Frieda Kahn, ihre Tante Lina Strauss und ihre Geschwister Adolf und Karl Kahn


Judenhaus Bahnhofstr. 46 Wiesbaden
Das ehemalige Judenhaus Bahnhofstr. 46 heute
Eigene Aufnahme
Wiesbaden Bahnhofstr. 46 Sebald Strauss
Lage des ehemaligen Judenhauses
Juden Bahnhofstr 46 Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Bahnhofstr. 46

 

 

 

 

 

 


 

Frieda Kahn, die wie Bernhard Bodenheimer am 23. Mai 1942 dazu ausgewählt worden war, den Transport von Frankfurt nach Izbica aufzufüllen, war eine von drei Frauen, die im September 1941 in das Judenhaus einzogen. Zwei Tage vor ihr waren bereits ihre Tante Lina Strauss und Adele Bonne dort einquartiert worden.[1]

Lina Strauss, Marianne Strauss Kahn, Löb Leopold Kahn, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Kahn Breuer, Karl Kahn, Kurt Kahn, Margot Kahn, Marianne Kahn Stichler, Siegfried Samuel Kann, Bella Berg Kahn, Simon Leo Kahn, Lotte Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden, Klaus Flick
Stammbaum der Familien Kahn und Strauss
GDB

Frieda Kahn entstammte einer sehr alten jüdischen Familie, die, soweit verfolgbar, seit dem 18. Jahrhundert in der Rhein-Main-Region ansässig war. Ihr Großvater, ursprünglich Heyum mit dem Vatername Berle, geboren am 1. Januar 1805 in Weilbach, hatte 1841 den Nachnamen Kahn angenommen. Nach der Heirat im Jahr 1834 mit der aus Mainstockheim stammenden Magd Breindel / Babette Fisch zog das Paar in das benachbarte Wallau.[2] Hier wurden auch die sieben Kinder, darunter auch Friedas Vater Löb / Leopold Kahn geboren.[3] Möglicherweise war bereits Heyum Kahn, der in den Urkunden als „Handelsmann“ bezeichnet wird, im Viehhandel tätig. Löb selbst erlernte den Metzgerberuf und spätestens er legte den Grundstein für diese handwerkliche Tradition der Familie. Sein Bruder Bernhard Berle heiratete am 20. April 1876 Regina Baum und schuf damit die Verbindung zu einer anderen sehr erfolgreichen jüdischen Metzgerdynastie Wiesbadens, die schon im 18. Jahrhundert von Maier Abraham in Schierstein begründet worden war.[4]

Auch Löb Kahn blieb bei der Wahl seiner Ehefrau der Branche treu. Marianne Strauss, geboren um 1864 im unterfränkischen Hobbach, war die Tochter des Viehhändlers Amsel Strauss aus Wackenbuchen bei Hanau, der mit seiner Frau Regina, geborene Heilmann, später auch nach Wiesbaden zog.[5] Zwei Jahre nach Marianne war am 8. Juli 1871 deren Schwester Lina geboren worden, die zuletzt das Schicksal ihrer Nichte Frieda Kahn teilte und mit ihr zusammen im Judenhaus in der Bahnhofstr. 46 ein Zimmer bewohnte.

Noch ein weiteres der insgesamt drei Kinder des Ehepaars Löb / Leopold und Marianne Kahn blieb dem Handwerk des Vaters verbunden. Adolf Kahn, der am 20. Januar 1893 geborene jüngere Bruder von Frieda, wurde ebenfalls Metzger und betrieb in der Blücherstr. 3 sein Ladengeschäft. Der zuletzt am 16. Juni 1900 geborene Karl Kahn wich allerdings von der Familientradition ab und wurde Kaufmann.

Frieda, die älteste der drei Geschwister und spätere Bewohnerin des Judenhauses, heiratete am 21. Oktober 1909 den Metzger Gustav Kahn, dessen Eltern, Simon Alexander Kahn und Henriette, geborene Strauß, aus Bonbaden bei Wetzlar nicht nur denselben Namen wie die Vorfahren von Frieda trugen, sondern als Viehhändler auch in der gleichen Branche aktiv waren.[6] Von diesem kooperativen Netzwerk jüdischer Metzger und Viehhändler profitierten nicht nur sie selbst, etwa durch günstigere gemeinsame Einkäufe,[7] sondern auch die Kunden, zu denen schon immer auch eine große Zahl von Nichtjuden gehörte.

Lina Strauss, Marianne Strauss Kahn, Löb Leopold Kahn, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Kahn Breuer, Karl Kahn, Kurt Kahn, Margot Kahn, Marianne Kahn Stichler, Siegfried Samuel Kann, Bella Berg Kahn, Simon Leo Kahn, Lotte Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden, Klaus Flick
Vermögenserklärung von Gustav Kahn aus besseren Zeiten
HHStAW 685 347g (6)

Wie gut die Geschäfte früher auch für die Metzgerei von Gustav und Frieda Kahn, die in der Wellritzstr. 45/47 gelegen war, liefen, zeigen die Steuerunterlagen der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Sie offenbaren aber auch die rückläufige Tendenz, die sicher in dieser Zeit zum einen durch die allgemeine wirtschaftliche Krise, aber auch durch deren politische Verarbeitung ausgelöst worden war. Die jüdischen Metzger gehörten zu den ersten kollektiven Opfern antisemitischer Aktionen von arischen Geschäftsleuten und Handwerkern in Wiesbaden.[8]
1927 bezifferte Gustav Kahn sein Betriebsvermögen auf etwa 22.000 RM.[9] Eingeschlossen war dabei der Gebäudeanteil des Hauses in der Wellritzstraße, das im Besitz der Kahns war. Im dortigen Laden wurden die Waren zumeist von Frieda Kahn selbst zum Verkauf angeboten.

Lina Strauss, Marianne Strauss Kahn, Löb Leopold Kahn, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Kahn Breuer, Karl Kahn, Kurt Kahn, Margot Kahn, Marianne Kahn Stichler, Siegfried Samuel Kann, Bella Berg Kahn, Simon Leo Kahn, Lotte Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden, Klaus Flick
Auszug aus der Betriebsprüfung von 1929 über die stattgefundenen Schlachtungen
HHStAW 685 347e (6)

Eine Betriebsprüfung, die im Jahr 1929 durchgeführt wurde, listet die Zahl der Schlachtungen und die Summe der Schlachtvieheinkäufe detailliert auf. Sie gewährt somit einen umfassenden Einblick in die bedeutende Rolle, die die jüdischer Metzger selbst in diesen Krisenjahren in Wiesbaden einnahmen. Die gesamten Vieheinkäufe in dem besagten Jahr beliefen sich auf rund 130.000 RM, die Zahl des geschlachteten Viehs auf mehr als 600 Stück. Da nahezu ein Drittel des Schlachtviehs Schweine waren, ist davon auszugehen, dass auch eine große Zahl von Nichtjuden zum Kundenkreis der Kahns zählte.[10] Selbst in den Krisenjahren 1929 und 1930 konnten bei Umsätzen um die 150.000 RM Bruttogewinne von etwa 30.000 RM erwirtschaftet werden, von denen nach Abzug der Unkosten noch immer monatlich etwa 1.000 RM als zu versteuerndes Einkommen übrig blieben.[11] Ab 1932 nahmen aber die Umsätze und damit auch das Einkommen der Kahns kontinuierlich ab. Betrugen die Einnahmen 1932 zunächst noch knapp 100.000 RM, so schrumpften sie bis 1934 auf 76.000 RM, was gegenüber dem Jahr 1930 eine Halbierung bedeutete. Durch das bereits 1933 erlassene Schächtungsverbot fielen zum einen strenggläubige Juden als Kunden aus, die antisemitische Hetze gegen jüdische Metzgereien verunsicherte zum anderen zunehmend auch die bisherigen nichtjüdische Käufer, zumal die jüdischen Schlachter dadurch an Attraktivität verloren, dass sie ab 1934 am Betreten des Schlachthofs gehindert wurden und deshalb nicht mehr in der Lage waren, wie bisher günstige und zugleich hochwertige Ware anzubieten.

Angesichts dieser Verbote, die die arische Konkurrenz mit Hilfe der NSDAP-Führung in Wiesbaden erwirkt hatte, war es für jüdische Metzger nicht mehr möglich, ihre Betriebe weiter aufrechtzuerhalten. Mit einem knappen Satz an die „sehr verehrten Herren“ im Finanzamt, teilte auch Gustav Kahn am 15. April 1935 der Behörde mit, dass er seinen Betrieb zum 1. April eingestellt habe.[12] Damit war, wie es scheint, mehr als nur ein Geschäft aufgegeben worden, Gustav Kahn selbst starb nur wenige Monate später am 9. November des gleichen Jahres. Auch Frieda hatte – wie ein ärztliches Attest aus dem Jahr 1939 belegt – „durch die Aufregung der letzten Jahre“ eine dauernde Herzschädigung erworben.[13]

Der Niedergang des Geschäfts und die inzwischen alltäglichen Anfeindungen waren nicht das einzige Leid, das Gustav Kahn und seine Frau zu verarbeiten hatten. Ihre beiden Kinder waren bereits im Kindesalter verstorben. Kurt, geboren am 15. Dezember 1910, war nur vier Jahre, seine Schwester, 1919 geboren, sogar nur eine Woche alt geworden.[14]

Lina Strauss, Marianne Strauss Kahn, Löb Leopold Kahn, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Kahn Breuer, Karl Kahn, Kurt Kahn, Margot Kahn, Marianne Kahn Stichler, Siegfried Samuel Kann, Bella Berg Kahn, Simon Leo Kahn, Lotte Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden, Klaus Flick
Vermögenserklärung von Lina Strauss vom August 1940
HHStAW 519/3 8029 (3)

Frieda Kahn war nach dem Tod ihres Mannes und ohne Kinder dennoch nicht auf sich allein gestellt. Es muss weiterhin einen sehr engen Kontakt zur Familie ihres Bruders Adolf Kahn und besonders zur Tante Lina Strauss, der Schwester ihrer Mutter, bestanden haben. Letztere wohnte zusammen mit Frieda Kahn in der Wellritzstraße und wurde dadurch für sie sicher zu einer wichtigen Stütze in dieser schwierigen Zeit. 1940 war auch sie in das Blickfeld der NS-Finanzbehörden geraten. Am 15. August war eine sogenannte „Judensicherungsmappe“ unter dem Aktenzeichen JS-9754 angelegt worden, mit deren Hilfe von diesem Zeitpunkt an ihre finanziellen Verhältnisse kontrolliert werden konnten. Bis zur Abgabe des ihr zugesandten Formulars, in dem sie Auskunft über ihre finanziellen Verhältnisse geben musste, gestand man ihr einen vorläufigen Freibetrag von 300 RM zu, über den sie ohne weitere Genehmigung verfügen können sollte.[15] In ihrer Vermögenserklärung, die sie knapp zwei Wochen später an die Devisenstelle übermittelte, gab sie an, über ein Wertpapierdepot von 1.620 RM zu verfügen. Sie sei aber „steuerfrei“, was heißt, dass ihr Einkommen, wie auch ihr Vermögen unterhalb der Bemessungsgrenze lagen. Ergänzend bemerkte sie: „Meine Nichte Frau Frida Kahn, geb. Kahn Wiesbaden Wellritzstrasse 45 unterhält mich vollständig. Die Zinsen sowie das Kapital der obigen Wertpapiere verwende ich für meine persönlichen Bedürfnisse (Krankheit etc.).[16] Ihr Freibetrag wurde daraufhin auf 100 RM reduziert.

 

Lina Strauss, Marianne Strauss Kahn, Löb Leopold Kahn, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Kahn Breuer, Karl Kahn, Kurt Kahn, Margot Kahn, Marianne Kahn Stichler, Siegfried Samuel Kann, Bella Berg Kahn, Simon Leo Kahn, Lotte Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden, Klaus Flick
Adolf Kahn
Sammlung S. Nägele

Die Geschwister von Frieda Kahn blieben mit ihren Familien von der Verfolgung ebenfalls nicht verschont. Adolf Kahn hatte nach seiner Ausbildung als Metzger am 26. März 1929 in Wiesbaden die Modistin Hedwig Sofie Breuer geheiratet.[17] Da Hedwig Breuer keine Jüdin war, galt die Ehe später als „Mischehe“ und die am 4. Juli 1930 geborene Tochter Marianne als „Halbjüdin“ – ein Status, der aber keineswegs vor Verfolgung schützte.
Auch die Metzgerei von Adolf Kahn, mit der er in den Jahren vor 1933 sogar ein Einkommen von durchschnittlich etwa 2.000 RM erzielt hatte,[18] war von den Boykottaktionen, die sich nach 1933 sofort besonders gegen die jüdischen Metzger richteten, betroffen und musste im September 1935 geschlossen werden.[19] Die Ladeneinrichtungen und die Maschinen mussten zu einem völlig unangemessenen Preis an einem Altwarenhändler abgegeben werden, weil kein nichtjüdischer Metzger diese ankaufen wollte. Geradezu absurd oder auch zynisch muss es Adolf Kahn im Nachhinein vorgekommen sein, dass der Reichspräsident Hindenburg ihm im Jahr zuvor noch das Ehrenkreuz als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs verliehen hatte.[20]

Marianne Strauss Kahn, Leopold Kahn, Lina Strauss, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Breuer Kahn, Karl Kahn, Marianne Kahn Stichel, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Kaiser-Friedrich-Ring 43, Judenhäuser Wiesbaden, Klaus Flick
Adolf Kahn erhält im Mai 1935 noch das Ehrenkreuz für die Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs
Sammlung S. Nägele
Adolf Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Zwangsarbeitsnachweise von Adolf Kahn
Sammlung S. Nägele

 

 

 

 


 

 

Seiner wirtschaftlichen Grundlage beraubt, lebten Adolf Kahn, seine Frau und die Tochter Marianne in den folgenden Jahren von einer Wohlfahrtsunterstützung – ca. 15 RM die Woche – und von schlecht bezahlten Hilfsarbeiten bzw. – besser – von Zwangsarbeit, die nicht viel mehr als die Unterstützung einbrachte.[21] Offenbar ging es der Familie damals insgesamt so schlecht, dass Marianne im Sommer 1938 zu einem etwa vierwöchigen Kinderkuraufenthalt in das jüdische Kinderheim ‚Wartheim’ im schweizerischen Heiden geschickt wurde.[22]

Ein reger Austausch von Briefen und Grußkarten zwischen Marianne und den Eltern sowie anderen Verwandten, darunter auch „Tante Lina“ – eigentlich die Großtante von Marianne -, geben Auskunft über diese Wochen, in denen die Kinder offenbar den damals typischen, sehr strengen Verhaltensregeln ausgesetzt waren. Dennoch scheint es Marianne dort sehr gut gefallen zu haben, soweit man das den knappen Worten solcher Mitteilungen entnehmen kann. So schrieb sie am 28. Juli 1938 den Eltern:
“Liebe Eltern,
mir geht es sehr gut. Wir stehen um 7.00 Uhr morgens auf und abends um 7.00 Uhr ins Bett. Wir gehen oft spazieren, das ist sehr schön. Mittags müssen wir zwei Stunden schlafen. Wir dürfen nur einmal in der Woche schreiben. Wir spielen immer sehr schön. Wir haben eine sehr schöne Aussicht. Wir sind jeden Tag im Freien. Der Bodensee ist sehr schön
.“[23]

Immerhin war es für Marianne noch einmal eine Zeit relativer Unbeschwertheit, bevor mit der Reichspogromnacht der Alltag für die jüdische Bevölkerung noch unerträglicher wurde.

Adolf Kahn, Marianne Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Karte von Marianne Kahn an ihren Vater im KZ Dachau
Sammlung S. Nägele

Im Zusammenhang mit diesem Ereignis war auch Adolf Kahn verhaftet und nach Dachau verbracht worden.[24] Obwohl bzw. weil er durch die Ehe mit Hedwig, einer Christin, die aber mit der Eheschließung der jüdischen Glaubensgemeinschaft beigetreten war, in einer „Mischehe“ lebte, allerdings in einer „nicht privilegierten“, blieb er von der Aktion nicht verschont. Bis Anfang April 1939 hielt man ihn im KZ Dachau bei München fest, während seine Frau Hedwig verzweifelt nach Wegen suchte, um gemeinsam aus Deutschland herauszukommen. Immer wieder fragte Adolf in seinen inhaltlich, wie auch im Umfang eingeschränkten Briefen aus dem KZ bei seiner Frau nach, wie weit ihre Bemühungen gediehen seien, so zuletzt auch am 26. März 1939:
“Meine Lieben,
hoffe euch alle bei bestem Wohl, ein gleiches ich auch von mir berichten kann. Liebe Hedwig, Euren Brief vom 9. 2. habe ich, mit bestem Dank erhalten und wirst Du hoffentlich inzwischen Antwort aus England haben, einmal wird es, so Gott will, klappen mit unserer Auswanderung. Habt Ihr noch etwas von unseren lieben Verwandten in Amerika gehört und wie weit ist es mit Stuttgart ?“
[25]

Marianne Strauss Kahn, Leopold Kahn, Lina Strauss, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Breuer Kahn, Karl Kahn, Marianne Kahn Stichel, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Kaiser-Friedrich-Ring 43, Judenhäuser Wiesbaden, Klaus Flick
Adolf Kahns Brief vom 26. 3. 1939 aus Dachau
Marianne Strauss Kahn, Leopold Kahn, Lina Strauss, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Breuer Kahn, Karl Kahn, Marianne Kahn Stichel, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Kaiser-Friedrich-Ring 43, Judenhäuser Wiesbaden, Klaus Flick
Sammlung S. Nägele

 

 

 

 

 

 

Zwar ließ man ihn, von Kälte, Schwerstarbeit und Schlägen für immer gezeichnet,[26] am 6. April 1939 wieder nach Hause, ein Weg in die Freiheit, in ein Exilland, blieb aber aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen den Kahns verschlossen. Vermutlich fehlte es an den notwendigen finanziellen Mitteln.

Marianne Kahn, Judenhäuser Wiesbaden
Kinderbild von Marianne Kahn
Sammlung S. Nägele

Hedwig Kahn versuchte auch durch eine klare Distanzierung von der jüdischen Glaubensgemeinschaft die Lage ihrer Familie zu verbessern. Im Besonderen hatte sie dabei die Zukunft ihrer Tochter Marianne im Auge, die gar nicht erst in die staatliche, sondern im Oktober 1936 sofort in die jüdische Schule in der Mainzer Straße eingeschult worden war. Gemeinsam mit ihr trat Hedwig Kahn am 16. Juli 1940 wieder aus der Jüdischen Gemeinde aus und ließ Marianne wenige Wochen später am 2.September evangelisch taufen.[27] In einem eindringlichen Brief an den Regierungspräsidenten bat sie darum, ihrer nun nicht mehr jüdischen Tochter den Zugang zur „deutschen Schule“ zu gewähren. „Es liegt mir alles daran, dass meine Tochter unter den Einfluss der deutschen Schulerziehung kommt, da sie ihrem Wesen u. ihrer tatsächlichen Erziehung entsprechend in der jüdischen Schule seelisch zerbrechen wird.“[28]

Hedwig Kahn, Marianne Kahn, Adolf Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Brief von Hedwig Kahn an den Regierungspräsidenten
Hedwig Kahn, Marianne Kahn, Adolf Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Sammlung S. Nägele

Der Antrag wurde abgelehnt, aber erst ein Jahr später wurde ihr mitgeteilt, dass die kirchlichen Belege über die Konversion nicht ausreichen würden, sie müsse einen Arisierungsantrag für ihre Tochter stellen. Am 2. Oktober 1941 hatte sie auch das versucht, dennoch blieb ihr Antrag auf einen Schulwechsel bis in den Januar 1942 unbeantwortet, sodass Hedwig Kahn sich Anfang 1942 erneut an den Regierungspräsidenten wand – wieder ohne Erfolg. Am 30. Juni 1942 wurde Marianne mit einem guten Zeugnis aus der Jüdischen Schule entlassen.[29] Zunächst wurde sie dann als 14jährige in einer Kartonagefabrik in der Frankfurter Straße dienstverpflichtet. Nach einem erfolgreichen Vorstellungsgespräch erhielt sie dann aber im April 1944 zunächst eine Anstellung als Hilfsarbeiterin beim Opel-Autohaus am Bahnhofsplatz in Wiesbaden. Der Stundenlohn betrug 47 Pfennige plus 2 Pfg. Zulage. Schon im Mai wurde sie auf Grund ihrer Leistungen dann zur Angestellten befördert.[30]

Jüdische Schule Mainzer Str, Wiesbaden, Marianne Kahn

Mariannes Klasse in der Jüdischen Schule in der Mainzer Straße bei einem Sportfest.
Von links: Erich Kahn, Manfred Rosner, Inge Löwenberg, Oskar Bogner Hannah Kaufmann, Günther Wolf, Seppl Baum, Lore Löb, Siegfried Wolf, Marianne Kahn, Gustl Rosner, Margot Israel, Anita Fried
Erich Kahn und Anita Fried wurden mit Marianne Kahn im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert.

Die Distanzierung von Hedwig Kahn gegenüber der jüdischen Gemeinschaft mag heute befremden, aber aus der Sicht der Mutter war es nur allzu verständlich, wenn sie alles versuchte, um Marianne aus der diskriminierenden Situation und den täglichen Anfeindungen, der alle Kinder der Jüdischen Schule permanent ausgesetzt waren, herauszuholen.

Gustav Kahn, Lina Kahn, Adolf Kahn, Marianne KahnFrieda Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden
„Reichsmarmeladenkarte“ für die Familie von Adolf Kahn aus dem Jahr 1944
HHStAW 518 778 (148)

Kahns blieben während der gesamten Zeit, wie alle anderen Juden auch, der um zunehmenden Entrechtung ausgesetzt. Auch vom Raub ihrer Habe blieben sie nicht verschont. So hatten auch sie alle elektrischen Geräte im Haus abzugeben, darunter ein Radioapparat, desgleichen die Pelze von Hedwig Kahn und viele andere Kleidungsstücke.[31]

Weiterhin lebte die Familie von der Fürsorge und von dem kargen Lohn der Zwangsarbeit. 1940 wurde auch Adolf Kahn von der Devisenstelle aufgefordert seine Vermögensverhältnisse offen zu legen. Er schickte das unausgefüllte Formular zurück, gab an, kein Vermögen zu besitzen, stattdessen z. Zt. als Straßenbauarbeiter bei der Limburger Firma ‚W. und I. Scheidt’ für einen Wochenlohn von 30 RM beschäftigt zu sein. Daraufhin verzichtete die Behörde auf eine Sicherungsanordnung, setzte aber den Freibetrag statt der bisher vorläufig gewährten 300 RM auf 150 RM herab.[32]

Hedwig Kahn, Marianne Kahn, Adolf Kahn, Judenhaus Wiesbaden
Jugendbild von Marianne Kahn
Sammlung S. Nägele

Trotz aller Verfolgung, Demütigung und Gewalt war Adolf Kahn und auch seiner Tochter Marianne, das schlimmste Schicksal seiner jüdischen Glaubensbrüder bisher erspart geblieben: die Deportation. Der mehr als unsichere Status der „Mischehe“ bzw. der des „Mischlings ersten Grades“ hatte beide bislang davor bewahrt. Doch nachdem die meisten deutschen Juden bis zum Mai 1943 deportiert worden waren – Deutschland galt ab diesem Zeitpunkt offiziell als „judenfrei“ – planten die Nazis sich auch der aus unterschiedlichen Gründen hier noch lebenden ca. 40.000 Juden zu entledigen.[33] Besonders gefährdet waren die bisher verschonten jüdischen Partner in „nichtprivilegierten Mischehen“. Kurz vor Kriegsende, am 14. Februar 1945, wurden Adolf Kahn und auch seine Tochter Marianne noch nach Theresienstadt verbracht. Es war ein letzter großert Transport, der aus insgesamt 23 jüdischen Partner aus Mischehen und deren Kindern bestand.[34] Offenbar war ihnen das Ziel bei der Abschiebung noch nicht bekannt, denn am 14. Februar schrieb er von Frankfurt aus an seine Frau, dass es um 16.30 weitergehe, „wie man hört, nach Thr.“ [Theresienstadt].[35] Sowohl der Vater als auch die Tochter versuchten die zurückgebliebene Ehefrau bzw. Mutter zu beruhigen. Es ginge ihnen gut, sie würden gut versorgt und selbst nach der Ankunft in Theresienstadt berichteten sie nach Hause, dass man sich keine Sorgen um sie zu machen brauche. So schrieb Marianne am 26. Februar 1945 an ihre Mutter:
“Liebe Mutti
Es geht uns gut. Wir sind gesund und munter. Papa und ich sehen uns jeden Tag. Das essen (sic!) ist gut. Bekomme Kinderzulage. Mach dir keine Sorgen. Bleibe gesund.
Grüße Küsse
Marianne“
[36]
In ihrem später angefertigten Lebenslauf gab sie an, in Theresienstadt in der Glimmerspalterei zum Arbeitseinsatz gezwungen worden zu sein.[37]

Auch über das Chaos und die grassierenden Seuchen, i. B. Flecktyphus, in der letzten Tagen vor der Übernahme des Lagers durch die Rote Armee,[38] ließ Marianne ihre Verwandten in Wiesbaden im Dunklen, wie einem langen Brief von Marianne vom 14. Mai, also kurz nach der Befreiung, zu entnehmen ist:
“Liebe Mutti, liebe Oma
Hoffentlich wird Euch dieser Brief bald erreichen. Habt Ihr unsere Karten erhalten. Macht Euch keine Sorgen um uns, es geht uns gut und werden wir hoffentlich in 3 – 4 Wochen bei Euch sein. Ich wohne im Jugendheim mit 14 Mädels auf einem Zimmer u. habe ein schönes, sauberes Federbett. Das Essen hier ist auch sehr gut. Arbeiten tue ich in der Landwirtschaft u. bin ich schon ganz braun verbrannt. Papa geht es nun gottseidank auch wieder besser. Er liegt seid 7 Wochen im Krankenhaus und ist er am Bruch operiert worden, auch war sein Fuß sehr schlimm. Ich kann ihn aber am Tag 2 – 3 Mal besuchen. Das ärgste haben wir Gott sei Dank überstanden Wir sind schon ohne Dekuration (?). Hoffentlich habt Ihr auch alles gut überstanden. Wir stehen hier unter dem Roten Kreuz u. bekommen wir Kinder sehr schöne Imbisse. Einmal gab es sogar eine Tafel Schokolade.
Was ich hier schreibe, beruht aber alles auf der Wahrheit u. könnt Ihr alles glauben. (…) Tante Frieda u. Onkel Emil haben wir getroffen, auch Lotte Gutmann u. deren Mutter. Sonst leider keine Bekannten mehr. (…) Wenn Ihr könnt schreibt uns bitte bald einmal. Macht Euch keine Gedanken wenn Ihr keine Post von uns bekommt, dies ist ein reiner Zufall. Gebt einmal acht eines Tages stehen wir vor der Tür. Das wird aber eine Wiedersehensfreude nach 3 Monaten langem auseinandersein. (…)“
[39]

Marianne Strauss Kahn, Leopold Kahn, Lina Strauss, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Breuer Kahn, Karl Kahn, Marianne Kahn Stichel, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Kaiser-Friedrich-Ring 43, Judenhäuser Wiesbaden, Klaus Flick
Sammlung S. Nägele
Marianne Strauss Kahn, Leopold Kahn, Lina Strauss, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Breuer Kahn, Karl Kahn, Marianne Kahn Stichel, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Kaiser-Friedrich-Ring 43, Judenhäuser Wiesbaden, Klaus Flick
Brief von Marianne Kahn aus Theresienstadt vom 14. Mai 1945

 

 

 

 

 

 

 

Im Juni konnten Vater und Tochter dann tatsächlich nach Wiesbaden zurückkehren, beide gezeichnet von Krankheit, Hunger und dem in Theresienstadt Erlebten.

Trotz allem erfahrenen Leid gelang Adolf Kahn in den schwierigen Nachkriegsjahren mit der Gründung einer Fleischagentur, die im Wiesbadener Schlachthof angesiedelt war, noch einmal ein beruflicher Wiederaufstieg. Hier traf er wieder mit den ehemaligen Berufskollegen zusammen, die zwölf Jahre zuvor entscheidend dazu beigetragen hatten, dass seine berufliche Existenz, sein Leben überhaupt zerstört wurde, ganz sicher keine leichte Situation.
Nach seinem Tod im Jahr 1953 wurde der Betrieb zunächst noch von seiner Witwe, dann von Wilhelm Stichel, einem Mitarbeiter, mit dem Marianne Kahn 1957 eine Ehe eingegangen war,[40] weitergeführt. Nachdem Marianne die, durch ihre unterbrochene Schullaufbahn entstandenen Lücken beseitigt hatte, arbeitete auch sie zunächst in Familienbetrieb als Bürokraft mit. Nachdem ihre Ehe im Jahr 1963 geschieden wurde, suchte sie sich eine berufliche Tätigkeit, die nicht mehr in der bisherigen Familientradition stand. Als Bürokraft arbeitete sie zunächst wieder im Opel-Autohaus, dann im Verlagswesen. Als ihre Mutter an Krebs erkrankte, übernahm sie die Pflege bis zu deren Tod im Jahr 1995. Ebenfalls an Krebs erkrankt, überlebte sie die Mutter nur um drei Jahre. Dieses doppelte Krankheitsschicksal war wohl der Grund dafür, dass sie einen beträchtlichen Teil ihres Erbes dem ‚Hospizverein Auxilium’ in Wiesbaden vermachte. Seinen Artikel über Marianne Kahn, der am 8. Mai 2021 im ‚Wiesbadener Kurier’ erschien schließt Heinz-Jürgen Hauzel mit den folgenden Worten:

Lina Strauss, Marianne Strauss Kahn, Löb Leopold Kahn, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Kahn Breuer, Karl Kahn, Kurt Kahn, Margot Kahn, Marianne Kahn Stichler, Siegfried Samuel Kann, Bella Berg Kahn, Simon Leo Kahn, Lotte Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden, Klaus Flick
Artikel im Wiesbadener Kurier vom 8.5.2021 über Marianne Kahn

„Im Oktober 1998 endete mit dem Tod von Marianne Stichel, geborene Kahn, ein deutsches Schicksal im 20. Jahrhundert. Zu ihrem Erbe gehört mehr als die materielle Hinterlassenschaft. Marianne, die nie ein Aufheben um sich gemacht hat, beantwortete die Grausamkeit eines Regimes und die Empathielosigkeit eines Volkes, die sie und ihre Familie hatten erleiden müssen, mit einem außergewöhnlichen Signal gesellschaftlich-mitmenschlicher Verantwortung – und wurde damit zu einem Vorbild.“[41]

 

Nach dem Krieg hatte Adolf Kahn auch wieder Kontakt zu seinem Bruder Karl aufnehmen können, der mit seiner Familie rechtzeitig aus Deutschland herausgekommen war und in seinem lateinamerikanischen Exilland Uruguay die Zeit des NS-Regime überlebte. Er hatte früher, zusammen mit der Familie seiner Schwester im Haus in der Wellritzstr. 45 gewohnt. Unter dieser Adresse war auch sein Geschäft angemeldet, das den etwas großspurigen Namen „Kaufhaus des Westens“ führte und Haus- und Küchengeräte anbot.
Sein Geschäftspartner war Siegfried Kahn, der Bruder seines mit Frieda verheirateten Schwagers Gustav. Vermutlich hat die Firma die Weltwirtschaftskrise nicht überstanden, denn ab dem 1. Mai 1930 lebte Karl Kahn für eine längere Zeit in Würzburg, wo er ein Geschäft für Porzellan, Glas, Haus- und Küchengeräten von einer Berta Löb übernommen hatte und es unter dem Namen „Würzburger Kaufhaus“ als alleiniger Inhaber betrieb. Sein Schwager Gustav, der damals noch lebte, hatte ihm „zur Selbstständigmachung“ ein Darlehen von ungefähr 18.000 RM gewährt.[42] Ob er dort seine Frau erst kennenlernte oder ob er ihretwegen nach Franken gezogen war, ist heute nicht mehr auszumachen. Am 31. Januar 1933, einen Tag nach Hitlers „Machtergreifung“, heiratete er in Würzburg Johanna Weikersheimer, die aus ihrer vorherigen Ehe eine fünfeinhalbjährige Tochter mit in die Ehe brachte.[43]
Vermutlich waren es zumindest nicht nur wirtschaftliche Schwierigkeiten,[44] die Karl Kahn im Jahr 1936 zur Aufgabe des Geschäfts zwangen. Es scheint sich vielmehr um eine „Arisierungsaktion“ gehandelt haben, denn der Laden wurde von einem nichtjüdischen Kaufmann übernommen und unter einem neuen Namen weiter betrieben.[45]

Am 14. Februar 1936 kehrte Karl Kahn nach Wiesbaden zurück und zog wieder in das Haus der inzwischen verwitweten Schwester, allerdings – wie dem Meldeschein zu entnehmen ist – ohne seine Frau und seine Stieftochter.[46] Von hier aus betrieb er nun die Auswanderung für sich und seine Familie. Die alte Darlehensschuld von inzwischen nur noch etwa 4.500 RM war ihm von seiner Schwester und der daran auch beteiligten Tante Lina diesmal „zur Ermöglichung einer Existenzgründung im Ausland … schenkungsweise erlassen“ worden. Sein eigenes Vermögen belief sich Ende 1936 auf ungefähr 5.000 RM. [47]

Von den Behörden erhielt er im November 1936 die notwendigen Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die er allerdings noch einmal erneuern lassen musste, da sich die Ausreise verzögerte. Am 6. Juni 1937 konnte sich die Familie dann von Genua aus nach Montevideo ausschiffen. In Uruguay lebte sie in den folgenden Jahren sehr bescheiden von den Erträgen eines kleinen Lebensmittelgeschäfts.[48]

 

Karl war durch seine rechtzeitige Flucht vor dem Novemberpogrom das Schicksal seines Bruders erspart geblieben. Aber auch Frieda bekam die Folgen dieser Ereignisse zu spüren. Zwar ist nicht klar, ob sie schon zuvor entsprechende Überlegungen angestellt hatte, aber mit der Auferlegung der am Vermögen orientierten „Sühneleistung“, blieb Frieda Kahn keine andere Möglichkeit mehr, als sich von ihrem Hausbesitz in der Wellritzstraße zu trennen. Ursprünglich war das 3 ½ a große Areal 1935 mit einem Einheitswert von 70.000 RM bewertet worden, unmittelbar vor dem Verkauf wurde dieser Wert auf 51.000 RM herabgesetzt.[49] Am 17. Dezember 1938 war ein Vertrag aufgesetzt worden, nach dem der Wiesbadener Elektromeister Stahl und seine Frau das Haus zum Preis von 50.000 RM erwerben sollten. Etwa die Hälfte des Preises sollte bar ausgezahlt werden, mit der anderen Hälfte sollten die auf dem Grundstück liegenden Hypotheken abgegolten werden. Die Übergabe des Hauses war schon auf den 1. Januar 1939 festgelegt worden,[50] allerdings bedurfte der Kaufvertrag wie üblich der Zustimmung des Regierungspräsidenten. Diese wurde aber erst im April erteilt, selbstverständlich mit der Auflage, das Geld auf ein gesichertes Konto einzuzahlen.[51] Da Frieda Kahn bis zu diesem Zeitpunkt noch kein Geld erhalten hatte, ihr aber dennoch Zwangsmaßnahmen zur Eintreibung der Judenvermögensabgabe angedroht worden waren, musste sie zweimal um einen entsprechenden Aufschub bitten. Am 6. Mai teilte der Käufer der Devisenstelle in Frankfurt mit, dass er den fälligen Betrag von 25.524,24 RM auf das gesicherte Konto von Frieda Kahn eingezahlt habe.[52]

Gustav Kahn, Lina Kahn, Adolf Kahn, Marianne KahnFrieda Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden

 

 

 

 

 

Mitteilung des Käufers von Kahns Haus in der Wellritzstraße an die Devisenstelle, dass er das Geld auf das gesicherte Konto eingezahlt habe. Auf der Vorderseite eine fast allegorische Osram-Werbung auf das Hitler-Regime. Das Volk scheint allerdings noch eher der Kaiserzeit entsprungen zu sein.
HHStAW 519/3 3661 (7)

Die alte Vermögenserklärung, in der das Haus noch mit 70.000 RM eingestellt war, musste ebenfalls revidiert werden. Ursprünglich sollte sie eine Judenvermögensabgabe von 9.800 RM zahlen, diese wurde dann im April bei einem jetzt vorhandenen Vermögen von 27.000 RM auf 5.400 RM herabgesetzt, zahlbar in vier Raten mit jeweils 1.350 RM.[53]

Angesichts der Tatsache, dass ihr Mann gestorben war, sie ihr Haus verloren hatte, ein naher Verwandter bereits im Ausland lebte, der andere verzweifelt versuchte, ebenfalls aus Deutschland herauszukommen, geriet selbstverständlich auch Frieda Kahn in den Verdacht das Land verlassen zu wollen. Ob sie tatsächlich solche Überlegungen jetzt noch ernsthaft anstellte, ist nicht bekannt. Weil man aber – wie das übliche Formular der Reichsfluchtsteuerstelle zu Recht formulierte – bei Juden generell und jederzeit mit einer Auswanderung rechnen musste, wurden vom Restvermögen Frieda Kahns 10.000 RM für die gegebenenfalls fällige Reichsfluchtsteuer gesondert gesichert.[54] Der Raubzug war damit keineswegs beendet. Im März 1939 musste auch sie ihren Schmuck und anderes Edelmetall beim Leihamt abliefern. 160 RM gab man ihr dafür, ganz sicher kein angemessener Preis.[55]

Im Juni 1940 wurde sie von der Devisenstelle aufgefordert eine neue Vermögenserklärung und eine Aufstellung ihrer Lebenshaltungskosten abzugeben. Zwar besaß sie noch ein Bankguthaben von 900 RM und ein Depot im Wert von etwa 11.000 RM, aber 4.500 RM standen noch für die noch nicht gezahlte Judenvermögensabgabe im Soll, sodass ihr Vermögen nur 7.500 RM betrug. Auf knapp 500 RM schätzte sie ihr Einkommen im laufenden Jahr 1940, vermutlich Erträge aus den Wertpapieren. Um ihr Leben und das ihrer Tante bestreiten zu können, benötige sie etwa 300 RM im Monat, ein Freibetrag der ihr am 19. Juni 1940 bewilligt wurde.[56]

Immerhin hatte man sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus ihrem ehemaligen Haus vertrieben, bis zum 19. September 1941 durfte sie mit ihrer Tante noch in der alten 5-Zimmerwohnung bleiben. Dies bestätigte später nicht nur ihre Schwägerin Hedwig Kahn,[57] sondern lässt sich auch an den Quittungen nachvollziehen, durch die die sukzessiven Verkäufe ihres Mobiliars im Laufe des Jahres 1941 belegt werden. Sie verkaufte damals über den stadtbekannten Auktionator Hecker diverse Möbel- und Einrichtungsstücke wie Tischdecken, Teppiche, Gemälde, Tische und Kommoden für Spottpreise, abzüglich der 15 Prozent, die Hecker als Provision für die „Mithilfe“ bei diesen Arisierungen selbst einstrich.[58] Sie musste sich von den Möbeln trennen, da für diese unter den beengteren Wohnverhältnissen, auf die sie sich nach dem Verkauf des Hauses einrichten musste, kein Platz mehr war.

Gustav Kahn, Lina Kahn, Adolf Kahn, Marianne KahnFrieda Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden
Frieda Kahn informiert die Devisenstelle über den Umzug in das Judenhaus Bahnhofstr. 46
HHStAW 519/3 3661 (14)

Wann genau der Umzug erfolgte, ist nicht mehr sicher feststellbar. Bis Juni 1941 ist bei den Verkäufen als Adresse von Frieda Kahn die Wellritzstraße 45, beim nächsten Verkauf, der im Oktober getätigt wurde, bereits die Bahnhofstr. 46 angegeben. Auf ihrer Gestapo-Karteikarte ist als Umzugsdatum der 19. September 1941, auf der ihrer Tante schon der 17. September festgehalten. Auf einem Schreiben des zuständigen Zellenwarts ist als Auszugsdatum aus der Wellritzstraße allerdings der 11. August 1941 und als Einzugsdatum in das Judenhaus den 1. September 1941 angegeben.[59] Sie selbst teilte der Devisenstelle in Frankfurt diesen Umzug allerdings erst am 3. Februar, die Tante sogar erst am 13. Februar 1942 mit, [60] eigentlich ein Vergehen, das hart bestraft werden konnte, wenn die Behörde von diesem zeitlichen Verzug der Meldepflicht etwas erfahren hätte. Wie viel Raum Tante und Nichte dort im zweiten Stock zur Verfügung stand, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Aber auch Adele Bonna war mit ihnen in das Judenhaus eingezogen und mit ihr werden sie sich die ihnen zugewiesenen Räume geteilt haben.

Wie in vielen anderen Fällen ist auch hier nur schwer zu sagen, ob der Umzug unmittelbar angeordnet war, ob der neue Eigentümer ihres ehemaligen Hauses sie aus ihrer Wohnung gekündigt hatte, wozu er nach dem neuen Mietgesetz das Recht hatte, oder ob die finanzielle Situation den Umzug erzwungen hatte. Freiwillig ist er aber ganz sicher nicht geschehen.

 

Gustav Kahn, Lina Kahn, Adolf Kahn, Marianne KahnFrieda Kahn, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Wiesbaden
Letzte Vermögenserklärung von Frieda Kahn an die Devisenstelle in Frankfurt
HHStAW 519/3 3661 (17)

Aus der Zeit im Judenhaus gibt es nur noch zwei Lebenszeichen der beiden Frauen, die in den Akten ihren Niederschlag gefunden haben. Im Mai 1942 musste Frieda Kahn noch einmal der Devisenstelle ihren finanziellen Bedarf offenlegen, den sie jetzt auf 255 RM bezifferte.[61] Noch im September – möglicherweise waren die Vorräte aufgebraucht – hatten sie dann ein Gesuch an eine der NSDAP-Stellen gerichtet, man möge sie doch bitte mit dem notwendigen Hausbrand für den Winter versorgen. Diese kleine Bitte löste wiederum verschiedene Aktivitäten aus, die typisch für dieses Regime mit seiner überbordenden Bürokratie auf der einen und seiner spontanen, von Emotionen gesteuerten Willkür auf der anderen Seite war. Die Anfrage war zum Kreiswirtschaftsberater der NSDAP gelangt, der sie mittels eines Formulars, mit dem die Bedeutung der Angelegenheit durch Vermerke wie „Eilt sehr“ und „Streng vertraulich“ völlig überhöht wurde, an den Ortsgruppenleiter Weilerswist weitergeleitet hatte. Dieser verwies die Anfrage dann wieder auf die untere Ebene zurück und bat um eine Stellungnahme, aber auch um den Namen des bisher zuständigen Kohlehändlers. Noch am gleichen Tag war der entsprechende Zellenwart von Weilerswist instruiert worden, entsprechende Nachforschungen anzustellen. Dieser konnte drei Tage später Bericht erstatten. Wohl im sicher nicht unberechtigten Glauben, die Kohlelieferung sei abhängig vom politischen Wohlverhalten der Antragsteller, meldete er: „Frau Kahn ist Witwe des verstorbenen Unternehmers Kahn. Die Eheleute Kahn, die ich persönlich, allerdings nur oberflächlich in geschäftlichen Sachen kennenlernte, sind politisch nicht hervorgetreten. Frau Kahn wohnt mit ihrer Tante, einem Frl. Strauß, die jetzt 71 Jahre alt ist, zusammen.“ Auch den Namen des Kohlehändlers hatte er inzwischen in Erfahrung gebracht.[62] Wiederum drei Tage später wurde die Meldung nach oben an den Kreiswirtschaftsberater zurückgeleitet, allerdings vom Ortsgruppenleiter mit dem Zusatz versehen, dass „über den Gesundheitszustand … Ungünstiges … nichts bekannt“ sei, weshalb eine Belieferung nach seiner Meinung auch nicht in Betracht komme.[63] Man muss davon ausgehen, dass daraufhin kein Brennmaterial geliefert wurde.

Das sind die letzten Informationen, die es über Frieda Kahn gibt. Am 23 Mai des Jahres 1942 musste sie den Transport nach Izbica besteigen. Von da ab verlieren sich ihre Spuren. Wie lange sie im dortigen Ghetto am Leben blieb, ist nicht bekannt. Arbeitsfähige wurden zunächst noch zu Einsätzen gezwungen, die Übrigen wurden vermutlich bald weiter nach Sobibor verbracht und dort im Gas ermordet. Überlebende des Transports hat es in jedem Fall nicht gegeben.[64]
Am 7. Juni 1949 erging beim Amtsgericht Wiesbaden der Beschluss den Zeitpunkt ihres Todes auf den 8. Mai 1945 festzulegen.[65]

Marianne Strauss Kahn, Leopold Kahn, Lina Strauss, Frieda Kahn, Gustav Kahn, Adolf Kahn, Hedwig Breuer Kahn, Karl Kahn, Marianne Kahn Stichel, Judenhaus Bahnhofstr. 46, Kaiser-Friedrich-Ring 43, Judenhäuser Wiesbaden, Klaus Flick
Frieda Strauss meldet ihren Umzug in das Judenhaus Kaiser-Friedrich- Ring 43
HHStAW 519/3 8029 (7)

Ihre beiden älteren Mitbewohnerinnen, Tante Lina Strauss und Frau Bonne, wurden, bevor auch sie den Zug in den Osten besteigen mussten, noch in zwei verschiedene Judenhäuser am Kaiser-Friedrich-Ring verlegt. Am 11. Juni 1942, also ein Tag nach der großen Deportation vom 10. Juni aus Wiesbaden nach Lublin meldete Lina Strauss der Devisenstelle in Frankfurt ihren Umzug in das Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 43.[66] Aus dem Haus war am Tag zuvor Alice Oppenheimer in den Tod geschickt worden. Vermutlich erhielt Lina Strauss nun deren Zimmer. In der Bahnhofstr. 46 hatte sie nicht bleiben können, da die SS die dortigen Räumlichkeiten beanspruchte.[67] Ein Vierteljahr blieb sie noch im Haus Kaiser-Friedrich-Ring 43 mit sieben weiteren älteren jüdischen Bewohnern, die man dann am 1. September 1942 mit dem Transport XII / 2 über Frankfurt nach Theresienstadt deportierte. Hier blieb sie nicht einmal vier Wochen. Auf dem Transport Bs, der sie am 29. September weiter nach Treblinka in die Gaskammern brachte, hatte man ihr die Transportnummer 1700 zugeteilt.[68] Am 2. Oktober 1942 wurde ihr Leben mit der Einziehung ihres übrig gebliebenen Vermögens dann auch bürokratisch abgeschlossen.[69]

 

 

Veröffentlicht: 30. 01. 2018

Letzte Revision: 22. 07. 2021

 

 

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Anmerkungen:

[1] Adele Bonne wurde am 1.9.1942 aus dem Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 65 nach Theresienstadt deportiert. Siehe zu ihrem Schicksal die dortigen Ausführungen.

[2] Breindel Fisch war am 10.10.1810 geboren worden. Woher die Eltern von Hayum Kahn, Berle Nathan und Nente stammten, ist nicht bekannt. Siehe dazu und zu den im Weiteren angegebenen Daten die Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.

[3] Es waren Rahel Regine, geboren am 24.6.1834, Bette Amalie, geboren am 15.6.1836, Moses, geboren am 21.7.1841, Bernhard / Berle, geboren am 1.10.1843, Mamle / Malchen, geboren am 27.2.1846, Caroline, geboren am 27.9.1848. Abgesehen von Caroline, die im Alter von einem Jahr in Wallau verstarb, sind die Lebensdaten der übrigen Geschwister nicht bekannt.

[4] Der Bruder von Regina Baum, Joseph Baum, ebenfalls Metzger, war wiederum der Vater des Metzgers Moritz Baum, der mit Betty Katzenstein verheiratet war. Betty und ihre Kinder Trude Josef und Lore waren später Bewohner des Judenhauses Adelheidstr. 94. Siehe oben.

[5] Der 1799 in Wackenbuchen bei Hanau geborene Amsel Strauss verstarb am 20.11.1868 in Wiesbaden, siehe https://dfg-viewer.de/show?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&tx_dlf%5Bid%5D=https%3A%2F%2Fdigitalisate-he.arcinsys.de%2Fhhstaw%2F365%2F915.xml&tx_dlf%5Bpage%5D=161&cHash=fb1e9afed501b257fc126fa976969f72, (Zugriff: 16.7.2021), seine Frau Regina, um 1835 im unterfränkischen Massbach geboren, starb am 4.1.1906 ebenfalls in Wiesbaden, siehe Sterberegister Wiesbaden 21 / 1906.

[6] Geburtsregister Schwalbach 117 / 1884, dazu Heiratsregister Wiesbaden 706 / 1909. Der jüngere Bruder von Gustav Kahn, Leopold Kahn, geboren am 14.4.1892 in Bonbaden verstarb am 1.10.1919 in Wiesbaden. Zur Familie des älteren Bruders, Siegfried Samuel Kahn, seiner Frau Isabella Berg und den beiden Kindern Leo und Lotte, siehe das Kapitel über das Judenhaus Mainzer Str. 60, wo sie zuletzt vor ihrer Deportation einquartiert war. Die gesamte Familie wurde in Auschwitz umgebracht.

[7] In einem Prüfbericht des Finanzamts aus dem Jahr 1931 heißt es: „Den Ankauf und die Schlachtung von Großvieh wie Ochsen, Bullen, Rindern und Kühen nimmt der Stpfl. grösstenteils gemeinsam mit anderen bekannten bezw. verwandten Metzgern war.“ HHStAW 685 347 e (2).

[8] Siehe dazu Bembenek / Dickel, Kein deutscher Patriot mehr, S. 31-34. Im Jüdischen Adressbuch 1935 sind für Wiesbaden und seine Vororte noch etwa 35 jüdische Metzgereien eingetragen, von denen einige in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen waren.

[9] HHStAW 685 347 g (6).

[10] Ebd. (6).

[11] Ebd. (4).

[12] HHStAW 685 347 d (57). Es gibt allerdings in den Akten von Gustav und Frieda Strauss keinen Hinweis darauf, dass das Geschäft von einem arischen Metzger übernommen wurde, wie von der Metzgerinnung 1957 mit Hinweis auf die Unterlagen der Kreishandwerkerkammer bescheinigt wurde, ohne jedoch einen Namen zu nennen. Siehe den Abdruck des Schreibens auf dem Erinnerungsblatt für Frieda Kahn http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-KahnF-StraussL.pdf. Möglich wäre auch, dass sich die nichtjüdischen Metzger mit dieser Marktbereinigung zufrieden gaben, da diese für sie insgesamt auch wesentlich vorteilhafter war. Siehe dazu Bembenek / Dickel, Kein deutscher Patriot mehr, S. 32 f.

[13] HHStAW 685 347 c (71).

[14] Kurt verstarb am 9.7.1915, Margot geborene 6.8.1919, verstarb am 14.8.1919

[15] HHStAW 519/3 8029 (1).

[16] Ebd. (3).

[17] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 186 / 1929. Hedwig Breuer war am 21.9.1899 in Wiesbaden geboren worden.

[18] HHStAW 518 778 (21).

[19] Ebd. (42). Hier ist als Standort der Metzgerei die Dotzheimer Str. 61 genannt, wo offensichtlich neben der eigentlichen Metzgerei in der Blücherstraße ein weiteres Ladengeschäft angemietet war. Im Jüdischen Adressbuch von 1935 ist die Metzgerei in der Blücherstr. 3 noch eingetragen, aber auch diese muss ungefähr zu diesem Zeitpunkt geschlossen worden sein.
In einem am 27.3.1952 ergangenen Bescheid der Entschädigungsbehörde wurde die Zahlung einer Entschädigung für den wirtschaftlichen Schaden, der ab diesem Zeitpunkt bis zum November 1938 eingetreten war, mit der folgenden hanebüchenen Begründung verweigert: „Der Antragsteller macht zwar geltend, dass er bereits 1935 gezwungen gewesen sei, seinen Betrieb zu schließen, doch hat er nicht nachgewiesen, dass zu diesem Zeitpunkt bereits individuelle, persönlich gegen ihn gerichtete nat. soz. Verfolgungsmaßnahmen die Ursache der Schließung des Geschäftes gewesen seien. … Es genügt nicht, wenn die Schädigung infolge der allgemeinen, von den Nationalsozialisten gegen die Juden betriebenen Verhetzung eingetreten ist. Als einwandfrei durch unmittelbare na. .soz. Verfolgungsmaßnahmen aus seinem Beruf verdrängt, kann der Antragsteller jedoch mit Wirksamwerden der na. .soz. Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12.11.1838 angesehen werden.“ Auch für die durch die Verschleuderung entstandenen Schäden wollte man nicht aufkommen: „Der Schaden, der durch Verschleuderung von Vermögenswerten entstanden ist, beruht nicht auf einer unmittelbar gegen den Antragsteller gerichteten Verfolgungsmaßnahme, sondern ist höchstens anlässlich einer solchen eingetreten.“ Ebd.

[20] Sammlung S. Nägele. Auf einer anderen Karte erwähnt sie, dass es dreimal in der Woche Fleisch zu essen gäbe, damals ganz offenbar etwas Besonderes auch für eine Metzgerfamilie.

[21] Akribisch hat Adolf Kahn die Nachweise über diese Zwangsarbeit aufgehoben und konnte sie daher im späteren Entschädigungsverfahren vorlegen. Die Namen der Firmen, die damals von solchen Zwangsarbeiten profitierten, können problemlos identifiziert werden, siehe die Zusammenstellung von Adolf Kahn in HHStAW 518 778 (21) und die im Folgenden in der Akte enthaltenen Belege der Firmen selbst. Das Arbeitsbuch ist in der privaten Sammlung S. Nägele überliefert.

[22] Zu Wartheim siehe https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=cuv-005:1978:49::1198. (Zugriff: 10.5.2021). Das ursprünglich als Erholungsheim konzipierte Haus wurde noch 1938 für viele jüdische Kinder zu einem Ort des Überlebens. Von ihren Eltern, die in den Gaskammern ermordet wurden, getrennt, konnten dort viele Kinder die NS-Zeit überstehen oder von dort aus in andere sichere Länder gelangen, so auch die bekannte amerikanische Soziologin und Sexualtherapeutin Ruth Westheimer aus Frankfurt.

[23] Sammlung S. Nägele.

[24] Er selbst wie auch der damalige Polizeimeister Nitschke gaben an, dass die Verhaftung bereits am 7.11.1938, stattgefunden habe, also noch am Tag des Anschlags auf von Rath in Paris und nicht erst bei der konzertierten Aktion vom 9. bzw. 10. November.

[25] Sammlung S. Nägele. Im amerikanischen Konsulat in Stuttgart wurden die Nummern für die Kontingente vergeben, die zur Einreise in die USA berechtigten. Die Auswanderung ist in fast allen Briefen thematisiert, die Mitteilung, dass es ihm gut gehe, entsprach ganz sicher nicht den Tatsachen.

[26] HHStAW 518 778 (40). Laut diesem amtsärztlichen Gutachten betrug die durch die Inhaftierung verursachte Erwerbsminderung 80 %.

[27] Sammlung S. Nägele. Auch die christliche Konfirmation wurde nach dem Kriegsende am 31.3.1946 nachgeholt.

[28] Sammlung S. Nägele.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] HHStAW 518 778 (42).

[32] HHStAW 519/3 3284 (1, 2, 3, 4, 5).

[33] Die Zahlen nach Reitlinger, Endlösung, S. 173.

[34] Neben Vater und Tochter Kahn bestand der Transport aus weiteren 9 Frauen und 2 Mädchen sowie 7 Männern und 3 Jungen, insgesamt also aus 23 Personen. Er war damit etwa so groß wie der erste Transport vom 23.5.1942. In der zynischen „Abwanderungsbilanz“ – offiziell „Wanderungsbewegung der Juden in der Stadt Wiesbaden vom 1. Januar 1934 an“ – ist nur ein Teil, nämlich 16 der damals Deportierten eingetragen worden. Es handelte sich um Max Kaplan, Helene Müller, geborene Weiss, Frieda Weinand, geborene Kahn, Ilse Decker, geborene Dreyfuss, Max Kahn mit den Kindern Erich und Günther, Klara Hippenmeyer, geborene Brück, Selma Margaretha Kramm, geborene Müller, Heinz Lichtenstein, Julius Löwenthal, Grete Pohl, geborene Lazarus, Klara Scheffel, geborene Becker und Recha Schulz, geborene Salomon. Nach diesem Transport, es war der letzte, der in der „Abwanderungsbilanz“ eingetragen wurde, soll es danach noch 24 Juden bzw. Jüdinnen in der Stadt gegeben haben. Die Eintragungen erfolgten an drei verschiedenen Tagen etwa einen Monat später, beziehen sich aber alle auf den Transport vom 14.2.1942. Die in dieser Aufstellung nicht erfassten 7 Personen waren Ludwig Fried und seine Tochter Anita, Elsa Rahlfs, geborene Hermann, der 8jährigen Rolf Rubinstein, Martin Schendel, Felix Lesser und die etwa 14jährige Wera Schweitzer. Siehe dazu die Datenbank Jüdischer Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs Wiesbaden. Alle, die an diesem Tag deportiert wurden, haben den Holocaust überlebt.

[35] Sammlung S. Nägele.

[36] Ebd. Das dies mit der Realität in Theresienstadt zumindest vor der Befreiung nur wenig übereinstimmte, kann man dem Tagebuch entnehmen, dass der damals ebenfalls deportierte Rolf Rubinstein als kleiner Junge bei der Ankunft in dem dortigen Ghetto begann. Hunger und Essen spielt in seinen Aufzeichnungen die zentrale Rolle. Eine Kopie des Tagebuchs ist ebenfalls in der Sammlung S. Nägele erhalten geblieben.

[37] Ebd.

[38] Siehe Benz, Theresienstadt, S. 198 ff.

[39] Sammlung S. Nägele. (Rechtschreibung und Zeichensetzung wie im Original.) Bei den im Brief angesprochenen „Lotte Gutmann und deren Mutter“ handelt es sich um die Ehefrau des in Auschwitz ermordeten Rechtsanwalts Berthold Gutmann und deren Tochter Charlotte Guthmanns waren die Eigentümer des Judenhauses Bahnhofstr. 25. Siehe umfassend zu deren Schicksal dort.

[40] Heiratsregister Wiesbaden 1015 / 1957. Die Ehe war am 3.8.1957 geschlossen worden, am 19.6.1963 wurde das Paar wieder geschieden, siehe Sammlung S. Nägele.

[41] ‚Wiesbadener Kurier’ vom 8.5.2021 S. 19. In dem Artikel ist das Todesjahr von Adolf Kahn fälschlicherweise mit 1955 angegeben. Er verstarb jedoch bereits am 9.6.1953, siehe Sterberegister Wiesbaden 1230 / 1953.

[42] HHStAW 685 357 f (10) und g (0.P.). Gustav Kahn hatte dafür selbst ein Darlehen aufnehmen müssen. 13.000 RM zahlte Karl nach Verkauf des Geschäfts 1936 wieder zurück.

[43] Ebd. (31).

[44] Im ersten Geschäftsjahr hatte Karl Kahn einen Gewinn von 1.000 RM erzielt und im folgenden Jahr in seiner Steuererklärung immerhin ein Einkommen von knapp 5.000 RM angegeben. Auf diesem Niveau blieb der Geschäftsumfang dann auch bis 1934. Ebd. (14, 18, 61). In einem Brief des beauftragten Steuerbüros vom 1.6.1934 an das Finanzamt wird allerdings um eine Steuerermäßigung der Vorauszahlungen gebeten, da „das Geschäft auf billige und billigste Waren eingestellt“ sei. Ebd. (30).

[45] Ebd. (45).

[46] HHStAW 685 357 c (o.P.).

[47] HHStAW 685 357 f (58, 59).

[48] HHStAW 518 18628. Karl Kahn starb am 30.7.1981 in Montevideo, seine Frau Johanna im Jahr 1987.

[49] Stadtarchiv Wiesbaden WI / 3 983 und HHStAW 685 347 b (4).

[50] HHStAW 685 347 c (62).

[51] HHStAW 685 347 b (21), auch 519/3 3661 (4, 5, 6). Noch bevor das Geld für den Hausverkauf auf ihrem Konto eingegangen war, hatte im Januar 1939 die Zollfahndungsstelle Mainz eine Sicherungsanordnung bei der Devisenstelle Frankfurt beantragt, die auch sofort erteilt wurde. HHStAW 685 347 c (63, 66). Man gewährte ihr einen Freibetrag von 500 RM monatlich, eine Summe, die wegen des relativ frühen Zeitpunkts der Anordnung im Vergleich zu den späteren Verfügungen noch relativ „großzügig“ war.

[52] HHStAW 519/3 3661 (7).

[53] HHStAW 685 347 b. (14, 21).

[54] Ebd. (64).Frieda hat zumindest für die Hälfte der Summe bei der Preussischen Staatsbank Wertpapiere hinterlegt, siehe HHStAW 518 18011 (26).

[55] Ebd. (14).

[56] HHStAW 519/3 3661 (12, 13).

[57] HHStAW 685 347 b. (71).

[58] Ebd. (16,17,18,19,20).

[59] HHStAW 483 10127 (22).

[60] HHStAW 519/3 3661 (14) und HHStAW 519/3 8029 (5).

[61] Ebd. (17).

[62] HHStAW 483 10127. (22).

[63] Ebd. (23).

[64] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 209 f., Kingreen, Gewaltsam verschleppt, S. 366 f.

[65] HHStAW 469/33 2515 (13).

[66] HHStAW 519/3 8029 (7).

[67] Siehe dazu oben die Ausführungen im Kapitel zum Judenhaus Bahnhofstr. 46.

[68] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/34561-lina-strauss/. (Zugriff: 16.7.2021).

[69] HHStAW 519/3 8029 (9).