Der Witwer Selmar Victor war am 5. Februar 1941 nach einem durch viele Höhen und Tiefen gekennzeichneten Leben in das Judenhaus Herrngartenstr. 11 eingezogen. Zwar existiert eine mehrere hundert Seiten dicke Personalakte von ihm, einem Beamten zunächst des preußischen, dann des deutschen Staates, aber über den familiären Hintergrund des Mannes, über sein Leben vor Wiesbaden, erfährt man darin fast nichts.
Immerhin ist darin festgehalten, dass er am 1. Dezember 1874 in Dessau geboren wurde und als Konzertgeiger über viele Jahre am Wiesbadener Theater beschäftigt war. Aber nicht einmal die Namen seiner Eltern sind darin zu finden. Schlägt man die Akte auf, so wird man gleich auf der ersten Seite mit einem eingeklebten Formular konfrontiert, das mit dem Titel „Der Kammermusiker Herr Victor hat folgende Strafen erhalten“ überschrieben ist. Schaut man genauer auf die Einträge, dann merkt man, dass es sich um eher lässliche „Vergehen“ handelt, wie eine „Probenverspätung“ am 29. August 1906, ein „Unbefugter Aufenthalt auf der Bühne“ am 16. März 1911 oder ein „Versäumter Einsatz“ am 17. Februar 1912. Ebenfalls festgehalten wurde „Verspätet sich zum 3. Akt der Lohengrin-Aufführung“ am 13. März 1920 oder eine „Überschreitung des Urlaubs“ am 21. November 1923. Geahndet wurden diese Verstöße mit kleinen Geldbeträgen von einer bis drei Mark, in Inflationszeiten konnte die Strafe auch schon mal fünfzig Mark betragen.[1] Gleichwohl sind die Vermerke insofern von Interesse, als darin etwas von der Persönlichkeit des Menschen Selmar Victor zum Ausdruck zu kommen scheint. Vermutlich entsprach er in vielem dem Klischee, das man sich von einem Bohemien, von einem Künstler dieser Zeit macht: Hochtalentiert, aber auch behaftet mit der Selbstüberschätzung des Narzissten, der sich durch keine Regeln gebunden fühlt und dadurch auch in gewisser Weise ein wenig lebensuntüchtig wirkt. Zumindest im Hinblick auf finanzielle Angelegenheiten war sein gesamtes Leben von solchen Problem geprägt. Etwa die Hälfte der Schreiben in der Akte besteht aus Anfragen und Bitten um Vorschusszahlungen auf sein Gehalt. Noch ein Zweites kennzeichnet die Briefe und Eingaben. Geschrieben sind sie zunächst in einer völlig manierierten und veralteten Ausdrucksweise. Inhaltlich wird in ihnen auf der einen Seite die eigene Person, das eigene ganz sicher vorhandene Können narzisstisch überhöht, auf der anderen Seite aber, vermutlich begründet in der finanziellen Abhängigkeit von der Intendantur, sind die Briefe von devoten Höflichkeitsfloskeln im Übermaß bis zur Peinlichkeit durchzogen.
Am 9. August 1901 war seine Bewerbung, die mit den Worten „Unterzeichnenter erlaubt sich hiermit ganz ergebenst seine Bewerbung für die freigewordene Konzertmeisterstelle einzureichen“ eingeleitet war, in der Intendantur der ‚Königlichen Schauspiele Wiesbaden’ eingegangen. Er habe seine „violinistischen Studien“ bei Professor Gustav Holländer in Berlin beendet und sei seitdem in verschiedenen großen Orchestern tätig gewesen. Auch als Dirigent habe er Erfahrungen machen können. Mit einigen beigefügten Zeugnissen und einer sehr positiven Zeitungskritik über einen seiner Auftritte konnte die „hochwohllöbliche Intendantur“ von seinen Fähigkeiten überzeugt werden, sodass er am 1. Oktober 1901 zunächst auf Probe, ein Jahr später fest als Konzertmeister am Königlichen Theater in Wiesbaden angestellt wurde. Sein erstes Gehalt betrug 1.632 Mark, d.h. monatlich 136 Mark.[2]
So abgesichert kündigte Selmar Victor im September bei seinem Arbeitgeber seine Absicht an, sich zu verheiraten. Am 5. Juli 1905 erbat er sich zu diesem Zweck von Sylt aus von der Intendanz des Theaters Urlaub für Anfang September. Der Urlaubsantrag endete mit einem seiner typischen Formeln: „In der zuversichtlichen Voraussetzung eines gütlichen Bescheids bin ich Euer Hochwohlgeboren ganz ergebenster – Selmar Victor“[3] Am 2. September des Jahres „erlaubte“ er sich von einem Brüssler Grand Hotel aus, seiner „Hochwohlgeborenen die ganz ergebene Mitteilung zu machen, dass (er sich) nunmehr verheiratet habe.“[4] Der Name der Braut wird in keinem der offiziellen Schreiben genannt. Allerdings musste sie später ein Dokument unterzeichnen, in dem es wieder einmal um die Abzahlung eines Vorschusses ging. Sie gab ihr schriftliches Einverständnis, dass der Betrag von 1.000 RM von ihren zu erwartenden „Gnaden- und Hinterbliebenenbezügen“ in einer Summe abgezogen würde, sollte ihr Mann versterben, bevor die Rückzahlung vollständig erfolgt sei. Ihr Name ist dort mit Gadassar, geborene Asarch, angegeben,[5] die am 17. Dezember 1871 im russischen Welish geborene Tochter von Moses Asarch und seiner Frau Mussa, geborene Lurie.[6]
Im ersten Adressbuch von 1903/04, in dem Selmar Victor als Bewohner der Stadt erscheint, war sein Name noch falsch angegeben, indem der Vor- zum Nachnamen gemacht worden war. Seine erste Wohnung lag in der Taunustr. 48 im dritten Stock. In den folgenden Jahren bis 1918 hatte er, später mit seiner Frau, mindestens siebenmal die Wohnung gewechselt, hatte aber dann in der Johannisberger Str. 9 im ersten Stock eine Wohnung gefunden, in der die beiden bis zum Tod von Gadasse Victor gemeinsam und anschließend er noch alleine bis zu seinem Umzug in das Judenhaus blieben.
All die gemeinsamen Jahre müssen insofern bedrückend gewesen sein, als sie offensichtlich immer in Geldschwierigkeiten waren, obgleich das Gehalt von Selmar Victor immer wieder erhöht wurde und auch die Bitten um Vorschüsse fast nie abgeschlagen wurden. Immer wieder wirkte er auch bei Konzerten außerhalb des Theaters mit, um dadurch zusätzliche Einkünfte zu erlangen. Nicht immer fragte er in solchen Fällen die Intendanz um die nötige Erlaubnis. Solche Anfragen oder auch Rügen, wenn er wieder einmal vergessen hatte, die Genehmigung einzuholen, füllen ebenfalls viele Seiten in der Akte. Bei solchen Auftritten kam er in viele Kurorte der Umgebung, aber auch nach Sylt, Bad Pyrmont, Bonn oder andere Städte. Aus dem Programm von einem der Konzerte geht hervor, dass er auch als Komponist von kleineren Stücken hervorgetreten war, die er dann bei solchen Gelegenheiten zum Besten geben konnte.
Wofür das Geld ausgegeben wurde, geht aus den Unterlagen nur punktuell hervor. Mal wurde eine teure Geige gekauft, mal waren es Krankenkosten, die für ihn oder später in noch weit größerem Umfang für seine Frau anfielen. Vermutlich wird es aber auch etwas mit dem Lebensstil, vielleicht auch mit den vielen Konzertreisen, zu tun gehabt haben, dass er immer etwas klamm war. 1908 musste seine Frau zur Regelung finanzieller Angelegenheiten nach Russland reisen. Um was es genauer ging, ob zum Nutzen oder Schaden der Victors, ist der Akte nicht zu entnehmen. Aber auch für die dabei anfallenden Reisekosten musste er erst einmal um einen entsprechenden Vorschuss bitten.[7] Im Juli des folgenden Jahres 1909 verstarb sein Vater in Magdeburg.
Als 1914 der Krieg ausbrach, war Selmar Victor mit seinen knapp 40 Jahren eigentlich schon zu alt für den Fronteinsatz. Er wurde aber als Landsturmpflichtiger dennoch zur Infanterie gemustert, blieb aber von einem Einsatz verschont, solange „sich dies mit den militärischen Interessen vereinigen (ließ)“.[8] Am 26. Mai 1917 sollte er dann doch zum Dienst einberufen werden. In einem Schreiben an den Theaterintendanten versuchte er verständlicherweise sich dieser „patriotische Pflicht“ zu entziehen:
“Hochgeehrter Herr Intendant!
Euer Hochwohlgeboren gestatten mir ganz gehorsamst folgende Zeilen.
Vor einigen Tagen erhielt ich für Donnerstag, den 31. Mai d.M. [müsste „d. J.“ heißen – K.F.] meine Einberufung nach Oberhofen. So gerne ich meine patriotische Pflicht erfülle, so bedaure ich andererseits, dass ich dieses für meine Kunst als Violonist zum großen Nachteil gereichen möchte. Durch die militärischen Übungen werden bei einem Streicher, welcher sich auch als Solospieler betätigt, die Finger und Handgelenke sehr in Mitleidenschaft gezogen; daher bitte ich Herrn Intendanten als verheirateter 43jähriger Mann wenn möglichst Ihren Einfluss dahin geltend zu machen, dass ich vielleicht noch einige Zeit mich der Kunst widmen kann und vorläufig zurückgestellt werde.“[9]
Falls das nicht gelingen sollte, bat er, seinen Dienst möglichst in Wiesbaden antreten zu dürfen, was dann – vielleicht tatsächlich durch die Fürsprache des Intendanten – auch so geschah. Offensichtlich konnte Selmar Victor seine soldatischen Pflichten sehr gut mit denen des Künstlers in Einklang bringen, wie man einem Schreiben der Intendanz an das Ersatzbataillon vom 4. Dezember 1917, dem Victor zugeordnet worden war, entnehmen kann.
Für die Proben und die geplanten Aufführungen von Wagners „Ring der Nibelungen“ im Dezember 1917 wurde er ohne Probleme freigestellt – vermutlich auch in anderen Fällen.
Am 10. Dezember 1918 meldete er sich – jetzt geradezu in einem knappen, militärischen Tonfall – bei seinem Theater zurück: „Bin aus dem Heeresdienst entlassen und bitte bis einschließlich Donnerstag beurlaubt zu werden. Dienstbereit Freitag, den 19. Dezember. Selmar Victor.“[10]
Unterbrochen wurden die folgenden, immer wieder von Bitten um Vorschüsse gekennzeichneten Jahre durch ein besonderes Ereignis im Jahr 1924, in dem Selmar Victor eine Reise in die USA antrat, um dort seine Brüder zu besuchen. Wie viele er hatte, respektive wie viele damals in Amerika lebten, sagte er nicht. Er sei seinem erkrankten, ältesten Bruder seit 40 Jahren nicht mehr begegnet und „habe das dringende Verlangen ihn nochmals zu sehen“. Es handle sich um eine dringende Familienangelegenheit, die zu klären auch für seine verwitwete und inzwischen ebenfalls schwer erkrankte Schwester in Magdeburg von großer Wichtigkeit sei.[11] Immerhin lässt sich aus diesem Brief erschließen, dass er kein Einzelkind war und familiäre Verbindungen in die USA hatte. Von Philadelphia aus bat er am 2. Mai 1924 seinen Arbeitgeber darum, seinen Urlaub zu verlängern, da er erst jetzt nach einer überstandenen eigenen Erkrankung die Gelegenheit hätte, sich auch künstlerisch zu betätigen. Er habe die Möglichkeit erhalten bei mehreren Wohltätigkeitskonzerten aufzutreten, bei denen ganz sicher auch Mittel für das Theater in Wiesbaden abfallen würden. „In der angenehmen Erwartung keine Fehlbitte gethan zu haben, bitte ich höflichst nach Empfang meines Briefes mir durch ein Telegramm auf meine Kosten mitteilen zu wollen, ob ich den gütigst erbetenen Nachurlaub bekommen kann.
Mit dem Ausdruck ausgezeichneter Hochachtung dankbar ergebenst
Selmar Victor[12]
Der zusätzliche Urlaub wurde genehmigt und auch das Konzert in Philadelphia wurde in einer Zeitungskritik, die er seinem Arbeitgeber selbstverständlich zukommen ließ, hoch gelobt. Ob allerdings auch das Wiesbadener Theater von diesem Auftritt profitierte, muss offen bleiben.
Am 1. Oktober 1926 wurde Selmar Victor zu seinem 25jährigen Dienstjubiläum am Wiesbadener Theater mit einer Ehrenurkunde und einem einmaligen Betrag von 75 RM geehrt.[13] Mit wie viel Schwierigkeiten er im bisherigen Leben auch immer konfrontiert war, es steht außer Frage, dass er als Künstler hoch angesehen war, was ihm sicher die notwendige Kraft verlieh, die vielen Hürden auf irgendeine Weise zu meistern. Aber gegen Ende der 20er Jahre kam nicht nur die Wirtschaftskrise hinzu, in der auch den fest angestellten Staatsdienern, zu denen der verbeamtete Selmar Victor gehörte, Sonderopfer abverlangt wurden,[14] schlimmer war die schwere Diabeteserkrankung seiner Frau, die in den folgenden Jahren zu mehreren lang andauernden Klinikaufenthalten führte und erhebliche Kosten verursachte.[15] Ihm Rahmen der staatlichen Sparmaßnahmen war im Sommer 1932 auch Selmar Victor zunächst beurlaubt und in den Status eines „Wartegeldempfängers“ versetzt worden, d.h. er erhielt ab diesem Zeitpunkt nur noch Versorgungsbezüge in Höhe von 80 Prozent seines eigentlichen Gehalts.[16] Dafür, dass er schon damals als Jude aus dem Dienst beurlaubt wurde, gibt es kein Indiz. In keinem Schreiben der gesamten Akte ist bis zu diesem Zeitpunkt diese Tatsache auch nur erwähnt, was aber ganz und gar nicht heißt, dass es in Wiesbaden zu dieser Zeit keine antisemitischen Ressentiments gegenüber der Theaterleitung und den Angestellten gegeben hätte. Im Gegenteil. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte sich das früher eher höfische Repräsentationstheater der Kaiserzeit sowohl in der Schauspiel- wie auch in der Musiksparte zu einer modernen Bühne gewandelt. Seit dieser Zeit gehörten Brecht-Stücke wie auch atonale Musik zum Repertoire des Hauses und lösten vielfach öffentliche Diskussionen, sogar Skandale aus. Als dann 1928 noch der Jude Paul Bekker als Intendant von Kassel nach Wiesbaden wechselte, mutmaßten rechte, nationalistische Kreise eine bewusst herbeigeführte „Verjudung“ des Wiesbadener Staatstheaters. Bekker wurde von dem Wiesbadener Komponisten Pfitzner, der bis in das Jahr 2020 in der Stadt mit der Benennung einer Straße nach seinem Namen geehrt wurde, als „’Anführer einer ‚international-jüdischen Bewegung in der Kunst’ (beschimpft), die analog zu den Umsturzplänen ‚von russisch-jüdischen Verbrechern’ einen ‚Vernichtungskampf gegen deutsche Geistigkeit, Kunst, Musik’ führe und so durch die Zersetzung ‚nationaler Kunst’ auch den Organismus des ‚Volkskörpers’ schädige.“[17] Und Pfitzner war beileibe nicht der einzige, der sich so äußerte. Es scheint aber fast so, als habe der jüdische Intendant Bekker das Theater und dessen jüdische Künstler während seiner Amtszeit allein durch seine herausragende Stellung geschützt, er, wie ein Blitzableiter, die antisemitischen Hetze auf sich gezogen und allein dadurch den anderen einen gewissen Schutz zukommen lassen. Vom Tag seiner Einstellung agitierte an vorderster Front der ‚Nassauer Beobachter’, das Parteiblatt der örtlichen NSDAP, gegen Bekker und forderte seine Entlassung. Das geschah dann zum selben Zeitpunkt, als auch Selmar Victor beurlaubt wurde. Im September 1932, als der Preußische Staat im Rahmen der damals verordneten Sparmaßnahmen sich vom Theater in Wiesbaden trennte und selbiges als „Nassauisches Landestheater“ nun von der Stadt Wiesbaden weiterführen ließ, konnte nun unter städtischer Verantwortung der Vertrag mit Bekker problemlos aufgekündigt werden.[18] Unter seinem Nachfolger, dem eher nationalkonservativ als nationalsozialistisch eingestellten Max Berg-Ehlert, wurden ungeachtet dessen nun auch verstärkt die jüdischen Künstler des Hauses zum Ziel der Angriffe, gerade auch von den eigenen Kollegen.
Im März wurde bei der Intendanz die erste gegen Selmar Victor gerichtete denunziatorische Eingabe von dem Orchestermitglied und „Parteigenossen“ Lauterbach gemacht.
In seiner Funktion als Obmann des Theaters, also der Vertreter der Angestellten und Arbeiter, beschuldigte er Selmar Victor sich von Solisten des Orchesters „Freikarten für seine jüdischen Freunde schreiben zu lassen“, womit er dem Theater Schaden zufügen würde. Die „weitere Veranlassung“, die gefordert wurde, hatte zur Folge, dass ihm, der ja noch immer nur beurlaubt war, die Vergünstigung, Freikarten beziehen zu können, mit sofortiger Wirkung entzogen wurde.[19] Sicher eine Kleinigkeit – aber diese Eingabe markiert den Beginn der Zerstörung des Menschen Selmar Victor als Jude.
Bisher war Victor nur aus Kostengründen beurlaubt worden, jetzt ging es darum ihn und seine Kollegen aus rassistischen Motiven aus dem Theater zu entfernen. Nachdem Anfang April 1933 im Haus die Betriebs-, Angestellten- und Arbeiterräte mit Parteigenossen besetzt worden waren, wurde der Druck auf die Intendanz verstärkt, die geforderte „Säuberung“ einzuleiten. Solange keine klare gesetzliche Regelung geschaffen war, versuchte diese sich mit Verweis auf die Beurlaubungen durchzulavieren. Mit dem „Gesetz zur Wiederhestellung des Berufsbeamtentums“ schuf der nationalsozialistische Staat noch im gleichen Monat die „rechtlichen“ Voraussetzungen und ein Instrument, um sich seiner jüdischen oder politisch unzuverlässigen Beamten zu entledigen.
Auch am Wiesbadener Theater wurden nach einer Sitzung der Theaterkommission am 17. April 1933 solche Entlassungen reihenweise ausgesprochen.[20] Bei Selmar Victor war die Sachlage allerdings etwas komplizierter. Fritz schreibt, dass dieser „aus bisher ungeklärten Gründen bis 1935 am Theater hatte arbeiten können“.[21] Die Gründe dafür sind tatsächlich aber sehr klar. Weil das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schon in der ersten Phase der Gleichschaltung erlassen worden war, hatte man damals noch gewisse Rücksichten auf die noch traditionelle Beamtenschaft und das Militär nehmen müssen, auf die man ja trotz aller Verachtung weiterhin angewiesen war. So hatte das Gesetz eine Klausel enthalten, die Beamte, die vor dem 1. August 1914 eingestellt worden waren oder Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg vorweisen konnten, vor dem Rauswurf schützte.[22] Auch Selmar Victor, 1902 verbeamtet, fiel somit unter diese Ausnahmeregelung, was allerdings von den „PGs“ im Theater nicht ohne weiteres akzeptiert wurde. Selmar Victor wurde somit zum Fall in einem Machtgeflecht, in dem Intendanz, städtische Behörden, Regierungspräsidium und Partei eingebunden waren.
Das Theater wandte sich am 17. April auf Vorschlag des NSDAP-Kreisleiters Piékarsky an die Reichsbeamtenabteilung der NSDAP in Frankfurt, um nachzufragen, ob drei jüdische Angestellte, darunter Victor, am Theater bleiben dürften, da sie dringend gebraucht würden und zumindest auf Victor die Bestimmung des Paragraphen 3 zutreffen würde. Am 25. April erhielt die Intendantur dann die Anweisung, dass die drei Genannten zu entlassen seien, weil – und das ist geradezu grotesk – genaue Ausführungsbestimmungen zu dem Gesetz noch nicht erlassen worden seien.[23] Die weiteren Abläufe sind leider zunächst nicht dokumentiert. Am 11. Mai teilt die Gauleitung dann dem Theater mit, man solle sich mit der Frage der Weiterbeschäftigung an die Regierung – gemeint war die Stadt Wiesbaden – wenden.[24] Am folgenden Tag schickte die Intendantur ein mehrseitigen Schreiben an die Stadtverwaltung, in dem die rechtliche Situation bezogen auf jeden betroffenen jüdischen Angestellten erläutert wurde. Bezüglich Selmar Victor wurde nur festgehalten, dass er unter die Ausnahmeregelung falle, allerdings „einstweilen von seiner Tätigkeit entbunden sei“.[25] Victor blieb daraufhin auch weiter, wenn auch inaktives Mitglied des Orchesters. Im August übten die NSDAP-Vertrauensleute im Theater über die NSDAP-Kreisleitung und dann wiederum über den Bürgermeister Druck auf die Intendanz aus und forderten die Entlassung von Victor und stattdessen die Einstellung eines Geigers, „der seit vielen Jahren Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung“ sei. Auch dieser war zuvor aus Kostengründen – „zur Vereinfachung der Verwaltung“, wie man das damals nannte – entlassen worden. Ihn solle man jetzt „statt dem (sic!) Juden Victor in Arbeit und Brot bringen“. [26] In einer ausführlichen Stellungnahme erläuterte der Intendant gegenüber der Stadt erneut, wieso der Vorschlag der NSDAP nicht realisierbar sei:
“Es dürfte sich kaum eine Möglichkeit bieten, den Kammermusiker Victor auf Grund des § 6 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 7. 4. 1933 in den Ruhestand zu versetzen, da Beamte, die auf Grund dieser Bestimmung (§ 6) also zur Vereinfachung der Verwaltung ausscheiden, in ihren Stellen nicht ersetzt werden dürfen. Wohl kann die Stadt auf die Dienste des Kammermusikers Victor verzichten und ihn der Regierung Wiesbaden in seiner Eigenschaft als Wartestandsbeamter zur Verfügung stellen, ob aber dann ein Ersatz engagiert werden darf, erscheint im Hinblick auf die vorangezogene Bestimmung nicht angängig. Nach § 7 des Gesetzes hätte die Versetzung Victors in den Ruhestand die oberste Landesbehörde zu verfügen. Nach der III. Verordnung zur Durchführung des angezogenen Gesetzes und zwar zu § 7 Abs. 3 zweiter Satz, ist dem durch die Maßahme nach § 6 betroffenen Beamten Gelegenheit zur Äusserung zu geben. Da mit Bestimmtheit anzunehmen ist, daß Victor gegen seine Versetzung in den dauernden Ruhestand mit der Begründung Einspruch erheben wird, daß er den Anforderungen des Dienstes noch gewachsen ist und er ferner im Falle seines Ausscheidens durch einen Musiker ersetzt werden soll, dürfte unter diesen Umständen die Zustimmung des Herrn Ministers wohl kaum zu erwarten sein.“[27]
Noch hielt der nur konservative Intendant des Theaters an dem jüdischen Geiger fest und noch konnte die NSDAP nicht einfach durchregieren. Selmar Victor war zwar weiterhin nicht entlassen, aber auch nicht aktiver Musiker im Orchester. Aber als Geiger wurde er dort dringend benötigt. Deshalb bat man über den Bürgermeister den Regierungspräsidenten, dringend eine Entscheidung in der Personalie Victor herbeizuführen, weil seine Stelle während der ganzen Zeit mit hohen Kosten ersatzweise besetzt werden müsse.
Für Selmar Victor selbst hatte diese Situation bei aller Unsicherheit insofern privat auch einen positiven Aspekt, weil er sich nun intensiv seiner kranken Frau widmen konnte. So richtete er am 27. September 1933 die Anfrage an die Intendantur, ob seine Wiederbeschäftigung zum 1. Oktober erfolgen werde. „Falls noch keine Entscheidung getroffen, würde ich die höfliche Bitte aussprechen, weiterhin vorläufig bei meiner kranken Frau bleiben zu dürfen.“ Wie immer und trotz allem, was man ihm angetan hatte, unterzeichnete er weiterhin „mit dem Ausdrucke ausgezeichneter Hochachtung – sehr ergebenst – Selmar Victor“[28]
Am 5. Oktober kam dann tatsächlich die Genehmigung des Regierungspräsidenten, dass er seine Arbeit im Orchester wieder aufnehmen dürfe, eine Nachricht, die am folgenden Tag an Selmar Victor weitergeleitet wurde. Ab dem 9. Oktober 1933 saß er dann tatsächlich wieder im Orchester des Nassauischen Landestheaters.[29]
Damit waren aber seine persönlichen, besonders seine finanziellen Sorgen nicht geringer geworden. Im November bat er mit Verweis auf die Krankheit seiner Frau wieder um einen Vorschuss, der aber diesmal mit der Begründung abgelehnt wurde, es lägen sechs unerledigte Pfändungsbeschlüsse gegen ihn vor und bereits jetzt würden monatlich 71 RM seines Gehalts gepfändet.[30] Zur Verbesserung seiner Lage erhielt er die Erlaubnis, privaten Geigenunterricht zu erteilen, aber die 6 bis 8 RM, die er von einem Schüler dafür monatlich erhielt – von einem anderen wurden ihm von dem Vater des Schülers die Kleidung in Stand gehalten -, stellten keine wirkliche Hilfe dar.[31] Zahlungsbefehle, Pfändungen und Gerichtsprozesse häuften sich, ohne dass sich ein Ausweg aus der verfahrenen Situation abzeichnete. Am 18. Juli 1935 bat er noch einmal um einen Gehaltsvorschuss, weil er erneut seine kranke Frau nach Bad Neuenahr bringen müsse. Auf dem Schreiben ist notiert, dass „mit Bestimmtheit“ zu erwarten sei, dass der „Gesuchssteller“ „vom Beginn der kommenden Spielzeit nicht mehr beschäftigt sein wird“, weshalb der Vorschuss nicht bewilligt werden könne.[32] Dies ist umso infamer, als Selmar Victor vier Wochen zuvor vom Preußischen Ministerpräsidenten die schriftliche Bestätigung erhalten hatte, dass er mit Rückwirkung zum 1. April 1935 eine feste Planstelle der Besoldungsgruppe C 5 b erhalten habe. Dies war auch dem Intendanten des Theaters am 9. Juli mitgeteilt worden.[33] Dennoch kündigte dieser zwei Wochen später – zunächst intern – die Kündigung von Selmar Victor an. Als das bisherige Nassauische Landestheater“ als „Deutsches Theater“ zum 1. August 1935 gleichgeschaltet und aus der kommunalen Verantwortung entlassen wurde, teilte man am 18. des Monats Selmar Victor auch offiziell seine Entlassung zum 1. Dezember 1935 mit.[34] Auch ein letzter Brief an den Intendanten vom 22. August 1935 hatte das nicht mehr abwenden können. Was man sich 1933 noch nicht erlaubte, war 1935 möglich, zumal in Wiesbaden inzwischen Carl von Schirach, der Vater des „Jugendführers“ Baldur von Schirach, im Amt des Intendanten als willfähriger Vollstrecker fungierte.
Brief Selmar Victors an den Intendanten des Theaters nach seiner Entlassung 1935 – HHStAW 428 3408 (55)
Da die Personalakte von Selmar Victor mit seiner Entlassung geschlossen wurde, sind die folgenden Jahre seines Lebens noch schwieriger zu rekonstruieren. Seine Frau erholte sich nicht mehr von ihrer schweren Krankheit und verstarb am 3. November 1938 im Jüdischen Krankenhaus in Frankfurt.[35] Als alleinstehender Witwer war er vermutlich zwangsweise aus seiner Wohnung, in der er seit 23 Jahren gelebt hatte, gekündigt und am 5. Februar 1941 in das Judenhaus Herrngartenstr. 11 eingewiesen worden.
Seine neue Partnerin, Eugenie Löwenstein, hatte er vermutlich im Rahmen seines musikalischen Schaffens kennen gelernt. Sie war eigentlich die langjährige Sekretärin des früheren Rechtsanwalts Berthold Guthmann, der zu dieser Zeit aber nur noch als „Konsulent“ arbeiten durfte und darüber hinaus als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Wiesbadens faktisch zum Befehlsempfänger der Gestapo degradiert worden war. Seine Wohnung wie auch sein Büro hatte er in der Bahnhofstr. 25 in einem Haus, das ebenfalls zu einem Judenhaus erklärt worden war. Charlotte Guthmann, die Tochter des Rechtsanwalts und spätere verheiratete Opfermann, beschrieb Eugenie Löwenstein in ihren späteren Erinnerungen als „eine stattliche Frau mit gepflegtem, dicken, schwarzen Haar, einem wunderschönen, zarten Gesicht und sehr elegant.“[36]
Auch über ihren familiären Hintergrund ist nur wenig bekannt. Sie war die Tochter von Hermann und Fanny Löwenstein, geborene Willig, die 1889 in Colmar die Ehe geschlossen hatten.[37] Ursprünglich stammte der Vater aus dem kleinen Arfeld im Wittgensteiner Land, seine Frau kam hingegen aus Mühlhausen im Elsaß. In diesem Raum am Oberrhein waren die Eltern dann auch geblieben, denn Eugenie war am 28. August 1890 in Freiburg / Breisgau zur Welt gekommen.[38] Auf welchem Weg sie nach Wiesbaden gelangte, ist nicht bekannt. Neben ihrem Beruf als Sekretärin war sie wohl auch eine begeisterte Musikerin, denn sie spielte nach Charlotte Guthmanns Angaben nicht nur Klavier, sondern verfügte, wie auch ihre Freundin Alma Meyer, zudem über eine ausgebildete Sopranstimme. Alma Meyer war liiert mit dem verwitweten, ehemaligen Kinderarzt Dr. Hirsch, der ebenfalls ein Musikliebhaber gewesen sein soll. Dieses musikbegeisterte Quartett hatte wohl über ihre Leidenschaft zusammengefunden und sich mit der Musik über die immer bedrückenderen Zeiten hinweggeholfen. Dass Eugenie Löwenstein am 16. Mai 1942 kurz vor der ersten größeren Deportation aus Wiesbaden noch den um etwa sechzehn Jahre älteren Selmar Victor zu einem Zeitpunkt heiratete, als es eigentlich keine gemeinsame Zukunft mehr zu planen gab, hatte vielleicht tatsächlich seinen Grund in Charlotte Guthmanns Vermutung, dass auch sie durch die Ehe mit dem inzwischen 67jährigen Ehemann vorerst vor dem eigenen Abtransport geschützt bliebe. Man muss allerdings einschränkend festhalten, dass gerade bei der Mai-Deportation es sich um überwiegend ältere Menschen gehandelt hat, die Deportation am 10. Juni bestand dann allerdings nahezu ausschließlich aus arbeitsfähigen Menschen unter 65 Jahren. Eugenie war nach der Heirat am 19. Mai 1942 ebenfalls in das Judenhaus in der Herrngartenstr. 11 zu ihrem Ehemann gezogen. Zuvor hatte sie bis zum 26. April 1939 in der Stiftstr. 8 gewohnt, hatte dann bis zu ihrem Umzug in das Judenhaus noch als Untermieterin in der Niederwaldstr. 1 eine Unterkunft.[39]
In der Niederwaldstraße hatte die Devisenstelle am 16. Juli 1940 noch eine Überwachungsmappe für sie mit der Nummer JS 6043 angelegt.[40] Sie bat darum, sie von der Anlage eines kostenpflichtigen Sicherungskontos zu verschonen, da sie nur ein Bruttomonatsgehalt von 115 RM erhalte und keine Vermögenswerte besitze, was von ihrem Arbeitgeber Berthold Guthmann bestätigt wurde.[41] Die Devisenstelle verzichtete auf das gesicherte Konto, erlaubte auch weiterhin ihr Gehalt in bar entgegennehmen zu dürfen, verlangte aber das ausgefüllte und unterschriebene Formular zur Vermögenserklärung umgehend zurückzuschicken. In einem letzten, kurzen Schreiben vom 9. Juni 1942 – es war der Tag vor dem Transport, für den sie ohne ihre Eheschließung mit großer Wahrscheinlichkeit ausersehen gewesen wäre – teilte sie der Behörde ihre Eheschließung und ihre neue Adresse im Judenhaus mit.
Dort konnte das Paar im Hinterhaus, wo die beiden über zwei Zimmer verfügten,[42] noch etwa ein Vierteljahr gemeinsam leben, bevor auch sie die Aufforderung erhielten, sich am letzten Sabbat des Monats August in der Synagoge in der Friedrichstraße einzufinden. Hier wurden die letzten organisatorischen Maßnahmen zur Enteignung der dort versammelten Juden getroffen. Heimeinkaufsverträge wurden von denjenigen unterschrieben, die noch über etwas Vermögen verfügten, Gepäck wurde kontrolliert und alle mussten sich mit Namensschildern für den anstehenden Transport ausstatten.
Für diese Stunden bedrückender Sorge und Angst hatten sich die Gestapoleitung noch ein besonders zynisches Programm überlegt, bei dem Selmar und Eugenie Victor und dem Ehepaar Hirsch eine herausragende Rolle zugedacht war. Man hatte ihnen zu diesem Zweck extra erlaubt, ihre Instrumente mitzunehmen, um im Hof der Synagoge ein Abschiedskonzert geben zu können. Gestapochef Oberst Krause bestimmte das Programm des Vortrags, wobei er als Krönung die Arie des Sarastro aus Mozarts Zauberflöte spielen ließ: „In diesen heil’gen Hallen, kennt man der Rache nicht!“[43]
Am regnerischen, grauen Morgen des folgenden Tages, es war der 1. September 1942, setzte sich der Zug mit etwa 360 hauptsächlich älteren Juden in Richtung Bahnhof in Bewegung. An der dortigen Viehverladerampe bestiegen sie den Zug, der sie zunächst nach Frankfurt brachte, wo weitere Juden hauptsächlich aus der Stadt selbst, aber auch aus dem gesamten Regierungsbezirk Wiesbaden hinzukamen. Als Zug „Da 509“ verließ er den Frankfurter Güterbahnhof mit seiner Ladung von 1100 Menschen, um bei Ankunft an seinem Zielort Theresienstadt die Bezeichnung „XII/2“ zu erhalten.[44] Von diesem Transport gab es 32 Überlebende. Weder Selmar Victor noch Eugenie Victor gehörten dazu. Aber beiden gelang es, noch eine längere Zeit in diesem Ghetto zu überleben, vermutlich auch deshalb, weil gerade Eugenie Victor eine gewisse Lebenstüchtigkeit besaß, mit der sie sich auch den unmenschlichen Bedingungen in dieser Vorhölle anpassen konnte.
Dank der Tatsache, dass Charlotte Guthmann / Opfermann später selbst nach Theresienstadt deportiert wurde und dieses Ghetto wie auch weitere Lager überlebte, verfügen wir über Zeugnisse vonEugenie Victor in Theresienstadt.
Am 10. Juni 1943 war Charlotte Guthmann mit ihren Eltern und ihrem Bruder von Frankfurt aus selbst nach Theresienstadt gekommen und schon kurz nach Ankunft des Transports damit überrascht worden, dass sich ein „Besuch“ in der Baracke ihrer Mutter angekündigt hatte. Gefangene, die an den entsprechenden Schaltstellen des Lagers saßen, waren immer informiert, von wo neue Gefangene eintrafen, wann andere Gruppen in andere Lager abtransportiert werden sollten usw. Die Person, die sich als Besuch angekündigt hatte, war Eugenie Victor, die von der Ankunft eines Transports aus Frankfurt erfahren hatte. Charlotte Guthmann hat in ihren Erinnerungen dieses Wiedersehen mit der früheren Sekretärin ihres Vaters in Theresienstadt festgehalten:
„Da stand ein hutzeliges, kleines, altes Frauchen vor mir, mit tränenüberströmten Gesicht, die uns umarmte und schluchzte: ‚Frau Guthmann, Lotte, – Frau Guthmann, Lotte’… . Ich hatte keine Ahnung, wer das war. Die alte Frau weinte immer nur und sagte ‘Aber Lottekind, kennst Du mich denn nicht?’ Es war furchtbar peinlich. Ich glaubte, die Stimme zu erkennen, aber die Frau selbst hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen.
Meine Mutter mußte es mir endlich sagen: es war ‘Fräulein Löwenstein’. Fräulein Löwensteim, oder Eugenie, wie sie sich nannte, hatte jahrelang bei meinem Vater im Büro in Wiesbaden gearbeitet. Sie war etwa 50 Jahre und ursprünglich für den Abtransport nach ‘dem Osten’ vorgesehen. (…)
Eugenie Löwenstein konnte doch nicht die gleiche Frau sein wie das verhutzelte Weiblein, das da schluchzend vor mir stand? Aber, wie so vieles, das unglaublich schien, war auch dieses wahr.
Heute weiß ich nicht mehr, welche Arbeit Eugenie Löwenstein zu verrichten hatte, während sie in Theresienstadt war. Aber an dem Tag nach unserer Ankunft hatte sie zufällig frei. Und sie war gekommen, um uns aufzusuchen und uns zu helfen. Mir liefen selbst dicke Tränen die Backen herunter. Fräulein Löwenstein war immer so gepflegt und hatte immer so gut gerochen, nach ‚4711’ oder ‚Maria Farina’. Das war jetzt durchaus nicht mehr der Fall. Ich lernte bald, daß Trinkwasser eine Rarität war, Wasser zum Waschen gab es selten und immer nur in ungenügendem Maß. Baden konnte man überhaupt nicht, und zum Duschen brauchte man besondere Erlaubnisscheine, und die waren immer nur etwa alle drei Monate erhältlich. Auch die wenigen vorhandenen Toiletten hatten selten Wasser zum Nachspülen bei der überhäufigen Benutzung.
Eugenies Kleider waren ziemlich abgerissen, von einer undefinierbaren, dunklen, fast schwarzen Farbe und paßten ihr gar nicht. Sie erzählte uns, daß sie von ihrem Wiesbadener Abtransportgepäck nie wieder etwas gesehen hätte. Was sie auf dem Leib trug, war geerbt von Nachbarn und anderen Lagerinsassen, die inzwischen gestorben waren oder von Theresienstadt aus weiter abtransportiert worden waren. Ihr Mann war ebenfalls tot.[45] Und wenn ich mich recht erinnere, waren Dr. Hirsch und seine junge Frau entweder gestorben oder weiter abtransportiert worden, kurz nach der Ankunft m Theresienstadt. (…)
Eugenie gab uns nicht nur Auskunft über gemeinsame Bekannte, Verwandte und Freunde, sondern sie gab uns unendlich wertvolle Ratschläge. So schlug sie vor, daß wir ein Curriculum Vitae vorbereiten sollten, das bei der Arbeitseinweisung helfen würde. Zu Anfang wurde jeder in die Arbeitskolonne eingeteilt, zum Putzen oder anderen täglich sich ändernden Gruppenarbeiten. Wenn wir erst vom Arbeitsprogramm erfaßt wären, so sollten wir Augen und Ohren offen halten nach Möglichkeiten, die entweder mit der Verpflegung oder mit der Verwaltung zu tun hätten. Die meisten dieser Dienste wurden von den Häftlingen gehalten, die schon lange in Theresienstadt waren. Diese Leute hatten die ärgsten Zeiten überlebt und halfen sich gegenseitig oder persönlichen Bekannten, ‚bessere’ oder weniger gefährliche Arbeit zu verrichten.“’[46]
Trotz vieler anderer wichtiger Tipps für den alltäglichen Überlebenskampf, konnte sie selbst letztlich diesen Kampf nicht gewinnen. Sie verstarb am 18. Juli 1944 in Theresienstadt, ihr Mann war bereits am 24. April des gleichen Jahres im Ghetto zu Tode gekommen.[47]
In Wiesbaden hat man zur Erinnerung an das ermordete Ehepaar im Juni 2007 in der Johannisberger Str. 9 zwei Stolpersteine verlegt. Das ist insofern nicht ganz korrekt, weil Eugenie Victor in diesem Haus selbst nie gewohnt hat. Das Gedenken an Sie bleibt davon aber unberührt. [48]
Veröffentlichet: 27. 11. 2020
Anmerkungen:
[1] HHStAW 428 3408 (Aktendeckel).
[2] HHStAW 428 3408a (10).
[3] Ebd. (49).
[4] Ebd. 51.
[5] Ebd. (337). In ihrem Sterbeeintrag lautet der Vorname hingegen Gadassa, siehe Sterberegister Frankfurt 1231 / 1938. Im Jüdischen Adressbuch von 1935 ist er wiederum mit Gadena angegeben. Da der Sterbeeintrag das einzig amtliche Papier darstellt, wird sie im Folgenden mit dem Vornamen Gadasse bezeichnet.
[6] Angabe aus dem Sterbeeintrag von Gadasse / Gadassar Victor, Sterberegister Frankfurt 1231 / 1938. Ob die Mutter aus der großen Familie Lurie entstammte, die auch anderweitige Verbindungen nach Wiesbaden hatte, konnte nicht geklärt werden, siehe Lourie, Besitzer des Judenhauses Hallgarter Str. 6.
[7] „Zur näheren Begründung meines eingereichten Gesuchs um gütige Gewährung eines Gehaltsvorschusses gebe ich als weiteren triftigen Grund ganz gehorsamt (!) an, dass meine Frau in wichtigen Geschäftsangelegenheiten unbedingt nach Russland fahren muss und ich zu der Reise das Geld zu beschaffen habe. Außerdem muss ich einige dringende Rechnungen erledigen.“ Ebd. (83).
[8] Ebd. (165).
[9] Ebd. (181).
[10] Ebd. (212).
[11] Ebd. (235). Die Schwester muss Anfang November 1924 verstorben sein. In einem Brief bat Selmar Victor am 14 November um eine Beurlaubung, um den Nachlass der Schwester regeln zu können, ebd. (281).
[12] Ebd. (262 ff.). Hervorhebung im Original.
[13] Ebd. (296).
[14] Siehe zu den Wirkungen der Brüning’schen Deflationspolitik in der Beamtenschaft Mommsen, Hans, Die Stellung der Beamtenschaft in Reich, Ländern und Gemeinden in der Ära Brüning, in: VfZ Jg. 21, 1973 Heft 2, S. 151-165.
[15] HHStAW 428 3408a (420).
[16] Ebd. (457).
[17] Fritz, Sven, Die Vertreibung der ‚Juden’ und ‚politisch Untragbaren’ aus den Theatern Wiesbaden, Kassel, Mainz und Gießen, in: Heer, Hannes u.a., Verstummte Stimmen, Berlin 2011, S. 269 f. Die Umbenennung der Straße hat in Wiesbaden hohe Wellen geschlagen und konnte nach langen Auseinandersetzungen nur gegen den Willen der Bewohner und des Ortsbeirats durchgesetzt werden.
[18] Paul Bekker ging danach zunächst nach Berlin. Nach der „Machtergreifung“ hielt er sich zunächst in verschiedenen europäischen Ländern auf, emigrierte dann 1934 in die USA.
[19] HHStAW 428 3408b (1).
[20] Siehe zu den damaligen Vorgängen und zum Schicksal der übrigen Betroffenen Fritz, Vertreibung der Juden, S. 279 ff.
[21] Ebd. S. 286.
[22] (1) Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand (§§ 8 ff.) zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen.
(2) Abs. 1 gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Vater oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen können der Reichsminister des Innern im Einvernehmen mit dem zuständigen Fachminister oder die obersten Landesbehörden für Beamte im Ausland zulassen.
[23] HHStAW 428 3408b (1a, 2).
[24] Ebd. (3).
[25] Ebd. (4).
[26] Ebd. (9).
[27] Ebd. (10).
[28] Ebd. (22).
[29] Ebd. (23).
[30] Ebd. (28).
[31] Ebd. (30, 31).
[32] Ebd. (49).
[33] Ebd. (54).
[34] Ebd. (57, 58). Als Ruhegeld sollte Selmar Victor jährlich 4.433 RM erhalten, ebd. (64).Ob dies tatsächlich bis zu seiner Deportation der Fall war, lässt sich auf Grund fehlender Akten nicht sagen.
[35] Sterberegister Frankfurt 1231 / 1938. Sie ist nicht in Wiesbaden bestattet worden.
[36] Stationen, S. 92.
[37] Heiratsregister Colmar 169 / 1889. Das Heiratsdatum war der 23.10.1889.
[38] Heiratsregister Wiesbaden 441 /1942.
[39] Sie wohnte laut Gestapokarteikarte bei Jourdan. Um welches Mitglied der Familie Jourdan es sich dabei genau handelte, geht aus dem Eintrag nicht hervor. Im letzten Wiesbadener Adressbuch von 1938 ist unter dieser Adresse kein Bewohner mit diesem Namen eingetragen.
[40] HHStAW 519/3 5081 (1).
[41] Ebd. (3, 5).
[42] Siehe unbekannte Liste X 3.
[43] Stationen, S. 92.
[44] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 317 ff.
[45] Zumindest in diesem Punkt ist die Erinnerung von Charlotte Guthmann / Opfermann falsch. Selmar Victor war zum Zeitpunkt des Eintreffens der Familie Guthmann mit Sicherheit noch am Leben.
[46] Stationen, S. 91-95.
[47] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/35356-eugenie-victor/. (Zugriff: 8.11.2020) und https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/35361-selmar-victor/. (Zugriff: 8.11.2020)
[48] Das Aktive Museum Spiegelgasse hat zur Erinnerung an das Paar zudem ein Erinnerungsblatt veröffentlicht, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/Erinnerungsblatt%20Selmar%20und%20Eugenie%20Victor.pdf. (Zugriff: 8.11.2020)