Julius Löwenthal und seine Familie


Juden Wiesbaden, Judenhäuser
Das ehemalige Judenhaus in der Hallgarter Str. 6
Eigene Aufnahme
Judenverfolgung Wiesbaden
Lage des ehemaligen Judenhauses Hallgarter Str. 6
Judenhaus Wiesbadaen, Judenäuser Wiesbaden, Juden Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Hallgarter Str. 6
Das Judenhaus Hallgarter Str. 6 früher
Mit Genehmigung M. Sauber

 

 

 

 

 


Auch der jüdische Metzgermeister Julius Löwenthal lebte zeitweise mit seiner Ehefrau Luise Elisabeth in Judenhaus in der Hallgarter Str. 6. Ursprünglich kamen Löwenthals aus Schierstein, wo sie in der Wilhelmstr. 25 eine koschere Metzgerei besaßen.

Stammbaum Löwenthal
Stammbaum der Familie Löwenthal
GDB

Julius Löwenthal war dort am 6. Januar 1895 geboren worden.[1] Seine Vorfahren väterlicherseits kamen aus dem im heutigen Rhein-Lahnkreis gelegenen Marienfels und aus Geisenheim im Rheingau. Der Vater von Julius war Abraham Löwenthal, eines von vermutlich vier oder fünf Kindern des Handelsmanns Nathan Löwenthal und seiner Frau Eva, geborene Strauß.[2] Abraham war am 15. Dezember 1862,[3] seine beiden Brüder, die Zwillinge Isaak und Hermann Hirsch, beide am 20. Januar 1867 geboren worden.[4] Zwei Jahre später kam am 2. Dezember 1869 noch eine Tochter namens Settchen ebenfalls in Marienfels zur Welt.[5] Zu den Kindern gehörte vermutlich noch ein weiterer Sohn mit Namen Siegmund, der später in Holzappel in der Nähe von Diez lebte, über den aber nur wenige Informationen vorliegen.

Bei seiner Hochzeit am 23. Dezember 1888 mit Johanna Marx gab Abraham Löwenthal als Adresse noch die Gauthorkaserne in Mainz an.[6] Seine am 13. Januar 1868 geborene Frau war eine Tochter von Baruch Marx und dessen Frau Sarah, geborene Strauß. Die Kaufmannsfamilie Marx lebte seit langer Zeit in Schierstein und war verwandtschaftlich mit vielen wichtigen jüdischen Familien der Stadt verbunden.[7] In Schierstein wohnte auch Abrahams Bruder Isaak Löwenthal, als er am 16. August 1893 die am 20. Januar 1866 in Geisenheim geborene Elisabeth, genannt Lisette, Strauß heiratete.[8] Nach Geisenheim verlegten die beiden nach der Eheschließung auch ihren dauernden Wohnsitz. Die Ehe seines Zwillingsbruders Hermann mit Regina Heyum aus Erbach im Rheingau wurde ein Jahr später im Heimatort der Ehefrau geschlossen.[9] Zusammen zogen sie später nach Camberg, wo sie einen Viehhandel betrieben.

Julius, ein Metzgermeister und der spätere Bewohner des Judenhauses, war das letzte Kind von Abraham und Johanna Löwenthal. Sehr bald nach ihrer Hochzeit war am 7. April 1889 die Tochter Selma, danach am 20. Oktober 1890 eine weitere Tochter Bertha und wiederum ein Jahr später am 18. November 1891 noch der Sohn Nathan Sally geboren worden.[10]

Löwenthal, Hallgarter Str. 6. jüdischer Metzger, Wiesbaden, Judenhaus
Heiratsurkunde von Julius Löwenthal und Luise Ruth Gerich
HHStAW 518 25480 (4)

Wie sein Bruder Nathan Sally hatte auch Julius eine nichtjüdische Partnerin geheiratet. Seine Frau Luise Gertrud, geborene Gerich, war am 10. April 1892 in Wiesbaden geboren worden. Auf der Karteikarte der Gestapo war sie zunächst auch als Jüdin eingetragen worden, was aber später mit dem Vermerk „arisch“ korrigiert wurde.[11] Ihre Eltern waren der Buchbinder Carl Gerich und dessen Frau Elisabeth, geborene Hofmann.[12]

Die am 13. Januar 1929 in Schierstein geschlossene Ehe, die kinderlos blieb,[13] war nach jüdischem Ritus vollzogen worden.[14] Luise Gertrud war offensichtlich der jüdischen Kongregation beigetreten, zumindest gab auch sie in den Steuererklärungen als Religion immer „israelitisch“ an.

Welche bedeutende wirtschaftliche Rolle die jüdischen Metzger in Wiesbaden auch für die nichtjüdische Bevölkerung einnahmen, hat Lothar Bembenek beschrieben. Wie schnell sie aber auch zu den ersten Opfern der antisemitischen Hetze werden konnten und welche Rolle dabei wiederum die arischen Metzger spielten, ist seiner Darstellung ebenfalls zu entnehmen.[15] Da sie oft zugleich auch im Viehhandel tätig waren, war es ein Leichtes die bäuerliche Bevölkerung mit diffusen, aber traditionell schon immer wirksamen Anschuldigungen gegen diese aufzuhetzen: Der jüdische Händler würde den christlichen, somit per se anständigen Bauern immer wieder übervorteilen. Auch Löwenthals Metzgerei war sehr schnell Opfer der sofort nach 1933 einsetzenden Boykottaktionen. Lange bevor die jüdischen Metzger das generelle Berufsverbot traf, durften sie den Schlachthof schon nicht mehr betreten und waren deshalb auf den Ankauf von oft minderwertigem Fleisch angewiesen. Ihre Kunden wurden drangsaliert und eingeschüchtert. Bereits 1935 soll es in Wiesbaden keine jüdische Metzgerei mehr gegeben haben.[16]

Julius Löwenthal, Schierstein, Metzgerei, Judenhaus Wiesbaden, Hallgarter Str. 6
Julius Löwenthal informierte bereits 1932 das Finanzamt über die schwierige Lage seines Geschäfts
HHStAW 685 509b ((37)

Die Umsatzentwicklung der Metzgerei der Löwenthals scheint diese Entwicklung widerzuspiegeln. Julius Löwenthal hatte seinen Betrieb am 1. Mai 1928 noch vor seiner Eheschließung in der Schiersteiner Wilhelmstr. 25 eröffnet.[17] Danach arbeitete das Ehepaar gemeinsam ohne weitere Mitarbeiter in dem Geschäft. Das Fleisch bezogen sie nach Angaben von Julius Löwenthal ausschließlich vom Wiesbadener Schlachthof.[18] Nach seiner Darstellung im Entschädigungsverfahren habe das Einkommen in den Jahren 31 und 32 noch bei nahezu 100.000 RM gelegen, sich dann 1933 schon mehr als halbiert und 1934 habe es nur noch 20.000 RM betragen. In den folgenden Jahren, in denen der Betrieb bereits geschlossen war, soll sein Einkommen bis 1940 zwischen 500 und 1.000 RM gelegen haben.[19]

Man muss allerdings dagegenhalten, dass der Betrieb, in den schlimmsten wirtschaftlichen Krisenjahren gegründet, nach den Angaben der Steuerakten von Anbeginn an in Schwierigkeiten war und das Einkommen der Löwenthals nie die im Entschädigungsverfahren genannten Summen erreichte. In den Jahren bis 1935 wurde das zu versteuernde Einkommen in den Steuererklärungen immer mit weniger als 2.000 RM, oft sogar weniger als 1.000 RM angegeben.[20] Im Jahr 1934 betrug das Jahreseinkommen nach seinen eigenen Angaben gerade mal 250 RM. Immer wieder musste Julius Löwenthal bei der Finanzbehörde um Stundung bitten,[21] sogar Pfändungsverfahren waren bereits 1932 in Gang gekommen.[22]

Julius Löwenthal, Judenhaus Wiesbaden, Hallgarter Str. 6
Julius Löwenthal gibt seinen Metzgereibetrieb auf
HHStAW 685 509a

Im Jahr 1935, am 26. Juni, gab Julius Löwenthal seinen Betrieb auf. Im ersten Halbjahr habe er keine Umsätze mehr erzielt, er beziehe jetzt Wohlfahrt, schrieb er dem Finanzamt Wiesbaden.[23] Das Scheitern des Unternehmens war sicher zum einen den allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen während der Weltwirtschaftskrise geschuldet – eine Zeit, in der eine erfolgreiche Unternehmensgründung für jeden so gut wie unmöglich war. War man dann auch noch Jude, gar Metzger, dann war diese Chance gleich Null.

Mit der Geschäftsaufgabe war Julius Löwenthal einer kurz darauf, am 20. August 1935, gestarteten Kampagne zuvorgekommen, die alle jüdischen Metzgereien in Wiesbaden traf und die Schließung der Läden mit Gewalt und amtlicher Beihilfe zum Ziel hatte. Manchen wurde der Laden zerstört, andere, wie die von Imko Kessler, wurden „von Amts wegen“ auf Grund angeblicher Hygienemängel geschlossen.[24] Auch Julius Löwenthal war an diesem „Aktionstag“ mit anderen in das Wiesbadener Polizeigefängnis überführt und in „Schutzhaft“ genommen worden. Bis zum 25. November 1935 blieb er inhaftiert,[25] ohne dass er sich irgendeines Vergehens schuldig gemacht hätte.

Sein bereits geschlossener Laden wurde nach seinen Angaben zweckentfremdet und behelfsmäßig in Wohnungen umgewandelt. Nach Maßgabe des Gauwirtschaftsberaters sollten jüdische Metzgereien wegen des angeblichen Überhangs an Metzgereien generell nur in Ausnahmefällen arisiert werden. Der Normalfall sollte die Liquidation sein, womit den althergebrachten arischen Metzgereien wieder größere Überlebenschancen gegeben wurden.[26]

Die Ruine der Schiersteiner Synagoge in der Nachkriegszeit
http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20171/Schierstein%20Synagoge%20180.jpg

Die Zerstörung seiner Existenzgrundlage genügte dem Nazi-Mob aber noch nicht. In der Pogromstimmung der Novemberereignisse von 1938 traf es Julius und Luise Löwenthal erneut mit aller Härte. Die Ereignisse dieses Tages in Schierstein wurden in einem Verfahren vor dem Landgericht Wiesbaden nach dem Krieg weitgehend aufgeklärt. Von den vier Hauptverdächtigen wurden zwei wegen Brandstiftung in Tateinheit mit schwerem Landfriedensbruch zu zwei bzw. fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, zwei wurden wegen Mangel an Beweisen freigesprochen. Der Truppführer Hans Pickardt, der zunächst zu seiner Arbeitsstelle im Wiesbadener Standesamt gefahren war, dort die bereits laufenden Aktionen gegen jüdische Geschäfte beobachten konnte, war von seinem Sturmführer sofort nach Schierstein zurückbeordert worden, um mit seinem Trupp die dortigen Aktionen zu leiten. Plünderungen und Gewalt gegen Personen sollten angeblich verhindert werden. Der erste Angriff galt der Synagoge in der Kirchstraße, wo andere SA-Leute bereits vor Pickardts Ankunft mit dem Zerstörungswerk begonnen hatten und dabei waren, mit Äxten die Inneneinrichtung und den Altar zu zertrümmern. Da das Holz kein Feuer fangen wollte, wurde ein SA-Mann zur nächsten Tankstelle geschickt, um Benzin zu besorgen. Wenig später stand das Gotteshaus in Flammen. Die herbeigerufene Feuerwehr beschränkte sich wie üblich darauf, die Nachbargebäude zu sichern.[27]

Anschließend machte sich der Trupp auf, die jüdischen Bürger und ihre Geschäfte oder Betriebe heimzusuchen. Als ersten traf es die Familie des Häutehändlers Otto Kahn, dessen Fettschmelze ebenfalls ein Opfer der Flammen wurde. Weitere Zerstörungen erfolgten im Laufe des Nachmittags.

Erst abends um 21.30 Uhr fiel der aus fünf Männern bestehende Trupp mit den Worten „Spät kommen wir, aber wir kommen!“ in die Wohnung der Löwenthals ein, um dort ihr Zerstörungswerk mit Äxten und Bleirohren fortzusetzen. Frau Löwenthal versuchte mit dem Hinweis, dass sie Christin sei und die Einrichtung als in die Ehe eingebrachtes Gut ihr gehöre, die Zerstörung zu stoppen. Vergebens. Der Truppführer Pickardt entgegnete lakonisch, dass der Haushalt jüdisch sei und begann damit, die Wohnungseinrichtung zu zerschlagen. Es sei von der Einrichtung nichts außer einer Couch erhalten geblieben, die nur deswegen unversehrt blieb, weil ein umgefallener Esstisch sie vor den Augen der Täter verdeckte. Sie demolierten auch Bilder, Teppiche, Porzellan und Kristall. Lebensmittel wurden über dem Boden verstreut. Zuletzt wurde der Küchenherd umgeworfen, sodass der Holzboden Feuer fing. „Um diesen zu löschen benutzte ich Wäsche, Kleidung usw., um das Feuer zu ersticken. Eine andere Art der Löschung war nicht gegeben, da kein ganzes Gefäß mehr in der Wohnung war.“[28]

Mit Hilfe von Nachbarn und Luises Schwester Lina Gerich, die aus ihren eigenen Beständen Ersatz für das kaputte Geschirr mitbrachte, wurde am folgenden Tag die Wohnung wieder notdürftig hergerichtet.

Grab von Abraham und Johanna Löwenthal in Schierstein

Im folgenden Jahr, am 23. November 1939, verstarb Julius’ Mutter Johanna Löwenthal in ihrem Haus in der Schiersteiner Wilhelmstr. 9. Ihr Mann Abraham Löwenthal war bereits am 18. November 1931 verstorben.[29] Beide mussten somit die Zeit der schlimmsten Verfolgung nicht mehr erleben.

Trotz der Ereignisse während der Reichspogromnacht waren Löwenthals in Schierstein geblieben. Erst 1940, vermutlich sogar gezwungenermaßen, verließen sie ihre dortige Unterkunft und zogen am 1. März – so der Eintrag in ihrer Gestapo-Karteikarte – von dort in das im Wiesbadener Rheingauviertel gelegen Judenhaus Hallgarter Str. 6. Abgesehen davon, dass Julius Löwenthal ab Oktober 1941 über zwei Jahre zu Bauhilfsarbeiten, d.h. Zwangsarbeit, herangezogen wurde,[30] ist über die Zeit im Judenhaus nichts bekannt. Von den Deportationen im Jahr 1942 blieb er auf Grund seines Status als Partner in einer Mischehe noch verschont. Er blieb mit seiner Frau, sogar nachdem alle seine jüdischen Mitbewohner verschleppt worden waren, bis in den Spätherbst 1943 in dem ehemaligen Judenhaus wohnen.

Am 20. November 1943 mussten beide dann „auf Anordnung der Gestapo“ ihre Unterkunft in der Hallgarter Str. 6 verlassen. Das Paar wurde „mit anderen Juden im (sic) Haus Dotzheimerstr. 55 eingewiesen“.[31] Die „anderen Juden“ war die Familie Mannes: Karl Mannes, seine Frau Alida, geborene Döbrich, und seine beiden Söhne Josef und Hans aus seiner vorherigen Ehe,[32] die in dem Haus bereits seit mehreren Jahren wohnten. Auch Karl Mannes war bisher nicht deportiert worden, weil er Dank seiner Kinder aus der vorherigen Ehe mit einer Nichtjüdin als Partner in einer „privilegierten Mischehe“ galt.

In einer eidesstattlichen Erklärung gab Karl Mannes im späteren Entschädigungsverfahren Auskunft über das Leben in diesem Haus:
„Am 22.11.1943 wurden wir auf Anordnung der Geheimen Staatspolizei mit der Jüdischen Familie Julius Löwenthal aus Schierstein, Wilhelmstr. 40 zusammengelegt. Wir waren also somit mit zwei Familien in 2 Zimmern und Küche. Da Herr Löwenthal und auch ich Sternträger waren, wurde die Wohnung mit dem Judenstern gekennzeichnet, und zwar an der Korridortüre. Es war somit allen Nichtjuden verboten, die Wohnung zu betreten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, angezeigt und selbst streng bestraft zu werden. Des weiteren unterlagen wir der beschränkten Ausgangszeit, wir durften abends ab 8 Uhr nicht auf die Strasse, mussten in vorgeschriebenen Geschäften einkaufen, indem die Lebensmittelkarten und auch der Haushaltungsausweis mit ‚jüdischer Haushalt’ versehen wurde, wir durften zu keinem Friseur und konnten nur mit Genehmigung der Staatspolizei einen vorgeschriebenen Arzt in Anspruch nehmen und das auch nur in schweren Fällen. Ausserdem mussten wir uns jeden Freitag bei der Geheimen Staatspolizei melden. Auch bekamen wir nur einen Teil der Lebensmittelkarten, weder Fleisch noch Weissbrot u.a.m. Somit waren wir nach meiner Meinung einem Jüdischen Ghetto gleichgestellt.
Auch wurde meine Frau, da ich sie 1936 nach Erlass der Rassegesetze als Halbjüdin heiratete, lt. beigefügter Heiratsurkunde zur Jüdin erklärt und musste sie alle Zwangsmassnahmen mit mir ertragen.“
[33]

Nach den großen Deportationen wurden die wenigen noch verbliebenen Juden in Wiesbaden ganz offensichtlich weiterhin in judenhausähnlichen Quartieren zusammengefasst.[34] Auch wenn es sich bei diesem Haus in der Dotzheimer Straße, das zuvor zwar dem jüdischen Ehepaar Albert und Erna Hess gehört hatte und 1939 aber verkauft worden war, nicht um ein offizielles Judenhaus handelte, hatten Julius Löwenthal wie auch Karl Mannes auf Grund der Tatsache, dass sie dort per Zwangseinweisung untergebracht worden waren, einen Antrag auf Entschädigung für einen ‚Schaden an Freiheit’ gestellt. Sie argumentierten, dass die dortige Unterbringung ihrem Zweck und Charakter nach einem „Ghetto“ gleichzusetzen sei. Schon auf diesem Antrag hat der Sachbearbeiter handschriftlich angemerkt „Keine Haft“., [35] In einer weiteren Aktennotizvom 3. Juli 1950 heißt es:
„In Wiesbaden waren mehrere Häuser z.B. in der Kapellenstrasse und in der Dotzheimerstrasse, in die jüdische Familien zwangsweise, eingewiesen wurden. Dort waren sie beengt, aber doch so untergebracht, dass es ihnen erlaubt war, das Haus zu verlassen. Soweit mir aus anderen Fällen bekannt ist (Ludwig Fried, Wsbd.), wurden diese Häuser wöchentlich ein- oder mehrere Male  von der Gestapo kontrolliert. Ausserdem wurden die Insassen zur Arbeitsleistung herangezogen. Die Unterbringung war also keineswegs so, dass von einer Haft gesprochen werden kann.
Nach telef. Rücksprache mit der jüdischen Gemeinde (Frau Leutner) trifft das Obengesagte  zu. Frau Leutner sagte, dass diese Häuser als freie Ghettos mit Arbeitsverpflichtung anzusehen seien.“
[36]

Nicht nur wird an diesem Fall die unmittelbare Rolle der Gestapo bei den Umsiedlungen deutlich, entlarvend für das Rechtsverständnis des ‚neuen’ Deutschland ist, dass eine durch die Gestapo veranlasste Umsiedlung offenbar nicht als Einschränkung der Freiheit angesehen wurde. Explizit wird das noch einmal in einem Arbeitsblatt zum Antrag formuliert, wo ebenfalls handschriftlich vermerkt ist, dass eine „Wohnung in Wiesbaden kein Ghetto, also kein Freiheitsentzug im Sinne des E[ntschädigungs].G.[esetzes]“ sei.[37] Unverständlich ist, dass diese Sichtweise auch von der Jüdischen Gemeinde unterstützt wurde.

In dem Haus in der Dotzheimer Straße wohnten Löwenthals bis zum 14. Februar 1945. An diesem Tag wurde Julius Löwenthal kurz vor Kriegsende noch einmal verhaftet und in das KZ Theresienstadt überführt, wo er zu Schwerstarbeiten herangezogen wurde und sich nur mangelhaft ernähren konnte.[38] Die Frage, ob und inwieweit die gesundheitlichen Schäden, unter denen Julius Löwenthal nach 1945 ständig zu leiden hatte, Folge der Haftzeit waren, blieb trotz vielfacher Gutachten im späteren Entschädigungsverfahren umstritten.

Der 8. Mai, der Tag der Befreiung, war auch für ihn persönlich ein solcher Tag. Als jüdischer Partner in einer „Mischehe“ war es ihm trotz aller schrecklichen Erfahrungen gelungen die Nazizeit zu überstehen. Der Versuch, sich in der Bundesrepublik erneut eine Existenz im erlernten Beruf aufzubauen, gelang letztendlich nicht. Zwar hatte die alliierte Besatzungsmacht es ihm ermöglicht, wieder eine Metzgerei in der Wilhelmstraße in Schierstein zu übernehmen, aber die deutschen Behörden waren bei der Absicherung von notwendigen Krediten für den Erwerb der Räumlichkeiten und für notwendige Investitionen – vorsichtig formuliert – sehr zurückhaltend. Zwei Jahre nachdem er das Haus kaufen konnte, musste er aus gesundheitlichen Gründen den Betrieb erneut aufgeben und Haus und Geschäft verkaufen.[39] Julius Löwenthal starb am 1. Februar 1963 in seinem Heimatort, seine Frau einige Jahre später, am 3. September 1970, ebenfalls in Schierstein.[40]

Nathan Sally Löwenthal hat in der Schweiz überlebt
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Auch seinem älteren, ebenfalls in einer „Mischehe“ lebenden Bruder Nathan Sally gelang es zu überleben. Die Ehe mit der evangelischen Philippine Louise Breitenbach, geboren am 27. März 1897 in Biebrich, war am 27. Dezember 1928 geschlossen worden.[41] Am 1. Juni 1931 war ihnen eine Tochter geboren worden, die den Namen Renate Irmgard erhielt.[42] Sie wohnten später zunächst in Mainz, von wo sie nach der Pogromnacht in die Schweiz emigrierten und sich in Basel niederließen.[43] Nathan Löwenstein war bereits am 25. November 1938, also kurz nach dem Pogrom, seine Frau mit der Tochter dann am 17. Januar 1939 über die Grenze gegangen. Man hatte ihr gedroht, dass sie beide in ein KZ kämen, sollte ihr Mann nicht nach Deutschland zurückkehren.[44] Aus einem kleinen Schriftwechsel einer Organisation für Displaced Persons in der Schweiz und der IRO erfährt man vage, wie es ihnen ergangen war. Die Staatsbürgerschaft hatten sie selbstverständlich verloren, besaßen aber einen Reiseausweis der Schweiz. Nach dem Krieg gaben sie zu Protokoll, in Deutschland alles verloren zu haben und auch keine Absicht hätten, je wieder in dieses Land zurückkehren zu wollen.
Nathan Löwenthal hatte in der Schweiz eine Anstellung als Fahrer für eine Buchdruckerei gefunden, die Tochter absolvierte eine Ausbildung als Fotografin und bat als Unterstützung um eine Fotoausrüstung, die ihr einen beruflichen Neustart ermöglichen würde. Die Mutter wünschte sich eine Nähmaschine, um dadurch zum Familieneinkommen beitragen zu können.[45] Es waren insgesamt wohl eher bescheidene Verhältnisse, in denen sie unmittelbar nach Kriegsende lebten, und noch bescheidener waren die Wünsche, die sie an die IRO richteten.

Briefkopf des Möbelgeschäfts Wildau in Mainz

Selma, die Schwester von Julius Löwenthal, überlebte dagegen nicht. Sie hatte sich mit ihrem Mann Arthur Wildau in Mainz, dem Herkunftsort ihres Ehepartners, niedergelassen, nachdem die Ehe am 6. Juli 1911 in Schierstein geschlossen worden war.[46] In der Großen Bleiche 34-36 besaß die Familie Wildau ein Möbelgeschäft, das später von ihrem Sohn Arthur, vielleicht auch von anderen Familienmitgliedern bis zur Geschäftsaufgabe in der Umbach 5 weitergeführt wurde.

Hildegard Schreiber, geb. Wildau
https://www.ancestry.de/mediaui-viewer/tree/106927259/person/230172949998/media/17a1aec9-7e08-474d-8463-9694ad8b5529

Im Jahr 1914 wurde am 27. April zunächst die Tochter Hildegard geboren, sieben Jahre später am 26. Januar 1921 die zweite Tochter Marianne.[47]
Hildegard, von Beruf Schneiderin, hatte zu einem nicht bekannten Zeitpunkt den aus Aachen stammenden Schuhmacher Heinz Schreiber geheiratet und war 1939 als seine Ehefrau mit ihm nach England geflohen.[48] Vermutlich wurde ihnen dort ein Sohn geboren, über den es aber keine weiteren Informationen gibt. Nach dem Ende des Krieges konnte sie mit ihrem Mann dann in die USA ausreisen, wo sich die beiden bis zu ihrem Lebensende in Philadelphia niederließen. Henry Schreiber, wie er sich nach seiner Flucht nannte, starb dort im Alter von 54 Jahren am 24. Februar 1962, seine Frau zwanzig Jahre später am 16. November 1982.[49] Sie war 68 Jahre alt geworden.

Marianne Wilda
Marianne Wildau (rechts) mit Freundin
https://www.ancestry.de/mediaui-viewer/collection/1030/tree/106927259/person/230172950044/media/28ac3eba-345f-47dd-b00d-e7ce21cc2384?_phsrc=Ekt4582&usePUBJs=true

Wann ihre Schwester nach England emigrierte, ist nicht bekannt, aber sie reiste bereits am 19. Oktober 1940 von Glasgow weiter in die USA. Als letzten festen Wohnsitz hatte sie die Stadt Surrey in Großbritannien angegeben, wo auch ihre Schwester Hildegard gelebt hatte.[50] Am 28. Oktober erreichte sie New York. Unklar ist, wo sie sich in den folgenden Jahren aufhielt und wie sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Nachdem sie am 20. März 1944 in Florida den russisch stämmigen Morris Nemchek geheiratet hatte, stellte sie in Texas einen Antrag auf Einbürgerung.[51] Die am 11. Juni 1947 in New York geborene gemeinsame Tochter Sandra verstarb am 30. Dezember 1984 noch vor ihren Eltern. Während ihr Vater nur noch weitere zehn Jahre lebte, verstarb Marianne Nemcheck, geborene Wildau, am 16. Oktober 2009 in New Jersey.[52]

Julius Löwenthal, Wiesbaden, Judenhaus, Hallgarter Str. 6
Kennkarte von Arthur Wildau, dem Ehemann von Selma Löwenthal
https://zentralarchiv-juden.de/fileadmin/user_upload/bis2016dateien/B_5.1_Abt_IV_0437.pdf

Zumindest wussten die Eltern in Mainz ihre beiden Töchter in Sicherheit, als sie gezwungen wurden, ihre Wohnung in der Umbach zu verlassen und in das Mainzer Judenhaus in der Frauenlobstr. 4 zu ziehen. Von dort wurden sie am 25 September 1942 über Darmstadt in das Ghetto Piaski deportiert. Sie blieben beide verschollen. Wo sie ermordet wurden, wird wohl kaum noch aufzuklären sein.[53]

 

Das Schicksal der zweiten älteren Schwester von Julius Löwenthal, Bertha, ist völlig unbekannt. Zwar gab Julius Löwenthal 1955 an, er habe im Holocaust zwei Schwestern verloren,[54] aber einen Beleg dafür gibt es bisher nicht. Bertha hatte am 7. Juli 1927 den Kaufmann Willibald Gebhardt aus Hassloch in der Pfalz geheiratet.[55] Sie waren zunächst in Wiesbaden geblieben und wohnten zur Zeit der Eheschließung im Dambachtal 13. Weder im Wiesbadener Jüdischen Adressbuch von 1935, noch in den Unterlagen der Volkszählung vom Mai 1939 sind sie noch erfasst worden. Ihre Namen lassen sich nicht im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz finden und auch in Yad Vashem ist keiner der beiden als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eingetragen. Es könnte daher sein, dass sich der Bruder damals irrte und die beiden die Zeit doch irgendwo überlebt hatten oder aber, bevor die Deportationen begannen, bereits verstorben waren.

 

Nicht nur die unmittelbaren Verwandten von Julius Löwenthal wurden Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns, auch in den Familien seiner Onkel waren solche zu beklagen.

Bild Herman Löwentahl
Hermann und Regina Löwenthal

So auch in der Familie von Hermann Hirsch Löwenthal.[56] Wann der am 20. Januar 1867 in Marienfels geborene nach Camberg gezogen war,[57] ist nicht bekannt. Er trat erstmals bei der Volkszählung 1890 als Steuerzahler der dortigen Gemeinde in Erscheinung. [58] Gehörte der damals in der Limburger Str. 21 Wohnende noch zu den weniger vermögenden Juden, so änderte sich das in den folgenden Jahren deutlich. Schon bei der Volkszählung im Jahr 1902 – die Zahl der jüdischen Einwohner hatte sich kaum verändert – zählte er zu denen im mittleren Segment.[59] In einer Aufstellung der jüdischen Steuerzahler im Jahr 1918 rangierte er dann schon in der Spitzengruppe, wo er den sechsten Platz einnahm.[60] Das nicht unbeträchtliche Vermögen von Hermann Löwenthal gründete auf dem florierenden Viehhandel in dieser ländlichen Region. Sein monatliches Einkommen soll bis zur „Machtergreifung“ etwa 2.500 RM betragen haben. Von daher war es für ihn ein Leichtes, ein beträchtliches Bankguthaben anzuhäufen, eine größere Immobilie in Camberg zu erwerben und zudem eine Familie zu gründen.[61]
Schon am 31. Oktober 1894 hatte Hermann Löwenthal Regina Heyum aus Erbach im Rheingau geheiratet,[62] aber erst etwa fünfzehn Jahre später, am 19. April 1908, wurden ihnen Kinder, Zwillinge, geschenkt, von denen aber nur eines das Erwachsenenalter erreichte. Die Tochter Elsa verstarb schon nach acht Monaten am 24. Dezember 1908, Irma überlebte, allerdings mit einer Behinderung, und blieb dann das einzige Kind der Löwenthals.[63]
Wie überall im ländlichen Raum wechselten auch in Camberg die Zeiten, in denen die ansässigen Juden toleriert wurden, mit solchen ab, in denen die christlichen Bürger versuchten, sie aus der Lebensgemeinschaft herauszudrängen.[64] Mit dem Jahr 1933 brachen die latenten antisemitischen Haltungen aber dann offen auf und schon im Mai 1933 zogen die geordneten Trupps der verschiedenen NS-Organisationen unter großem Beifall der Bevölkerung durch Cambergs Straßen. Die jüdischen Geschäfte wurden boykottiert und jüdischen Metzgern wurde das Betreten der Viehmärkte untersagt. Der schon 1933 eingesetzte NSDAP Bürgermeister Lawaczek stellte sich an die Spitze des Mobs, der die jüdischen Mitbürger in der folgenden Zeit immer wieder drangsalierte und demütigte.

Von ihrem Hofgut mit Stallungen und Wohngebäudenin der Limburger Str. 45 hatten sich Löwenthals 1937 trennen müssen, sie durften dort aber zunächst noch wohnen bleiben. Dass die Käufer praktisch immer ein „gutes Verhältnis zu den jüdischen Verkäufern“ gehabt haben sollen – so die durchgängige Bemerkung in der unmittelbar nach dem Krieg entstandenen Liste, in der die verschiedenen Immobilientransfers von Juden festgehalten sind -,[65] erweist sich schon dadurch als Lüge und frühe Verleugnung der Verantwortung für das Geschehene, wenn man liest, was die Neuerwerber 1939 auf die Anfrage der Gemeinde, wieso in ihrem Haus noch Juden leben würden, antworteten: „Wir haben 3 Zimmer, Küche, Bad, Mansarde an Löwenthal (Jude) vermietet. Sind seit dem 15 November vorigen Jahres gekündigt, ziehen nun endlich nächste Woche aus. Heil Hitler.“[66]

Löwenthals mussten umziehen. Als im Sommer 1942 die jüdischen Mitbürger aus Camberg deportiert wurden, wohnten Löwenthals in der Obertorstr. 11.[67] Am 21. August hatte der Landrat die Anordnung der „Stapo“ Frankfurt erhalten, laut der Hermann und Regina Löwenthal sowie ihre Tochter Irma am 28. August mit dem Personenzug um 11.26 Uhr unter Leitung des Transportführers Gendarmeriemeister Koch nach Frankfurt zu bringen seien. Eine Zeugin aus dem Nachbarhaus sagte nach dem Krieg aus, dass die behinderte Irma von dem Wachpersonal geschlagen worden sei, weil diese nicht aus dem Haus gehen wollte und sich völlig verängstigt an den Leiterwagen klammerte, der mit den wenigen Habseligkeiten der Familie beladen war. Ihre letzten Nächte vor der endgültigen Deportation verbrachte die Familie im Sammellager in der Frankfurter Rechneigrabenstr. 11, bevor sie am 2. September 1942 mit dem Transport XII/2 nach Theresienstadt verbracht wurden.[68] Im gleichen Zug saßen etwa 350 Juden aus Wiesbaden.

Weder Eltern noch Tochter haben das Ghetto noch einmal verlassen. Alle drei verstarben dort schon nach wenigen Wochen: Die Irma am 24. Oktober, die Mutter Regina am 23. November und Hermann Löwenthal am 24. Dezember 1942.[69]

Judenhaus Hallgarter Str6. Wiesbaden, Julius Löwenthal
Todesfallanzeige aus Theresienstadt für Regine Löwenthal
https://www.holocaust.cz/databaze-dokumentu/dokument/89163-l-wenthal-regine-oznameni-o-umrti-ghetto-terezin/
Löwenthal, Bad Camberg, Judenhaus Wiesbaden, hallgarter Str. 6
Todesfallanzeige für Irma Löwenthal aus Theresienstadt
https://www.holocaust.cz/databaze-dokumentu/dokument/87188-l-wenthal-irma-oznameni-o-umrti-ghetto-terezin/

Auch in der Familie des Zwillingsbruders Isaak Löwenthal gab es eine große Zahl von Opfern, einigen Mitgliedern gelang es allerdings, den Verfolgern zu entkommen. Isaak war am 20. Januar 1867 wie seine Geschwister in Marienfels geboren worden, hatte dann am 16. August 1893 Elisabeth Strauß, genannt Lisette, geheiratet. Sie war die Tochter von Abraham und Babette Strauß, geborene Herzog, aus Geisenheim im Rheingau.[70] Dorthin zog dann auch das frisch vermählte Paar. Beruflich orientierte sich aber nicht an der Tradition der Familie Strauß, betrieb keinen Weinhandel, sondern an der der Löwenthals und betrieb in Geisenheim eine Viehhandlung und Metzgerei.[71] Die über viele Jahre gut gehende Metzgerei lag in der Taunusstr. 15.

Die Schwestern Fanny, Selma und Johanna Löwenthal
Mit Genehmigung von Joshua Freeling

Dem Paar waren drei Töchter geboren worden, die alle in ihrer Heimatgemeinde die Ehe eingingen. Johanna, geboren am 29. Juni 1894, und Fanny, geboren am 10. Dezember 1896, heirateten die Brüder Alfred und Gustav Alex Salm aus Schweich an der Mosel,[72] Selma den Metzger Felix Neufeld aus Lengerich bei Münster in Westfalen.[73]

Isaak Löwenthal, Julius Löwenthal, Judenhaus Wiesbaden, Hallgarter Str. 6
Boykottaufruf gegen die Metzgerei Löwenthal in Geisenheim
AKiP

Letztere betrieben gemeinsam mit den Eltern die Metzgerei in Geisenheim, die sie später auch übernehmen sollten. Ihr am 7. Januar 1929 geborener Sohn Werner bekam schon in der Schule zu spüren, was es in diesen Tagen hieß, Jude zu sein. Vom Rektor der Volksschule wurde er den Mitschülern als typisches Exemplar der angeblich niederen semitischen Rasse vorgeführt. Im Juli 1936 gaben seine Großeltern auf Grund des wachsenden Boykottdrucks ihren Betrieb auf, und zogen in den Nachbarort Oestrich, wo sie bei Verwandten unterkamen. Später verließen Isaak und Lisette Löwenthal den Rheingau ganz und ließen sich in Köln nieder, wo auch ihre Tochter Fanny mit ihrer Familie wohnte. Von dort wurden sie am 15. Juni 1942 mit dem Transport III/1 in das Ghetto Theresienstadt deportiert.[74] Schon im Frühjahr 1942 hatte Eichmann beschlossen, das völlig überfüllte Ghetto zu „entleeren“ und etwa 20.000 Bewohner der Vernichtung zuzuführen. Aber erst im September wurden diese Pläne realisiert. Im ersten dieser insgesamt zehn Transporte mit jeweils etwa 2000 Menschen, der am 19. September 1942 Theresienstadt verließ, waren auch Isaak und Lisette Löwenthal. Sein Ziel war das Vernichtungslager Treblinka, wo die beiden wohl unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden.[75]

Auch Selma und Felix Neufeld hatten noch vor der Reichspogromnacht mit ihrem Sohn Werner Geisenheim verlassen und waren in dem Irrglauben, in der Heimat des Ehemanns vor Verfolgung geschützt zu sein, nach Lengerich gezogen, um dort gemeinsam mit seinen Eltern deren Metzgerei zu betreiben.[76] Während der Reichspogromnacht wurde ihr dortiges Haus und Geschäft zerstört und Felix Neufeld mit anderen Familienmitgliedern verhaftet. Möglicherweise hatte man ihn mit der Auflage entlassen, sofort aus Deutschland zu emigrieren. Zumindest findet sich sein Name auf einer britischen Registrierungsliste aus dem Jahr 1939, auf der er unter der Nummer 23 aufgeführt ist.[77] In England wurde er am 21. Juni 1940 bis zum 26. April 1941 als Bürger eines Feindstaats interniert, dann aber ohne Beschränkungen freigelassen.[78] Die weiteren Kriegsjahre verbrachte er in England. Erst im September 1948 begab er sich in die USA, wo er am 5. Dezember 1950 in New York eine neue Ehe mit der verwitweten Gertrude / Trude Kaufherr, geborene Baer, einging.[79]

Häftlingskarte Selma Neufeld
Häftlingskarte von Selma Neufeld, geb. Löwenthal aus Stutthof
https://collections.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014102/0063/97151681/001.jpg

Man wird davon ausgehen können, dass Felix Neufeld zu diesem Zeitpunkt über das Schicksal seiner früheren Frau informiert war. Diese hatte, nachdem er geflohen war, mit ihrem damals zwölfjährigen Sohn Werner in Lengerich in ein Judenhaus ziehen müssen. Im Haus in der Bahnhofstr. 17 waren die letzten 17 Juden des Ortes gemeinsam einquartiert worden, bis sie zusammen am 13. Dezember 1941 von Münster aus mit mehr als eintausend anderen Juden aus umliegenden Orten in das Ghetto Riga verbracht wurden. Laut Gedenkbuch sollen sie zusammen am 9. August 1944 in das KZ Stutthof bei Danzig überstellt worden sein, Werner wurde schon am folgenden Tag weiter nach Auschwitz gebracht, wo er am 10. September ermordet wurde. Seine Mutter ist vermutlich in Stutthof ums Leben gekommen.[80]

Isaak Löwenthal, Lisette Löwenthal Strauß, Johanna Löwenthal, Fanny Löwenthal, Selma Löwenthal Neufeld
Stolpersteine für die Familien Löwenthal und Neufeld, verlegt am 9.8.2019 in Geisenheim / Rheingau
Eigene Aufnahme

Selmas Schwestern Johanna und Fanny Salm konnten mit ihren Familien Deutschland rechtzeitig verlassen und überlebten.

 

Fanny Salm
Mit Genehmigung von Joshua Freeling
Alex Salm
Alex Gustav Salm
Mit Genehmigung von Joshua Freeling

Fanny und ihr Mann Alex Salm waren nach ihrer Hochzeit zunächst nach Schweich gezogen, wo in den folgenden Jahren auch ihre vier Kinder geboren wurden, von denen allerdings das erste nach nur zwei Tagen verstarb. Über das weitere Schicksal der Familie erfährt man etwas aus einer Rede, die Rabbi Ralph Salm anlässlich einer Bar Mizwa Feier 2013 hielt. Am Beispiel der Lebensgeschichte von Ralph Salm, einem Enkel von Fanny und Alex Salm, versuchte er den anwesenden Kindern zu verdeutlichen, was damals in Deutschland geschah und welches Leid über die Familie gekommen war.[81] Wegen der Authentizität der Quelle soll sie hier nahezu vollständig zitiert werden:

Ralph Salm
Ralph Salm
Mit Genehmigung von Joshua Freeling

It was a crucial turning point in German policy toward the Jews, arguably the beginning of what we now consider the Holocaust, and 75 years later, here we sit safely in a sanctuary celebrating a B’nai Mitzvah, our sixth and seventh-graders here and with such joy and freedom, it is easy for Kristallnacht to seem like a footnote in history. I bet there’s some of our kids who may not have ever heard of Kristallnacht and for them, are 10, 11 or 12 year olds – it’s just another page in history book, and so I want to help bring this event to life (…). I’m going to tell you a story of a boy who was, 75 years ago on November 9th 1938 – 10 years old living in a beautiful apartment in Cologne, Germany, but before I to tell you that story had to give you a little bit of background.
The boy, he was born in a small town of Schweich, Germany, on the Mosel River, to a hard working father named Alex, a loving mother named Fanny, and Alex was a savvy businessman and after World War I when he started a scrap iron business. It flourished, on account of the unprecedented amount of scrap metal that was left over from the devastation of the war and his resourceful idea of recycling the iron from the shattered tanks and the planes that litter Germany’s landscape. It grew into a massive operation. It included a tremendous factory, subsidiary, train and shipping companies that transported the metal. The business, it was an hour ride from his house Schweich, but he was so successful Alex, that he was able to purchase one of the first cars in the entire city. He hired a chauffeur who drove them back and forth, things were good for him and his family. Business thrived so much he was able to buy an estate, on a five-acre plot of land, more than enough room for the three children that would come. The first one, the subject of our story, born in 1928, followed by sister Gertrude, a brother Erving. The town, Schweich, it had only a few Jews, but Alex, he remained active. He was president of the only Synagogue in the town. He sent his eldest son to Hebrew school where there were only 12 students. Different ages, all in one classroom. The little boy, he grew up in Schweich, his exposure to Jews limited to only his family, and the 12 kids in his Hebrew school class. None of his friends were Jewish, imagine this, but in the early thirties in Germany, ironically, boy’s didn’t care who was Jewish and who wasn’t Jewish. They just played so he’s five and turned six, and he turned seven and he turns eight, and the boy enjoys the luxury of wealth, but then he turns nine, in 1937.
Two Gestapo agents knock on the family’s door. It was Shabbat. They ransacked the house. They pay special attention to ripping out the phone lines. They confiscate the radios and the boy, he didn’t understand why, he didn’t ask many questions, he just watched it happen, and as the week went by more and more Nazis arrived to the place he called home. In less than a week the house and the five acres of land no longer belonged to his father. The business his father built with his bare hands, feeds, bank accounts empty, 95% – maybe more, of the family’s fortune vanish in a matter of days. But they were wealthy so that the 5% that Alex managed to hide from the Nazis, it was enough to transport his family to Cologne.[82] Enough to purchase an apartment not nearly the size of the house, but substantial enough that most of us in this room would consider it large. And the little boy, he was shielded from most of the trauma. He found himself in a new city, in a new school, part of a new Synagogue which to his delight had many more Jewish children. The memories of the Gestapo storming his house, unplugging the phones, taking over his property in Schweich, they were replaced by the excitement of a new city. And he learned it’s nooks and crannies. He walked to school every day. This little boy, he memorized the streets. He memorized the trolley stops and the storefronts and he gained a reputation, even as a little boy, of being the kid who knew how to get places. Everybody asked him for directions. This would become a very valuable skill in the coming years.
And then on November 9th, 1938 – 75 years ago tomorrow, it was snowing. Day ends, darkness comes and the boy who was 10 years old at the time, he hears noise outside the apartment. Windows of stores being smashed, glass shattering. He hears screams. Some of them out of fear, some of them out of aggression, but they all blend together into a commotion, and the smell of smoke, it stings his nose. And the next morning his father wakes him and takes him by the hand and walks him to their Synagogue. Alex wanted to check the bench where they kept their taluses to see if he could salvage anything, but their Synagogue was one of 1,500 that were burnt the night before. The Torah’s ash, in total that evening, 7,500 Jewish businesses were destroyed. 30,000 Jews rounded up, arrested, brought to concentration camps. That my friends, 75 years ago was Kristallnacht.
Now for this family, plans to flee Germany, they began immediately for Alex, Fanny and the three kids. Months after Kristallnacht, another knock at the door. Another Gestapo agent. This time it was one of Alex’s former employees and he had come to escort Alex to the border of Luxembourg. Deportations, they were increasing. Alex needed to escape. He was brought to a canal, told to swim across make his way to Genoa, Italy which he did. The family managed in his absence as he prepared passage to the United States in Italy. But circumstances as we all know, they deteriorated very quickly, and the Nazis began rounding up boys in Cologne. 10 and over. Subject of our story is now 11. Another knock at the door. Same Gestapo agent. Your oldest son has to come with me. It’s not safe anymore. The boy is taken to the same canal and he’s given the address of a library in Genoa and told to find it. He swims the canal with only the clothes on his back, and he begins, at 11 years old, a 2-month journey to the library. The address of which he has written on a piece of paper. His father Alex waits on the steps of that library every day until his 11-year old shows up. Which he does. Fanny and the two kids, they would reunite with Alex and the eldest boy soon after. They arrived in New York City in February 1940 with $18 left from this fortune. Two days after their arrival, the boy now 12, begins school at PS 20. A couple weeks after that he had a Bar Mitzvah. Couldn’t speak a word of English. I tell you that story on the 75th Anniversary of Kristallnacht because soon it will be a story that we only read in books. But tonight we can put a name and a face to that story because it’s a story about a man sitting right named Ralph Salm.

Anzeige des Schuhmachers Alex G. Salm in einer New Yorker Zeitung

Am 20. Februar 1940 hatte die Familie Genua auf dem Schiff ‚Conte de Savoia’ verlassen und war nach neun Tagen in New York angekommen.[83] 1942 wurde der damals 48jährige Alex Salm als Soldat für einen Einsatz im Zweiten Weltkrieg registriert, ob er aber angesichts des Alters tatsächlich eingesetzt wurde, ist nicht bekannt. Aber allein die Registrierung war Anlass dafür, dass er am 6. Dezember 1945 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt.[84] Die Familie blieb in den folgenden Jahren in New York, lebte und arbeitete in Manhattan, wo Alexander Salm am Broadway zunächst bei einem Schuhmacher angestellt war, dann aber 1944 das Geschäft selbst übernehmen konnte. Alexander Salm verstarb in New York am 17. September 1961. Fanny Salm, geborene Löwenthal, verstarb ebenfalls dort im März 1980. Sie war 83 Jahre alt geworden.[85]

Einbürgerung Alex Salm
Einbürgerungsurkunde für Alex Salm in den USA
https://www.ancestry.de/mediaui-viewer/tree/77675126/person/42369894478/media/c84afbb0-a855-4b39-8ae0-6b8b6471e217?_phsrc=Ekt4505&_phstart=successSource

Der Fluchtweg von Fannys Schwester Johanna und ihrer Familie lässt sich recht gut rekonstruieren, da Johannas Reisepass und weitere Unterlagen in einem israelischen Archiv erhalten geblieben sind. Der Pass, ausgestellt am 22. November 1938 in Trier und nach einer Verlängerung gültig bis zum Januar 1940, enthielt ein am 17. Januar 1939 ausgestelltes Visum für Palästina und ein Transitvisum für Frankreich gültig für drei Tage nach dem Grenzübertritt. Am 28. Februar überschritten sie bei Wasserbillig die Grenze nach Luxemburg, von wo aus sie vermutlich zu einer Hafenstadt, welche ist nicht bekannt, im Süden Frankreichs fuhren, um dort die Passage über das Mittelmehr anzutreten.

 

 

 

 

 

Der Reisepass von Johanna Salm, geb. Löwenthal, mit Visum für Palästina
https://www.archives.gov.il/archives/Archive/0b07170680044f86/File/0b071706807b764a

Bei ihrem Antrag auf eine palästinensische Staatsbürgerschaft, gaben sie jeweils an, am 9. März 1939 dort eingereist zu sein. Einen Monat später, am 17. April wurden die Anträge positiv beschieden.

Todesanzeige für Johanna Salm, geb. Löwenthal

Die Kinder waren damals mit 17 bzw. 16 Jahren schon fast erwachsen und gingen bald ihre eigenen Wege. Bereits 1947 verließ Kurt Palästina, um in die USA überzusiedeln. Am 30. Juni 1947 landete er, der seinen Beruf in den Schiffspapieren mit Klempner angegeben hatte, in New York und kam bei seiner Tante Fanny und seinem Onkel Alex unter.[86] Als Kurts Vater Alfred Salm 1950 in Israel verstarb, entschloss sich auch Johanna Salm, Israel zu verlassen und in die USA zu gehen. Wie lange sie in New York bei ihrer Schwester blieb, ist nicht bekannt. Verstorben ist sie in Dade City in Florida am 17. April 1974 wenige Wochen vor Vollendung ihres 80sten Lebensjahrs.[87]

Passbild von Edith Salm auf dem Einbürgerungsantrag für Palästina
Passbild von Kurt Salm auf dem Einbürgerungsantrag für Palästina

Die Tochter Edith blieb in Israel, wo sie inzwischen eine eigene Familie gegründet hatte. 1943 heiratete sie Ehud Lilienfeld, der schon in Palästina geboren und in Nahariyya aufgewachsen war.[88] Dem Paar wurden zwei Kinder, Amos und Rajah, geboren, von denen aber Amos schon im Alter von 21 Jahren an den Verletzungen verstarb, die er sich im Sechs-Tage-Krieg 1967 zugezogen hatte.
Edith Lilienfeld blieb bis zu ihrem Tod am 19. Januar 2010 in Nahariya in Israel. Ihr Mann war ebenfalls dort am 13. Dezember 1992 verstorben.[89]
Kurt Salm hatte in den USA die am 4. April 1925 geborene Nellie Liebermann geheiratet, die ihm zwei Kinder schenkte. Er verstarb am 17. Februar 1999 in Manchester Township, New Jersey, seine Frau Nellie am 17. April 2012 in Seattle, Washington, wohin sie als Witwe gezogen war.

Settchen, die einzige Tochter von Nathan und Eva Löwenthal, heiratete am 22. Mai 1905 den Schneider Leo Barth, der zwar in Ottweiler bei Trier am 15. September 1880 geboren worden war, aber zum Zeitpunkt der Eheschließung in Frankfurt lebte.[90] Während der Bräutigam erst 24 Jahre alt war, hatte sie bereits das 36ste Lebensjahr erreicht. Dennoch wurden dem Paar noch zwei Kinder geboren. Alice Amalie kam am 15. April 1906 in Frankfurt zur Welt,[91] ihr Bruder Friedrich Norbert zwei Jahre später. Er wurde nur zehn Jahre alt. Am 10. Juli 1918 wurde er leblos am Mainufer bei Griesheim aufgefunden. Da war er schon seit zwei Tagen tot. Ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handelte, ist nicht bekannt.[92]
Um 1910 war noch eine Tochter namens Ida geboren worden.

Rosenberg
Volkszählung in den USA mit der Familie Rosenberg / Barth
https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2442/images/M-T0627-01857-00286?pId=85414746

Nachdem Settchen Barth am 15. April 1937 in Frankfurt verstorben war,[93] wanderte die übrige Familie aus. Wann und auf welchem Weg das geschah, ließ sich nicht ermitteln. Bei der Volkszählung 1940 in den USA wohnte der verwitwete Leo Barth mit seinen beiden Töchtern zusammen in Detroit, Michigan. Bei beiden ist als Nachname nicht mehr Barth, sondern Rosenberg angegeben. Im Haushalt lebte auch ein Hermann Rosenberg, der sogar als Haushaltsvorstand aufgeführt ist. Das verwirrende ist zunächst, dass beide Töchter dessen Nachname getragen haben sollen, Ida als dessen Frau bezeichnet wird und Alice als seine Schwägerin, Leo Barth als sein Schwiegervater. Der Grund dafür ist darin zu finden, dass die beiden Schwestern mit zwei Brüdern aus der Rosenberg-Familie verheiratet waren und der Mann von Alice, ein Leopold Rosenberg, aber kurz vor der Erhebung 1940 am 3. August 1939 in Detroit verstorben war.[94]

Alice Rosenberg, geborene Barth, ging am 15. August 1940 in Detroit eine zweite Ehe mit Siegmund Marx ein. Er war ebenfalls Emigrant und war am 19. August 1896 in Ralingen bei Trier zur Welt gekommen. Über das weitere Schicksal der verschiedenen Familienmitglieder konnten keine Aufzeichnungen gefunden werden.

 

Über die Familie des vierten Sohns von Nathan und Eva Löwenthal ist, wie bereits gesagt, nur wenig bekannt. Nicht einmal das Geburtsdatum von Siegmund Löwenthal konnte bisher gefunden werden. Dass er ein Sohn von Nathan und Eva Löwenthal gewesen sein muss, ergibt sich aus verschiedenen Hinweisen, ein amtliches Dokument liegt aber bisher nicht vor. Im Entschädigungsverfahren für Hermann Löwenthal trat eine Hedwig Kann, geborene Löwenthal, auf, die dort verschiedene schriftliche Eingaben auch in Form eidesstattlicher Erklärungen, machte, in denen sie sich als die Erbberechtigte ihres Onkels Hermann Löwenthal bezeichnete. Sie besaß auch detaillierte Kenntnisse über dessen Familien- und Vermögensverhältnisse, wusste um die Krankheit der Tochter, die sie wohl oft in Camberg besucht hatte.[95] Unter den bekannten Geschwistern von Hermann Löwenthal ist eine Tochter Hedwig bisher nicht bekannt. Leider erwähnt sie den Namen ihres eigenen Vaters in keinem der Briefe an die Behörde. Auch die Angaben zu der Zahl der Geschwister ihres Onkels sind nicht ganz eindeutig, was aber auch an ihrem gebrochenen Deutsch liegen kann. So schreibt sie einmal: „Mein Onkel waren 4 Brüder haben für Deutschland und für Kaiser Wilhem (!) Ihre (!) Dienstpflicht gedan(!).[96] An anderer Stelle wiederum heißt es dann: „Mein Onkel hatte 3 Geschwister 1 Schwester die Erben sind, aber die da alle verstorben sind, aber auch die Kinder fast alle im Goneronslager (! [– vermutlich Konzentrationslager – K.F.]) umgekommen sind.“[97] Aus diesen widersprüchlichen Angaben lässt sich keine gesicherte Aussage über einen weiteren Sohn bzw. Bruder ableiten.
Allerdings gab es einen Siegmund Löwenthal in der Gemeinde Holzappel, der in einer Verbindung zu der zitierten Hedwig Kann stand. In dieser kleinen Gemeinde bei Diez waren die jüdischen Mitbewohner über viele Jahre und Jahrzehnte völlig integriert. Besonders Siegmund Löwenthal war hochgeachtet. Nicht nur war er zum Ehrenmitglied der Freiwilligen Feuerwehr ernannt worden, besonders gefragt war er aufgrund seiner umfassenden medizinischen Kenntnisse bei der Behandlung von erkranktem Vieh. Wie viele aus seiner Familie übte er in der Region als Viehhändler eine wichtige Funktion im ländlichen Raum auch für die nichtjüdischen Bauern aus. In der kleinen Jüdischen Gemeinde saß er mit anderen, u.a. Joseph Rosenthal,[98] in deren Vorstand.[99] 1933 bestand diese noch aus sieben Familien, aber schon bald verließen die meisten den Ort, in dem sie sich bisher heimisch gefühlt hatten. 1935 emigrierte – laut Alemannia Judaica – u.a. auch die Familie von Siegmund Löwenthal. Es heißt dort: „1935 emigrierten die Familien von Siegmund Löwenthal und sein (!) Schwiegersohn Ernst Kann nach Montevideo.“[100]

Julio Kann Löwenthal
Julio Kann
https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/5396365:9800?tid=&pid=&queryId=d05ca86719f3ca2d56c671beabf927d8&_phsrc=Ekt4438&_phstart=successSource

Dass Ernst Kann der Ehemann von genannter Hedwig Kann, geborene Löwenthal, war, ergibt sich wiederum aus einem Dokument der brasilianischen Botschaft in Montevideo, ausgestellt für Julio Kann Lowenthal am 21. Mai 1955. Es heißt darin, dass dieser Julio am 17. November 1935 in Montevideo als Sohn von „Hedwig Lowenthal“ und „Ernesto Kann“ geboren worden sei.[101] Daraus folgt, dass Hedwig Kann die Tochter von Siegmund Löwenthal war und diese damit auch eine Cousine von Julius Löwenthal gewesen sein muss. Wie dem Antrag auf Entschädigung aus dem Jahr 1958 zu entnehmen ist, war der im Exil geborene Julio nicht das einzige Kind des Paares. In dem Antrag gab sie an, zwei Kinder zu haben, eines 22 Jahre alt – Julio -, ein weiteres im Alter von 29 Jahren,[102] das demnach noch in Deutschland geboren worden sein muss. Auf welchem Weg die Familie 1935 ihr Exil Uruguay erreichte, ist nicht bekannt. Vermutlich ist Siegmund Löwenthal dort verstorben. In Montevideo, von wo aus Hedwig Kann ihre Briefe an die Entschädigungsbehörde richtete, musste die Familie sicher unter schwierigen Bedingungen sich ein neues Leben aufbauen. Aber darüber und auch über den Tod von Hedwig und Ernst Kann liegen keine Informationen vor.

 

 

Veröffentlicht: 30. 06. 2019

Letzte Revision: 10. 01. 2022

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Geburtsregister Wiesbaden Schierstein 3 / 1895. Wegen der komplizierten Familienstruktur ist es sinnvoll, mit der rechten Maustaste den beigefügten Stammbaum in einem eigenen Tab zu öffnen.

[2] Heiratsregister Schierstein 25 / 1888.

[3] Ebd.

[4] Heiratsregister 14 / 1883.und Heiratsregister  Erbach 13 / 1894.

[5] Heiratsregister Frankfurt 425 / 1905.

[6] Heiratsregister Wiesbaden-Schierstein 25 / 1888. Die Eltern von Abraham Löwenthal waren zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits verstorben.

[7] HHStAW 518 6883 I (19).

[8] Heiratsregister Geisenheim 14 / 1893.

[9] Heiratsregister Erbach 13 / 1894.

[10] Geburtsregister Wiesbaden Schierstein 20 / 1889, 63 / 1890 und 79 / 1891.

[11] Gleichzeitig wurde der Name der Ehefrau durchgestrichen, dennoch ist davon auszugehen, dass auch sie unter den eingetragenen Adressen gemeldet war.

[12] Geburtsregister der Stadt Wiesbaden 540 / 1892.

[13] In der Datenbank Jüdische Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs Wiesbaden ist zwar ein Sohn namens Richard einegtragen, geboren am 30.6.1923, aber nach Auskunft des Stadtarchivars Klaiber, Wiesbaden, handelt es sich vermutlich um einen Irrtum, bzw. eine Verwechslung mit dem an diesem Tag geborenen Richard Lesem, der später in Dachau ums Leben kam.

[14] HHStAW 518 25480 (4).

[15] Bembenek, Bin kein Deutscher mehr, S. 31-34.

[16] Ebd. S. 32, Anm. 1.

[17] HHStAW 685 509a (6).

[18] Ebd. (13).

[19] HHStAW 518 6883 I (40). Diese unglaublich hohe Summe könnte daraus resultieren, dass Julius Löwenthal Einkommen und Umsatz verwechselte, aber selbst dann ist die Angabe außerordentlich hoch.

[20] HHStAW 685 509b (6, 9, 18, 31, 42, 46) Den Bitten zum Steuerstundung entsprach das Finanzamt nicht, forderte zunächst die Zahlung der Steuerschulden aus den voraus liegenden Jahren. Ebd. (29).

[21] HHStAW 685 509b (24a, 24b, 24c) Am 4 7.1931 legte er Widerspruch gegen den Einkommen- und Umsatzsteuerbescheid ein und argumentierte: „Wer mein Geschäft kennt, weiss ganz genau, dass ich keinen größeren Umsatz gehabt habe, als ich angegeben habe. Es wäre ein großes Unrecht, wenn man von mir derartige Steuern verlangen würde, da ich mich mit meinem Geschäft nur gerade so ernähren kann.“ Ebd. (25).

[22] HHStAW 685 509b (37).

[23] HHStAW 685 509b (ohne Seitenzahl), Brief vom 2.3.36. Im späteren Entschädigungsverfahren gab Löwenthal den Schließungstermin mit dem 20.8.35 an, an dem die Kampagne gegen die Wiesbadener Metzger gestartet wurde, siehe HHStAW 518 6883 I (40).

[24] HHStAW 483 10247 (168).

[25] HHStAW 518 6883 I (27, 32, 83).

[26] Ebd. (72), dazu Bembenek S. 32 f.

[27] Zu den Ereignissen in Schierstein während der Reichspogromnacht siehe Bembenek, Lothar, Der November 1938, in: Begegnungen 1,hg. Förderkreis Aktives Museum Wiesbaden, 1988, S. 99-102. Die Ruine der ausgebrannten Synagoge blieb bis in die Nachkriegszeit stehen, aber nicht als Mahnmal, sie wurde skandalöser Weise vielmehr von der Stadtreinigung als Abstellraum genutzt. Erst 1968 wurde an dieser Stelle eine kleine Gedenkstätte eingeweiht, siehe http://www.alemannia-judaica.de/schierstein_synagoge.htm. (Zugriff: 17.10.2019).

[28] HHStAW 518 6883 I (33, 34, 35, 36) Julius Löwenthal hat eine detaillierte Aufstellung des Werts der zerstörten Gegenstände für das Entschädigungsverfahren vorgelegt und den Schaden auf 15.000 RM beziffert, siehe HHStAW 518 6883 I (72, 73). Nicht nur die Schwägerin Lina Gerich oder andere Bekannte, sondern auch der Polizeimeister a. D. Sottocasa bestätigten in dem späteren Entschädigungsverfahren die Aussagen von Julius Löwenthal und die der gerichtlichen Untersuchung von 1946. Siehe zum Nachkriegsverfahren das Urteil des Landgerichts Wiesbaden, II Kammer, 2 KLs 4/46. Wesentliche Auszüge sind in einer Abschrift enthalten, siehe: Die Jüdische Gemeinde Schierstein, hg. Verein Wiesbadener Museum der Neuzeit, zusammengestellt von Lothar Bembenek, Wiesbaden 1985. Siehe auch HHStAW 468 1205 zu den übrigen an der Aktion Beteiligten.
Auch im Fall Löwenthal kam es im Entschädigungsverfahren zu absurden Vorhaltungen. Der Antragsteller habe nicht hinreichend nachweisen können, welche der zerstörten Gegenstände nach einer Reparatur weiter hätten genutzt werden können und welche völlig zerstört worden waren. Man gewährte dann zwar letztlich doch die geforderte Summe, aber mit dem Gestus des Gnadenakts. Siehe HHStAW 518 6883 (78) Auch beim Antrag  auf Entschädigung der gesundheitlichen Schäden der Haft kam ein Gutachter der Universität Mainz zu dem Schluss, dass die Herzbeschwerden von Julius Löwenthal nicht von seiner Zwangsarbeit und Lagerhaft herrühren könnten, sondern Folge einer „Fettsucht“ seien, weshalb die Ansprüche zurückzuweisen seien. Auch hier einigte man sich letztlich auf einen Vergleich, wieder ein behördlicher Akt der Gnade aus „Mitgefühl“. Wenn es wenigstens das gewesen wäre. Siehe HHStAW 518 6883 (123, 131, 147).

[29] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1341 / 1931 und 2002 / 1939.

[30] HHStAW 518 6883 I (138).

[31] HHStAW 518 6883 I (32) Zwar gab Frau Alida Mannes, geborene Doebrich, im späteren Entschädigungsverfahren an, dass Herr J. Löwenthal dann schließlich infolge Zusammenlegung jüdischer Familien auch in unsere Wohnung (kam). Es war dies im Nov. 1943.“ Siehe HHStAW 518 6883 I (150). (Hervorhebung – K.F.) Auch wenn hier die Frau von Julius Löwenthal nicht ausdrücklich erwähnt ist, so kann man dennoch davon ausgehen, dass beide die Wohnung gemeinsam bezogen.

[32] Die Ehe mit Alida Döbrich war die dritte Ehe von Karl Mannes. Die beiden Söhne entstammten der Ehe mit Lina Schönfeld, die im Jahr 1935 verstorben war. Lina Schönfeld und auch seine erste Frau Ida Hedwig Ruf waren beide keine Jüdinnen. Aufgrund der Tatsache, dass in der vorherigen Ehe Kinder geboren worden waren, genoss er noch den Status einer privilegierten „Mischehe“, unabhängig davon, ob die Mutter der Kinder noch lebte. Seine dritte Frau war nach Nazi-Jargon ein „Mischling 1. Grades“. Zur Familie Mannes liegt ein Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse vor: http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Mannes-Heinz.pdf. (Zugriff: 20.6.2019).

[33] HHStAW 518 6938 (33).

[34] Wie einer Aktennotiz vom 3.7.1950 in der Entschädigungsbehörde zu entnehmen ist, gab es mehrere solcher Häuser. Neben dem in der Dotzheimer Strasse ist auch eines in der Kapellenstraße benannt, ohne aber durch Angabe der Hausnummer präzisiert zu sein, HHStAW 518 6938 (58).

[35] HHStAW 518 6883 I (26).

[36] HHStAW 518 6938 (58).

[37] HHStAW 518 6883 I (45) Eine Entschädigung wurde für diese Zeit dementsprechend nicht gezahlt.

[38] Karl Mannes überlebte die letzten Monate der NS-Herrschaft in einem Versteck auf dem Betriebsgelände der Speditionsfirma Ulrich. Die Firma war nach ihrer Arisierung von Robert Ulrich übernommen worden, der zwar NSDAP-Mitglied war, aber auch mit einer „Halbjüdin“ verheiratet war. Weil er Ende 1944 sich in der Öffentlichkeit negativ Hitler über Hitler und den Krieg geäußert hatte, war er denunziert und anschließend ermordet worden. Zuvor hatte er seinem Chauffeur Karl Mannes noch die Möglichkeit gegeben, sich in einer der Lagerhallen auf dem Betriebsgelände zu verstecken. Mittels der dort gelagerten Lebensmittel gelang es ihm die Zeit zu  überleben Wie lange er dort war, ist nicht bekannt. Ursula Ulrich, die Schwägerin des ermordeten Spediteurs gab an, es seien „Monate und Jahre“ gewesen. Vermutlich werden es nur die letzten Monate gewesen sein, in denen man auch die bisher Geschonten, wie Julius Löwenthal, in die KZs verbrachte. Karl Mannes ist 1951 nach Kanada ausgewandert. Siehe Bembenek / Ulrich, Widerstand und Verfolgung, S.216 f.

[39] HHStAW 518 6883 I (182).

[40] Datenbank Jüdische Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs Wiesbaden, dazu Grabstein auf dem Jüdischen Friedhof Schierstein.

[41] Heiratsregister Wiesbaden 192 / 1928.

[42] https://collections.arolsen-archives.org/H/SIMS5/03020104/0171/163957299/001.jpg. (Zugriff: 27.12.2021).

[43] HHStAW 518 25314 (71).

[44] https://collections.arolsen-archives.org/H/SIMS5/03020104/0171/163957292/001.jpg. (Zugriff: 27.12.2021).

[45] https://collections.arolsen-archives.org/H/SIMS5/03020104/0171/163957292/002.jpg. (Zugriff: 27.12.2021).

[46] Heiratsregister Schierstein 20 / 1911. Die Eltern des am 1910.1882 geborenen Bräutigams waren Isaak Wildau und seine Frau Eva, geborene Böhsmann.

[47] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/106927259/person/230172949998/story. (Zugriff: 27.12.2021).

[48] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61596/images/tna_r39_1915_1915c_018?pId=94563. (Zugriff: 27.12.2021).

[49] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/106927259/person/230172953338/story und https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/106927259/person/230172949998/story. (Zugriff: 27.12.2021).

[50] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6506-0342?treeid=&personid=&hintid=&queryId=1e6b78bd2ead209e7f171687a949b68f&usePUB=true&_phsrc=Ekt4406&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=1006175269. (Zugriff: 27.12.2021).

[51] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2509/images/40382_1020704762_1086-01051?usePUB=true&_phsrc=Ekt4410&usePUBJs=true&pId=91398. (Zugriff: 27.12.2021).

[52] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/106927259/person/230172950044/facts. (Zugriff: 27.12.2021).

[53] Am 6.11.2013 wurden für Selma und Arthur Wildau vor ihrem ehemaligen Haus Umbach 5, heute Große Langgasse 29, zwei Stolpersteine gelegt.

[54] HHStAW 518 6883 I (123). Auch seine Cousine Hedwig Kann gab an, dass beide dem Holocaust zum Opfer gefallen seien. Aber auch sie nennt keine Belege, siehe HHStAW 518 25314 (71).

[55] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 155 / 1927.

[56] Die folgenden Ausführungen folgen den Recherchen von Schmidt, Peter Karl, Die Judenschaft von Camberg. 300 Jahre jüdisches Landleben, Bad Camberg 2014, und denen der Stolpersteingruppe Bad Camberg, die aber auch wesentlich auf der Arbeit von Schmidt aufbaut, siehe https://stolpersteine-guide.de/map/biografie/1259/familie-lowenthal. (Zugriff: 6.9.2019).

[57] Heiratsregister Erbach 13 / 1894.

[58] Schmidt, Judenschaft von Camberg, S. 210. Es gab damals 41 männliche und 59 weibliche Bewohner jüdischen Glaubens in Camberg, die damals etwa 4 Prozent der gesamten Einwohnerschaft  stellten. Eher unwahrscheinlich ist eine unmittelbare verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem in Camberg bereits wohnenden Hirsch Löwenthal und Hermann bzw. Nathan Löwenthal. Hirsch Löwenthal war schon lange in Camberg ansässig. Als Anfang des 19. Jahrhunderts auch die Camberger Juden eigene Familiennamen anmelden mussten, war es Hirsch Löb, der das zunächst verweigerte und erst 1841 den Familienname Löwenthal annahm. Zu dieser Zeit war Hermann Löwenthal noch nicht geboren und seine Eltern wohnten damals noch in Marienfels. Siehe ebd., S. 119 ff.

[59] Ebd. S. 218.

[60] Ebd. S. 228.

[61] https://stolpersteine-guide.de/biografie/1259/familie-lowenthal. (Zugriff: 20.6.2019).

[62] Heiratsregister Erbach 13 / 1894. Ihre Eltern waren der Handelsmann Simon Heyum und seine Frau Sara, geborene Ehrenstein.

[63] Sterberegister Arolsen 621 / 1952 und Sterberegister Camberg 82 / 1908. Dazu HHStAW 518 25314 (71).

[64] Siehe dazu umfassend Schmidt, Judenschaft von Camberg, besonders die Kapitel zur Kaiserzeit und zur Weimarer Republik, S. 199-242.

[65] Ebd. S. 288 f. Auf einer Liste, die unmittelbar nach dem Krieg entstanden war, sind die damals in Camberg arisierten Immobilien abgedruckt. Demnach war das Areal samt Gebäuden für 12.000 RM; an Theodor und Anna Lehmann verkauft worden. Ihre Eingabe im Entschädigungsverfahren von 1964 lässt ein Schuldbewusstsein der Käufer nicht erkennen: „Wir kauften das Haus im Jahr 37 in einem ganz verwahrlosten Zustand von Herrn Löwenthal selbst. Herr Löwenthal nahm selbst das Geld 11000 M in Empfang. Dann ist er in die Obertorstr. gezogen und hat sämtliche Möbel mitgenommen. Wir haben die Quittung über das Geld von Herrn Löwenthal selbst.“ HHStAW 518 25314 (66). Nicht nur wird verschwiegen, dass sie die Bewohner aus ihrem ehemaligen Eigentum auf Druck der NSDAP hinausgeworfen hatten, zugleich wird auch mit dem gängigen Vorurteil vom schmutzigen, unordentlichen Juden gespielt, um damit den niedrigen Preis zu legitimieren. Wenn das Haus tatsächlich in einem schlechten Zustand gewesen sein sollte, so war das die Folge der Maßnahmen, die Löwenthals in den wirtschaftlichen Ruin getrieben hatten, aber nicht die individueller oder gar kollektiver Charaktereigenschaften.

[66] Schmidt, Judenschaft von Camberg. S. 291.

[67] In der Obertorstr. 11 wohnte auch noch die Jüdin Recha Oppenheimer, die vermutlich dort ebenfalls zwangsweise einquartiert worden war, sie sollte mit Löwenthals zusammen deportiert werde, war aber zu diesem Zeitpunkt bereits in ein Frankfurt Krankenhaus eingeliefert worden, siehe Ebd. S. 303.

[68] Ebd. S. 304 f. Hier ist auch als Faksimile der Transportbefehl und auch das Verzeichnis der zurückgelassenen sowie der mitgenommenen Gegenstände der Löwenthals abgebildet.

[69] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/22891-hermann-l-wenthal/, https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/89163-l-wenthal-regine-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/ und https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/87188-l-wenthal-irma-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/. (Zugriff: 27.12.2021).

[70] Heiratsregister Geisenheim 14 / 1893. Sie entstammte damit der großen Familie Straus aus Geisenheim, die hauptsächlich im Weinhandel tätig war. Die Großeltern von Lisette waren Nathan Strauß und Johanna Heymann. Drei der Kinder von Abraham und Babette Straus kamen im Holocaust ums Leben. Neben Lisette selbst auch Sigmund  und Liebmann.

[71] Zur Familie von Isaak Löwenthal recherchiert z. Zt. die Stolpersteingruppe Eltville. Die bisherigen Ergebnisse wurden in einem knappen Artikel veröffentlicht, siehe https://www.rheingau.de/aktuelles/details/12642. (Zugriff: 20.6.2019).

[72] Die Ehe zwischen dem Kaufmann Abraham Alfred Salm und Johanna Löwenthal wurde am 30.6.1921 geschlossen, siehe Heiratsregister Geisenheim 24 / 1921, die zwischen Gustav Alex Salm und Fanny Löwenthal am 26.7.1923, siehe Heiratsregister Geisenheim 14 / 1923.

[73] Heiratsregister Geisenheim 27 / 1927.

[74] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/22897-isaak-l-wenthal/ und https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/22920-lisette-l-wenthal/, (Zugriff: 27.12.2021). Die NSDAP-Köln hatte nach einem verheerenden Bombenangriff auf die Stadt das RSHA gebeten, die „Evakuierung“ der Kölner Juden vorrangig zu betreiben, um Wohnraum für die „Volksgenossen“ zu schaffen, siehe Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 291 f. Edit Lilienfeld, geborene Salm hat in Yad Vashem eine ‚Page of Testimony’ für ihre Großeltern hinterlegt, siehe https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM///NEW_APP/LEFT_CD/20050622_9/19050930_224_6389/93.jpg. (Zugriff: 27.12.2021).

[75] Zu dem Transport siehe Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 224 f. Edit Lilienfeld, geborene Salm, hat in Yad Vashem eine ‚Page of Testimony’ für ihre Großeltern hinterlegt, siehe https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM///NEW_APP/LEFT_CD/20050622_9/19050930_224_6389/93.jpg. (Zugriff: 27.12.2021).

[76] Die Eltern von Felix Neufeld, die in Lengerich ebenfalls eine Metzgerei betrieben, waren bereits den Boykottaktionen im April 1933 ausgesetzt gewesen. In der Reichspogromnacht wurden auch ihre Fenster eingeschlagen, das Haus geplündert. 1941 lebten noch fünf Juden in Lengerich, darunter vier Mitglieder der Familie Neufeld. Zu ihrem Schicksal siehe https://lengerich.ekvw.de/gottesdienste-kirchen/stadtkirche-3/. (Zugriff: 20.6.2019).

[77] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61596/images/tna_r39_1781_1781e_018?pId=16760721, (Zugriff: 27.12.2021). Dass er mit einem Kindertransport nach Engalnd gekommen sein könnte, wie die Stolpersteingruppe Geisenheim vermutete, ist eher unwahrscheinlich. Die Liste enthält ausschließlich Männer mit deutschen Vor- und Nachnamen im Alter zwischen 30 und 40 Jahren. Laut Deutschland: das Schicksal der Juden aus vielen Gemeinschaften in Westfalen, 1933-1942 soll Felix Neufeld am 8.8.1939 Deutschland verlassen haben.

[78] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61665/images/48741_b428932-00063?pId=74405. (Zugriff: 27.12.2021).

[79] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/3848373:61406 und https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2499/images/31301_168781-01779?treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&usePUBJs=true&pId=3743811. (Zugriff: 27.12.2021).

[80] Siehe zu diesem Transport Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 128 f. Auch https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11600185&ind=1. (Zugriff: 27.12.2021). Auch für Selma Neufeld, geborene Salm hat Edith Lilienfeld eine ‚Page of Testimony’ in Yad Vashem hinterlegt.

[81] Auf die Rede machte mich Josh Freeling aufmerksam, sie ist auch auf Youtube zu hören. Falsch ist in der Rede allerdings die Aussage, dass Ralph das älteste Kind von Fanny und Alex gewesen sei. Tatsächlich war er das dritte von vier Kindern.
Eine nicht autorisierte Übersetzung soll hier wegen der leichteren Lesbarkeit folgen:
“Es war ein entscheidender Wendepunkt in der deutschen Politik gegenüber den Juden, wohl der Beginn dessen, was wir heute als Holocaust bezeichnen, und 75 Jahre später sitzen wir hier sicher in einem Heiligtum und feiern eine B’nai Mitzwa, unsere Sechst- und Siebtklässler hier und mit solcher Freude und Freiheit, dass die Kristallnacht leicht wie eine Fußnote in der Geschichte erscheint. Ich wette, es gibt einige unserer Kinder, die vielleicht noch nie von der Kristallnacht gehört haben, und für sie, die 10, 11 oder 12 Jahre alt sind, ist es nur eine weitere Seite im Geschichtsbuch, und so möchte ich dazu beitragen, dieses Ereignis zum Leben zu erwecken (…). Ich werde Ihnen die Geschichte eines Jungen erzählen, der vor 75 Jahren, am 9. November 1938, 10 Jahre alt war und in einer schönen Wohnung in Köln lebte. Aber bevor ich Ihnen diese Geschichte erzähle, muss ich Ihnen ein wenig Hintergrundwissen vermitteln.
Der Junge wurde in einer kleinen Stadt, in Schweich an der Mosel, geboren, als Sohn eines hart arbeitenden Vaters namens Alex und einer liebenden Mutter namens Fanny, und Alex war ein kluger Geschäftsmann, der nach dem Ersten Weltkrieg einen Schrotthandel aufbaute. Er florierte aufgrund der beispiellosen Menge an Metallschrott, die von den Verwüstungen des Krieges herrührten, und seiner Idee, das Eisen aus den zertrümmerten Panzern und Flugzeugen, die die deutsche Landschaft übersäten, zu recyceln. Daraus entwickelte sich ein riesiges Unternehmen. Dazu gehörten eine riesige Fabrik, eine Tochtergesellschaft, ein Zug und Reedereien, die das Metall transportierten. Die Firma lag eine Stunde Fahrt von seinem Haus in Schweich entfernt, aber er war so erfolgreich, dass er sich eines der ersten Autos in der ganzen Stadt leisten konnte. Er stellte einen Chauffeur ein, der ihn hin und her fuhr, es lief gut für ihn und seine Familie. Das Geschäft florierte so sehr, dass er ein eigens großes Anwesen kaufen konnte, auf einem fünf Hektar großen Grundstück, mehr als genug Platz für die drei Kinder, die kommen sollten. Das erste, der Gegenstand unserer Geschichte, wurde 1928 geboren, gefolgt von Schwester Gertrude und Bruder Erving. In der Stadt Schweich gab es nur wenige Juden, aber Alex blieb aktiv. Er war Vorsitzender der einzigen Synagoge in der Stadt. Er schickte seinen ältesten Sohn in die hebräische Schule, wo es nur 12 Schüler gab. Verschiedene Altersgruppen, alle in einem Klassenzimmer. Der kleine Junge wuchs in Schweich auf, sein Kontakt zu Juden beschränkte sich auf seine Familie und die 12 Kinder in seiner hebräischen Schulklasse. Keiner seiner Freunde war jüdisch, stellen Sie sich das vor, aber in den frühen dreißiger Jahren in Deutschland war es den Jungen ironischerweise egal, wer jüdisch war und wer nicht. Sie spielten einfach. Er ist fünf und wird sechs, und er wird sieben und er wird acht, und der Junge genießt den Luxus des Wohlstands, aber dann wird er neun, im Jahr 1937.
Zwei Gestapoagenten klopfen an die Tür der Familie. Es war Schabbat. Sie durchwühlen das Haus. Sie achten besonders darauf, die Telefonleitungen herauszureißen. Sie beschlagnahmten die Radios und der Junge verstand nicht, warum, er stellte nicht viele Fragen, er sah einfach zu, wie es geschah, und im Laufe der Woche kamen immer mehr Nazis an den Ort, den er sein Zuhause nannte. In weniger als einer Woche gehörten das Haus und die fünf Hektar Land nicht mehr seinem Vater. Das Geschäft, das sein Vater mit seinen bloßen Händen aufgebaut hatte, wurde aufgegeben, die Bankkonten waren leer, 95 % – vielleicht sogar mehr – des Familienvermögens verschwanden innerhalb weniger Tage. Aber sie waren so wohlhabend, dass die 5%, die Alex vor den Nazis verstecken konnte, ausreichten, um seine Familie nach Köln zu bringen. Genug, um eine Wohnung zu kaufen, die nicht annähernd so groß war wie das Haus, aber so groß, dass die meisten von uns in diesem Raum sie als groß bezeichnen würden. Und der kleine Junge wurde von den meisten Traumata abgeschirmt. Er befand sich in einer neuen Stadt, in einer neuen Schule, in einer neuen Synagoge, in der es zu seiner Freude noch viele weitere jüdische Kinder gab. Die Erinnerungen an die Gestapo, die sein Haus stürmte, die Telefone abschaltete und sein Grundstück in Schweich in Besitz nahm, wurden durch die aufregende Erfahrung einer neuen Stadt ersetzt. Und er lernte ihre Ecken und Winkel kennen. Er ging jeden Tag zu Fuß zur Schule. Dieser kleine Junge kannte die Straßen auswendig. Er prägte sich die Haltestellen der Straßenbahn und die Schaufenster ein und erwarb sich schon als kleiner Junge den Ruf, der Junge zu sein, der immer wusste, wo es lang ging. Alle fragten ihn nach dem Weg. Diese Fähigkeit sollte sich in den kommenden Jahren als sehr wertvoll erweisen.
Und dann, am 9. November 1938 – morgen vor 75 Jahren – schneit es. Der Tag geht zu Ende, es wird dunkel und der Junge, der damals 10 Jahre alt war, hört Lärm außerhalb der Wohnung. Fenster von Geschäften werden eingeschlagen, Glas zerspringt. Er hört Schreie. Manche ängstlich, manche aggressiv, aber sie alle vermischen sich zu einem Tumult, und der Geruch von Rauch sticht ihm in die Nase. Am nächsten Morgen weckt ihn sein Vater und nimmt ihn an der Hand, um mit ihm zur Synagoge zu gehen. Alex wollte in der Bank, in der sie ihre Talus aufbewahrten, nachsehen, ob er etwas retten kann, aber ihre Synagoge war eine von 1.500, die in der Nacht zuvor verbrannt waren. Die Asche der Thora, insgesamt wurden an diesem Abend 7.500 jüdische Geschäfte zerstört. 30.000 Juden wurden zusammengetrieben, verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Das, meine Freunde, war vor 75 Jahren die Kristallnacht.
Für diese Familie begannen die Pläne, aus Deutschland zu fliehen, sofort für Alex, Fanny und die drei Kinder. Monate nach der Kristallnacht klopft es erneut an die Tür. Ein weiterer Gestapo-Agent. Diesmal war es einer von Alex‘ ehemaligen Angestellten, und er war gekommen, um Alex zur luxemburgischen Grenze zu eskortieren. Die Deportationen wurden immer häufiger. Alex musste fliehen. Er wurde zu einem Kanal gebracht, den er durchschwimmen sollte, um von der anderen Seite irgendwie nach Genua in Italien zu gelangen, was er auch tat. Die Familie kam in seiner Abwesenheit zurecht, während er in Italien die Ausreise in die Vereinigten Staaten vorbereitete. Aber die Umstände verschlechterten sich, wie wir alle wissen, sehr schnell, und die Nazis begannen, die Jungen in Köln zusammenzutreiben. 10 und mehr. Die Person, um die es in unserer Geschichte geht, ist jetzt 11. Wieder klopft es an der Tür. Derselbe Gestapo-Beamte. Ihr ältester Sohn muss mit mir kommen. Es ist nicht mehr sicher. Der Junge wird zu demselben Kanal gebracht, wo man ihm die Adresse einer Bibliothek in Genua gibt und ihn auffordert, diese zu finden. Er schwimmt nur mit den Kleidern auf dem Rücken durch den Kanal und beginnt im Alter von 11 Jahren eine zweimonatige Reise, um diese Bibliothek in Genua zu finden. Die Adresse hat er auf einen Zettel geschrieben. Sein Vater Alex wartet jeden Tag auf den Stufen dieser Bibliothek, bis sein 11-Jähriger auftaucht. Und das tut er. Fanny und die beiden Kinder sollten bald darauf wieder mit Alex und dem ältesten Jungen zusammenkommen. Sie kamen im Februar 1940 mit 18 Dollar von ihrem übrigen Vermögen in New York City an. Zwei Tage nach ihrer Ankunft wird der Junge, der jetzt 12 Jahre alt ist, eingeschult. Ein paar Wochen später hatte er eine Bar Mitzwa. Er konnte kein einziges Wort Englisch. Ich erzähle Ihnen diese Geschichte am 75. Jahrestag der Kristallnacht, weil wir darüber bald nur noch in Büchern lesen werden. Aber heute Abend können wir dieser Geschichte einen Namen und ein Gesicht geben, denn es ist die Geschichte eines Mannes, der dort rechts sitzt und Ralph Salm heißt.“

[82] Die Familie von Alex’ Vater, Philipp Salm, stammte wohl aus dieser Region, denn dieser war selbst in Brühl geboren worden, seine Frau Gertrud kam allerdings aus der Nähe von Trier, wo die Familie dann gewohnt hatte. Aber sicher gab es im Raum Köln / Brühl noch eine ganze Reihe von Verwandten.

[83] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6447-0093?pId=1006714407. (Zugriff: 27.12.2021).

[84] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7733/images/imusany1824_1736-00465?pId=2576427. (Zugriff: 27.12.2021).

[85] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/77675126/person/42369894478/facts. (Zugriff: 27.12.2021).

[86] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_7405-0999?pId=3038309227. (Zugriff: 27.12.2021).

[87] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/77675126/person/42369897877/facts. (Zugriff: 27.12.2021).

[88] Auskunft Josh Freeling. Ehud Lilienfeld war 29..11.1911 in Nahariyya geboren worden.

[89] Ebd.

[90] Heiratsregister Frankfurt 425 / 1905. Seine Eltern waren der Handelsmann Friedrich Bart und dessen Frau Amalie, geborene Haas.

[91] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/77675126/person/282120533702/facts. (Zugriff: 27.12.2021).

[92] Sterberegister Griesheim 84 / 1918.

[93] Sterberegister Frankfurt III 58 / 1937.

[94] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/60872/images/44471_354753-02326?pId=1291317. (Zugriff: 27.12.2021).

[95] HHStAW 518 25314 (25).

[96] Ebd. (52).

[97] Ebd. (71).

[98] Siehe zur Familie Rosenthal aus Holzappel oben.

[99] http://www.alemannia-judaica.de/holzappel_synagoge.htm. (Zugriff: 20.6.2019).

[100] Ebd. Leider ist auch hier die grammatische Formulierung falsch und dadurch nicht eindeutig. Emigrierten zwei Familien oder nur die Löwenthals und der Schwiegersohn ?

[101] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/5396365:9800?tid=&pid=&queryId=d05ca86719f3ca2d56c671beabf927d8&_phsrc=Ekt4438&_phstart=successSource. (Zugriff: 27.12.2021). Bei der Familie Kann handelt es sich um eine große Sippschaft, die im Raum Trier ansässig war, davon ein größerer Teil in der Gemeinde Dörrebach., wo Hedwig und Ernst Kann zwischenzeitlich auch gewohnt hatten.

[102] 518 25314 (1).