Herrngartenstr. 11


Regina Beck, Regina Sichel, Julius Beck
Das Judenhaus heute
Eigene Aufnahme
Regina Beck, Regina Michel, Julius Beck
Lage des ehemaligen Judenhauses
Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Herrngartenstr. 11

 

 

 

 

 


Regina Beck, geborene Sichel, und ihre Geschwister

Das Judenhaus Herrngartenstr. 11 war in der früheren Südstadt Wiesbadens gelegen, einem Areal, das heute im Norden von der Rheinstraße, im Süden vom Kurt Stresemann Ring, im Osten von der Bahnhofstraße und im Westen von der Adolfsallee begrenzt wird. Obgleich der ehemalige Herrngarten ursprünglich weiter im Norden, unmittelbar an der Friedrichstraße gelegen war, erhielt die Verbindung zwischen den beiden letztgenannten Straßenzügen den Namen Herrngartenstraße. In der Zeit zwischen 1866 und 1880 hatte sich die Wiesbadener Bevölkerung auf etwa 52.000 Bewohner verdoppelt. Der daraus resultierende Bedarf an Wohnungen hatte besonders in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Bauboom ausgelöst und zur Ausdehnung der Stadt in verschiedene Richtungen geführt. Wie in den Parallelstraßen, Albrecht-, Schlichter- und Goethestraße, hatte man sich auch in der Herrngartenstraße für eine geschlossene Bauweise entschieden, bei der zumeist einfach gestaltete Gebäude mit kleinem Hof und Hinterhaus ohne Vorgärten aneinandergereiht wurden. Das Haus mit der Nummer 11 war 1870, das Hinterhaus 1887 errichtet worden.[1] Im Allgemeinen handelte es sich um Einheiten mit zwei oder drei Stockwerken über dem Erdgeschoss und mehreren Mansardenräumen unter dem Dach. Das Haus mit der Nummer 11 war nur zweigeschossig und wirkt noch heute zwischen den beiden höheren Nachbargebäuden geradezu ein wenig eingeklemmt. Dieses eigentlich eher unscheinbare Haus sollte in der Zeit der NS-Herrschaft zum bedeutendsten Judenhaus Wiesbadens werden. Insgesamt etwa 50 jüdische Bewohner, mehr als in jedem anderen der offiziellen Judenhäuser, hatten hier während der Zeit der ärgsten Bedrohung zeitweise eine Unterkunft gefunden oder waren zwangsweise dort einquartiert worden. Am 31. Januar 1920 war das 1919 erworbene Hausgrundstück im Grundbuch der Stadt Wiesbaden auf das Ehepaar Julius und Regina Beck je zur Hälfte eingetragen worden.[2]

 

Judenhaus Herrngasse 11 Wiesbaden, Regina Beck Sichel, Julius Beck,

519-2 2099 I 9 519-2 2099 I 9Judenhaus Herrngasse 11 Wiesbaden, Regina Beck Sichel, Julius Beck,

 

Grundrisse des Judenhauses (HHStAW 519/2 2099 I)


Der familiäre Hintergrund von Julius Beck liegt weitgehend im Dunklen, wenngleich sicher ist, dass er dem osteuropäischen Judentum entstammte. Er war am 26. April 1857 im damaligen preußischen Bromberg, dem heute polnischen Bydgoszcz, geboren worden. Seine Eltern waren der Kaufmann Lewin und Augusta Beck, geborene Fordanska / Fordanski. Lewin Beck war im stark jüdisch geprägten Städtchen Murowana-Gorlin / Goslin, etwa 30 km nördlich von Posen gelegen, zur Welt gekommen. Die dortige Bevölkerung bestand um 1800 zu etwa einem Viertel aus Juden. Später lebte er mit seiner Frau in Berlin, wo er am 17. Januar 1899 verstarb. Julius Beck selbst hatte dem Standesamt in Charlottenburg den Tod des Vaters gemeldet, konnte aber zu dessen Vorfahren keine näheren Angaben machen. Sie seien in Russland ums Leben gekommen, ist im Sterbeeintrag festgehalten.[3] Ob Julius Beck weitere Geschwister hatte, ist nicht bekannt.

Regina Beck - Sichel, Bertrand Sichel, Rosa Sichel, Bertha Sichel, Julie Sichel, Henriette Sichel, Thekla Sichel, Joseph Sichel, Johanna Sichel, Mainz Judenhaus Wiesbaden, Herrngartenstr. 11
Stammbaum der Familie Sichel aus Mainz
Genealogische Datenbank der Juden Wiesbadens

Beim Tod seines Vaters lebte Julius Beck, von Beruf Handelsreisender, in Mainz, wo er am 4. März 1893 Regina Sichel geheiratet hatte.[4] Über deren familiären Hintergrund liegen dagegen sehr viel mehr Informationen vor, da ihre Vorfahren seit langer Zeit im rheinhessischen Raum ansässig waren. Regina war das siebte von insgesamt dreizehn Kindern – sechs Söhne und sieben Töchter – des Mainzer Schreinermeisters Aron Moses / Moise Sichel und seiner Frau Fanny, geborene Bissinger.[5] Während der Ehemann am 21. September 1826 in der Domstadt am Rhein geboren worden war, stammte seine etwa zehn Jahre jüngere Frau aus dem schwäbischen Ichenhausen, wo sie am 9. August 1837 zur Welt gekommen war. Am 23. November 1859 war in Mainz die Ehe geschlossen worden.[6]

Regina Beck, Regina Sichel, Rhekla Sichel, Wilhelm Heinrich Hölzer, Oberamtsrichter von Rhein,Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Synagogengasse im ehemaligen Judenviertel von Mainz
Mit Genehmigung des Stadtarchivs Mainz

Ihr Haus lag in der Margarethengasse, der früheren Judengasse, und damit im traditionellen Mainzer Judenviertel, dem alten Ghetto. In dieser Straße war 1684 auch die erste Synagoge innerhalb der Ghettomauern mit Gemeinschaftsräumen, Wohnungen und einer Mikwe errichtet worden. 1846 war sie wegen baulicher Mängel abgerissen und durch die ‚Neue Synagoge’ ersetzt worden, der ersten in Deutschland, die, wie später auch die Wiesbadener Synagoge am Michelsberg, eine Orgel besaß. Obwohl die Ghettomauern längst abgerissen waren, herrschten in diesem Viertel auch im 19. Jahrhundert noch sehr beengte und eher dürftige hygienische Wohnverhältnisse. Wie beengt wird es im Haus der Sichels mit all den vielen Kindern zugegangen sein, zumal auch die Schreinerei bzw. Kistenfabrik vermutlich ebenfalls dort angesiedelt war? Von daher ist es nicht verwunderlich, dass einige der Kinder schon früh das Elternhaus und ihre Heimatstadt verließen.

Obwohl die Familie ihren Alltag in diesem durch und durch jüdischen Milieu zubrachte, scheint es irgendwann um das Jahr 1880 einen Bruch mit der Gemeinde oder auch nur Teilen davon gegeben zu haben. Innerhalb der Mainzer Gemeinde war es bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Spaltung zwischen liberal und orthodox ausgerichteten Strömungen gekommen. Letztere hatten nicht nur ihre eigene Synagoge, sondern auch eine eigene Schule, die „Unterrichtsanstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft zu Mainz“, auch „Bondi-Schule“ genannt, die sich ebenfalls im Synagogengebäude befand. Der Besuch dieser Schule war für die Kinder der orthodoxen jüdischen Familien zumindest bis zum Wechsel auf eine höhere Bildungsanstalt eine Selbstverständlichkeit. Auch die ersten acht Kinder der Sichels besuchten alle diese Schule, aber nach der 1873 geborenen Julie ist keines der folgenden Kinder mehr in den Schülerlisten aufgeführt.[7] Es scheint als habe sich die Familie um 1880 zumindest vom orthodoxen Judentum losgesagt. Auffällig ist aber zudem, dass mehrere der Kinder später nichtjüdische Partner aus unterschiedlichen christlichen Konfessionen heirateten – Katholiken, Protestanten und auch Anglikaner.

 

Die Eltern der Kinderschar erlebten die Nazi-Zeit selbst nicht mehr. Sie verstarben beide noch vor der Jahrhundertwende in Mainz, zunächst Fanny Sichel am 3. Dezember 1890, fünf Jahre später ihr Mann Aron Moses Sichel am 19. Mai 1895.[8] Von den Kindern verstarben auch zwei bevor die Nazis zur Macht kamen oder bevor die Deportationen begannen, andere waren schon früh ausgewandert oder ihnen war mit Beginn der Verfolgung noch die rechtzeitige Flucht gelungen. Wiederum andere fielen dem Holocaust zum Opfer, auf jeweils unterschiedliche Weise. Und es gab unter den Töchtern sogar eine, die die Deportation und den KZ-Aufenthalt überlebte. Auch wenn im gegebenen Rahmen das Schicksal aller Kinder von Aron Moses und Fanny Sichel nicht umfassend recherchiert und dargestellt werden kann, so sollen aber zumindest die verschiedenen Lebenswege skizzenhaft nachgezeichnet werden,[9] steht doch das Schicksal dieser Familie geradezu exemplarisch für das des ganzen jüdischen Volkes, für das erfahrene Unheil in all seinen Facetten, aber auch für die Kunst des Überlebens.

 

Fast genau ein Jahr nach der Eheschließung war am 20. November 1860 zunächst der Sohn Maximilian geboren worden. Noch in der Zeit des Kaiserreichs war er aus Deutschland nach Großbritannien ausgewandert, wo er sich mit viel Erfolg ein neues Leben aufbauen konnte. Im Alter von 32 Jahren hatte er, in Glenholme als Weinhändler lebend, die Einbürgerung beantragt und auch erhalten.[10] Dieses Ansinnen war offensichtlich verbunden mit seiner geplanten Verehelichung. Kurz nach der Einbürgerung, heiratete er im Juli 1893 Mary Hester Stroud, die im Oktober 1863 im Bezirk Cardiff geboren worden war. Max war innerhalb der Familie Sichel einer denjenigen, die sich zumindest der religiösen Tradition des Judentums entfremdet hatten, denn nicht nur seine Frau war christlich getauft, auch seine beiden Töchter wurden christlich erzogen. Zumindest existiert für die am 13. Juni 1897 in North Kensington geborene Tochter Elsa Mary ein Dokument, das ihre Taufe am 13. Juni 1897 belegt.[11] Man wird sicher daraus schließen können, dass auch die zuvor am 27. September 1894 geborene Schwester Brenda eine christliche Erziehung erhielt. Wirtschaftlich scheint es der Familie in England recht gut gegangen zu sein. Bei der Volkszählung von 1901, hatte Max Sichel angegeben weiterhin als Weinhändler tätig zu sein. Neben den vier Familienangehörigen gehörte auch ein Koch zum Haushalt der Familie.[12] Noch bevor Mary Hester Sichel 1936 verstarb, hatte sich das Paar getrennt. 1909 war Maximilian Sichel in die USA ausgewandert wo er eine zeitlang bei seiner verwitweten Schwester Julie in Denver / Colorado wohnte.[13] Wann er dann nach Kalifornien verzog, wo er vermutlich am 2. Februar 1944 in San Francisco verstarb, ist nicht bekannt.[14] Ob es während all der Zeit Kontakt zu den in Deutschland gebliebenen Geschwistern gegeben hat, ist nicht bekannt. Aber sicher wird er aus der Ferne das Leiden seiner Verwandten verfolgt haben und soweit es in seinen Kräften stand, anderen zur Ausreise in die USA verholfen haben. Er war nicht der einzige der Familie Sichel, die dort Schutz fand.

 

Am 30. Dezember 1861 war Bertrand als zweiter Sohn von Moses und Fanny Sichel geboren worden.[15] Er hatte eine akademische Ausbildung absolviert, war promoviert und hatte sich nach seinem Studium als Rechtsanwalt in Mainz niedergelassen. Seine Praxis betrieb er dort mit unterschiedlichen Kollegen in der Bauhof- und der Ludwigstraße. Er habe – so die Auskunftei Blum – gerade bei der Industrie und in Unternehmerkreisen einen sehr guten Ruf genossen und deshalb auch bei der Dresdner Bank als Justiziar fungiert.[16] In dieser Zeit wohnte er in Gonsenheim in der Lennbergstr. 24. Am 17. Mai 1930 heiratete er – wie zuvor sein Bruder – eine nichtjüdische Frau. Johanna Müller, geboren am 3. März 1884, war katholisch und stammte ebenfalls aus Mainz.[17] Sie brachte den Sohn August Johann, geboren am 15. November 1905, mit in die Ehe.[18] Zunächst wohnte die Familie noch weiterhin in Mainz. Sie muss aber dann Mitte der dreißiger Jahre nach Wiesbaden umgezogen sein, denn im Adressbuch von 1936/37 ist sie erstmals mit der Adresse Wilhelmstr. 58 III verzeichnet.
Hatte das Einkommen vor der Verfolgung jährlich etwa 1.200 RM betragen, so nahm das ab 1933 deutlich ab. Am 31. Oktober 1938 wurde Bertrand Sichel mitgeteilt, dass seine Zulassung beim Landgericht Mainz und beim Oberlandesgericht Darmstadt zum 30. November 1938 zurückgenommen werde.[19] Noch konnte die Familie auf Rücklagen zurückgreifen, die in den früheren Jahren angespart worden waren. Aber diese wurden durch die Judenvermögensabgabe in Höhe von mehr als 10.000 RM erheblich dezimiert. Die fünfte Rate, zur der Bertrand Sichel 1939 auch noch herangezogen wurde, konnte nur noch in kleinen Raten á 150 RM abgezahlt werden.[20] Neben diesem Vermögensraub mussten – wie üblich – auch Wertgegenstände wie Ringe, Uhren oder anderer Schmuck abgegeben werde. Auch eine moderne Musikanlage gehörte zu den Verlusten, die sich insgesamt auf etwa 3.000 RM summierten.[21]

Sicher nicht zuletzt aus finanziellen Gründen war das Paar 1938/39 in die Lanzstr. 2 gezogen. Dort verstarb Bertrand Sichel am 27. September 1940 in Folge eines Hirnschlags und somit offiziell eines „natürlichen“ Todes,[22] kurz bevor der Terror der Nazis gegenüber der jüdischen Bevölkerung seine letzte Phase erreichte. Begraben wurde er in Wiesbaden nicht auf dem Jüdischen Friedhof, sondern auf dem städtischen Südfriedhof.

Auch der dritte Sohn, der am 24. August 1863 geborene Julius, war noch in der Kaiserzeit aus Deutschland ausgewandert und blieb somit von der rassischen Verfolgung durch die Nazis verschont. Den amerikanischen Zensus-Daten von 1910 kann man entnehmen, dass er bereits 1884 das Land betreten und bald auch die Staatsbürgerschaft erhalten hatte. Um 1902 gründete der Zimmermann in den USA auch eine Familie. Seine 1872 geborene Frau, von der nur der Vorname Rachel bekannt ist, war im Jahr 1900 eingewandert. Zur Zeit der Datenerhebung waren dem Paar drei Töchter geboren worden, zunächst Miriam, die damals sechs Jahre alt war, Fanny, fünf Jahre alt, und die dreijährige Rosa.[23] Allein die Namen der Kinder lassen darauf schließen, dass die Familie, die in San Francisco lebte, sich der jüdischen Tradition weiterhin verpflichtet fühlte. Unmittelbar nachdem in Europa Hitler den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen hatte, verstarb Julius Sichel am 4. September 1933 in Clayton in Kalifornien, einer Kleinstadt östlich von San Francisco.[24]

 

Am 27. Dezember 1864 wurden Moses und Fanny Sichel erstmals eine Tochter geboren. Rosa wurde jedoch nicht einmal ein halbes Jahr alt und verstarb bereits am 29. Mai des folgenden Jahres.[25]

 

Ein Jahr nach dem Tod von Rosa kam mit Robert wieder ein Sohn zur Welt. Der am 28. Mai 1866 geborene Robert, später von Beruf Kaufmann, hatte – wie auch andere seiner Geschwister – offensichtlich die Bindung an das Judentum verloren. Als der Weinhändler am 12. April 1903 die katholische Anna Katharina Reitmayer aus Mainz heiratete, bekannte auch er sich zum Katholizismus.[26] Am 2. Februar 1894 kam in Mainz die Tochter Eleonora Fanny Maria und am 4. Mai 1895 mit Franziska Josepha ein weiteres Mädchen zur Welt.[27] Beide waren eigentlich nach den NS-Rassegesetzen Halbjuden. Da aber die NS-Gesetzgebung ihre eigene Rassenideologie mit religiösen Bestimmungen vermischte, die beiden katholisch erzogenen Töchter somit auch als Halbjüdinnen nicht in die Mischkathegorie „Geltungsjude“ fielen, blieben ihnen die schlimmsten Verfolgungen erspart. Da ihr „volljüdischer“ Vater bereits am 2. März 1930, somit vor der Machtübernahme der Nazis verstorben war,[28] werden viele nicht einmal gewusst haben, dass die beiden eigentlich keine vollwertigen Mitglieder der arischen Volksgemeinschaft waren. Die Mutter, wie auch die beiden Töchter überlebten die Zeit der NS-Herrschaft und des Weltkriegs zum größten Teil in Mainz. Als Anna Katharina Sichel am 20. April 1948 im Krankenhaus in Hofheim / Taunus verstarb,[29] war ihre Wohnanschrift die Kapuzinerstr. 23 in Mainz. Auch Eleonora Fanny Maria verstarb in Mainz, Franziska Josepha hingegen in Alzey.[30]

 

Nur wenige Informationen gibt es über den jüngeren Bruder von Regina Sichel / Beck, über den am 1. Juli 1870 geborenen Karl.[31] In welcher Branche er als Kaufmann tätig war, dieser Beruf ist auf seiner Sterbeurkunde eingetragen, ist nicht bekannt. Nur wenige Tage, nachdem Hitler in Berlin seine „Machtergreifung“ zelebriert hatte, verstarb der ledig gebliebene Karl Sichel am 8. Februar 1933 im Alter von 62 Jahren im Jüdischen Krankenhaus von Mainz. Es war die jüngste Schwester Johanna, die, wie auch bei Julius Beck, dem Standesamt die Todesnachricht überbrachte.[32]

 

Die Schwester Bertha, geboren am 22. Oktober 1871,[33] konnte die NS-Zeit überleben, da auch sie, wie ihre älteren Brüder, schon sehr früh, nämlich bald nach der Jahrhundertwende Deutschland verließ. Aber bereits zuvor war sie durch ihre Heirat von Mainz nach München gezogen, wo sie mit dem aus Ungarn stammenden Moses Eisendörfer eine Familie gegründet hatte. Er war in der süddeutschen Metropole am 6. April 1873 geboren worden und hatte dort zu einem nicht bekannten Zeitpunkt ein Juweliergeschäft eröffnet.[34] In München waren auch noch die beiden Söhne des Paares zur Welt gekommen. Der ältere Arnold wurde am 25. Oktober 1902 und der jüngere Martin am 16. Januar 1905 geboren.[35]

Am 13. September 1906 bestieg Bertha Eisendörfer in Cuxhaven das Schiff ‚Amerika’ mit dem Ziel New York. Mit ihr fuhren die beiden Söhne, gerade einmal ein und drei Jahre alt. Nicht auf der Passagierliste stand der Vater. Er hatte schon am 14. Oktober 1905 von Hamburg aus die Reise nach New York angetreten.[36] Vermutlich war er vorausgefahren, um für die übrige Familie, besonders die kleinen Kinder, eine Wohnung zu besorgen, vielleicht auch einen Laden, um als Juwelier für den Unterhalt sorgen zu können. Bertha Eisendörfer hatte bei ihrem Reiseantritt angegeben, es handle sich um ihre erste Reise nach Amerika und sie habe das Ziel, in New York ihren Mann zu treffen.[37]

Die Familie ist aber nicht sehr lange in New York geblieben, denn beim Zensus im Jahr 1910 wohnten sie in Denver, Colorado, wo sie, wie auch ihre Söhne unter einer jeweils eigenen Adresse, auch in den folgenden Jahrzehnte lebten. 1910 war in ihrem Haus auch der Cousin David Zank, ein Heu- und Samenhändler, und die Cousine Florence Straus gemeldet.[38]
Wie ihrem 1913 gestellten Antrag auf die Erteilung der amerikanischen Staatsbürgerschaft zu entnehmen ist, hatten sich Eisendörfers im Dezember 1907 in Colorado niedergelassen.[39] Moses bzw. Moritz Eisendörfer hatte inzwischen den Namen Morris angenommen und auch der Umlaut wurde jetzt meist durch ein „o“ ersetzt. Als amerikanischer Staatsbürger trat Morris Eisendörfer 1918 in die Armee ein, um als Soldat gegen sein ehemaliges Heimatland Österreich-Ungarn zu kämpfen.
Nach dem Ende des Weltkriegs und nur wenige Jahre vor dem Ende der Weimarer Republik war Bertha Eisendörfer mit dem inzwischen erwachsenen Sohn Arnold noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt. Auch wenn es dafür keine Belege gibt, so liegt dennoch die Vermutung nahe, dass damals auch die Eltern und die noch in Deutschland lebenden Geschwister besucht wurden. Im Dezember 1929 waren die beiden von Bremen aus per Schiff zurück in die USA gefahren.[40]
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Arnold in der amerikanischen Armee gedient hatte,[41] trat Arnold Eisendörfer erneut diese Reise an, diesmal mit seiner Frau Beatrice, eine in New York geborene Lehrerin. Im Juli 1949 fuhren die beiden mit dem Schiff ‚America’ von New York aus nach Le Harve in Frankreich.[42] 1951 reisten sie erneut im Juli nach Europa, aber diesmal per Flugzeug. [43] Eine weitere Europareise folgte 1953, jetzt wieder mit dem Schiff. Der Hafen von Plymouth in England war diesmal das erste Ziel.[44] Nicht bekannt ist allerdings, ob sie bei diesen Fahrten auch nach Deutschland kamen. Möglicherweise war gerade die letzte Reise im Zusammenhang mit dem 1951 beginnenden Entschädigungsverfahren in Deutschland geplant worden.
Arnold Eisendörfer und seine Frau zogen später nach New York, wo er als Psychiater noch eine bedeutende Karriere machte. Am 26. Juni 1993 verstarb er dort im Alter von 90 Jahren,[45] seine Frau zwei Jahre später in gleich hohem Alter.

Sein Bruder Martin war zunächst auch in Denver zur Schule gegangen, hatte den Beruf eines technischen Zeichners erlernt und in Colorado die von dort stammende Rose Belle Marmor geehelicht. Zwischenzeitlich hatte das Paar in den 60er Jahren auch auf Hawaii gelebt, war aber später dann nach Los Angeles verzogen, wo Martin Eisendorfer am 22. Mai 1986, seine Frau am 8. Oktober 1992 verstarben.[46]
Ihre Eltern – Bertha und Morris Eisendörfer – waren zu dieser Zeit schon lange tot. Den Abschluss des Entschädigungsverfahrens im Jahr 1955 für ihre Schwester Regina erlebte Bertha Eisendörfer nicht mehr. Sie war am 21. April 1952, ihr Mann Morris am 2. November 1960 in Denver verstorben.

 

Julie Sichel, geboren am 11. April 1873, war ebenfalls schon früh in die USA ausgewandert und lebte 1930 in Denver, damals zusammen mit ihrem aus England in die USA ausgewanderten Bruder Max. Laut Zensus von 1930 war sie bereits im Jahr 1902 nach Amerika gekommen, ob alleine oder bereits mit ihrem zukünftigen Ehemann, ist nicht bekannt.[47] Bei der damaligen Volkszählung war sie bereits eine verwitwete Feudner.[48] Über ihre im dreißigsten Lebensjahr, also um 1903 geschlossene Ehe ist aber nichts Genaues bekannt. Allein im Adressbuch von Denver / Colorado aus dem Jahr 1945 wird der knappe Hinweis „widowed Jacob“ gegeben. Aus dieser Ehe stammte auch die Tochter Florence, die vermutlich 1907 in New York zur Welt gekommen war.[49] Sie hatte später den zwei Jahre älteren New Yorker Anwalt Max Glenstone geheiratet. Beide lebten zumindest 1940 zusammen mit der Mutter in deren Haus in Denver. Über den weiteren Lebensweg der Familienmitglieder konnten keine weiteren Informationen gefunden werden.

 

Das Schicksal der am 22. März 1875 geborenen Henriette, genannt Henny, ist insofern außergewöhnlich, als sie zu den wenigen gehörte, die ihre Deportation und einen fast dreijährigen Aufenthalt in einem KZ überlebten.[50] Sie habe – so ist bei Leder zu lesen – nach dem Tod des Vaters mit ihrer Schwester Thekla den väterlichen Betrieb bis etwa 1923 geführt.[51] Zu bedenken ist allerdings, dass Henriette beim Tod des Vaters erst 15 Jahre alt, ihre Schwester sogar noch ein Jahr jünger war, sodass sie diese Aufgabe kaum hatten alleine bewältigen können. 1917 sei sie aus dem Elternhaus ausgezogen und habe seitdem in einer Mietwohnung in Mainz-Gonsenheim in der Jahnstr. 36 gelebt. Die Wohnung – so heißt es weiter – „teilte sie (…) mit der elf Jahre jüngeren Ella Bohne, die ihr gleichermaßen Hausgehilfin, Gesellschafterin und gute Freundin war.“ Angesichts dieser sehr engen und auch dauerhaften Bindung liegt es nahe, dass es sich um eine damals tabuisierte gleichgeschlechtliche Beziehung zwischen den beiden gehandelt haben wird.
Wie bei allen anderen jüdischen Bürgern wurden auch die Finanzen von Henriette Sichel vom nationalsozialistischen Staat streng überwacht. Im Zusammenhang mit einer Sicherungsanordnung hatte auch sie ihr Vermögen offen zu legen und nur ein geringer disponibler Betrag stand ihr zur alltäglichen Lebensführung zur Verfügung. Nach dem Novemberpogrom hatte sie für die sogenannte Sühneleistung 7.700 RM aufzubringen. Im folgenden Jahr 1939 wurde die Schlinge noch enger zusammengezogen. Die beiden Freundinnen verloren ihre Gonsenheimer Wohnung und mussten zurück in die Margarethengasse. 28, in Henriettes Geburtshaus ziehen, das inzwischen zum Judenhaus erklärt worden war.[52] Ella Bohne, obgleich keine Jüdin, begleitete ihre Freundin bei diesem erzwungenen Umzug in die durch angeordnete Umbauten sehr beengte Wohnung.
1942, als die Massendeportationen auch aus dem Deutschen Reich begannen, erhielt auch Henriette Sichel im September die Aufforderung, sich für eine „Wohnsitzverlagerung nach Theresienstadt“, wie es offiziell hieß, bereitzumachen.
Anders als sonst üblich, vielleicht auch durch ein Versehen, war der Deportationstermin in Mainz schon frühzeitig bekannt geworden. Bereits am 18. August 1942 war im Tagebuch der Mainzer Jüdischen Gemeinde notiert worden, welche Kategorien von Personen bis zum15. September ausgesucht und per Liste der Gestapo übermittelt werden sollten: Es waren die Alten und Gebrechlichen, Kriegsbeschädigte und allein stehende Mischlinge, die für diesen Transport auszuwählen waren.[53] Gerade weil die Planung so früh bekannt geworden war, traten viele derjenigen, die diese Reise nicht mehr antreten wollten, die Flucht in den Tod an.[54] Die übrigen wurden vor dem Abtransport in der Turnhalle der Goetheschule versammelt, wo die letzten formalen Akte der Deportation vollzogen wurden. Wie den anderen, die noch über Restvermögen verfügten, wurde auch der 67jährigen Henriette Sichel mit dem leeren Versprechen, ihre Versorgung sei auf diese Weise bis zu ihrem Lebensende umfassend gesichert, noch ein sogenannter „Heimeinkaufsvertrag“ aufgezwungen – ein Instrument, mit dem die Gestapo sich die letzte Habe ihrer Opfer aneignete, noch bevor die Finanzverwaltung durch Vermögenseinzug darauf zugreifen konnte. Aber auch die Beamten des Fiskus holten sich ihren Anteil der Beute. Ihnen musste vor dem Verlassen der Wohnung die Schlüssel übergeben werden, zudem kassierten sie die zurückgelassene Einrichtung samt Inhalt – alles bürokratisch aufgelistet in einem Formular, das von den Vertriebenen noch unterzeichnet werden musste, um dem Raubzug einen scheinlegalen Anstrich zu verleihen. Auf diese Weise trug auch das Mobiliar von Henriette Sichel dazu bei, dass deutsche Volksgenossen trotz der vielen Einschränkungen durch die Kriegswirtschaft sich als Gewinner der Diktatur fühlen konnten. Bei einer der vielen Auktionen wird man zugegriffen haben, wenn wieder einmal Mobiliar, Bilder oder Küchengeräte „aus jüdischem Besitz“ – wie freimütig zugegeben wurde – zur Versteigerung anstanden.
Eigentlich hatte Henny Sichel ihr gesamtes Vermögen bereits 1934 testamentarisch ihrer Freundin vermacht. Da aber mit der Deportation der Todes- und damit auch der Testamentsfall nicht eingetreten war, das Deutsche Reich vielmehr auf die „Elfte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom November 1941 rekurrierte und den Vermögensverfall anordnete, ging die Freundin leer aus. Auch das Elternhaus von Henriette, das im Krieg völlig zerstört wurde, unterlag dieser Verordnung.[55]

Am 27. September 1942 verließ der Transport ‚XVII/1’ – die Nummer wurde ihm in Theresienstadt zugeteilt – und der Zugnummer ‚Da 520’ mit 1287 oder 1288 Menschen den Hauptbahnhof von Darmstadt. Waren die Mainzer Juden zuvor in der Goetheschule versammelt worden, so nutzte man in Darmstadt die dortige Liebigschule zu diesem Zweck. Die Juden aus Darmstadt und dem ehemaligen Volksstaat Hessen wurden noch in den bereits überfüllten, aus zwanzig Personenwagen bestehenden Zug mit Juden aus den verschiedensten Orten und Städten Rheinhessens gepfercht.[56]
Über die Zeit von Henriette Sichel in Theresienstadt liegen keine Informationen vor. Wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen die zumeist alten Menschen dort hausen mussten, wenn man die verschiedenen Transporte bedenkt, die das Lager Richtung Auschwitz verließen, dann grenzt es an ein Wunder, dass Henriette zu den 89 Menschen dieses Transports ‚XVII/1’ gehörte, die Theresienstadt überlebten.[57]
Im Juni 1945 veranlassten die amerikanischen Militärbehörden, die Überlebenden des KZs Theresienstadt mit einem Bus in ihre Heimatstadt Mainz zurückzuholen. Henriette Sichel war von dem KZ-Aufenthalt schwer gezeichnet. Über ein Jahr musste sie im Städtischen Krankenhaus um ihr Überleben kämpfen. Es war nicht der einzige Kampf, den sie nach ihrer Rückkehr führen musste. Aller Habe beraubt, ohne eigenes Einkommen und 70 Jahr alt musste sie über vier Jahre sich mit den Behörden um die ihr zustehenden Mieteinnahmen aus dem ihr entzogenen Haus streiten, bis sie wenigstens einen Teil erhielt. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie mit Geldern der Fürsorge, die ihr über die „Organisation Internationale les Refugiés“ bewilligt wurden. Im Begleitbrief zum entsprechenden Antrag beschrieb sie knapp ihr Schicksal, brachte aber auch zum Ausdruck, wie sehr sie sich in diesem Land immer noch als Fremde fühlte bzw. behandelt würde:
“I. Ich bin jüdischer Abstammung.
II. Ich habe nicht die Absicht auszuwandern.
III. Bin Mainzerin, habe stets in Mainz gewohnt, bis ich nach Theresienstadt 1942 verschleppt wurde bis 11.7.45
Die deutsche Staatsangehörigkeit besitze ich, meine Ahnen haben dieselbe besessen, nie in einem anderen Staat gelebt.
Wollen Sie bitte gütigst dies zur Kenntnis nehmen.“
[58]
Die Rückkehrer aus den Konzentrationslagern waren zu Hause oft nicht sehr willkommen, waren sie doch die permanente Konfrontation mit dem eigenen Versagen, mit der eigenen Schuld. Aber sie fand in Mainz wenigstens ihre alte Freundin Elisabeth Bohne wieder und beide zogen auch wieder gemeinsam nach Gonsenheim in die Ernst-Ludwigstr. 55, der heutigen Gerhart-Hauptmann-Straße.[59] Henriette Sichel verstarb am 28. Juni 1961 in Mainz.[60] Im Oktober 2018 wurde zu ihrem Gedenken in Mainz-Gonsenheim in der Jahnstr. 36, wo sie zusammen mit ihrer Freundin gelebt hatte, ein Stolperstein verlegt.[61]

Auch ihre am 21. Oktober 1876 geborene Schwester Thekla Sichel gehörte zu den Überlebenden des Holocaust,[62] aber dennoch fiel sie ihm zum Opfer. Sie ist auch in keiner der gängigen Opferlisten aufgeführt, weder in Yad Vashem, noch im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz. Sie wurde zum Opfer, nachdem nahezu alles vorbei war – scheinbar.
Anders als ihre Schwester Henriette, mit der sie das väterliche Geschäft bis in die dreißiger Jahre geführt hatte, wurde sie nie deportiert. Ob sie in der Zeit der NS-Herrschaft inhaftiert, belästigt oder auch nur diskriminiert wurde, ist nicht bekannt. Sie hatte am 23. Dezember 1922 in Mainz den evangelischen Arzt Dr. Georg David Wilhelm Heinrich Hölzer geheiratet [63] und stand während der NS-Zeit damit unter dem „Schutz“ sogenannter „privilegierter Mischehen“.[64] Dennoch wird angesichts der Bekanntheit der Familie Sichel nicht nur den Behörden, sondern auch den Menschen vor Ort in der Mainzer Stiftstraße bekannt gewesen sein, dass dessen Frau Thekla Jüdin war. Vermutlich arbeitete sie in der Praxis ihres Ehemanns mit, denn ihr Beruf ist in einem von ihrer Schwester Julie Feudner ausgefüllten Suchformular als Röntgen-Technikerin angegeben.[65] Wie lange das möglich war, ist allerdings nicht bekannt. Überhaupt weiß man bisher wenig über ihr Leben während der NS-Diktatur. Deswegen kann man auch nur mutmaßen, was Thekla Hölzer veranlasste, nur wenige Tage vor der Befreiung von Mainz durch die amerikanischen Truppen sich noch das Leben zu nehmen. Am 7. März 1945 verstarb sie in Stadtkrankenhaus in Mainz, nachdem sie zuvor eine Überdosis Veronal eingenommen hatte.[66] Die letzten Wochen vor der Befreiung müssen schrecklich gewesen sein, die Bombardierung von Mainz durch die britische Luftwaffe Ende Februar, durch die die Stadt in ein einziges Ruinenfeld verwandelt wurde, die Ermordung sowjetischer Fremdarbeiter im Mombacher Sand, aus Volkssturmeinheiten gebildete Erschießungskommandos, die diejenigen liquidierten, die die anrückenden amerikanischen Truppen mit weißen Fahnen empfangen wollten. Und auch die letzten 50 Mainzer Juden, die als Partner in Mischehen bisher überlebt hatte, waren selbst jetzt nicht mehr ihres Lebens sicher. Eigentlich hatten sie noch in letzter Minute deportiert werden sollen. Nur die Luftangriffe der Briten hatten das glücklicherweise dadurch verhindert, dass die vorbereiteten Deportationslisten in dem Flammenmeer verbrannten. Die Gefahr blieb wohl dennoch allzeit gegenwärtig.
Wahrscheinlich hatte sich inzwischen auch in Mainz herumgesprochen, was mit den deportierten Juden geschehen war, dass sie nicht zu einem Arbeitseinsatz, sondern zur Vernichtung „evakuiert“ worden waren. Und drei ihrer Schwestern waren in die Züge gestiegen und sie hatte nichts mehr von ihnen gehört. Welche große Belastung es für die Überlebenden bedeutete, nicht selbst auch zu den Opfern zu gehören, ist aus vielen Biographien bekannt und viele haben noch Jahre später den Suizid als einzigen Ausweg aus dieser unverschuldeten „Schuld“ gesehen.
Hinzu kam wohl auch die schwere Erkrankung ihres Mannes, der an einer Herzkranzverkalkung litt und am 23. März nur wenige Tage nach ihrem Tod selbst starb. Vermutlich war der 64jährige außerdem gestürzt und in das Städtische Krankenhaus eingeliefert worden, denn im Todeseintrag sind auch Knochenbrüche als Todesursache vermerkt, wenngleich er daran sicher nicht verstorben wäre.[67]
Was letztlich ausschlaggebend für ihre Entscheidung war, muss ungewiss bleiben. Unmittelbar nach Kriegsende versuchte ihre Schwester Julie Feudner von Denver aus Klarheit über das Schicksal ihrer Schwester zu erlangen. Über das ‚National Council of Jewish Women’ suchte sie nach Thekla und Wilhelm Hölzer.[68] Im Februar 1946 erhielt sie die Nachricht, dass ihre Schwester Thekla auf einer in den USA veröffentlichten Liste der Überlebenden geführt würde,[69] erst 1948 erhielt sie die Nachricht über ihr wahres Schicksal.[70]

 

Von Joseph Sichel, dem Zweitjüngsten Kind, geboren am 5. Februar 1878, ist nur bekannt, dass er als Sechsunddreißigjähriger, ledig, am 1. Juli 1914 im Israelitischen Krankenhaus von Mainz verstarb.[71] Aus der in der Sterbeurkunde enthaltenen Berufsangabe „Kistenfabrikant“ ist zu schließen, dass er – vielleicht mit seinen beiden Schwestern – den väterlichen Betrieb übernommen hatte. Möglicherweise waren die Schwestern aber auch erst nach seinem Tod aktiv in die Führung der Schreinerei eingetreten.

 

Die jüngste Tochter von Moses und Fanny Sichel, Johanna, ist die einzige der vielen Kinder, die ihr Leben in einem Konzentrationslager verlor. Geboren am 5. April 1879,[72] hatte sie nach ihrer Schulzeit eine akademische Bildung erlangt und war Lehrerin geworden. Seit 1906 war sie an der Höheren Mädchenschule in Mainz angestellt, wo sie die Fächer Englisch, Deutsch und Französisch unterrichtete. Wie einige ihrer Geschwister wandte auch sie sich im Laufe ihres Lebens von ihrer religiösen jüdischen Tradition ab, konvertierte zu Christentum und trat 1919 in die katholische Kirche ein. Bis dahin hatte sie an ihrer Schule auch Unterricht in jüdischer Religion erteilt. Trotz dieses Übertritts wurde sie am 1. Juli 1933 von den Rasseideologen aus dem Schuldienst entfernt, zunächst vorläufig, aber am 5. Februar 1934 versetzte die Behörde sie dann in den endgültigen Ruhestand.[73]
Bereits für die erste große Deportation aus Mainz, die um den 25. März 1942[74] von Darmstadt aus etwa 1000 Menschen, darunter knapp 470 aus Mainz, in das Ghetto Piaski brachte, war sie ausgewählt worden. Die Turnhalle der Feldbergschule diente diesmal als erste Sammelunterkunft. Mit einem Koffer, in dem die wenigen Habseligkeiten und ein paar Erinnerungen verborgen waren, 50 RM und dem Schild mit ihrem Namen und ihrer Kennnummer bestiegen die Menschen am Mombacher Güterbahnhof den Zug mit der Nummer ‚Da 14’, der sie zunächst nach Worms brachte, wo weitere 90 Juden zustiegen. Anschließend wurden die in Darmstadt gesammelten Juden aus der Stadt bzw. der Umgebung aufgenommen, um die vom RSHA vorgegebene Sollstärke von 1000 Menschen zu erreichen. Als der Zug endlich sein Ziel, das Ghetto von Piaski, östlich von Lublin gelegen, erreichte, musste schon eine große Zahl tot aus den Waggons herausgeholt werden. Piaski war ein Ort des Todes. Nicht nur waren vor Ankunft der Transporte aus dem „Altreich“ etwa 3000 der dort ursprünglich lebenden polnischen Juden in die nahe gelegenen Vernichtungslager gebracht worden, auch die Neuankömmlinge vegetierten hier unter den schlimmsten Verhältnissen, gepeinigt von Hunger und Kälte. Im Frühjahr 1943 wurde das Ghetto aufgelöst und diejenigen, die das vergangene Jahr überlebt hatten, wurden jetzt ebenfalls zur Vernichtung nach Majdanek, Sobibor oder Belcec gebracht.

Synagogengasse Mainz
Die Lehrerin Johanna Sichel im Hintergrund stehend
Mit Genehmigung des Stadtarchivs Mainz

Wo Johanna Sichel starb, ist nicht bekannt. Sie blieb verschollen, wäre vielleicht sogar vergessen worden, hätte nicht Anna Seghers, Jahrzehnte bevor man überall in Deutschland begann, nach den Namen und dem Schicksal der ehemaligen jüdischen Mitbürger zu forschen, bevor Stolpersteine in die Bürgersteige vor ihren Wohnungen eingelassen wurden, ihr ein Denkmal ganz anderer Qualität errichtet, nämlich ein literarisches. In ihrer wohl berühmtesten, sehr komplex konstruierten Erzählung ‚Der Ausflug der toten Mädchen’ spielt die Lehrerin Johanna Sichel eine zentrale Rolle. Sie ist eine der beiden Lehrerinnen, die eine Gruppe von Schülerinnen aus Mainz bei einem Ausflug an den Rhein begleitete. Die unterschiedlichen Schicksale dieser Mädchen und ihrer Lehrerinnen, werden in einer Art Traumreportage erzählt, in der die verschiedensten zeitlichen Ebenen – Exil in Mexiko, Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und NS-Zeit – assoziativ miteinander verwoben werden. Die Erzählerin weiß um das, was den einzelnen passieren wird, welchen Verrat sie begehen, welchen Tod sie sterben werden. Aber es bleibt das Erstaunen darüber, wie all das geschehen konnte, waren sie damals bei diesem Ausflug doch die besten Freundinnen, war Frau Sichel doch ihre liebste Lehrerin:

„Ich hörte eine Weile das Gestreite, wo die jüngere Lehrerin, Fräulein Sichel, die gerade aus dem Gasthaus trat, sich am besten setzen könnte. Die Dunstwolke verschwebte von meinen Augen, sodass ich Fräulein Sichel genau erkannte, die frisch und hell gekleidet einherkam wie ihre Schülerinnen. Sie setzte sich dicht neben mich, die hurtige Nora schenkte ihr, der Lieblingslehrerin, Kaffee ein: In ihrer Gefälligkeit und Bereitschaft hatte sie Fräulein Sichels Platz sogar geschwind mit ein paar Jasminzweigen umwunden.

Regina Beck, Regina Sichel, Rhekla Sichel, Wilhelm Heinrich Hölzer, Oberamtsrichter von Rhein,Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Cover der aktuellen TB-Ausgabe von Anna Seghers Erzählband „Der Ausflug der toten Mädchen“ im Athenäum-Verlag

Das hätte die Nora sicher, wäre ihr Gedächtnis nicht ebenso dünn gewesen wie ihre Stimme, später bereut, als Leiterin der nationalsozialistischen Frauenschaft unserer Stadt. Jetzt sah sie mit Stolz und beinahe sogar mit Verliebtheit zu, wie Fräulein Sichel einen von diesen Jasminzweigen in das Knopfloch ihrer Jacke steckte. Im ersten Weltkrieg würde sie sich noch immer freuen, dass sie in einer Abteilung des Frauendienstes, der durchfahrende Soldaten tränkte und speiste, die gleiche Dienstzeit wie Fräulein Sichel hatte. Doch später sollte sie dieselbe Lehrerin, die dann schon greisenhaft zittrig geworden war, mit groben Worten von einer Bank am Rhein her unter jagen, weil sie auf einer judenfreien Bank sitzen wollte. Mich selbst durchfuhr plötzlich, da ich dicht neben ihr saß, wie ein schweres Versäumnis in meinem Gedächtnis, als ob ich die höhere Pflicht hätte, mir auch die winzigsten Einzelheiten für immer zu merken, dass das Haar von Fräulein Sichel keineswegs von jeher schneeweiß war, wie ich es in Erinnerung hatte, sondern in der Zeit unseres Schulausfluges duftig braun, bis auf ein paar weiße Strähnen an ihren Schläfen. Es waren ihrer jetzt noch so wenig weiße, dass man sie zählen konnte, doch mich bestürzten sie, als sei ich zum ersten Mal heute und hier auf eine Spur des Alters gestoßen. Alle übrigen Mädchen an unserem Tisch freuten sich mit Nora über die Nähe der jungen Lehrerin, ohne zu ahnen, dass sie später das Fräulein Sichel bespucken und Judensau verhöhnen würden.“[75]

Am Ende des Ausflugs wandte – so erzählt Anna Seghers – Johanna Sichel sich an sie und gab ihr „mit blanken grauen Augen“ den Auftrag für die nächste Deutschstunde eine Beschreibung des Schulausflugs zu machen. Der Weg zurück vom Anleger zum Haus ihrer Eltern, wo die Mutter bereits auf sie wartete, durch die Straßen, von denen sie wusste, dass sie nur noch Ruinen waren, die aber doch noch genau so standen, als habe es den Krieg nie gegeben – ein Weg, auf dem alle ihre Schulkameradinnen noch einmal nebelhaft auftauchten, so wenig wirklich wie die Gebäude, die die Straßen der zerbombten Stadt säumten.

„Ich war durch und durch müde, sodass ich froh war, endlich vor dem Haus zu stehen. Nur kam es mir unerträglich schwer vor, die Treppe hinaufzusteigen. Ich sah bis zum zweiten Stock hinauf, in dem unsere Wohnung lag. Meine Mutter stand schon auf der kleinen, mit Geranienkästen verzierten Veranda über der Straße. Sie wartete schon auf mich. Wie jung sie doch aussah, die Mutter, viel jünger als ich. Wie dunkel ihr glattes Haar war, mit meinem verglichen. Meins wurde ja schon bald grau, während durch ihres noch keine sichtbaren grauen Strähnen liefen. Sie stand vergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war.“

Im gleichen Zug nach Piaski, in dem Johanna Sichel in den Tod fuhr, saß auch die Mutter von Anna Seghers, Hedwig Reiling.[76]

Wieder zurück in die Zeit des mexikanischen Exils, wo die Geschichte niedergeschrieben wurde, erinnert sie sich ihrer Aufgabe: „Plötzlich fiel mir der Auftrag meiner Lehrerin wieder ein, den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute Abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.“[77] Für Anna Seghers wurde dieser Auftrag, der weit mehr umfasste als diesen Tag am Rhein, zu ihrer Lebensaufgabe.

 

Den schweren Gang in ein Konzentrationslager, den ihre jüngere Schwester Johanna gegangen war, wollte Regina Sichel, die Eigentümerin des Judenhauses in Wiesbaden, nicht mehr auf sich nehmen. Als Ende August 1942 dort die Deportationslisten für den letzten großen Transport bekannt wurden, beschloss sie aus einem Leben zu scheiden, das ihr schon in den letzten Jahren nur noch eine einzige Drangsal war.
Regina Beck war am 21. Mai 1868 als sechstes Kind von Moses und Fanny Sichel geboren worden. Auch sie hatte zunächst, wie alle ihre älteren Geschwister, die „Bondi-Schule“ in Mainz besucht, ob sie anschließend noch einen Beruf erlernte, ist nicht bekannt. Auf ihrer Gestapokarteikarte steht „ohne Beruf“, aber das heißt nur wenig. Als sie am 4. März 1893 ihren Ehemann Julius Beck in Mainz heiratete, war sie 24 Jahre alt. In der Urkunde wird er als „Geschäftsreisender“ bezeichnet.[78] Damals lebt er in der Parcusstr. 9, sie noch in der Margarethengasse 10. Auch die nächsten Jahre verbrachten sie gemeinsam in Mainz. Nach ihrem Umzug nach Wiesbaden im Jahr 1911 erscheinen sie erstmals im dortigen Adressbuch des Jahres 1912[79] für zwei Jahre mit der Adresse Moritzstr. 28 III. Stand hier bei Julius Beck noch die allgemeine Berufsbezeichnung Kaufmann, so erfährt man nach dem erneuten Umzug in Jahr 1914 aus dem Eintrag, welche Profession er genau ausübte. Zwar blieben sie in derselben Straße, mieteten hier aber in der Nr. 43 eine Wohnung im zweiten Stockwerk und dazu eine Fläche im Hinterhaus, wo offensichtlich die Geschäftsräume ihrer Schuhwarengroßhandlung angesiedelt waren.  Im Adressbuch des Jahres 1924 sind sie erstmals als Bewohner ihres 1920 erworbenen Hauses in der Herrngartenstraße eingetragen.[80]

Die Steuerakten des Paares bzw. der Firma sind nur mehr zum Teil erhalten und enthalten nur wenige Daten aus den frühen dreißiger Jahren. So wurde für das Jahr 1931 ein Gesamtrohvermögen von 35.866 RM festgestellt, wovon aber 33.500 RM den Wert des Hausgrundstücks ausmachten und nur 2.366 RM auf das Betriebsvermögen entfielen. Julius Beck selbst wurde darin auch nicht mehr als Schuhgroßhändler, sondern als Lederabfallhändler bezeichnet.[81] Offensichtlich hatte die Weltwirtschaftskrise auch das Geschäft der Becks mit in ihren Strudel gerissen. Spätestens nachdem Julius Beck am 20. Juli 1935 verstarb,[82] wird das Geschäft aufgegeben worden sein. Die Witwe hatte in den folgenden Jahren nur noch Einnahmen aus der Vermietung ihres Hauses, das ihr inzwischen vollständig übertragen worden war.[83] 1937 beliefen sich diese auf rund 4.800 RM, allerdings fielen auch Kosten für Steuern und Unterhaltung des Hauses an, sodass ihr zu versteuerndes Einkommen in diesem Jahr nur 1.171 RM, also weniger als 100 RM pro Monat betrug.[84] Sie lebte schon damals, obwohl Hauseigentümerin, unzweifelhaft in sehr ärmlichen Verhältnissen.

Ende 1938 wurde mit der Einforderung der sogenannten Judenvermögensabgabe die Situation noch prekärer. Laut dem Berechnungsbogen zu dieser Sondersteuer, in dem nach möglichen Abzügen ein Restvermögen von 26.000 RM zugrunde gelegt worden war, wurde von ihr die Zahlung von insgesamt 5.200 RM in vier Raten verlangt.[85] Wie sie das Geld für die ersten Raten aufgebracht hatte, ist den Unterlagen nicht zu entnehmen,[86] spätestens bei der vierten Rate über 1.300 RM wusste sie sich keinen Rat mehr und bat das Finanzamt um Stundung der Forderung:
“Ich kann meine letzte Vermögensabgabe mit RM 1277,82 nicht sofort in ihrer vollen Höhe entrichten, sondern nur RM 677,82,welchen Betrag ich bei der Reichsbank hier gleichzeitig eingezahlt habe. Durch die bisherigen Zahlungen sind alle meine mir zu Gebote stehenden Mittel völlig erschöpft, zumal meine Einnahmen aus meinem Hause Herrngartenstraße 11 ganz außerordentlich zurückgegangen sind, wie aus meiner Einkommensteuererklärung ersichtlich ist. Ich stehe im 72. Lebensjahr und habe meine Steuern seither auf das pünktlichste entrichtet.“[87] Sie war sogar bereit, den gestundeten Betrag im Grundbuch abzusichern. Der Vermerk des Sachbearbeiters, „Ist erledigt durch Zahlung der Mieteinziehung“ ist leider undatiert, aber es scheint so, als habe man Regina Beck einfach die Mieteinnahmen gepfändet und damit ihrem Lebensunterhalt noch weiter eingeschränkt. In einem weiteren Versuch vom November 1939, ihr die nächste fällige Zahlung zu stunden, wies sie darauf hin, dass ihr „zum Lebensunterhalt nicht genug verbleibt“, sie deshalb „gezwungen war einen Teil (ihrer) Wohnung abzugeben“. Auch sei sie wegen des geringen Einkommens von der Einkommensteuer befreit. In Anbetracht ihres hoben Alters sei es ihr auch unmöglich, einer Erwerbsarbeit nachzugehen.[88] Auch diesem Gesuch wurde nicht stattgegeben. Als im nächsten Jahr die zusätzliche fünfte Rate eingefordert wurde, hatte man Regina Beck beim Finanzamt vorgeladen und ihr ein Ultimatum unterbreitet, wie sie diese weitere Forderung begleichen könne:
“Es ist mir eröffnet worden, daß die Judenverm. Abgabe 5. Rate gezahlt werden muß. Ich bin damit einverstanden, daß bis zur endgültigen Tilgung die Einkünfte aus dem Grundstück Herrngartenstr. 11 nach Abzug der Steuern u. Hypothekenzinsen dem Finanzamt zur Verfügung stehen. Reparaturkosten müssen zurückgestellt werden, ausgenommen Wasserschäden.“ Darunter ihre Unterschrift und die des Steuer-Inspektors Engelhard.[89]

Bereits vor der Finanzkontrolle, die hier vom Finanzamt bezüglich der Mieteinnahmen verfügt worden war, hatte schon im Februar 1940 die Devisenstelle in Frankfurt eine Sicherungsanordnung erlassen, durch die Regina Beck die Verfügung über ihre Finanzen generell entzogen worden waren. Alle Ausgaben und Einnahmen, auch die Miete, mussten über dieses gesicherte Konto abgewickelt werden.[90] In der damit verbundenen Vermögenserklärung gab sie an, nach Abzug der auf dem Haus liegenden Hypotheken ein Vermögen von 21.500 RM zu besitzen. Ihr Jahreseinkommen bezifferte sie nun auf 550 RM, ihren monatlichen Bedarf auf 140 RM. Wie sie die Differenz zwischen Einkommen und Lebenshaltungskosten ausglich, blieb offen. Sie verwies nur darauf, dass sie mittags unentgeltlich bei ihrem Bruder essen könne.[91] Es muss sich dabei um Bertrand Sichel gehandelt haben, der aber ein halbes Jahr, nachdem sie das Formular ausgefüllt hatte, verstarb. Ihr Freibetrag wurde vor dem Hintergrund ihrer Ausgaben am 14. Februar 1940 von den zunächst gewährten 300 RM auf 150 RM reduziert.[92]

Dieser Brief an Regina Beck ist das letzte Lebenszeichen, das sich von ihr in den Akten befindet. Auch zur Umgestaltung des Hauses in ein Judenhaus, womit genau zu diesem Zeitpunkt begonnen wurde, liegen keine Briefe, Notizen oder andere Dokumente der Hauseigentümerin selbst vor. Seit Mitte der 30er Jahre hatte es unter den Mietern bis 1938 keine Veränderung mehr gegeben. Die kleinere Erdgeschosswohnung im Vorderhaus war an einen Angestellten namens Baumgarten vermietet, im ersten Stock wohnte neben Regina Beck noch der jüdische Textilvertreter Julius Homberger und in der darüber liegenden Etage der Witwer Theodor Vaupel. Das Hinter- bzw. Gartenhaus war von ebenfalls vier Mietparteien belegt, einfachen Arbeitern, einem Rentner und der jüdischen Verkäuferin Auguste Stein. Auch im Jahr 1939 scheinen sich noch keine wesentlichen Veränderungen ergeben zu haben. Aber ab 1940 wurde das Haus gefüllt. Mindestens 16 Personen zogen ein, im folgenden Jahr dann nur noch 5, aber dann 1942 wieder 14. Bei weiteren 14 Personen sind die Ein- bzw. Auszugsdaten nicht klar, bei manchen ist sogar unklar, ob sie überhaupt in diesem Judenhaus gewohnt hatte. Ihr Name erscheint dann einmal auf einer Liste oder Notiz eines Blockwarts mit dieser Adresse, aber andere Belege fehlen. Natürlich haben nicht alle Personen zur gleichen Zeit im Haus gewohnt, manche zogen um, einige verstarben, aber keinem gelang es noch, aus diesem Haus sein Leben zu retten. In der Zeit zwischen Ende 1939 und Herbst1942, in der das Haus als Judenhaus fungierte, wohnten aber nicht ausschließlich Juden dort. In den Mietunterlagen aus der Zeit nach den Deportationen sind zumindest zwei Mietparteien aufgeführt, die bereits vor 1939 dort wohnten, die all die Monate das Leid ihrer Mitbewohner und auch deren Abtransport unmittelbar wahrgenommen haben müssen. Selbst die Herrngartenstr. 11 mit all den vielen hier zusammengepferchten Juden war also nie ein reines Judenhaus.
Die meisten jüdischen Bewohner wurden 1942 in die Vernichtungslager deportiert, 14 am 10. Juni nach Lublin / Sobibor, 22 am 1. September nach Theresienstadt. Nicht bei allen konnte das Schicksal mit Sicherheit geklärt werden. Regina Beck gehörte zu denjenigen, die mit dem großen Transport Anfang September nach Theresienstadt verbracht werden sollte. Am 28. August, ein Tag bevor sich die gelisteten Juden in der Sammelstelle Friedrichstr. 33, der orthodoxen Synagoge, einfinden sollten, wurde sie am Morgen um 6.00 Uhr tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Sie hatte, wie viele andere in diesen Tagen auch, mit Gift ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt.[93]

Nicht erst mit ihrem Tod begannen die Auseinandersetzungen um die hinterlassenen Vermögenswerte, d.h. im Wesentlichen darum, wer das ehemalige Judenhaus erhalten und nutzen durfte. Im Allgemeinen war das bei Deportierten kein großes rechtliches Problem, hatte sich der Staat am 25. November 1941 mit der ‚Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz’ doch ein Instrument geschaffen, mit dem er sich problemlos solch einen Besitz aneignen konnte. Jedem Juden, der „seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland“ genommen hatte, konnte die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden, womit zugleich die hinterlassenen Vermögenswerte dem Deutschen Reich verfielen. Ob dieser „gewöhnliche Aufenthalt“ freiwillig, durch Flucht oder aber durch Deportation erzwungen war, spielte in der Verordnung keine Rolle. Somit war eine bestätigte „Evakuierung in den Osten“ hinreichend für einen solchen Vermögensverfall. Als aber immer öfter die Juden sich der Deportation durch die Flucht in den Tod entzogen, musste eine Regelung geschaffen werden, die die Aneignung auch deren Habe ermöglichen würde. Eine solche Anweisung erhielt die zuständige Liegenschaftsstelle des Wiesbadener Finanzamts am 11. September 1942 von der Frankfurter Gestapoleitstelle unter dem Betreff:
„Beschlagnahme des Vermögens derjenigen Juden, die nach der Bekanntgabe ihrer für den 1.9.1942 vorgesehenen Evakuierung verstorben sind.
Auf Grund des § 1 der VO [Verordnung] des Herrn Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 25.2.1933 beschlagnahme ich hiermit mit Wirkung vom 1.8.1942 die gesamten inländischen Vermögenswerte folgender Juden, die nach Eröffnung der Evakuierungsvfg. verstorben sind:“

Es folgen in alphabetischer Reihenfolge die 35 Namen derjenigen, die sich allein in Wiesbaden das Leben nahmen, bevor sie am 1. September zum Besteigen des Zuges gezwungen werden konnten, darunter Regina Beck mit der Nummer 7.[94]
Am 1. September teilte die Verwalterin des Hauses, eine Frau Küchle, dem Finanzamt Wiesbaden den Tod der Eigentümerin mit. Sie wisse aber nicht, ob Erben vorhanden seien.[95] Am 23. September 1942 wurde diese Information von der Liegenschaftsabteilung im Finanzamt an die Devisenstelle nach Frankfurt weitergeleitet.[96] Zu diesem Zeitpunkt wusste man allerdings bereits, dass es einen solchen Erben gab. Wie sich aus einer Aktennotiz beim Finanzamt Wiesbaden ergibt, hatte sich dort bald nach dem Tod von Regina Beck Dr. Heinrich Wilhelm Hölzer, der nichtjüdische Schwager von Regina Beck, gemeldet:

Regina Beck, REgina Sichel, Rhekla Sichel, Wilhelm Heinrich Hölzer, Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Notiz des Finanzamts Wiesbaden über das Testament von Regina Beck
HHStAW 519-2 2099 I 14

“Unaufgefordert erscheint der Dr. med. Heinrich Hölzer, Mainz, Stiftstr. 7 und legt ein Testament seiner Schwägerin Regina Sara Beck vor. Das Testament lautet:
Wiesbaden
Den zwanzigsten Juli Eintausendneunhundertsechsundreißig
Mein letzter Wille.
Durch dieses, mein eigenhändig geschriebenes Testament setze ich meinen Schwager Doktor Heinrich Hölzer, Mainz, als Universalerben ein.
gez. Frau Regina Beck, geborene Sichel“
Die Aktennotiz selbst war angefertigt am 18. September 1942.[97]

Über dieses Testament hatte man sich behördlicherseits einfach hinweggesetzt und die Aneignung der Immobilie zugunsten des Staates in die Wege geleitet. Allerdings war die in dem Rundschreiben der Gestapo genannte Variante der Enteignung die umständlichere Form, nämlich diejenige, die vor den Deportationen angewendet worden war und einen größeren Verwaltungsaufwand erforderte. Der Vermögenseinzug des „volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ musste zwei Wochen öffentlich ausgehängt werden, um Rechtskraft zu erlangen. Am 26. Oktober 1942 bestätigte der Regierungspräsident Wiesbaden, dass dies geschehen und der Vermögenseinzug damit gültig sei.[98] Offensichtlich hatte sich Dr. Hölzer inzwischen an das Nachlassgericht gewendet, aber von diesem nur erfahren, dass „das Vermögen der Erblasserin von der Geheimen Staatspolizei beschlagnahmt“ worden sei und endgültig dem Deutschen Reich verbleibe.[99] Dem war aber nicht so. Die ganze Angelegenheit blieb über Monate in der Schwebe. Ende September 1943 wandte sich der Oberfinanzpräsident Kassel an die Wiesbadener Liegenschaftsstelle und stellte fest, dass allein mit dem Tod von Frau Beck die Liegenschaft noch nicht dem Reich verfallen sei. Das Vermögen müsse als „volks- und staatsfeindliches Vermögen … eingezogen werden. Eine Einziehung ist nicht erforderlich, wenn nach dem Tod noch erbberechtigte Personen im Inland waren und das Vermögen dieser Personen aufgrund der elften Verordnung dem Reich verfallen oder durch Einziehungsverfügung zu seinen Gunsten eingezogen worden ist.“ [100] Das Finanzamt Wiesbaden solle überprüfen, ob dies der Fall sei und gegebenenfalls einen solchen Antrag auf Einziehung beim Regierungspräsidenten stellen. Man hatte vermutlich gehofft, dass der Erbe ein inzwischen abgeschobener Jude war, womit sich das Problem erledigt hätte. Dies war aber nicht der Fall, denn Dr. Hölzer war – um im Sprachgebrauch der Nazis zu bleiben – zwar jüdisch versippt, aber dennoch arisch. Genau deswegen hatte Regina Beck den Mann ihrer Schwester Thekla zum Alleinerben gemacht. Im Dezember 1943 bat der Vorsteher des Finanzamts Trommershausen das Nachlassgericht zur Klärung der Angelegenheit, ihm die entsprechenden Testamentsakten zukommen zu lassen.[101] Wie wenig man sich um das in der Akte sicher enthaltene Testament scherte, zeigt der Vermerk vom 27. Dezember 1943. Es heißt darin, dass aus der Testamentsakte nichts zu entnehmen sei, außer dass das Vermögen der Erblasserin von der Gestapo zugunsten des Reichs beschlagnahmt worden sei. Zugleich wurde die Liegenschaftsstelle beauftragt, die Umschreibung des Hausgrundstücks auf das Deutsche Reich zu beantragen, was am 10. Januar 1944 auch geschah. [102]

Beim Oberfinanzpräsidenten in Kassel war man sich der Beute schon sicher und hatte bereits die Wiesbadener Liegenschaftsstelle beauftragt, genaue Berechnungen der Wohnungen und deren Wert anzufertigen und diese in vierfacher Ausfertigung nach Kassel zu übermitteln. Mehrere Seiten mit genauen Angaben zu den Wohnungen und auch die entsprechenden Planzeichnungen sind in der Akte erhalten geblieben.[103]

Regina Beck, Regina Sichel, Rhekla Sichel, Wilhelm Heinrich Hölzer, Oberamtsrichter von Rhein,Judenhaus Herrngartenstr. 11, Wiesbaden
Intervention des Oberamtsrichters Dr. Schmidt-von Rhein
HHStAW 519/2 2099 I (18)

Bei dem Umschreibungsbegehren für das Grundbuch geriet das Finanzamt wieder an den Oberamtsrichter Dr. Schmidt-von Rhein, der auch in anderen Fällen sich als Sand im Getriebe der NS-Staatsbürokratie erwiesen hatte.[104] Auch diesmal hatte er rechtliche Einwände gegen die Umschreibung:

„Die Jüdin Regina Sara Beck ist bereits am 28.8.1942 verstorben. Die Einziehung erfolgte am 9.10.1942, konnte sich also nicht mehr gegen die Verstorbene richten, sondern musste sich gegen deren Erben richten. Ebenso muss die Zustellung bezw. Bekanntmachung dementsprechend auch gegen die Erben erfolgen. Das ist aber nicht geschehen, demzufolge entbehrt die Einziehung vom 9.10.1942 der Rechtsgrundlage. Daran ändert auch die Beschlagnahme durch die Gestapo vom 11.9.1942 nichts, da sie nur eine Verfügungsbeschränkung, aber keine Einziehung bedeutet.“[105]
Nach diesem Einwand war das Finanzamt gezwungen, beim Regierungspräsidenten die Einzugsverfügung am 4. April 1944 auch auf die Erben auszudehnen zu lassen. Der Regierungspräsident war dazu aber nicht bereit, weil nach seiner Ansicht die „Einziehung des gesamten Vermögens der Witwe Beck, das ihr zur Zeit ihres Todes gehörte“ auch ihr „gesamtes Nachlassvermögen bzw. auf das aus dem Nachlass stammende Vermögen ihrer Erben“ bei der Verfügung einbezogen gewesen sei.[106] Die Antwort des Oberamtsrichters erfolgte am 5. Mai zwar in gedrechseltem Amtsdeutsch, inhaltlich aber dennoch klar: „Der dortigen Ansicht kann hier nicht beigetreten werden. (…) Falls die Ergänzung nicht erfolgt, muß ich den Antrag des Finanzamts zurückweisen.“[107] Der Regierungspräsident gab nach, eine neue Einzugsverfügung wurde ausgestellt und vom 10. bis zum 24. Mai 1944 im Regierungsgebäude in Wiesbaden in der Luisenstr. 13 ausgehängt. Am 6. Juni 1944, fast zwei Jahre nach dem Tod von Regina Beck und nur wenige Monate vor der Kapitulation Deutschlands erfolgte dann tatsächlich die Umschreibung des ehemaligen Judenhauses auf das Deutsche Reich.[108]

 

Unabhängig von der offenen Eigentumsfrage hatte das Finanzamt Wiesbaden über den gesamten Zeitraum dennoch bereits die Verwertung der Immobilie übernommen und die Verwalterin mit der Herrichtung der ehemaligen „Judenwohnungen“ und mit der Akquisition neuer Mieter beauftragt. Zunächst hatte die aber vom Finanzamt eine Begleichung des dreimonatigen Mietausfalls für die deportierten Juden angemahnt, da die Wohnungen nicht geräumt und somit auch nicht hätten vermietet werden können.[109] Natürlich flossen diese so verbuchten Mieteinnahmen – nach Zahlung anderer Kosten wie Steuern, Wasser usw. – wieder an die Verwertungsstelle im Finanzamt zurück.
Die Rechnungen über die durchgeführten Renovierungsarbeiten lassen erkennen, wie weit die antisemitischen Vorurteile und Stereotypen im Bewusstsein der Bevölkerung inzwischen verankert waren. So heißt es etwa in einer Rechnung des Anstreichers Nicolai , um deren Höhe zu legitimieren, dass „die Judenwohnungen dermaßen verwahrlost (waren), dass die Leimfarbenanstriche von Decken und Wänden mehrmals wiederholt“ werden mussten und eine „vollständige Überholung des verschmutzten und verbrauchten Holzwerkanstrichs von Türen, Fenstern und Fußböden“ notwendig gewesen sei. Man habe „den gesamten Judenschutt, Steine und Gerümpel im Hofe und vom Keller aufgeladen und fortgefahren“, um einer Verschleppung von Ungeziefer in die neu hergerichteten Wohnungen vorzubeugen.[110] Am 29. Dezember 1942 das Finanzamt, „nachdem in dem ehemaligen Judenhaus, das dem Reich verfällt, Herrngartenstr. 11 I. Stock, das Vorhandensein von Wanzen festgestellt worden ist“, schon einem Kammerjäger den Auftrag erteilt „die Entwesung der ganzen Wohnung“ vorzunehmen.[111] Die Frage, wieso Menschen, die zuvor immer in wohlgeordneten Verhältnissen gelebt hatten, auf einmal in solchen Wohnungen, in Schmutz und mit Ungeziefer hausten, wurde selbstverständlich nicht gestellt.

Was die Verwertung des Hausgrundstücks anbelangt, so gab es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: den Verkauf oder die weitere Vermietung, wobei letztere wiederum verschiedene Optionen beinhaltete.
Im Hinblick auf einen möglichen Verkauf hatte sich bereits am 14. April 1942 – also mehr als vier Wochen vor der ersten größeren und fast ein halbes Jahr vor der Deportation, bei der die Eigentümerin „evakuiert“ werden sollte – ein Anton Riegel, Nachbar und Besitzer einer ‚Konditorei-Bedarfsartikel-Großhandlung’, bzw. seine Frau beim Finanzamt gemeldet und ihr Interesse an dem Haus bekundet:
“Wie ich hörte soll demnächst das Hausgrundstück, Wiesbaden, Herrngartenstr. 11, welches heute noch im jüdischen Besitz ist zum Verkauf kommen. Ich bitte höfl. um Mitteilung, ob diese Angaben der Richtigkeit entsprechen und bitte gegebenenfalls mir evtl. die dem Kaufvertrag, der durch das Finanzamt getätigt werden soll, unterliegenden Bedingungen bekannt zu geben.“ Ihr Mann sei seit drei Jahren an der Front, man habe große Teile des eigenen Hauses für Luftschutzzwecke freigeben müssen und deshalb nicht nur einen besonderen Bedarf, sondern wohl auch eine gewisse Berechtigung zum Erwerb des Hauses. Ganz offensichtlich war es ein offenes Geheimnis, was demnächst mit jüdischem Besitz, was vielleicht auch mit den Juden selbst geschehen würde. Das Finanzamt schreib zurück, sobald das Haus dem Reich verfallen und zum Verkauf gestellt sei, werde man ihr Gelegenheit zu weiteren Kaufverhandlungen geben.[112]
Dazu kam es nicht mehr. Zum einen sicher deswegen, weil die Eigentumsfrage über die ganzen Jahre in der Schwebe blieb, zum anderen aber auch, weil am 24. April 1942 die Verkaufssperre für die dem Reich verfallenen jüdischen Immobilien angeordnet wurde.[113] Stattdessen sollten die frei gewordenen Wohnungen wieder vermietet werden. Aber nicht normale volksdeutsche Wohnungssuchende, sondern ausschließlich Staatsbedienstete sollten in deren Genuss kommen. Selbst städtischen Beamten wurde ein Mietvertrag vom Oberfinanzpräsidenten verwehrt, allein Reichsbedienstete sollten nach dessen Willen die Berechtigung dazu erhalten.[114] Sehr strikt scheint man sich aber an diese Anweisung nicht gehalten zu haben, denn es wurden in der Folgezeit offensichtlich auch Mietverträge abgeschlossen, die der Hausverwalterin einige Probleme bereiteten. Zum einen hatte man wohl versehentlich eine sogenannte „Zigeunerfamilie“ aufgenommen – ein Problem, das man aber durch „Evakuierung“ schnell zu lösen wusste -,[115] zum anderen wohnte zuletzt eine Witwe dort, die durch „Redereien (…) die Ordnung und den Frieden des Hauses in erheblichem Masse gefährdet“ habe, so die übrigen Mieter in einem von allen unterzeichneten Schreiben an die Hausverwalterin.[116] Auch sie durfte die Wohnung nicht behalten. Ob diese „Redereien“ womöglich auch politischen Charakter gehabt hatten, ist dem Schreiben nicht zu entnehmen.

Abgesehen von diesen Streitigkeiten lebten die die neuen Mieter mit den beiden nichtjüdischen Vormietern wohl bis zum Ende des Krieges in dem ehemaligen Judenhaus, das inzwischen Eigentum des Deutschen Reichs war. Mit dem Einzug der amerikanischen Truppen verlor die bisherige Verwalterin, Frau Küchle, ihr Mandat, das dem Steuerberater August Heinzmann übertragen wurde.[117]
Am 20. Oktober 1950 wurde das Haus auf Antrag von Henriette Sichel an die Erben ihrer Schwester zurückerstattet. Das waren damals die noch lebenden
Berta Eisendörfer, wohnhaft in Denver USA,
Julie Feudner, wohnhaft ebenfalls in Denver USA,
Fanny Sichel-Becker und Miriam Koschmieder, die beiden Töchter von Julius Sichel, wohnhaft in San Francisco USA,
Eleonore und Franziska Sichel, Töchter von Robert Sichel, beide wohnhaft in Mainz
und Henriette Sichel, wohnhaft in Mainz-Gonsenheim.[118]

Entschädigungen und Rückerstattung waren angesichts der Tatsache, dass die Familie in alle Winde verstreut war, eine recht komplizierte und langwierige Angelegenheit. 1963 trennte sich die Familie von dem Haus in der Herrngartenstr. 11, das für so viele Wiesbadener Juden die letzte Station vor ihrer Deportation war.

 

Veröffentlicht: 13. 05. 2020

Letzte Änderung: 16. 07. 2020

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] HHStAW 519/2 2099 (2).

[2] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 91 Bl. 1374 Innen.

[3] Sterberegister Berlin Charlottenburg I 45 / 1899.

[4] Heiratsregister Mainz 21 / 1893.

[5] In dem 2013 erschienenen Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse für Regina Beck ist fälschlicherweise von nur sieben Kindern die Rede, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Beck-Regina.pdf. (Zugriff: 2.5.2020). In Leder, u.a., Ausgeplündert und verwaltet, S. 436, ist immerhin von zwölf Kindern die Rede. Aber auch diese Angabe ist nicht korrekt.

[6] Heiratsregister Mainz 289 / 1859. Auch die Eltern von Aron Moses Sichel, Moses Michel und seine Frau Caroline, geborne Bender, lebten in Mainz. Zumindest ist der 1768 geborene Aron Moses Sichel dort am 16.4.1829 auch verstorben. Seine Frau lebte von 1799 bis 1884. Nach dem Tod ihres wesentlich älteren Ehemanns war sie eine weitere Ehe mit einem Joseph Hirsch II eingegangen. Auch die Eltern von Moses Sichel dem älteren sind bekannt. Es waren Raphael Sichel, geboren 1740, und Kiefer Taub, geboren 1745. https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/6428319/person/172142811573/facts?_phsrc=ryV744&_phstart=successSource. (Zugriff: 2.5.2020).

[7] Zur Geschichte der Unterrichtsanstalt der Israelitischen Religionsgesellschaft zu Mainz, hg. von der Israelitischen Religionsgesellschaft Mainz, Frankfurt 1934, passim.

[8] Sterberegister Mainz 1596 / 1890 für Fanny Sichel. Beide Todesdaten sind auch auf dem Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof in Mainz eingraviert, siehe https://www.findagrave.com/memorial/176177121/aaron-moses-sichel#view-photo=151968621 und https://www.findagrave.com/memorial/176177098/fann%C3%BF-sichel. (Zugriff: 2.5.2020).

[9] Die biographischen Ausführungen zu den Kindern sind nach der Reihenfolge ihrer Geburten geordnet, nur Regina ist an das Ende gestellt worden, weil sie die Eigentümerin und Bewohnerin des Judenhauses war, das anschließend betrachtet werden soll.

[10] https://www.ancestry.de/interactive/7814/WORRG13_2807_2808-0085/15326439?backurl=https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/75708683/person/36479280902/facts. (Zugriff: 2.5.2020).

[11] https://www.ancestry.de/interactive/1558/31280_197650-00557/3607934?backurl=https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/75708683/person/36479260864/facts. (Zugriff: 2.5.2020).

[12] https://www.ancestry.de/interactive/7814/WORRG13_2807_2808-0085/15326439?backurl=https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/75708683/person/36479280902/facts. (Zugriff: 2.5.2020).

[13] Im Census von 1930 ist er mit dieser Adresse dort aufgeführt. Siehe https://www.ancestry.de/interactive/6224/4532383_00488?pid=101432454&treeid=&personid=&rc=&usePUB=true&_phsrc=ryV669&_phstart=successSource. (Zugriff: 2.5.2020).

[14] Angabe nach Ancestry, allerdings ohne Quellenbeleg. Die Tochter Brenda starb am 2.3.1995 in Norwich, nachdem ihr erster Mann 1918 im Ersten Weltkrieg gefallen war. Ihr zweiter Ehemann Dudley Richard Hubert Brennan war ebenfalls vor ihr im Jahr 1980 verstorben. Ihre Schwester blieb vermutlich ledig und starb am 3.1.1974 in Lambeth bei London. Angaben ebenfalls nach Ancestry.

[15] Geburtsregister Mainz 1509 / 1861.

[16] HHStAW 518 6665 (64).

[17] Heiratsregister Mainz 265 / 1930. Die Eltern der Braut waren Johann Baptist und Gertrude Müller, geborene Rehard, siehe Sterberegister Niederrodenbach 1 / 1957.

[18] HHStAW 518 6665 (57).

[19] Ebd. (17).

[20] Die Angaben zur Judenvermögensabgabe sind nicht ganz eindeutig, da die 5. Rate sich insgesamt auf 1.500 RM belief, so die Auskunft der Dresdner Bank, siehe ebd. (92), was eigentlich bedeuten würde, dass die erste vier Raten insgesamt 6.000 RM betragen haben müssten. Dem gegenüber steht die Auskunft der Rhein-Main-Bank vom 7.3.195, in der es heißt, dass für die ersten vier Raten mehr als 10.000 RM zum Teil in bar, zum Teil durch Übergabe von Wertpapieren gezahlt worden seien, siehe ebd. (16).

[21] Ebd. (5).

[22] Sterberegister Wiesbaden 1796 / 1940. Der ihn damals behandelnde Arzt hatte in einem Schreiben im Zusammenhang mit dem Entschädigungsverfahren angegeben, dass der Hirnschlag „wahrscheinlich durch Aufregung infolge rassischer Verfolgung eingetreten“ sei. Dies ließ die Entschädigungsbehörde nicht gelten. In einem Bescheid vom März 1951 zur Entschädigung von Leib und Leben heißt es: „Abgesehen davon, daß ’Wahrscheinlichkeit’ zum Nachweise eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Verfolgung und Tod nicht ausreicht, kann auch der Tod nicht als eine Folge unmittelbarer Verfolgung angesehen werden. Der Verfolgte ist nicht in den Tod getrieben worden, sondern an Gehirnschlag im Alter von 78 Jahren gestorben.
Damit entfallen die von der Antragstellerin angemeldeten Ansprüche aus dem von dem Verfolgten erlittenen Schaden am Leben mangels der Voraussetzung des § 13 ES.“
Ebd. (38).
Seine Frau überlebte die NS-Zeit und starb am 8. Januar 1957 in Niederrodenbach im Alter von 72 Jahren, Sterberegister Niederrodenbach 1 / 1957. Die Todesnachricht überbrachte Johann, genannt Hans Müller, der Sohn der Verstorbenen.

[23] https://www.ancestry.de/interactive/7884/31111_4327304-00194?pid=187100338&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D7884%26h%3D187100338%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV304%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV304&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020).

[24] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv=1&dbid=5187&h=1035393&tid=&pid=&usePUB=true&_phsrc=ryV487&_phstart=successSource. (Zugriff: 2.5.2020). Auch https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2118/images/B020096-00449?treeid=&personid=&hintid=&queryId=fb4d24223a42a28d2f2032cb10839717&usePUB=true&_phsrc=ryV2366&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=437022. (Zugriff 9.11.2020).

[25] Geburtsregister Mainz 674 / 1864. Das Sterbedatum ist von GENI übernommen, siehe https://www.geni.com/family-tree/canvas/6000000050847933522. (Zugriff: 2.5.2020).

[26] Heiratsregister Mainz 141 / 1903. Die am 27.8.1868 geborene Ehefrau war die Tochter des Mainzer Spenglermeisters Josef Eduard Reitmayer und dessen Frau Eleonore, geborene Volkert.

[27] Geburtsregister Mainz 196 / 1894.

[28] Sterberegister Mainz 245 / 1930.

[29] Sterberegister Hofheim 52 / 1948.

[30] Für Eleonore Fanny Maria, die am 4.3.1967 verstarb, siehe Sterberegister Mainz 391 / 1967 und für Franziska Josepha, verstorben am 9.12.1965, siehe Sterberegister Alzey 322 / 1965.

[31] Geburtsregister Mainz 1078 / 1870.

[32] Sterberegister Mainz 164 / 1933.

[33] Geburtsregister Mainz 1469 / 1871.

[34] Heiratsregister Mainz 562 / 1901. Trauzeuge bei der Heirat war Julius Beck, der spätere Ehemann von Regina Sichel.

[35] Die Geburtsdaten der Kinder sind dem Einbürgerungsantrag der Eltern entnommen, siehe unten Anm. 27.

[36] https://www.ancestry.de/interactive/1068/K_1791_080550-0577?pid=1399842&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D1068%26h%3D1399842%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV573%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV573&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020).

[37] https://www.ancestry.de/interactive/7488/NYT715_770-0353?pid=4013507846&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D7488%26h%3D4013507846%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV543%26_phstart%3Dsucc. (Zugriff: 2.5.2020). Zuletzt hatte die Frau mit den Kindern wohl im bayrischen Obing im Chiemgau gewohnt. Durch die Heirat hatten sie alle offensichtlich die ungarische Staatsangehörigkeit erworben, wie den Reisepapieren zu entnehmen ist.

[38] In welchem genauen verwandtschaftlichen Verhältnis die beiden zueinander und zur Familie Eisendörfer standen, ist nicht bekannt.

[39] https://www.ancestry.de/interactive/61194/100587133_00092?pid=208229&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D61194%26h%3D208229%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV546%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV546&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020). Auch beim Census im Jahr 1930 lebten sie noch dort.

[40]  https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/572375:9734?tid=&pid=&queryId=1b4f63795020a74fe43e682af99ef48a&_phsrc=Ekt2300&_phstart=successSource. (Zugriff: 2.5.2020). Die eigentliche Passagierliste unter http://212.227.236.244/passagierlisten/listen.php?ArchivIdent=AIII15-04.12.1929_N&pass=Eisend%F6rfer&ID=331051&ankunftshafen=New%20York&lang=en kann zur Zeit nicht aufgerufen werden.
.

[41] https://www.ancestry.de/interactive/2238/44027_13_00038-01534?pid=195064654&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D2238%26h%3D195064654%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV588%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV588&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020). In welcher Funktion er diesen Dienst absolvierte, als Arzt oder Soldat, ist nicht bekannt.

[42] https://www.ancestry.de/interactive/60882/42155_332619-01425?pid=5090305&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D60882%26h%3D5090305%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV582%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV582&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020).

[43] https://www.ancestry.de/interactive/60882/42155_333307-01607?pid=2202575&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D60882%26h%3D2202575%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV580%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV580&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020). Der Flug ging damals nur bis Lissabon, vermutlich wird er aber nach Deutschland weitergereist sein.

[44] https://www.ancestry.de/interactive/60882/42155_333404-00131?pid=6886231&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D60882%26h%3D6886231%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV581%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV581&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020).

[45] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv=1&dbid=3693&h=17544597&tid=&pid=&usePUB=true&_phsrc=ryV585&_phstart=successSource. (Zugriff: 2.5.2020).

[46] Die Daten sind verschiedenen Eintragungen von Ancestry entnommen, können aber als gesichert angesehen werden.

[47] https://www.ancestry.de/interactive/6224/4532383_00488?pid=101432454&treeid=&personid=&rc=&usePUB=true&_phsrc=ryV669&_phstart=successSource. (Zugriff: 2.5.2020).

 

[48] Mit diesem Namen erscheint sie auch in den Entschädigungsakten ihrer Schwester Regine, siehe HHStAW 518 712 (1).

[49] Ihr Alter ist beim Census 1940 mit 33 Jahren angegeben. Siehe https://www.ancestry.de/interactive/2442/m-t0627-00488-00246?pid=40348764&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D2442%26h%3D40348764%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV632%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV632&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 2.5.2020).

[50] Geburtsregister Mainz 513 / 1875. Siehe zu ihrer Biographie Leder, u.a., Ausgeplündert und verwaltet, S. 436-438, wo Henriette Sichel ein eigenes knappes Kapitel gewidmet ist. Die folgende Darstellung orientiert sich an den dort vorgetragenen Recherchen.

[51] Ebd. S. 436.

[52] Um 1935 war die Nummerierung in der Straße geändert worden. Die ursprüngliche Nummer 10 war damals zur Nummer 28 geworden. Neben dem Elternhaus von Henriette waren auch die beiden Häuser Margarethengasse 19 und 21 zu Judenhäusern geworden. Allein aus diesen drei Häusern wurden bei den verschiedenen Deportationen etwa 90 Personen in die Konzentrationslager verbracht. Siehe http://www.mainz1933-1945.de/rundgang/teil-i-innenstadt/judenhaus.html. (Zugriff: 2.5.2020).

[53] Tagebuch einer jüdischen Gemeinde, S. 82.

[54] Brüchert, Nationalsozialistischer Rassenwahn, S. 85.

[55] Siehe zu den rechtlichen Bestimmungen oben das Kapitel Auswanderung, Deportation und die Rolle der Finanzverwaltung, dazu Theresienstadt betreffen die Anm. 25. In ‚Ausgeplündert und verwaltet’ wird auf S. 438 gesagt, dass die Finanzbehörden das Testament übergangen hätten, weil eine solche testamentarische Eigentumsübertragung 1942 nicht mehr zugelassen gewesen sei. Diese Aussage erscheint vor dem Hintergrund, dass Henriette Sichel 1942 nicht zu Tode gekommen war, es somit auch keine Sterbeurkunde gab, eher fragwürdig.

[56] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.334. Dazu Arolsen Archiv https://collections.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014202/0122/132635926/001.jpg. (Zugriff: 2.5.2020).

[57] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.334.

[58] Arolsen Archiv https://collections.arolsen-archives.org/remote/collections.arolsen-archives.org/H/CM1/Post_War/03020101/0750/158427132/001.jpg?width=700. (Zugriff: 2.5.2020).

[59] Gonsenheimer Erinnerungen, Katalog zur Ausstellung. Jüdische Nachbarinnen und Nachbarn zwischen Integration und Ausgrenzung, hg. Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V., Mainz 2019, S. 90.

[60] Sterberegister Mainz 1012 / 1961.

[61] https://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/mainz/stadtteile-mainz/gonsenheim/sieben-stolpersteine-zum-gedenken-an-ns-opfer-verlegt_19145239. (Zugriff: 2.5.2020).

[62] Geburtsregister Mainz 1747 / 1876. Thekla war das erste der Kinder, das während der Grundschulzeit nicht mehr die jüdische „Bondi-Schule“ besucht hatte.

[63] Heiratsregister Mainz 955 / 1922. Wilhelm, wie er mit Rufname genannt wurde, war das zweite von insgesamt vier Kindern des Ehepaars Georg David Hölzer, geboren am 12.5.1844 in Arheiligen bei Darmstadt, und seiner Frau Sophie Eva Eichel, geboren am 26.10.1850 in Bacharach. Seine Geschwister waren Sophia Elisabeth, geboren am 18.1.1880, Karoline Marie Sophie, geboren am 21.1.1883, und Georg David Karl Herbert, geboren am 7.3.1886. Die Kinder wurden alle in Mainz geboren, auch der Vater verstarb dort am 25.3.1896. Siehe https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?dbid=8958&h=21191&indiv=try&o_vc=Record:OtherRecord&rhSource=60541. (Zugriff: 2.5.2020).

[64] In der Liste der Geltungsjuden ist sie aufgeführt, siehe https://zentralarchiv-juden.de/bestaende/personenstandsregister/archivaliensammlung-jued-gemeinde-frankfurt/verzeichnis/10-frageboegen-personenstandsregister/. (Zugriff: 2.5.2020).

[65] https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/6-3-1-1%20/%20H_6311043267/?p=1&doc_id=86227975. (Zugriff: 2.5.2020).

[66] Sterberegister Mainz 1747 / 1945.

[67] Sterberegister Mainz 1497 / 1945.

[68] https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/6-3-1-1%20/%20H_6311043267/?p=1&doc_id=86227975. (Zugriff: 2.5.2020).

[69] https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/6-3-1-1%20/%20H_6311043267/?p=1&doc_id=86227974. (Zugriff: 2.5.2020).

[70] https://collections.arolsen-archives.org/en/archive/6-3-1-1%20/%20H_6311043267/?p=1&doc_id=86227969. (Zugriff: 2.5.2020).

[71] Geburtsregister Mainz 229 / 1878 und Sterberegister Mainz 786 /1914.

[72] Geburtsregister Mainz 593 / 1879.

[73] Zur dienstlichen Biographie siehe https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v5465835&icomefrom=search. (Zugriff: 2.5.2020). In Frauenleben in Magenza, hg. Frauenbüro der Landeshauptstadt Mainz, Mainz 2015, S. 24 heißt es dagegen, dass sie bereits 1902 in den Schuldienst eingetreten sei. 1938 habe sie noch einmal den erfolglosen Versuch unternommen, eine Wiedereinstellung zu erreichen.

[74] Die genaue Datierung des Transports ist umstritten, aber er fand im Zeitraum zwischen dem 20. und 25. März statt. Siehe dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationenen, S. 186 f. und https://deportation.yadvashem.org/index.html?language=en&itemId=5604917&ind=0. (Zugriff: 2.5.2020).

[75] Seghers, Anna, Der Ausflug der toten Mädchen, Berlin 2018, S.14 f.

[76] Anna Seghers hieß eigentlich Netty Reiling. Zu ihrer Mutter siehe Frauenleben in Magenza, S. 26. In diesem Transport waren auch Sabine Hirschberger und Selma Ziporah Trepp, geborene Hirschberger, beides Schwestern des im Wiesbadener Judenhaus Hermannstr. 17 lebenden Hugo Hirschberger. Selma Ziporah Trepp war die Mutter des bekannten Mainzer Rabbi Leo Trepp.
Sicher nicht zufällig ist in dem Band, der 1946 erstmals erschien, eine weitere Erzählung mit dem Titel ‚Das Ende’ enthalten, in der ein ehemaliger Oberaufseher von Piaski die zentrale Figur spielt. Nicht Schuldgefühle, sondern die Angst entdeckt und zur Verantwortung gezogen zu werden, machen ihn unmittelbar nach Kriegsende zu einem Getriebenen, der rastlos durch das Land streift. Am Ende tritt auch er – wie zuvor so viele seiner Opfer und zur Freude seines geschundenen Sohnes – die Flucht in den Tod an.

[77] Seghers, Ausflug der toten Mädchen, S. 39.

[78] Heiratsregister Mainz 81 / 1893.

[79] Dass der Umzug 1911 stattgefunden hatte, schrieb Regina Beck in einem Brief an das Finanzamt Wiesbaden vom 10.11.1939, siehe HHStAW 685 47 (19). Vermögensteuer.

[80] Möglicherweise waren sie aber bereits früher dorthin verzogen. Im Inflationsjahr 1923 war kein Adressbuch in Wiesbaden erschienen.

[81] HHStAW 685 47 (3) Vermögensteuer.

[82] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1132 / 1935. Die Todesnachricht wurde auch in diesem Fall dem Standesamt von Reginas jüngster Schwester Johanna Sichel überbracht.

[83] HHStAW 685 47 (12) Vermögensteuer

[84] Ebd. (8) Einkommensteuer.

[85] Ebd. (4) Vermögensteuer.

[86] In der Berechnung für die Judenvermögensabgabe sind neben dem Haus noch rund 4.700 RM an weiteren Vermögenswerten aufgeführt, darunter noch 3.300 RM an Betriebsvermögen und weitere 1.400 RM an sonstigem Vermögen, vielleicht ein Sparkonto und ein wenig Schmuck aus besseren Zeiten. Vermutlich konnte sie daraus liquide Mittel beschaffen.

[87] Ebd. (16) Vermögensteuer.

[88] Ebd. (19 f.)

[89] Ebd. (18). Sie hatte einen Antrag gestellt, von dieser Zahlung befreit zu werden, siehe HHStAW 519/3 2381 (6)

[90] HHStAW 519/3 2381 (1, 3).

[91] Ebd. (5). Wer die Hausangestellte war, die monatlich 20 RM erhielt, ist nicht bekannt.

[92] Ebd. (7).

[93] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1832 / 1942.

[94] HHStAW 519/2 1381 (o.P.). Eine gleiche Meldung erfolgte auch für jede Person auf der Liste noch einmal individuell, für Regina Beck siehe 519/2 2099 I (7).

[95] Ebd. (2).

[96] Ebd. (o.P.).

[97] Ebd. (14).

[98] Ebd. (5).

[99] Ebd. (57, 58).

[100] Ebd. (63).

[101] Ebd. (64).

[102] Ebd. (o.P.).

[103] Ebd. (o.P.)

[104] Siehe dazu beispielsweise oben die Kapitel über Mathilde und Alice Straus und Judenhaus Grillparzerstr. 9 Sebald und Hedwig Strauss im Judenhaus Bahnhofstr. 46 und Leopold und Dorothea Katzenstein mit ihrem Haus in der Emser Str. 26a.

[105] 519/2 2099 I (o.P.), Schreiben vom 17.1.1944.

[106] Ebd. (o.P.) Schreiben vom 30.4.1944.

[107] Ebd.

[108] Ebd., siehe auch Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 91 Bl. 1374 Innen.

[109] HHStAW 519 2099 II (53, 56).

[110] HHStAW 519/2 2099 III (o.P.).

[111] HHStAW 519/2 2099 II. (37).

[112] HHStAW 519/2 2099 I (12).

[113] Siehe dazu oben den entsprechenden Abschnitt in „Raub und Verwertung der jüdischen Immobilien“.

[114] HHStAW 519/2 2099 II (22, 44).

[115] In dem Brief von Frau Küchle an die Finanzverwaltung heißt es:
„Auf Veranlassung des städt. Wohnungsamtes und des Wehrmachtsoffiziers wurde am 1. Oktober 42 die Wohnung Herrngartenstr. 11 Vrdh. Erdgesch. An die Familie Ströhmann vermietet. Es wurde seinerzeit gesagt: Herr Ströhmann steht als Obergefreiter im Feld, die Familie hätte 6 Kinder, die in Pflege seien, weil Frau Ströhmann keine Wohnung hätte. Es müsste der Frau Ströhmann unbedingt eine Wohnung zugewiesen werden, dass sie die Kinder wieder zu sich nehmen könnte.
Etwa drei Wochen nach dem Einzuge von Frau Ströhmann wurde ich von der Kriminalpolizei angerufen, ob ich nicht wüsste, was in der Wohnung Herrngartenstr. 11 vor sich gehen würde. Ich habe darauf hin sofort Räumungsklage eingereicht.
Frau Ströhmann ist inzwischen ins Lager gekommen.
Die Kinder hat sie nie in der Wohnung gehabt. Die sollen ihr übrigens schon vorher entzogen worden sein.
Am 16. März 43 ist Ströhmann zur Räumung verurteilt worden. Am 2. April 43 schreibt mir mein Rechtsbeistand Dr. Schröder folgendermaßen:
‚In Sachen  Ströhmann schreibt mir der Polizeipräsident wie folgt:
’Der Zigeuner Hermann Klein, hier, Wagemanstr. 14, wurde am 9.3.43 evakuiert.’’
Gehen Sie doch mit dem zuständigen Polizeibeamten und einigen Leuten in die Wohnung und räumen. Stellen Sie die noch vorhandenen Sachen zusammen, oder sonst in einen Unterstellraum.’
Ich möchte dazu erklären, dass der Zigeuner Klein der Vater von Frau Ströhmann ist.
Inzwischen hat sich aber die Mutter von Herrn Ströhmann, eine gewisse Frau Ries mit Anhang in die Wohnung gesetzt. Sie wollte vor mehreren Tagen die polizeiliche Anmeldung von mir unterschrieben haben. Die Unterschrift habe ich verweigert und Frau Ries an Sie verwiesen. Sie scheint aber nicht bei Ihnen gewesen zu sein.
Heute war nun Herr Ströhmann mit seiner Mutter in meinem Büro, um die Miete zu begleichen. Die Zahlung habe ich vorläufig nicht angenommen.
Ströhmann erklärte, für das Verhalten seiner Frau könnte er nicht verantwortlich gemacht werden. Sie würde auch nie mehr in sein Haus kommen. Seine Mutter hätte sich in die Wohnung gesetzt, um seinen Hausstand zu betreuen.
Meiner Meinung nach sind es keine Mieter für eine Wohnung in der Herrngartenstrasse.
Ich bitte um Ihre gefl. Stellungnahme.“
Ebd. (57).

[116] Ebd. (o.P.).

[117] Ebd. (o.P.). Zu August Heinzmann siehe oben.

[118] Ebd. (o.P.).