslager, die weder Papier- noch Stoffwäsche besaßen. Es gab Kranke, die nur einen Hemdärmel, die Hälfte einer Unterhose oder irgendeinen Rest einer Unterwäsche ihr eigen nannten.“[134]

Paul Guthmann, Mauthausen
Einträge im Sterberegister von Mauthausen.
Fold3.com

Aber Paul starb nicht in diesem Krankenlager, in dem es nach Auskunft der Gedenkstätte Mauthausen noch „eine rudimentäre medizinische Versorgung gegeben“ haben soll. Paul Guthmann wurde im „Sanitätslager“ ermordet, wie dem Kürzel „SV“ im Eintrag zu entnehmen ist. Welche Funktion dieses „Sanitätslager“ hatte, erschließt sich, wenn man sich die Eintragungen des Totenbuchs von Mauthausen vor Augen führt. Es enthält mehrere Seiten mit Todeseinträgen allein vom 12. März 1945. Geradezu im Minutentakt starben dort die Menschen, jeweils ganze Reihen auch zur exakt gleichen Todesuhrzeit, nur die Todesursache – offensichtlich aber nach einer vorgegebenen Liste –variiert leicht. Mal ist es ein „Magenkatarrh“, dann der „allg. Körperverfall“ oder eine „Herzmuskelentzündung“, die den Tod herbeigeführt haben soll.[135] Allem Anschein nach spiegeln diese Einträge nicht die wirklichen Todesursachen wider. Beim „Sanitätslager“ handelte es sich um einen Lagerteil außerhalb der Lagermauern zur Unterbringung von kranken Häftlingen. (…) (Es) handelte sich beim Sanitätslager um kaum mehr als eine Einrichtung zur Auslagerung des Sterbens. Es gab kaum medizinische Versorgung, was zu einer immens hohen Todesrate im Sanitätslager führte. Neben der nicht vorhandenen Versorgung wurden die Häftlinge des Sanitätslagers auch immer wieder Opfer von ‚Selektionen’. Die Schwächsten wurden zu Beginn etwa durch Herzinjektionen, später durch Vergasung entweder in der Gaskammer des KZ Mauthausen oder in der Tötungsanstalt Schloss Hartheim ermordet.“[136]

Claire Guthmann und ihre Tochter Charlotte blieben bis zum Ende in Theresienstadt und überlebten. Aber anders als in vielen sonstigen Familien, brachte sie die Verfolgung und der Terror nicht näher zusammen. In ihren Erinnerungen konstatierte Charlotte eine zunehmende Distanz zu ihrer Mutter, die sie, wie auch den Vater, dafür verantwortliche machte, dass sie, statt zu emigrieren, in diese Lage geraten waren. Zu ihrer „neuen Familie“, die ihr Kraft und ein kleines Stück Geborgenheit gegebenen habe, seien vielmehr die Kinder und die anderen Betreuer in L414 geworden.[137]

Im Frühjahr 1945, als die militärische Lage des Regimes immer bedrohlicher wurde, überschlugen sich auch in Theresienstadt die Ereignisse.[138] Zunächst schien es so, als wollte die SS noch im letzten Moment mit der Errichtung von Gaskammern das Lager liquidieren. Sogar Eichmann und Kaltenbrunner waren im März und April 1945 noch zu jeweils kurzen Visiten erschienen. Dann durfte eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes erneut Theresienstadt inspizieren – sie pries in ihrem Bericht die sozialen Errungenschaften in dem „kleinen jüdischen Staat“ – und übernahm nach Verhandlungen mit der SS am 5. Mai die Leitung des Lagers Noch am gleichen Tag setzte sich die SS mit dem Lagerleiter Rahm von dort ab. Die Zustände waren schon zuvor völlig chaotisch, allein dadurch, dass in diesen letzten Wochen noch einmal etwa 15.000 KZ-Häftlinge aus den verschiedensten Lagern nach Theresienstadt getrieben worden waren, völlig geschwächt, halb verhungert und krank. Charlotte und ihre Freundinnen halfen die Toten und Kranken aus den Viehwagen auszuladen und die Neuankömmlinge, die „Muselmänner“, so gut es irgend ging, zu versorgen. Aber weder gab es genügend Essen, noch Betten und schon gar nicht die Medikamente, die dringend benötigt wurden. Als am 8. Mai die Rote Armee das Lager erreichte, bedurfte es keiner Befreiung mehr, die Truppen waren vielmehr nötig, um das dortige Chaos zu überwinden und eine geregelte Auflösung des Lagers zu organisieren. Die größte Gefahr ging dabei von einer Typhusepidemie aus, die vermutlich eine Gruppe junger polnischer Juden zuletzt in das Lager eingeschleppt hatte. Die Hamburger-Kaserne, in die Charlotte und Claire Guthmann bei ihrer Ankunft eingewiesenen worden waren, wurde zur Quarantänestation umfunktioniert, bewacht von der jüdischen Ghettopolizei.

Der äußeren Lage entsprach die innere Verfassung von vielen. Natürlich war die Nachricht vom Kriegsende, von der Befreiung, mit großem Jubel aufgenommen worden. Sie hatte aber auch Verunsicherung ausgelöst: „Wir wussten gar nicht, wie das Leben weitergehen sollte, wer für uns verantwortlich war, ob man ‚nach Hause’ gehen konnte und wie. Damit hatten wir einfach nie gerechnet, und niemand hatte Pläne gemacht.“[139] Zunächst ging Charlotte Guthmann, nachdem sie die Mutter und die Lagerleitung knapp schriftlich unterrichtet hatte, mit einer tschechischen Freundin, die sich dem dortigen Freiheitskampf angeschlossen hatte, nach Prag, wo noch die Barrikaden standen, mit denen die deutschen Soldaten bis zum Eintreffen der russischen Truppen von tschechischen Freiheitskämpfern festgehalten worden waren. „Ohne dass wir es richtig wussten oder ohne dass wir es richtig erfassten, erlebten wir jetzt Weltgeschichte. Es war traumhaft.“[140].

Das Gefühl währte nur einen Abend. Am nächsten Morgen musste sie mit einer Scharlachinfektion, unter den damaligen Umständen eine lebensbedrohliche Erkrankung, ins Krankenhaus eingeliefert werden. Erst nach acht Wochen konnte sie die Klinik verlassen. Claire Guthmann war inzwischen, nach einem kurzen Besuch der Tochter im Prager Krankenhaus, nach Wiesbaden zurückgekehrt. Die neue Stadtverwaltung in Frankfurt hatte Busse nach Theresienstadt geschickt, um die wenigen Überlebenden in ihre Heimatstadt zurückzuholen. Claire Guthmann wurde einem dieser Busse zugeteilt.

Charlotte hatte noch von Prag aus über einen französischen Mitpatienten, der vor ihr die Heimreise antreten durfte, Kontakt mit einem ferneren Verwandten, Sol Kahn, aufgenommen, dessen Adresse in Salt Lake City sie über die ganzen Jahre nicht vergessen hatte.[141] Ihn bat sie um Hilfe für sich und ihre Familie, noch immer in der Hoffnung, dass auch ihr Vater und Bruder überlebt hätten. Mit einem holländischen Pass, den ihr der holländische Konsul ausgestellt hatte – wie bei der Ankunft in Theresienstadt war es selbst für Juden jetzt nicht ungefährlich, als Deutscher erkannt zu werden – gelangte sie Anfang August zunächst wieder in das Lager Theresienstadt. Hier konnte sie dann von ihrer Mutter und einem Bekannten, der über ein Auto verfügte – die Stadt Wiesbaden kam nur für die Benzinkosten auf – abgeholt werden. Im ehemaligen jüdischen Altersheim in der Geisbergstraße wurde ihnen jeweils ein Bett zur Verfügung gestellt. Mehr – so könnte man zynisch sagen – benötigten sie nicht, denn sie hatten nicht mehr, als sie auf dem Leib trugen.

Das Haus in der Bahnhofstr. 25 gehörte ihnen nicht mehr. In zwei getrennten „Rechtsakten“ war es auf das Deutsche Reich überschrieben worden. Zunächst hatte man am 27 August 1942 das gesamte Vermögen von Jakob Guthmann eingezogen,[142] d.h. auch seine Hälfte des Wohngrundstücks, dann, nachdem auch Berthold Guthmann und seine Familie deportiert worden waren, erfolgte der zweite Akt. Am 11. Juli 1943 wurde auch dessen Anteil als „volk- und staatsfeindliches Vermögen“ zugunsten des Reiches eingezogen.[143] Am 8. Dezember des gleichen Jahres stellte das Finanzamt Wiesbaden die notwendige Unbedenklichkeitsbescheinigung für den Eintrag des Eigentumswechsels im Grundbuch aus. Am 15. Dezember 1943 war der Raub auch formaljuristisch abgeschlossen. Nach dem Krieg hatte zunächst die Besatzungsmacht die Kontrolle über die Immobilie übernommen. Am 22.September 1948 wurde dem Antrag von Claire Guthmann, das Haus in der Bahnhofstr. 25 wieder auf die Namen der rechtmäßigen Eigentümer zu übertragen, stattgegeben. Es war zwar durch die letzten Luftangriffe beschädigt, aber nicht zerstört worden, und konnte bald wieder hergerichtet werden.

Claire und Charlotte Guthmann waren zwei von insgesamt nur fünf Wiesbadener Juden, die – abgesehen von einigen anderen, die als Mischlinge oder durch ihre Mischehe geschützt nicht deportiert worden waren – nach der Befreiung im Mai 1945 lebend in ihre Heimatstadt zurückgekehrten.

Aber: “Even as this is written, I have never completely escaped from KZ-Ghetto Theresienstadt, which has become the hometown of my memory and my emotions. I left far too much behind there to think that I ever escaped, that I was truly liberated. It isn’t exactly a prison that I’ve carried with me for the remainder of my long life, but rather a frame of reference against which everything else, good or bad, happy or sad, safe or perilous is measured. Theresienstadt became my metaphysical rule of thumb, against which all else is calculated.”[144]

Was die Monate in Theresienstadt tatsächlich für ihr zweites Leben bedeuteten, ist nachzulesen im Nachwort zu ihren Erinnerungen. Die Ängste, die Unsicherheiten, das Gefühl nirgendwo mehr dazu gehören zu können und zu wollen, kein Deutscher, kein Amerikaner, aber auch kein Jude mehr sein zu wollen, all die verstörenden Wahrnehmungen einer Welt, die nicht mehr die ihre war, werden hier erschütternd offen beschrieben und reflektiert. Es geht darin um eine Art Arkanum, das nur diejenigen kennen können, die Auschwitz, Theresienstadt oder Buchenwald überlebt haben Das meint nicht nur die Leidenserfahrung, die nicht, schon gar nicht in Worten vermittelbar war und ist, die alles neue Erleben verdüstern musste, sondern zugleich um die Intensität eines Lebens im Angesicht des Todes.
“What is written here then, explains why, when I look back across my time to what happened to me during the Third Reich in that terrible place known as KZ-Ghetto Theresienstadt, I can say, truly and without rancor or regret: ‘It was the defining moment of my life; I wouldn’t trade it with anyone for anything.’ Such is the crucial reality of survivorship. Those of us who have not experienced it can never hope to understand the densely cohesive intensity of that sentiment.”[145]

 

Im Weiteren soll der Lebensweg von Claire und Charlotte Guthmann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur noch in groben Zügen skizziert werden.

Charlotte hatte zunächst eine Anstellung bei der Städtischen Betreuungsstelle für die Opfer des Nationalsozialismus, dann bei den amerikanischen Besatzungstruppen gefunden. Mit dem zweiten Schiff, das Deutschland mit emigrationswilligen Flüchtlingen verließ, gelangte sie mit Hilfe des Cousins, den sie bereits in Prag kontaktiert hatte, am 6.Juni 1946 von Bremen aus in die USA.[146] Aufgenommen gefühlt hat sie sich aber auch hier nicht, auch nicht bei den Verwandten, Tante und Onkel, denen die Flucht rechtzeitig gelungen war. 1951 heiratete sie in Luxemburg Heinz Opfermann, einen Jugendfreund aus Wiesbaden, der als Halbjude ebenfalls aus Deutschland geflohen war und in den USA den Namen William Henry Opfermann angenommen hatte.[147] Er, der nichts mehr mit der Vergangenheit konfrontiert werden wollte, hatte seiner Frau sogar verboten, mit ihm über die Zeit der Verfolgung zu sprechen. [148] Er hatte sich ein erfolgreiches Leben neu aufgebaut und eine recht bedeutende Stellung im Marketing der amerikanischen Autoindustrie gefunden, die nach dem Krieg Europa als neuen Markt entdeckte. Viele Jahre verbrachte die Familie deshalb in Europa, in der Schweiz, Frankreich und – die wohl schlimmste Zeit – in Deutschland. Die Ehe, aus der die beiden Kinder Claudia, geboren 1956, und Diane, geboren 1958, hervorgegangen sind, scheiterte, nicht zuletzt deshalb, weil dieses gemeinsame Leben von Anbeginn auf einer Lebenslüge bzw. einem Verschweigen aufgebaut war. Nicht einmal den Kindern hatte Charlotte Opfermann ihre zumindest frühere jüdische Identität offenbart, geschweige denn mit ihnen über die Zeit in Theresienstadt gesprochen.

Nach der Scheidung zog Charlotte Opfermann nach Houston in Texas zu ihrer Tochter Diane, inzwischen verheiratete Porter, und verdiente sich ihren Lebensunterhalt zunächst als Verkäuferin in einem Textilgeschäft. Erst später erhielt sie, die nie einen formalen akademischen Abschluss gemacht, bedingt durch ihren Ausschluss aus der Schule nicht einmal das Abitur erworben hatte, einen Lehrauftrag als Deutschlehrerin an einem texanischen College. Nach der Scheidung war es ihr auch möglich, das selbstzerstörerische Schweigen zu brechen, mehr noch: Sie wurde zu einer Zeitzeugin, die, wie wenig andere, in amerikanischen, aber immer wieder auch in deutschen Schulen authentisch über den Holocaust berichten und ihre besondere Geschichte erzählen konnte. Der Fernsehfilm „Holocaust“ und eine Einladung des Wiesbadener Magistrats soll sie zudem animiert haben, die wichtige Rolle einer Zeitzeugin anzunehmen.[149] In vielen der Wiesbadener Gymnasien, aber auch der anderer Städte hat sie seitdem vor Schülerinnen und Schülern gestanden, die gebannt und tief betroffen ihren Erzählungen lauschten. Sie beließ es dabei nicht bei dem Blick in die Vergangenheit, sondern kritisierte in der Zeit der ersten großen öffentlichen Auseinandersetzung um die Asylpolitik in Deutschland bei ihrem Besuch im Jahr 1993 deren immer restriktivere Handhabung. „Hätten damals die anderen Länder ihre Tore nicht so fest verschlossen, hätte das alles nicht passieren können.“ Das Gefühl „in der Falle zu sitzen und nicht mehr raus zu kommen“, war ihr aus eigener Erfahrung sehr vertraut. Der damals schon wieder auflebende Fremdenhass in Deutschland, die brennenden Asylheime, wie das in Lichtenhagen, und der mörderische Brandanschlag in Solingen im Jahr ihres Besuchs hatten sie zutiefst erschreckt.[150] Aber nicht nur Wiesbaden, ihre Heimatstadt, sondern auch die ihrer Eltern, Gießen[151] und Eich, besuchte sie mehrfach. Ein Besuch in Wiesbaden im Jahr 1995 war anlässlich der Befreiung vor 50 Jahren verbunden mit der Produktion eines Films über ihre Zeit in Theresienstadt durch den Südwestfunk. Die Rückkehr an diesen Ort des Grauens, die für eine ehemalige Insassin mitunter nur schwer erträglichen offiziellen Feierrituale hat sie damals in einem sehr persönlichen Tagebuch festgehalten.[152] Auch in Gladenbach,[153] woher ihre Großeltern mütterlicherseits ursprünglich kamen, ist sie 1997 noch einmal zusammen mit ihrem Koautor Robert Warren gewesen. Ein letztes Mal kam sie zur Eröffnung der Ausstellung „Legalisierter Raub“, in der u. a. an der Familie Guthmann exemplarisch die Ausplünderung der Juden durch die Finanzbehörden des Reichs aufgezeigt wird, im November 2004 nach Deutschland. Nur drei Tage nach ihrer Rückkehr in die USA verstarb sie am 22. November 2004 in Houston im Alter von 79 Jahren. Am 5. Mai 2006 wurde ihre Urne im Familiengrab ihrer früheren Schwiegereltern Opfermann auf dem Hauptfriedhof in Mainz beigesetzt.[154]

 

Ihre Mutter Claire war nach der Rückkehr aus Theresienstadt in Wiesbaden geblieben. Anfangs hoffte sie noch, dass ihr Mann und Paul auch überlebt hätten und eines Tages wieder zurückkehren würden. Vielleicht lag in dem Festhalten an dieser Hoffnung und auch in dem Versuch alles Verlorene Gut wiederzuerlangen, auch der illusionäre Wunsch, das Geschehene irgendwie ungeschehen machen zu können. Die Mutter sei in der Zeit, die ihr noch blieb, von einer unerbittlichen Forderung nach Vergeltung bis auf den letzten Pfennig getrieben worden, notierte Charlotte Opfermann in ihren Erinnerungen, einen Hass, den sie selbst nicht teilen konnte.[155] Wie so viele andere musste Claire Guthmann mehrere Prozesse führen, um –nachdem ihr das Haus am 22. September 1948 zurückerstattet worden war[156] – wenigstens einen Teil des übrigen geraubten Gutes wiederzuerlangen. Die Verbitterung entstand nicht nur durch das Verhalten der Behörden,[157] sondern auch durch das der Menschen, denen sie einmal vertraut, denen sie in der Zeit der Verfolgung Wertsachen anvertraut hatte. Sie seien durch Bombenangriffe zerstört worden, nicht mehr vorhanden, wurde ihr ohne jegliche Scham ins Gesicht gesagt, obwohl sie für alle sichtbar in der Wohnung drapiert waren.

Claire Guthmann
Das Grab von Claire Guthmann auf dem Jüdischen Friedhof an der Platter Straße
Eigene Aufname

Claire Guthmann, die sich auch dem Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde in Wiesbaden widmete, besuchte 1950 noch einmal ihre Tochter in den USA, bevor sie am 26. Juni 1957 im Alter von 62 verstarb.[158]

 

 

 

 

Die beiden jüngeren Geschwister von Berthold, Eduard und Anna, denen er mit seinen Rechtskenntnissen geholfen hatte, den Weg in das sichere Ausland zu finden, überlebten beide den Holocaust.

Anna hatte nach Abschluss ihrer Schulausbildung an der Höheren Töchterschule und dem anschließenden Besuch einer Handelsschule in Worms am 1. November 1920 den Kölner Altwarenhändler Jakob Nathan geheiratet.[159] In seiner Heimatstadt lebte das Paar und bekam dort zwei Kinder, den am 4. September 1921 geborenen Hans und die am 24. Juli 1924 geborene Margot. Als Jakob Nathan im Jahr 1930 verstarb,[160] zog Anna Nathan mit den Kindern zurück nach Eich zu ihren Eltern. Während die Mutter im väterlichen Geschäft und im Haushalt half, verlebten die Kinder dort, so Margots Erinnerung, eine weitgehend normale und glückliche Kindheit. Viele wechselseitige Besuche der Verwandten in Groß-Gerau, Wiesbaden und Köln hielten die Familie zusammen. Von dem Terror, von dem die Juden in Eich nach der „Machtergreifung“ ebenfalls betroffen waren, blieben aber auch Anna und die Kinder nicht verschon. Margot wurde aus der Schule ausgeschlossen und von ehemaligen Schulkameraden geschlagen und bespuckt.[161] Als Jakob Guthmann sich nach den brutalen Angriffen gegen seine Person entschloss, Eich zu verlassen und nach Wiesbaden zu ziehen, gingen auch Anna und ihre beiden Kinder mit.[162] Zuvor hatte sie sich noch mit dem am 19. Februar 1893 in Dienheim geborenen Weinhändler Siegfried Hirsch verlobt.[163] Aber noch bevor die Ehe geschlossen wurde, erhielt Anna die Möglichkeit mit den beiden Kindern in die USA auszureisen. David Kirschbaum, ein Verwandter von Berthold Guthmanns Großmutter Anna, die eine geborene Kirschbaum war, bürgte mit 1.500 Dollar für Anna Nathan und ihre beiden Kinder, sodass sie im Oktober 1936 über Le Harve per Schiff nach New York und von da nach Philadelphia, ihrem neuen Wohnsitz, gelangten.[164] Ihr Verlobter Siegfried Hirsch kam im Frühjahr 1937 nach. Ihm hatte sein Bruder Heinrich, der bereits in den zwanziger Jahren in die USA ausgewandert war, das erforderliche Affidavite für die Immigration gestellt. Nach seiner Ankunft heirateten Anna und Siegfried und kauften in Philadelphia ein Haus für die neu gegründete Familie. Nur mit Mühe konnten sie die Kredite abzahlen, den Siegfried Hirsch hatte eine nur schlecht bezahlte Anstellung in einer Kleiderfabrik gefunden. Sie hätten damals „in der Emigration“ – so gab sie später an – „unter den dürftigsten Verhältnissen leben müssen“.[165]

Mit dem Kriegseintritt der USA brach der bisher noch notdürftig aufrechterhaltene Kontakt nach Deutschland ab. Was mit dem Vater und der Familie ihres Bruders geschehen war, erfuhr Anna Nathan erst nach dem Ende des Krieges. Siegfried Hirsch verstarb im August 1963 70jährig in Philadelphia, seine Frau Anna im Oktober 1992.[166] Obwohl sie zeitlebens unter dem Schicksal ihrer Familie nervlich gelitten hatte, war sie 96 Jahre alt geworden.

Annas und Bertholds Bruder Edward hatte zu einem nicht bekannten Zeitpunkt die am 29. Januar 1901 geborene Emma Hofmann aus Mußbach an der Weinstraße geheiratet. Das Paar hatte eine Tochter, die am 4. Mai 1929 geborene Edith Inge. Auch Eduard Guthmann lebte mit seiner Familie vor seiner Auswanderung in Köln, wo er eine Zuckerwarenfabrik besaß.[167]

Nach eigenen Angaben musste er „am 26. September 1938 aus Verfolgungsgründen fluchtartig zusammen mit seiner Familie Köln verlassen.“ Etwa 15 Monaten hielten sie sich noch in Holland auf, bevor ihnen dann die Ausreise in die USA gelang.[168] Auch ihnen hatten Verwandte der Familie Kirschbaum die notwendige Bürgschaft gestellt. 1939 erhielten Eduard und seine Familie die amerikanische Staatsbürgerschaft, aber es habe noch bis 1945 gedauert, bis er sich dort wieder eine eigene Existenz als Kaufmann aufbauen konnte. Eduard, der in den USA den Namen Edward Guthman angenommen hatte, verstarb im Alter von 88 Jahren im Staat New York.[169]

Bevor die beiden Kinder Jakob Guthmanns, Eduard und Anna, verstarben, hatten sie 1954 ihren Anteil am Erbe ihres Vaters, jeweils ein Drittel des halben Hausanteils der Bahnhofstr. 25, ihrer Schwägerin Claire Guthmann gegen eine relativ geringe Summe überlassen,[170] sodass Charlotte Opfermann nach dem Tod ihrer Mutter alleinige Eigentümerin des ehemaligen Judenhauses wurde. Am 17. August 1960 verkaufte sie das Haus und trennte sich damit von diesem mit vielen schlimmen Erinnerungen belasteten Besitz.[171]

Stand: 08.02.2019

 

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (59), dazu Wiesbadener Adressbuch 1903/04. Die genauen Hintergründe für die Eigentumswechsel konnten hier nicht recherchiert werden, aber die ‚Phönix’, in den zwanziger Jahren eine der führenden Versicherungsunternehmen Europas, war durch Fehlspekulationen 1936 zusammengebrochen. Vermutlich gelangte die Immobilie in diesem Zusammenhang in die Hände des Münchner Unternehmens.

[2] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (59). Aufgelassen wurde es am 5.4.1937, eingetragen wurden die neuen Eigentümer am 27.5.1937.

[3] Charlotte Opfermann schreibt in ihren Erinnerungen: “Both families were Jews, although not particularly observant. The Guthmanns and Michels had long, deep roots in Gemany. Like so many of the assimilated Jewish community, they instinctively considered themselves Germans first, Jews second.”  Opfermann, Charlotte, Charlotte – A Holocaust Memoir: Remembering Theresienstadt. As shared with Robert A. Warren, Santa Fe USA, 2006, S. 9. Charlotte Guthmann hat durch ihre Heirat im Jahr 1951 den Nachnamen Opfermann erhalten. Wenn sie im Folgenden mit diesem Namen angesprochen wird, dann ist die Autorin gemeint. Ist von ihr als eine an den damaligen Ereignissen beteiligte Person die Rede, dann wird sie mit Charlotte Guthmann bezeichnet.

[4] Siehe Runzheimer, Jürgen, Abgemeldet zu Auswanderung. Geschichte der Juden im ehemaligen Landkreis Biedenkopf, hg. Hinterländer Geschichtsverein, Marburg 1992, Bd. 1, S. 36. Sie hatten auf der Liste der Bürgerlichen kandidiert, zwei Wochen später wurden sie ihrer Ämter enthoben.

[5] Siehe Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 1, S. 35 f.

[6] Ebd. Bd. 1, S. 17, 52 und 62. Zur Verfolgung der Juden in Gladenbach in der Zeit zwischen 1933 und 1940 siehe umfassend ebd. S. 31-62.

[7] Salomon Michel, geboren am 4.7.1828 in Gladenbach, war der Sohn von Baruch Michel und seiner Frau Karoline Cohn. Diese hatten noch einen weiteren Sohn Hirsch, der mit einem Kätchen Cohn verheiratet war, siehe Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 1, S. 123. Nach Runzheimer, ebd., war die Frau von Salomon Michel, Betty, ebenfalls eine geborene Cohn. Bei Müller, Hanno, Juden in Gießen 1788-1942, Gießen 2012, S. 437 heißt es allerdings, dass sie laut Sterbeeintrag des Sohnes Hermann Michel eine geborene Bauer war. Diesen Namen gab auch Berthold Guthmann in seiner Personalakte als Name der Großmutter seiner Frau an, siehe HHStAW 458 793. Nach seinen Angaben wurde sie am 12.4.1834 in Gladenbach geboren, gestorben ist sie am 19.10.1895 in Gießen. Deren Tod in Gießen lässt die Vermutung zu, dass Salomon und Betty Michel zu einem unbekannten Zeitpunkt von Gladenbach nach Gießen verzogen waren. Zwar wurde Salomon Michel nach seinem Tod am 28.2.1907 in Gladenbach beigesetzt, ob er aber auch dort verstarb, ist nicht sicher. Zumindest erschien am 1.3.1907 im ‚Gießener Anzeiger’ eine Todesanzeige für ihn. Siehe Müller, Juden in Gießen, S. 437 Eintrag 259. Eine Personenstandskarte für Salomon Michel liegt allerdings im Stadtarchiv Gießen nicht vor.

[8] Ebd. Laut einer Anzeige im ‚Gießener Anzeiger’ vom 12.6.1896 sei „die Firma ‚Salomon Michel Pferdehandel-Geschäft in Gießen’ auf die beiden Söhne Meier Michel in Gießen und Hermann Michel in Gladenbach übergegangen“. Dass Meier Michel und Hermann Michel Söhne von Salomon und Betty Michel waren, ist auch durch die Heiratsurkunden der beiden belegt. Heiratsregister Gladenbach 23 / 1887 und 30 / 1893. Runzheimer kennt diesen Sohn Meier Michel erstaunlicherweise nicht. Siehe Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 1, S. 123. Nach seinen Angaben hatte Salomon Michel neben Hermann noch einen Sohn namens Wolf Benjamin, geboren am 23.6.1862. Er war verheiratet mit einer Lina aus Hausen und hatte die beiden Söhne Isidor, geboren am 4.2.1892, und Leonhard, geboren am 6.10.1897. Beide Söhne sollen 1927 noch das Geschäft des Großvaters weitergeführt haben, Isidor eine Manufakturwarenhandlung, Leonard eine Viehwarenhandlung. Siehe http://www.stolpersteine-giessen.de/dokumentation/schicksale/familie_michel.html. (Zugriff: 12.02.2020). Außer der Ehefrau, die bereits 1923 verstarb, kam die gesamte Familie von Wolf Benjamin Michel im Holocaust ums Leben. Siehe Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 1, S. 123. Müller hingegen kennt diesen Sohn Wolf Benjamin nicht, der allerdings auch nicht nach Gießen zog, sondern in Gladenbach geblieben war. Das Problem bei den beiden Brüdern Meier und Wolf Benjamin Michel besteht darin, dass für beide das Geburtsjahr 1862 überliefert ist, allerdings mit ansonsten völlig unterschiedlichen Geburtsdaten, sodass Zwillinge ausgeschlossen sind. Wo der Fehler in der Überlieferung liegt, konnte bisher nicht geklärt werden.

[9] Heiratsregister Gladenbach 23 / 1887. Rosalie Schiff war die Tochter von Moses Schiff und seiner Frau Hannchen, geborene Stern.

[10] So machte Siegfried Schiff, ein Sohn von Fanny und Willy Schiff, bei Meier Michel in Gießen eine kaufmännische Ausbildung. Die Hinweise auf die familiären Verbindungen verdanke ich Frau Hannah, Mitautorin des Buches ‚Die Juden vom Altrhein’. Fanny Schiff, geborene Michel, ist allerdings weder bei Runzheimer noch bei Müller als eine Tochter von Salomon und Betty Michel ausgewiesen. Siehe Runzheimer Bd. 1, S. 125 und Müller, Juden in Gießen, S. 563 Eintrag 103.

[11] Er zog im April 1915 nach Frankfurt, kam aber als Kaufmann wieder zurück nach Gießen. 1911 zog er nach Mainz. Siehe Müller, Juden in Gießen, S. 483, Eintrag 261. Er scheint dem Holocaust entkommen zu sein, laut GENI war er später  mit einer Carry Salm verheiratet. Siehe https://www.geni.com/family-tree/index/6000000000677205309.

[12] Müller, Juden in Gießen, S. 483 Eintrag 261.

[13] Während die meisten jüdischen Händler mit traditionellen Waren der ländlichen Region oder mit Vieh handelten, hatte sich Wolf Schiff auf die Vermittlung von Schiffsreisen für Auswanderer spezialisiert. Wolf Schiff war am 8.2.1845 in Gladenbach, seine Frau am 18.7.1847 in fränkischen Mömmlingen geboren worden. Nach ihrem Tod am 20.7.1929 in Gladenbach, war auch Wolf Schiff  nach Gießen in die Bleichstraße zu seiner Tochter gezogen, wo er am 14.2.1935 neunzigjährig verstarb. Im gleichen Jahr kam dann Franziskas Schwester Lina, die seit August 1930 mit Liebmann Levi, dem letzten Vorsteher der jüdischen Gemeinde Gladenbachs, verheiratet war. Sie verzogen aber bald nach Frankfurt. Lina und Liebmann Levi und zwei ihrer Kinder fielen dem Holocaust zum Opfer. Siehe Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 1, S. 126 und Bd. 2, S. 109 f., auch Müller, Juden in Gießen S. 563 Eintrag 106. Dazu die Bearbeitung der  Stolpersteingruppe Gießen https://www.giessen.de/Erleben/%C3%9Cber-Gie%C3%9Fen/Stolpersteine/Bleichstra%C3%9Fe-28.php?object=tx,2874.1320.1&ModID=7&FID=2874.1207.1&NavID=2874.396&La=1.  (Zugriff: 12.02.2020).

[14] Das elterliche Haus in Gladenbach wurde im Jahr 1911 verkauft, siehe Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 2 S. 115. Nach seinen Angaben verzog die Familie Hermann Michel erst danach, also nicht vor 1911, nach Gießen. Hier ist aber den sehr präzisen Angaben von Müller, Juden in Gießen, S. 438 Eintrag 262 mehr Glauben zu schenken.

[15] Müller, Juden in Gießen, S. 438. Siehe dazu auch die Recherchen der Stolpersteingruppe aus Gießen, die Belege für die Ausführungen sind in einer besonderen Quellensammlung aufgeführt. Siehe http://www.stolpersteine-giessen.de/dokumentation/schicksale/familie_michel.html. (Zugriff: 17.6.2018).

[16] Opfermann, Charlotte, Charlotte – A Holocaust Memoir: Remembering Theresienstadt. As shared with Robert A. Warren, Santa Fe USA, 2006, S. 32.

[17] Siehe zur Geschichte der Juden in diesem Gebiet umfassend das jüngst erschienene Werk von Hannah, Gabriele, Graf, Martina, Graf, Hans-Dieter, Die Juden vom Altrhein: biografische Dokumentation von den Anfängen bis zum Holocaust und dem Weiterleben in der Emigration, hg. von den evangelischen Kirchengemeinden und den katholischen Pfarrgemeinden Hamm, Eich und Gimbsheim, Mainz 2018; zur Geschichte im 19. Jh. besonders S. 27 f., auch ., Graf, Hans-Dieter, Judenfeindlichkeit in Rheinhessen im 19. Jahrhundert, in: Heimatjahrbuch des Landkreises Bingen, hg. Vereinigung der Heimatfreunde am Mittelrhein e.V., 2017, S. 166-169.

[18] Angaben zum Namen siehe Juden vom Altrhein, S. 30 ff.

[19] Juda Guthmann geboren am 22.10.1826 in Hamm, starb am 20.1.1909 in Eich. Seine Frau Anna Kirchbaum war am 6.7.1833 in Eich geborenen worden, wo sie am 2.1.1890 auch verstarb, siehe HHStAW 458 793.

[20] Eine der Thorarollen gelangte in die USA, die andere blieb verschollen.

[21] Seine Frau Anna, geboren am 23.7.1833 war bereits am 2.1.1888 verstorben.

[22] Juden vom Altrhein, S. 35.

[23] Juden vom Altrhein, S. 88, 105-107.

[24] Die Ehe wurden am 25.5.1892 in Eich geschlossen, HHStAW 469/33 28882 (19). Die Eltern von Lina, Lehmann / Liebche Guthmann und seine Frau Babette, eine ebenfalls geborene Guthmann, lebten in Groß-Gerau. Einen umfassenden Überblick über die sehr komplexen Beziehungen innerhalb der Familie Guthmann kann man anhand der verschieden Stammbäume im Buch Juden vom Altrhein, S. 429-445 gewinnen. Siehe auch den von Herbert Guthmann nach dem Krieg angefertigten Stammbaum der Familie Guthmann http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/guthmann/stammbaum_guthmann.jpg. Es heißt darin, dass Jakob und Lena über die mütterliche Linie miteinander verwandt waren: „Lena m[arried]. Jacob Guthmann, her cousin on her mothers side in Eich.“

[25] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (118).

[26] Allerdings waren die Lebensverhältnisse im Vergleich zum Stadtleben eher bescheiden. In den Memoiren von Margot Nathan, der Tochter von Berthold Guthmanns Schwester Anna, die zuvor in Köln gewohnt hatte und nach dem Tod ihres Mannes mit den Kindern wieder nach Eich gezogen war, wird allerdings ein völlig anderes Bild vom Leben gezeichnet: „Wir hatten ein Telefon, das nur zu Geschäftszwecken meines Großvaters benutzt werden durfte. Wir hatten eine Außentoilette, obwohl mein Großvater eine primitive Innentoilette installiert hatte, die aber nicht funktionierte, wenn im Winter die Rohre zufroren. Elektrizität [gab es] aus einer Glühbirne, die von der Decke des Zimmers herabhing. Wir hatten keine Zentralheizung. Ein Ofen im Wohnzimmer und der Küchenherd waren die einzigen Heizquellen.“ Zit. nach Juden vom Altrhein, S. 106.

[27] Juden vom Altrhein, S. 106 f.

[28] Zum Werdegang von Berthold Guthmann siehe ausführlich seine Personalakte HHStAW 458 793. Neben der Abschrift des Soldbuchs enthält sie auch einen handschriftlichen Lebenslauf, den Berthold Guthmann 1938 im Zusammenhang mit seiner Bewerbung für das Amt eines Konsulenten verfasst hatte. Ausführlich geht er darin auf seine Kriegsteilnahme, seine Verletzungen und Auszeichnungen ein.

[29] Opfermann, Stationen, S. 114. Zu seiner Militärzeit siehe auch „Jewish knights on the air“, http://daytonholocaust.org/resourcesexhibits/jewish-knights-of-the-air/. (Zugriff: 17.6.2018).

[30] HHStAW 518 759 (14). Aus der Heiratsurkunde geht hervor, dass Berthold Guthmann zu dieser Zeit in Oppenheim wohnte, wo er eine Stelle als Gerichtsreferendar inne hatte. Die Ehe wurde in Gießen geschlossen, siehe Heiratsregister Gießen 1920 / 176.

[31] HHStAW 458 793. Sein Eintrag in die entsprechenden Anwaltslisten erfolgte am 2. und 7. 2.1927.

[32] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 10.

[33] Siehe zu den Mitgliedschaften das Jüdische Adressbuch von 1935, S. 215-264.

[34] Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 100 f. Er führt weiter aus: „Fritz und Berthold wurden Freunde. Beide stammten aus Rheinhessen, und sie teilten ähnliche Kriegserlebnisse, denn Berthold hatte als Beobachter bei der Fliegertruppe gekämpft. 1927 war die Stimmung unter den jüdischen Frontsoldaten noch optimistisch. Zufrieden schrieb Berthold Guthmann an die Mitglieder: ‚Die völkischen Vorgänge in Wiesbaden endeten dank der intensiven Arbeit sämtlicher Kameraden mit einer völligen Niederlage der Nationalsozialisten, die bei den Stadtverordnetenwahlen keinen Sitz erhielten’“.

[35] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 10. Dem widerspricht allerdings seine eigene Aussage im Fragebogen zu seiner Bewerbung als Konsulent, wo er angab, nie Mitglied einer Partei gewesen zu sein. Siehe HHStAW 458 793.Möglich, dass er seine ehemalige Mitgliedschaft aus taktischen Gründen verschwieg, was allerdings mit einem recht hohen Risiko behaftet gewesen wäre.

[36] Siehe die weiterführende Literatur zu B’nai B’rith unter https://de.wikipedia.org/wiki/B%E2%80%99nai_B%E2%80%99rith. (Zugriff: 17.6.2018).

[37] Zielsetzung des 1893 gegründeten Vereins war die völlige Gleichberechtigung der jüdischen Staatsbürger im Deutschen Reich bzw. dann in der Weimarer Republik. Um dem Alltagsantisemitismus zu begegnen hatte man im CV auch eine Rechtsschutzabteilung etabliert, die Juden in ihrem Kampf gegen Diskriminierung rechtlichen Beistand geben sollte. Anders als die zionistischen Organisationen stellte der CV die Zugehörigkeit der Juden zum deutschen Staat nicht in Frage und betrachtete die Gründung eines Staates der Juden mit viel Skepsis. 1938 wurde der CV von den Nazis aufgelöst.

[38] Opfermann, Charlotte, A Holocaust Memoir: Remembering Theresienstadt. As shared with Robert A. Warren, Santa Fe 2006 S. 10.

[39] Opfermann, Charlotte, Autobiografische Notizen, Ein Doppelblatt, herausgegeben von Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung Lich, anlässlich des Besuchs von Charlotte Opfermann in Gießen 2002/2003.

[40] Wiesbadener Kurier vom 15.11.2004.

[41] Zu den schulischen Erfahrungen von Charlotte Opfermann siehe Opfermann, Stationen S. 10-18.

[42] Hanni Neumann wurde nach ihrer Emigration nach Holland dort aufgegriffen und mit ihren Eltern in Sobibor ermordet. Ellen Kahn, gelang die Auswanderung nach Argentinien. Die beiden Klassenkameraden von Paul überlebten ebenfalls. Sie waren nach Shanghai bzw. England ausgewandert. Kurzbiographien zu den jüdischen Gutenbergschülern sind enthalten in: Erziehung im Nationalsozialismus. Gutenbergschule und Diltheyschule 1933-1945, hg. Conrad, Götting, Naumann, Wiesbaden 1992 S. 121-126.

[43] Zu den Ereignissen in Gießen siehe http://www.stolpersteine-giessen.de/dokumentation/schicksale/familie_michel.html. (Zugriff: 17.6.2018). Der Handel mit Büchern wurde im Oktober 1934, der Verleih dagegen erst im November 1941 von Amts wegen eingestellt. http://www.stolpersteine-giessen.de/dokumentation/schicksale/michel_quellen.pdf. (Zugriff: 11.7.2018).

[44] http://projektosthofen-gedenkstaette.de/index.php?page=165&parent=125, (Zugriff: 17.6.2018).

[45] Juden vom Altrhein, S. 109.

[46] Laut einer Betriebsprüfung aus dem Jahr 1936 beliefen sich die Umsätze 1933 (fälschlicherweise in der Übertragung mit 1935 angegeben): 562.454, RM, 1934: 471.851 RM, 1935 344.915 RM und im ersten Quartal 1936 35.627 RM. HHStAW 518 4229 (93).

[47] Margot war die Tochter von Anna Guthmann, inzwischen verwitwete Nathan, die seit 1930 mit ihren beiden Kindern wieder bei den Eltern in Eich lebte. Siehe Genaueres zu deren Schicksal unten in diesem Kapitel.

[48] Juden vom Altrhein, S. 110.

[49] Opfermann, Charlotte, Asche zu Wasser. Unveröffentlichte Aufzeichnungen. Kopie im Archiv des Aktiven Museums Spiegelgasse. Nicht eindeutig geklärt ist, wann das Geschäft aufgegeben wurde. Charlotte Opfermann und Ernst Jakob Kahn meinen, dass die Schließung 1935 im Zusammenhang mit dem Verkauf des Hauses vollzogen wurde, Hannah u. a. machen bereits die Ereignisse von 1933 für die Geschäftsaufgabe verantwortlich, siehe Juden vom Altrhein, S. 109. Für den notariell ausgefertigten Kaufvertrag gibt es allerdings ein eindeutiges Datum. Danach wurde das Grundstück Flur 1 Nr. 420-514 qm Hofreite, an der Hinterhofstraße im Ort, Bahnhofstr. 23, zum Preis von 20.000,– RM am 5.3.1936 an einen Herrn Eller verkauft. Der Preis betrug 20.000 RM. 3.000 RM wurden sofort gezahlt, die Restsumme in fünf Jahresraten von 3.400 RM, verzinst mit 4,5 Prozent. Dass es sich dabei um keinen realistischen Preis handelte, ergibt sich daraus, dass der Käufer in einem Vergleich nach dem Krieg eine Nachzahlung von 5.000 DM zahlte. In einem Schreiben von  Berthold Guthmann an das Finanzamt vom 10.9.1936 heißt es, das sein Vater „unter dem Zwang der Verhältnisse sich im Jahr 1936 entschließen musste, sein Geschäft aufzugeben“. Auch wurden bis in das erste Quartal 1936 noch steuerpflichtige Umsätze erzielt. Siehe zum dem gesamten Vorgang HHStAW 518 4229 (93 f.).

[50] Aus diversen Anzeigen im Kreisblatt kann man ersehen, dass aber weit mehr als nur Schuhe verkauft wurden. Wie auch bei Guthmanns gab es alle möglichen Landesprodukte, Kolonialwaren, aber auch Kleidung und Geschirr, siehe z.B.: http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/guthmann_da1/18720000_cKB_Kreisblatt%20154a.jpg, (Zugriff: 17.6.2018). http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/guthmann_da1/18950000_cKB_Kreisblatt%20099a.jpg, (Zugriff: 17.6.2018). http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/guthmann_da1/19120000_cSM_Adressbuch%20107c.jpg. (Zugriff: 17.6.2018).http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/guthmann_da1/18900000_cKB_Kreisblatt%20337b.jpg (Zugriff: 17.6.2018). Zum Stammbaum von Lehmann und Babette Kahn siehe in Juden vom Altrhein, S. 430 f. Er ist genauer und vollständiger als der von Herbert Guthmann nach dem Krieg in Israel erstellten Stammbaum, der heute im Leo-Baeck-Institut verwahrt wird. Siehe http://www.erinnerung.org/gg/histfotogal/guthmann/stammbaum_guthmann.jpg.(Zugriff: 17.6.2018).

[51] Minna wurde von Frankfurt aus am 2.6.1942 in den Osten verschleppt und blieb ebenso wir ihre Tochter Gertrude seitdem verschollen. Der zweiten Tochter Herta gelang 1937 die Flucht in die USA. Jakob Guthmann, Minnas Bruder, wurde mit seiner Frau nach Litzmannstadt deportiert. Dort wurden beide am 15.1.1942 ermordet. Zwei weiteren Schwestern von Minna, Fannie und Settchen / Selma, konnten sich in die USA bzw. Argentinien retten. Siehe zur Familie von Linas Eltern Lehmann und Babette Guthmann, geborne Guthmann http://www.erinnerung.org/ (weiter über Bevölkerung/ihre Namen/Guthmann/Lehmann Guthmann). (Zugriff: 17.6.2018).

[52] Juden vom Altrhein, S. 110.

[53] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen. Auch die verwitwete Tochter Anna war mit ihren beiden Kindern mit nach Wiesbaden gezogen und hatte vermutlich bis zu ihrer Auswanderung mit dem Vater in der Lessingstr. 3 gewohnt. Siehe 518 4229 (26) und 518 15855 (5), auch die Anm. xxx unten.

[54] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen, Kaufvertrag (59, 62).

[55] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 12.

[56] Ebd.

[57] Ebd. S. 13-36 und Opfermann, Stationen, S. 18-24.

[58] Zu Ellen Kahn siehe unten.

[59] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 19. Bei der hier erwähnten Haushälterin namens Senny handelt es sich um die Schwester der späteren Haushälterin Emma Berenz, geborene Weisbecker, die am 1.9.1942 mit Jakob Guthmann deportiert wurde. Senny hingegen, die um 1938/39 heiratete, ging danach in die USA, wo bereits eine Sc hwester ihres Ehemanns lebte. Information der Enkelin von Emma Berenz in einer Mail vom 27.9.2018.

[60] Ebd.

[61] Ebd. S. 20 f. Die langjährige Büroleiterin von Berthold Guthmann, Frau Güllering, gab im Entschädigungsverfahren eine umfassende Beschreibung der Wohnung und der Büroräume vor deren Zerstörung ab. Sie schätzten den Wert der Einrichtung auf 38.000 bis 45.000 RM, HHStAW 518 759 (75-77). Im Entschädigungsverfahren hat Charlotte Opfermann die Ereignisse noch einmal in einer eidesstattlichen Erklärung geschildert und ergänzt, dass damals auch Schmuck „abhanden“ gekommen sei, siehe HHStAW 518 4229 (56-57).

[62] HHStAW 518 42295 (96, 137) und HHStAW 518 759 (35). Zudem gab sie an, dass bei diesem Überfall auch eine Reihe von Wertgegenständen wie Fotoapparate, Feldstecher und anderes abhanden gekommen seien. Nach Ansicht des Rechtsanwalts im Entschädigungsverfahren sei im Nachkriegsjahr 1960 – solange zog sich das Verfahren hin – das Vierfache des damaligen Wertes einzusetzen, ebd. (75).

[63] HHStAW 518 759 (41).

[64] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 31. Unter diesen privaten Briefen waren auch solche, aus denen hervorging, dass die Eheleute Guthmann zuvor eine Scheidung in Erwägung gezogen hatten.

[65] Ebd. S. 13.

[66] Ebd. S. 23.

[67] Ebd. S. 36. Laut einer Mitteilung der Gedenkstätte Buchenwald vom 5.11.2018 wurde Hermann Michel, der mit der Häftlingsnummer 30523 erfasst worden war, am 10.12.1938 entlassen.

[68] Siehe dazu auch Faber, Rönsch, Wiesbadens jüdische Juristen, S. 73. In dieser Darstellung war die Initiative dazu von Claire Guthmann ausgegangen. Auf seine Bitte hin habe er sich an die Gestapo in Weimar gewandt und um seine Entlassung gebeten. Nach den Erinnerungen von Charlotte Guthmann war es der Anwalt selbst, der Claire Guthmann die Möglichkeit zur Freilassung durch Übernahme der Konsulenten-Funktion nahegelegt hatte. Siehe hierzu und zu den genaueren Umständen der Entlassung, Opfermann, Stationen, S. 20 f. und Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 31 f. In der Personalakte HHStAW 458 793 sind die Unterlagen zur Bewerbung enthalten, darin ein „Personal- und Befähigungsnachweis“, Lebenslauf, Nachweis über Kriegsdienst und –auszeichnungen und Angaben zu den Vermögensverhältnissen. Darin befindet sich auch das Bewerbungsschreiben, dass Claire Guthmann am 14.11.1938 drei Tage vor dem Ende der Bewerbungsfrist im Auftrag ihres Mannes, der zu dieser Zeit noch inhaftiert war, an den Oberlandesgerichtspräsidenten gerichtet hatte. „Da gelegentlich der unglücklichen Ereignisse vom 10. Nov. ds. Jrs. [Hervorhebung – K.F.] die hierzu benötigten, bereits vorbereiteten und fertiggestellten Unterlagen augenblicklich nicht aufzufinden sind, bitte ich, diesselben so bald wie möglich nachreichen zu dürfen.“ Ob die Bewerbung tatsächlich bereits vor der Reichspogromnacht geplant worden war, wie die Formulierung nahelegt, ist eher fraglich. Es scheint eher so, als sollte durch diese Darstellung der Abläufe die verspätete Abgabe der Unterlagen nach außen hin erklärt und entschuldigt werden. Der damalige Landgerichtspräsident stellte ihm ein Zeugnis mit folgendem Inhalt aus: „Bei guter Befähigung hat Guthmann die ihm anvertrauten Interessen stets mit Fleiß, Sorgfalt und Sachlichkeit vertreten. Sein Auftreten vor Gericht war einwandfrei. Auch seine Führung hat nie Anlass zu Beanstandungen ergeben. Er hat ein ruhiges und zurückhaltendes Wesen und ist politisch nie hervorgetreten, hat insbesondere auch nie eine staatsfeindliche Gesinnung gezeigt. Er gehört zu den wenigen jüdischen Anwälten, denen nach der Machtergreifung das weitere Auftreten vor Gericht gestattet worden ist.“ Der Oberlandesgerichtspräsident Stadelmann in Frankfurt und auch der Präsident der Rechtsanwaltskammer schlossen sich dieser Beurteilung an. Man wird die Formulierungen, die geradezu eine Nähe zum Unrechtssystem suggerieren, sicher als taktisch gewählt ansehen können und müssen. Siehe zu Dr. Quambusch, der auch das Haus Friedrichstr. 8 der Bewohnerin des Judenhauses in der Adolfsallee 30, Aurelia Kahn, kaufte, den dort enthaltenen Exkurs zu seiner Person.

[69] HHStAW 518 759 (19).

[70] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 32 f. Johannah Rosenthal, geboren am 15.3.1890, war die Tochter von Meier Michel, die von Charlotte Opfermann als eine Art Halbschwester ihrer Mutter bezeichnet wurde, da sie wohl weitgehend in der Familie von Hermann Michel aufgewachsen war. Sie war seit 1912 mit Jakob Rosenthal verheiratet und lebte damals in Frankfurt.

[71] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 33.

[72] Opfermann, Stationen, S. 29.

[73] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 36 f.

[74]. Ebd. S. 27.

[75] Sie dazu ihre Ausführungen in dem Interview mit Lothar Bembenek in Opfermann, Stationen, S. 30-38.

[76] Ebd. S. 30 f. Nicht ganz so positiv sah Charlotte Guthmann in Opfermann, Remembering Theresienstadt, S.34 f. diese Solidarität: „Abandoned by our Aryan neighbors, many local Jews came to our rescue, or so it appeared. For a few towels, kitchen utensils or some books, they purchased an admission ticket to view the ruins for themselves, complete with a guided tour by Mother. They were as ghastly as the strangers out front. I hated it: the commotion, their curiosity, and the stares. Within a week, their ‘stuff’ was arriving almost as fast as we could throw our things out. Our man-with-a-horse brought a full load from Rabbi Lazarus who, with uncanny timing, was in the midst of immigrating to Palestine with his wife and two daughters.”

[77] Dieser Überfall ist umfassend dokumentiert in Noam, Ernst; Kropat, Wolf-Arno, Juden vor Gericht. 1933-1945. Dokumente aus hessischen Justizakten. Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1986 2. Aufl., S. 272-282. Die Rekonstruktion der Abläufe basiert nicht nur auf den Zeugenaussagen der Opfer, sondern auch auf Geständnissen der beiden Mittäter. Im Rahmen seines Spruchkammerverfahrens schilderte Franzreb allerdings seine eigene Version des Vorfalls:
Betr. Guthmann: (…) 1939 beim Attentat des Führers kam der ehemalige Gestapobeamte Bodewig auf meine Arbeitsstelle und sagte: Hast Du heute gehört am Radio ? man hat ein Attentat auf den Führer verübt, man wollte uns den Führer rauben. So einer wie der Guthmann in der Bahnhofstrasse muss verschwinden. Der Mann ist Vorsitzender beim Zionistenkongress. Ich fragte: Wie meinst Du das: Der muss verschwinden ? Bodewig sagte: Du weisst, dass wir Dich in den Händen haben. (…). Ich habe also den Auftrag bekommen und habe mir 6 Mann mitgenommen um den Fall nicht so auszuführen wie Bodewig mich beauftragt hatte. Wenn ich den Juden töten wollte brauchte ich keine 6 Mann mitzunehmen. Ich hatte ja gar keine Waffen bei mir, das werden Sie aus dem Protokoll von 1940 lesen. Wir wurden gegen die Juden aufgehetzt und es hieß immer: Die Juden sind an Allem schuld, auch an unserem Unglück. Man suchte Leute von denen man wusste: der kann schlecht nein sagen, ich hatte mich verstoßen gegen das Heimtückegesetz und gegen das Gesetz betr. Zersetzung der Wehrkraft. Man fand auch einen geheimen Plan betr. den Westwall mit Angaben über das Material usw. bei mir vor. Ich musste nämlich einen Platz aussuchen, wo das Material war, damit hatte mich der Major Tendren aus Dessau beauftragt. Diese Pläne hatte ich bei meiner Abberufung mit nach hause genommen. Ich sollte angezeigt werden wegen Hoch- und Landesverrat. Sie wollten mich schon 1935 in Gewahrsam nehmen. Ich habe den Auftrag von Bodewig ungern angenommen. Es war 12 Uhr nachts. Ich sagte zu den Leuten: Wir gehen zu dem Guthmann, geben ihm eine gehörige Tracht Prügel und gehen wieder. Wir schellten, der Guthmann kam oben ans Fenster und dann herunter und öffnete. Ich fragte ihn ob er wisse was vorgefallen sei. Er sagt: Nein, woher, ich habe kein Radio. Ich sagte: Man wollte uns den Führer rauben. Ich sagte: Sie haben doch einen Sohn und eine Tochter, die im Ausland leben, könnten wir die Post von denen sehen? um festzustellen wie weit Sie mit dem Attentat zu tun haben. Nach Langem Hin und Her brachte G. verschiedene Schriftstücke. Darin stand: Wir selbst können ja nicht anders handeln weil wir Juden sind, wie die Rede von C beherzigen. Ich fragte die Kameraden was das wäre. Sie sagten: Die Rede Chamberlains – Ich werde noch den Tag erleben wo man Hitler beseitigt ! Darüber gerieten wir ausser uns und haben ihm eine hingehauen, d.h. einen Kinnhaken gegeben und sagten er soll sich anziehen wir gingen zur Polizei. Wir gingen bis zur Fischerstrasse, dort wollten wir ihm eine gehörige Tracht Prügel geben, den Sohn nahmen wir auch mit. Guthmann nahm eine Stellung an als ob er boxen wollte. In diesem Moment gerieten wir ausser uns und setzten uns zur Wehr. Für diesen Fall Guthmann habe ich bereits 10 Jahre erhalten, denn es war Notwehr.
Vorsitzender- Es war doch stockfinster in der Nacht, schon 11 oder 12 Uhr.
Betroffener: Wir hatten Taschenlampen bei uns und es war nicht finster.
Vorsitzender: Sie haben die beiden Herren, mit dem Rücken an einen Bretterzaun gestellt und mit einem Dolch gestossen.
Betroffener: Nein. Die Stiche waren 10 – l5 cm lang, das waren Abwehrstiche. Wenn man mit 3inem Dolch sticht und nur ein klein wenig drückt, hat man schon 3 – 4 cm. Wenn die Stiche kräftiger gewesen wären, so wäre G. nicht schon nach 5 – 4 Wochen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ich habe mit dem Dolch um mich schlagen, weil er gegen mich Stellung nahm. Wir sind dann weggegangen zu den «Drei Hasen“, die beiden G. sind zusammengebrochen. Der Auftrag war nicht so ausgeführt wie Bodewig es haben wollte. Kläger: Sie wollten ihn nicht gleich tot machen, sondern langsam verbluten lassen.
Betroffener: Sie haben kein Recht mehr, nachdem ich mit 10 Jahren bestraft worden bin, mir heute noch Vorhaltungen zu machen. Es ist unverschämt, dass man mir heute vorhalten will wir hätten den Mann wie eine Katze töten wollen“.Spruchklammerverfahren Franzreb HHStAW BW 2084 (37 ff.) Auch Claire Guthmann war als Zeugin in dem Spruchkammerverfahren geladen. Zu ihrer Aussage, die weitgehend mit der dem Urteil zugrunde gelegten Version übereinstimmt, siehe ebd. (39).
Alle drei Angeklagten waren bereits an dem Überfall im Jahr zuvor beteiligt gewesen, der Anführer Franzreb war zudem derjenige, der bei der Ermordung von Max Kassel im April 1933 eine zentrale Rolle gespielt hatte. Siehe auch die Darstellung der Ereignisse vom 10.11.1939 von Charlotte Opfermann in HHStAW 518 759 (158-160), zu der Ermordung von Max Kassel siehe umfassend unten den Beitrag im Kapitel zum Judenhaus Frankenstr. 15.

[78] Zu der Rolle, die bei der Überführung der Täter erneut Dr. Quambusch spielte, siehe Opfermann, Stationen S. 38 ff. Bembenek hat in diesem Zusammenhang auch den Selbstmord des jüdischen Apothekers Josef Mayer, der Berthold Guthmann damals geholfen hatte, recherchiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dieser sich aus Angst vor seiner eigenen Verhaftung wenige Tage nach dem Anschlag auf Guthmanns das Leben nahm. Siehe ebd. S. 42 ff.

[79] HHStAW 518 759 (173).

[80] Im Urteil des Sondergerichts im OLG-Bezirk Frankfurt vom 6.9.1940 wurde der Hauptangeklagte Ernst Ludwig Franzreb zu 10 Jahren Zuchthaus, die Mitangeklagten Willi Heinrich Berghäuser und Georg Langman zu 2 Jahren bzw. 2 Jahren und 2 Monaten Gefängnis verurteilt. In der ausführlichen Urteilsbegründung ging das Gericht auch auf die Persönlichkeiten und die jeweiligen Beweggründe der Verurteilten ein. So wurde im Hinblick auf die Mittäter deren „Gewissenhaftigkeit“ und „Pflichteifer“ hervorgehoben, Tugenden, denen sie nach „zermürbender Arbeitslosigkeit“ ihre Anstellung bei der Stadt Wiesbaden zu verdanken hätten. Das zeuge von dem „Wert ihrer Persönlichkeit. Schon das verbietet es, die Angeklagten (…) als Volksschädlinge zu bewerten. Es kommt hinzu, dass ihre Tat, mag sie auch noch so verwerflich sein, ihrer begreiflichen Erregung über das Münchner Attentat auf den Führer [gemeint ist das Attentat von Georg Elser im Bürgerbräukeller am 9.11.1939 – K.F.], und somit keineswegs unehrenhaften Beweggründen entsprang. Es würde dem gesunden Volksempfindenwidersprechen, wollte man die beiden Angeklagten, die sonst ein tadelfreies Leben geführt haben, für eine solche Tat als Volksschädlinge bestrafen.
Dagegen muss die Bestrafung des Angeklagten Franzreb
[dem Haupttäter und Anführer der Meute – K.F.](…) gemäß § 2 der Volksschädlingsverordnung erfolgen. Es mag sein, dass auch der Angeklagte Franzreb nicht unerhebliche Verdienste um die Bewegung hat. Dies kann jedoch nichts daran ändern, dass Franzreb eine ausgesprochen kriminelle Persönlichkeit ist. (…) Die schon damals [bei den Streikunruhen 1924 in Düsseldorf – K.F.] in Erscheinung tretende Bedenkenlosigkeit in der Missachtung fremder Menschenleben ist ein geradezu typischer Wesenszug des Angeklagten Franzreb. Ohne auch nur eine Spur menschlichen Empfindens zu zeigen, hat der Angeklagte Franzreb auch hier einen Angriff auf das Leben zweier Menschen unternommen. Es ist der Eindruck des Gerichts, dass bei der Tat des Angeklagten Franzreb weniger die Erregung über das Münchner Attentat auf den Führer als vielmehr die Freude am Quälen von Menschen überhaupt im Vordergrund stand. Dies charakterisiert die Tat des Angeklagte Franzreb als die Tat eines Volksschädlings.“ Noam, Kropat, Juden vor Gericht, S. 279 f. Auch wenn dieses Urteil auf den ersten Blick erstaunen lässt, weil doch zur gleichen Zeit allerorten der Angriff auf das Leben von Menschen straffrei blieb, wo doch bereits auf der Wannseekonferenz die völlige Vernichtung von zig Millionen Menschenleben beschlossen war, so war es dennoch in völliger Übereinstimmung mit den NS-Rechtsvorstellungen. In dem Urteil ging es letztlich nicht um das Lebensrecht der beiden jüdischen Opfer, sondern um die Aufrechterhaltung der Ordnung im Unrechtsstaat selbst. Die beiden Mittäter wurden bereits im Mai 1941 auf Bewährung entlassen, Franzreb erließ man den Rest der Strafe, die man ebenfalls zur einer siebenjährigen Gefängnisstrafe umgewandelt hatte, als er sich 1945 freiwillig zur Wehrmacht meldete. Ebd. S. 282.

[81] Zu diesem besonderen Kontakt siehe Charlotte Opfermann, Walter Bodewig, Unveröffentlichtes Dokument, Aktiven Museum Spiegelgasse.

[82] „Berthold Guthmann hatte einen letzten Versuch unternommen, Fritz’ Leben zu retten, und war nach Berlin gefahren, um Göring im Reichsluftfahrtministerium aufzusuchen. Ob er ihn persönlich sprach oder einen indirekten Zugang zu ihm fand, ist nicht überliefert. (…) Gut möglich ist, dass Guthmann Görings Staatsekretär Milch traf, der nach den Nürnberger Gesetzen ein Mischling ersten Grades war, aber von Göring ‚arisiert’ worden war.“ Beckhardt, Jude mit dem Hakenkreuz, S. 284 f. Diese Angaben werden weitgehend von Charlotte Opfermann bestätigt, die allerdings als Mittelsmann einen Herrn Malzbender benennt, mit dem ihr Vater des Öfteren bei Ausreiseangelegenheiten in Kontakt stand. Siehe Opfermann, Stationen S. 26 f. Bald darauf konnte Fritz Beckhard mit seiner Familie nach Portugal ausreisen.

[83] Charlotte Opfermann vermutete in dem Gespräch mit Bembenek, dass sogar nach dem Krieg noch die Initiative, ihren Vater durch die Benennung einer Straße nach seinem Namen zu ehren, an diesem Mythos scheiterte, siehe ebd. S. 45. In abgewandelter Form hat auch Dieter Kühn in seinem im Untertitel als Fiktionen bezeichneten, aber auch auf Fakten gestützten Roman, Ich war Hitlers Schutzengel, diesen Verdacht kolportiert. Demnach war Göring eine angeblich von Berthold Guthmann verfasste Schrift über das „jüdische Dreigestirn“ der Fliegerstaffel, Fritz Beckhardt, Wilhelm Frankl und Guthmann selbst, übergeben worden, die mit den Worten „Wir flogen mit Göring“ begonnen haben soll. Die Übergabe der Schrift soll an zwei Bedingungen geknüpft gewesen sein: Zum einen die Freilassung Fritz Beckhardts – „Den Fritz pauk ich da raus“, kurzes Telefongespräch in schneidendem Ton, „Na also. Schon erledigt. Beckhardt kommt heute Abend frei“ – zum anderen die Erlaubnis für Berthold Guthmann das Buch zu veröffentlichen. Er – so wird Göring in den Mund gelegt – habe einen guten Gesamteindruck gewonnen und wolle selbst das Vorwort verfassen und Guthmann die Rechte an dem Buch zu einem erhöhten Betrag abkaufen. Eine Publikation sei aber dann von Göring verhindert worden. Siehe Kühn, Dieter, Ich war Hitlers Schutzengel. Fiktionen, Frankfurt a. M. 2010, S. 36-41.

[84] HHStAW 519/3 23919 (12-16). Die Außenstände bei jüdischen Emigranten beliefen sich auf etwa 3.000 RM.

[85] HHStAW 518 759 (163, 167 f.).

[86] Selbst nachdem Berthold Guthmann bereits deportiert worden war, gingen noch Konsulentengebühren auf seinem Konto ein, das von seinem Nachfolger Kahn aufgelöst wurde. Von März 1943 bis Januar 1945 waren das fast 17.000 RM. Alles was nach Abzug von 2.600 RM Unkosten übrig war, zog der Staat bzw. die Reichsvereinigung ein, siehe 518 759 (38).

[87] Opfermann, Stationen, S. 55.

[88] Ebd. S. 47. Zunächst hatte die Gestapo die Mitteilungen überbracht.

[89] HHStAW 469/33 472 (1, 6) Mit ihm waren acht weitere „Delinquenten“ wegen des gleichen Vergehens angeklagt worden. Auch Berthold Guthmann musste sich wegen dieser „Straftat“ vor Gericht verantworten. Ein Mitarbeiter der Devisenstelle in Frankfurt, die Guthmann im Zusammenhang mit seiner Konsulententätigkeit im Juni 1939 besucht hatte, denunzierte ihn, weil er beim Betreten des Büros seinen „jüdischen Vornamen“ nicht angegeben hatte. Der Einwand von Berthold Guthmann, es sei unüblich im Geschäftsleben seinen Vornamen zu nennen, wurde vor Gericht nicht akzeptiert. Auch er wurde zu einer Geldstrafe von 50 RM verurteilt. Siehe Leder, Bettina, Schneider, Christoph, Stengel, Katharina, Ausgeplündert und verwaltet. Geschichten vom legalisierten Raub an Juden in Hessen, Berlin 2018, S. 390 f.

[90] HHStAW 518 759 (46-48)

[91] HHStAW 518 4229 (12). In dem Dokument wird darauf hingewiesen, dass auch für Berthold Guthmann und seine Frau Claire Aufzeichnungen über die Abgabe von Schmuck vorliegen. Sie wurden in den Akten aber leider nicht mehr gefunden, sodass über den Wert des von ihnen abgelieferten Edelmetalls keine Angaben gemacht werden können.

[92] HHStAW 518 4229. (15).

[93] Ebd. (14).

[94] Ebd. (84). Der Kaufpreis betrug 43.000 RM. Davon wurde die Hypothek über 15.000 RM getilgt, der Rest erhielt der Notar, der das Geld an das Finanzamt zur Tilgung diverser Steuerschulden, u.a. die Judenvermögensabgabe, weiterleitete. Das Haus wurde nach dem Krieg an die Erben von Jakob Guthmann zurückerstattet.

[95] Meinl/Zwilling, Legalisierter Raub, S. 129 f.

[96] HHStAW 518 759 (124).

[97] HHStAW 519/3 1932 (8).

[98] Ebd. (12). Die Vermögenserklärung war erst im Februar 1940 abgegeben worden.

[99] Ebd. (30, 31).

[100] HHStAW 518 6784 (34). Noch während der Beerdigungsfeier wurden Claire und Berthold Guthmann vom damaligen Hausverwalter mit sofortiger Inhaftierung gedroht, wenn sie das Haus nicht an den Fahrer des Giessener NSDAP-Kreisleiters verkaufen würden, dem allerdings jegliche Mittel fehlten, um die Immobilie zu bezahlen. Obwohl kein Kaufvertrag zustande kam, stand sein Name bereits als neuer Eigentümer im Giessener Adressbuch. Die Erben hatten den Verkauf grundsätzlich nicht verhindern können, fanden aber einen anderen solventen Käufer. Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 2 S. 119.

[101] HHStAW 519/3 1932 (38).

[102] Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, S. 106, dazu die beiden Stolpersteine für die Eltern von Claire Guthmann, die 2009 in Gießen in der Bleichstr. 28 vor ihrem früheren Haus verlegt wurden. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Gie%C3%9Fen. (Zugriff: 11.7.2018). Falsch ist wohl die Angabe bei Runzheimer Abgemeldet, Bd. 2, S. 115, dass Franziska Michel nach Theresienstadt deportiert werden sollte. Alle Transporte aus dem Deutschen Reich gingen im Jahr 1941 nach Litzmannstadt / Lodz, Minsk, Kowno oder Riga, siehe Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, S. 444 f.

[103] HHStAW 519/3 2094 (49). Das Geld wurde mit der Auflage, „die entsprechenden Belege der kontoführenden Bank nachträglich zur Genehmigung vorzulegen“ am 6.3.1941 freigegeben.

[104] HHStAW 518 4229 (15). Zu den Heimeinkaufsverträgen siehe Meinl, Zwilling, Legalisierter Raub, S.465 f., 478.

[105] HHStAW 518 4229 (16).

[106] HHStAW 3008/2 16557. Wer tatsächlich in der Reihe Jakob Guthmann ist, konnte leider auch nach mehreren Rückfragen nicht nicht geklärt werden. Die Bildunterschrift zu der Fotografie in Stationen gibt an, dass es sich bei der fünften Person in der Reihe, dem Mann im weißen Hemd ohne Jakett um Jakob Guthmann handle, siehe Opfermann, Stationen S. 64, auf dem Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse für Guthmanns, auf dem das gleiche Bild abgedruckt ist, wird hingegen die zweite Person in der Schlange als Jakob Guthmann identifiziert, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/Erinnerungsblatt%20Drei%20Generationen%20Guthmann.pdf.

[107] HHStAW 469/33 2882 (7). In den Entschädigungsakten nennen die beiden Kinder von Jakob Guthmann, Eduard Guthmann und Anna Hirsch als Jahr der Deportation und des Todes fälschlicherweise das Jahr 1941, siehe 518 4229 (24, 32).

[108] HHStAW 469/33 2882 (11).

[109] HHStAW 518 4229 (10).

[110] Opfermann, Hermesweg, S. 403. Zu dem Ehepaar Goldstein siehe das Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/Erinnerungsblatt%20Dr.%20Georg%20und%20Margarethe%20Goldstein.pdf. (Zugriff: 17.6.2018), auch http://www.hausaufderalb.de/fileadmin/hausaufderalb/pdf/12-10-12_rede_goldstein.pdf. (Zugriff: 4.10.2018). Arthur Straus(s), geboren am 1.9.1873 in Wiesbaden, war gelernter Juwelier, aber zuletzt Rendant und Verwalter der Jüdischen Gemeinde. Er war mit Anna Waller, geboren am 9.3.1881 in Köln, verheiratet. Zum Ehepaar Strauss, die zuletzt ebenfalls im Judenhaus Bahnhofstr. 25 lebten, siehe unten.

[111] HHStAW 51973 1932 (48). Berthold Guthmann teilte der Devisenstelle am 15. Dezember 1942 den Wohnungswechsel mit.

[112] Holländer nutzte seine Stellung auch dazu aus, sich auf dreisteste Weise am Eigentum der Juden persönlich zu bereichern. Zwar wurde er nach dem Krieg in die Kategorie der Hauptbelasteten eingeordnet, es gelang ihm aber, unterzutauchen, sodass er nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. Ein umfassendes Portrait dieses Menschenschinders, der ursprünglich als „städtischer Beauftragter der Jüdischen Wohlfahrtspflege“ fungierte, ist nachzulesen bei Becht, Lutz, „Die Wohlfahrtseinrichtungen sind aufgelöst worden …“. Vom städtischen Beauftragten bei der Jüdischen Wohlfahrtspflege“ zum „Beauftragten der Geheimen Staatspolizei …“ 1938 bis 1943, in: „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938 – 1945, hg. Kingreen, Monica, Frankfurt, New York 1999, S. 211-236.

[113] Opfermann, Hermesweg, S. 407 ff. Nach Angaben von Opfermann handelte es sich neben Holland um die Gestapo-Beamten Baab, Gabbusch und Poche.

[114] Ebd. S. 411.

[115] Ebd. Charlotte Opfermann ergänzte in ihrem Interview mit Bembenek, dass er zudem auch in Gießen, Trier, Koblenz und an weiteren Orten Sprechstunden abgehalten hat, siehe Opfermann, Stationen S. 56.

[116] Ebd. S. 56 und Opfermann, Hermesweg, S. 408.

[117] HHStAW 518 759 (36). Zumindest von einem Gemälde der Guthmanns weiß man, dass es über den Wiesbadener Auktionator Jäger in den Handel gekommen war. Wie es in seine Hände gelangte, ist nicht mehr nachvollziehbar. Nach dem Krieg äußerte er sich generell zu seiner Tätigkeit bzw. Verantwortung folgendermaßen. „Um eventuellen Missverständnisse vorzubeugen“, wolle er bemerken, „dass ich keinen Handel mit Kunstgegenständen betreibe. Ich werde als Auktionator ausschließlich in fremdem Auftrag und für fremde Rechnung wie ein Kommissionär tätig; die Gegenstände, die ich anbiete sind also nicht mein Eigentum.“ Die Auftraggeber würden ihm keine Angaben darüber machen, „wo und wie sie die angebotenen Sachen erworben haben. Ich weiße sie [das Gewerbesteueramt der Stadt Wiesbaden – K.F.] aber darauf hin, dass jeder Auftraggeber in dem von ihm unterzeichneten Versteigerungsauftrag die Rechtmäßigkeit seiner Besitz- und Verfügungsbefugnis ausdrücklich versichern muss und dass jeder Auftrag zur Versteigerung vorher der Polizei zur Ueberprüfung vorgelegt werden muss.“ Diese Art der Reinwaschung bezieht sich zwar hier konkret auf seinen Handel mit ausländischem Kunstgut, der Auktionator wird aber beim Verkauf von Kunstgegenständen aus jüdischem Besitz ähnlich argumentiert haben. In der umfassenden, insgesamt 78 Seiten umfassenden Aufstellung von Kunstgut aus jüdischem Besitz, die dem Schreiben beigefügt war, ist auf Seite 5 auch das Gemälde der Guthmanns aufgeführt, das Ende 1939 für 127,50 RM über Jäger an einen H. Schütten aus Bad Kissingen verkauft wurde. Siehe https://www.fold3.com/image/232040461. (Zugriff: 11.7.2018 – Zugriff ist nur nach vorheriger Registrierung möglich).

[118] Zu dem gesamten Raubzug an der Familie Guthmann siehe HHStAW 518 759 (122-128). Zu den Vorgängen unmittelbar vor der Deportation in Frankfurt, siehe Opfermann, Hermesweg, S. 412.

[119] “Although always called ‘Lotte’ by other prisoners and my inmate supervisors, officially I simply became“XII/5-11” for the next 23 months. It made a kind of perverse sense. In this sea of women, most of them speaking an incomprehensible language with the occasional German, Hebrew or Yiddish word or phrase popping up now and then, numbers seemed appropriate. Conceivably, there could have been another prisoner with an identical or very similar name, but there could only be one ‘XII/5- 11.’ How else could one safeguard one’s identity? So, in the topsyturvy world of KZ-Ghetto Theresienstadt, exchanging one’s name for a number was a stubborn way to remain a distinct person.” Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 41 f.

Berthold Guthmann hatte die Nummer XII/5, nr. 8, Claire die Nummer XII/5, nr. 9 und Paul die XII/5, nr. 10.

[120] Opfermann, Remembering Theresienstadt und Theresienstadt. Der Tanz mit den Toten, in: Opfermann, Stationen, S. 62-132. Die knappe Zusammenfassung der Texte hier kann die Lektüre dieser biographischen Erinnerungen in keiner Weise ersetzen.

[121] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 44 f.

[122] Eugenie Löwenstein hatte wenige Monate vor ihrer Deportation am 1.9.1942 in Wiesbaden noch den Musiker Selmar Victor geheiratet. Beide starben in Theresienstadt, er am 22.4., sie am 18.7.1944.

[123] Die Jugendkasernen L 414 standen unter der Leitung von Leo Baeck, dem ehemaligen Leiter der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland.

[124] Opfermann, Stationen, S. 110. Normalerweise trafen sich Eltern und Kinder nicht in der Jugendkaserne, sondern außerhalb, damit diese nicht störend in das relativ stabile Eigenleben der Jugendwohngruppen eingreifen konnten, siehe Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 81

[125] Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, S. 435-437. Charlotte Opfermann nennt in Remembering Theresienstadt, S. 98 als Daten der Transporte den 27.9., 28.9. und 1.10.1944.

[126] Die Datumsangabe von Charlotte Opfermann ist nicht richtig. Wahrscheinlich bezieht sich „Early next Morning“ auf die Datierung des Testaments von Berthold Guthmann, den 28.9.1944. Somit wäre der nächste Tag der 29.9. gewesen, der Tag, an dem nach den Unterlagen von Theresienstadt die Deportation tatsächlich stattgefunden hat. Siehe https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/13499-berthold-guthmann/. (Zugriff: 11.7.2018).

[127] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 98-101.

[128] Siehe Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, S. 437.

[129] Opfermann, Stationen S. 113.

[130] Siehe auch die ‚Page of Testimony’, die ein Philip Jazzini aus den USA in Yad Vashem hinterlegt hat, http://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Guthmann&s_firstName=Berthold&s_place=Wiesbaden&s_dateOfBirth=&s_inTransport=. (Zugriff: 11.7.2018).. Am 30.6.1958 wurde er auf Antrag seiner Tochter offiziell für tot erklärt. Damals wurde als Todestag der 8.5.1945 festgelegt, siehe HHStAW 469/33 4469 (10).

[131] Opfermann, Remembering Theresienstadt,S. 101

[132] So die Angabe in der Genealogischen Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.

[133].Eintrag im Totenbuch des Konzentrationslagers Mauthausen.

[134] Marsalek, Hans, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, Wien 1980 (2. Aufl.), S. 177.

[135] Siehe https://www.fold3.com/image/268306497?terms=Paul%20Guthmann. (Zugriff: 11.7.2018).

[136] Auskunft der Gedenkstätte Mauthausen vom 26.7.2018. In Yad Vashem ist zu seiner Erinnerung eine ‚Page of Testimony’ hinterlegt: http://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Guthmann&s_firstName=Paul&s_place=Wiesbaden&s_dateOfBirth=&s_inTransport=. (Zugriff: 11.7.2018).

[137] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 129 f.

[138] Zu dieser Endphase siehe Benz, Theresienstadt, S. 198-206.

[139] Opfermann, Stationen, S. 123.

[140] Ebd. 128.

[141] Zu diesen Verwandten in Salt Lake City, die bereits im 19. Jahrhundert ausgewandert waren, siehe Juden vom Altrhein S. 90 f.

[142] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (103).

[143] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (104).

[144] Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 144.

[145] Ebd. S. 150.

[146] Ihr Einbürgerungsantrag von 1947 ist abgedruckt in Juden vom Altrhein, S. 116. Siehe zu ihrer ersten Zeit in den USA auch Juden vom Altrhein, S. 116 f.

[147] Die Angabe, dass die Heirat in Luxemburg stattgefunden hat, ist einem Zeitungsartikel in der Giessener Allgemeinen vom 15.2.2003 zu entnehmen, in dem über einen ihrer vielen in Deutschland gehaltenen Vorträge berichtet wird. Es soll an dieser Stelle knapp auf das tragische Schicksal der Familie Opfermann hingewiesen werden. Heinz Opfermann war einer von zwei Söhnen, die aus der Mischehe von Wilhelm Opfermann und seiner jüdischen Frau Cornelia Gross stammten. Die beiden Söhne, neben Heinz noch Klaus, waren somit laut NS-Jargon Mischlinge ersten Grades. Der Vater, Wilhelm Opfermann, war verwandt mit den Eigentümern der bekannten Sektkellerei Henkell, die ihren Sitz in Wiesbaden hatte und bei der er die Stellung als Prokurist und Kellermeister inne hatte. In die Familie Henkells wiederum hatte die NS-Größe, der spätere Außenminister Ribbentrop eingeheiratet. Er soll angeblich später zunächst seine schützende Hand über die Opfermanns gehalten haben. Beweise dafür gibt es allerdings nicht und genutzt hatte es den Opfermanns letztlich ohnehin nichts. Wegen der wachsenden Bedrohung ihrer Familie hatte die Mutter von Cornelia Opfermann, Rosa Gross, auf dem Sterbebett noch eine notarielle Erklärung verfasst, nach der ihre Tochter aus eine außerehelichen Beziehung mit einem Nichtjuden stamme, die Tochter somit Halb– und die beiden Söhne nur Vierteljuden seien. Zwar ist sie im Jüdischen Adressbuch von 1935 noch ausdrücklich als „Volljüdin“ vermerkt, aber offensichtlich wurde die Erklärung angenommen, denn die Söhne wurden daraufhin in die Wehrmacht eingezogen. Als dann aber gegen Ende der NS-Herrschaft auch gegenüber den jüdischen Partnern in Mischehen immer stärkerer Druck ausgeübt wurde, gerieten Opfermanns in eine verzweifelte Lage. Cornelia Opfermann war von der Gestapo im Hauptquartier in der Paulinenstraße zum Verhör abgeholt und anschließend in das Gefängnis in die Albrechtstraße gebracht worden. Hier nahm sie sich am 14. Januar 1945 das Leben. Sie hatte sich mit Hilfe ihrer Seidenstrümpfe in der Zelle aufgehängt. Ihr nichtjüdischer Mann, der ebenfalls abgeholt werden sollte,  nahm sich daraufhin Gift. Zwar wurde er noch in die städtischen Kliniken eingeliefert, aber nach fünf Tagen verstarb auch er am 19.1.1945 unter schlimmsten Qualen. Sohn Klaus erlag im ersten Kriegswinter einer Hirnhautentzündung. Siehe zum Schicksal der Familie Opfermann den Artikel von Günther Leicher im Wiesbadener Tagblatt vom 9.11.2002.

[148] Der Koautor von Charlotte Opfermann, Robert A. Warren, mutmaßte sogar, dass jeder der ihr Buch gelesen hat, mehr über sie und ihre Zeit in Theresienstadt weiß, als ihr Ehemann je gewusst hat, siehe S. 148.

[149] Gießener Allgemeine vom 15.2.2003.

[150] Frankfurter Rundschau vom 26.10.1993, S. VI.

[151] Bei einem Besuch in Gießen im Februar 2003 traf sie eine ihrer früheren Spielkameradinnen wieder, die sie seit mehr als 60 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Deren Eltern waren 1933 in das Haus der Großeltern in der Bleichstraße eingezogen. Als 1933 der Terror gegenüber den Juden begann, hatten die Mieter den Großeltern in ihrer Wohnung wohl mehrfach Schutz geboten. Siehe Giessener Allgemeine vom 20.2.2003.

[152] Terezin Diary, unveröffentlichtes Manuskript. Festgehalten sind hier auch die verschiedenen Besuche in den Schulen Wiesbadens, alle Treffen mit den Bekannten und Schulkameradinnen aus ihrer Kindheit und Jugend, aber auch die offiziellen Treffen, die von der Stadt damals anberaumt wurden.

[153] Siehe zu diesem Besuch Runzheimer, Abgemeldet, Bd. 2 S. 113 ff.

[154] Wiesbadener Tagblatt vom 4.5.2006.

[155] “Unlike her mother, who was driven by an unrelenting demand for retribution, right down to the last pfennig, Charlotte lacked the emotional armor that such single-minded hatred provided.” Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 147.

[156] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (115).

[157] Ein für die unmittelbare Nachkriegszeit typischen Behördenverhalten soll hier exemplarisch angeführt werden. Claire Guthmann, die mit nichts aus Theresienstadt zurück gekommen war, hatte man zur Anschaffung der dringendsten Güter ein Darlehen von 5.000 RM bzw. 500 DM gewährt. Bereits 1948 verlangte man das Darlehen von der noch immer mittellosen Frau zurück. HHStAW 518 6784 (13).

[158] Juden vom Altrhein, S. 116. Wie man auch in Wiesbaden mit den aus den Konzentrationslagern Zurückgekehrten umging, wie man sie, lebende Mahnmale der eigenen Schuld und des eigenen Versagens, zunehmend aggressiv ausgrenzte und deren nicht nachvollziehbares Leid in den Lagern durch das eigene in den Bombennächten erfahrene Leid zu relativieren suchte, ist beschrieben in der umfassenden lokalgeschichtlichen Studie von Kratz, Philipp, Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945, Göttingen 2019, S. 58-67.

[159] Ebd. (38).

[160] Ebd. (61).

[161] Juden vom Altrhein, S. 119.

[162] Wo Anna Nathan mit den Kindern wohnte, ist nicht mehr genau zu rekonstruieren, da die Unterlagen der Meldebehörden im Krieg zerstört wurden. Die Angaben in der Entschädigungsakte sind widersprüchlich. In ihrer Entschädigungsakte gab Anna Hirsch an, zuletzt bis zu ihrer Ausreise 1936 in der Bahnhofstr. 25, dem Haus der Eltern gewohnt zu haben, HHStAW 518 15855 (1). In ihrer eidesstattlichen Erklärung vom 12.1.1957 hingegen gab sie als Adresse bis zur Auswanderung die Lessingstr. 3 an, die auch die erste Unterkunft ihres Vaters Jakob Guthmann in Wiesbaden war, ebd. (7) und Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen. Charlotte Opfermann hatte in einer Befragung nach dem Krieg ebenfalls angegeben, dass ihre Tante zuletzt in der Lessingstr. 3 gelebt habe. HHStAW 518 15855 (5). In den Wiesbadener Adressbüchern ist ihr Aufenthalt in Wiesbaden nicht vermerkt.

[163] Juden vom Altrhein. S. 120. Seine Eltern waren Nathan Hirsch (1859-1908) und Karoline, geb. Scheuer (1864-1930).

[164] HHStAW 518 15855 (5, 10). In einem Schreiben des Rechtsanwalts Fuchs im Entschädigungsverfahren wurde fälschlicherweise das Jahr 1939 als Jahr der Emigration genannt, siehe ebd. (6).

[165] HHStAW 518 4229 (24).

[166] Juden vom Altrhein, S. 122. Hier ist auch der weitere Lebensweg der beiden Kinder Margot und Hans ausführlich dargestellt.

[167] HHStAW 518 4229 (31).

[168] Ebd. In einem Aufruf zur Ausstellung „Legalisierter Raub“ heißt es ohne Quellenangabe, Eduard sei 1936 ausgewandert, siehe https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwjdqO2EocPkAhXBKVAKHeVOD6cQFjAAegQIABAC&url=https%3A%2F%2Fwww.politische-bildung-rlp.de%2Ffileadmin%2Ffiles%2FGedenkarbeit%2FAusstellung_Leg_Raub_2014%2FPM_Aufruf_Jakob_Gutmann.doc&usg=AOvVaw1fCWhTF8-KFyweUlMN0pfo. Diese Angabe ist offensichtlich falsch.

[169] Juden vom Altrhein, S. 118.

[170] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 216 Bl. 3240 Innen (118).

[171] Ebd. (o.P.)