Familie Blumenthal und Familie Mannheimer


Judenhaus Wiesbaden, Dotzheimer Str. 15
Judenhaus Dotzheimer Str. 15 heute
Eigene Aufnahme
Dotzheimer Str. 15 Judenhaus Wiesbaden
Lage des Judenhauses Dotzheimer Str. 15
Judenhaus Dotzheimer Str. 15 Wiesbaden Belegung
Belegung der Dotzheimer Str. 15

 

 

 

 

 


Die Familie des ehemaligen Pferde- und Kohlehändlers Josef Blumenthal gehörte zu den wenigen jüdischen Bewohnern des faktisch nicht genutzten  Judenhauses in der Dotzheimer Straße. Dies ergibt sich aus einer Abrechnung der Hausverwaltung Briel für den Zeitraum Juli 1940 bis Juli 1941, also für die Zeit, in der die Umsiedlungen eigentlich auf ihrem Höhepunkt waren. Es sind darin weit mehr arische als jüdische Mieter aufgeführt und von den letzteren wohnten fast alle bereits in dem Haus, bevor es die NSDAP auf die Liste gesetzt hatte. So waren auch Blumenthals definitiv nicht eingewiesen worden, sondern bereits um das Jahr 1935 dort eingezogen.[1]. Zuvor hatten sie in der Nummer 14 gelebt, wo auch das Büro der Kohlehandlung angesiedelt war.

Stammbaum der Familie Blumenthal
Stammbaum der Familie Blumenthal
GDB

Diese hatte Joseph Blumenthal mit seinem Bruder Siegfried von seinen Eltern Gerson und Fanny Blumenthal übernommen, die ursprünglich seit 1866 in der Faulbrunnenstraße einen Pferdehandel betrieben hatten. Beide Brüder waren als persönlich haftende Gesellschafter in die Firma eingetreten und hatten sie vermutlich nach dem Tod des Vaters im Jahr 1896 übernommen.[2] Möglicherweise durch die Verwerfungen der Wirtschaftskrisen während der Weimarer Republik war die Firma aber in erhebliche Schwierigkeiten geraten und 1931 bei ihrem Lieferanten so sehr verschuldet, dass diesem vertraglich die Aufsicht über die Geschäftstätigkeit überlassen werden musste. Alle Verkaufsverträge, die Blumenthals akquirieren konnten, wurden durch die Firma des Gläubigers ausgeführt und gegen die Schulden verrechnet, ein eigenes Lager, ursprünglich am Güterbahnhof West gelegen, durfte man nicht mehr unterhalten.[3] Im gleichen Jahr trat Siegfried Blumenthal als Gesellschafter aus der Firma aus.[4] Damit wurde die Gesellschaft aufgelöst und Joseph führte die Firma als Einzelunternehmen noch ein paar Jahre weiter. Schon im Jahr vor Beginn der NS-Diktatur belief sich das gesamte Jahreseinkommen der Familie Joseph Blumenthal nach Schätzung des Finanzamts auf weniger als 3.000 RM.[5] Eine Verbesserung der Lage war unter den immer schwieriger werdenden Bedingungen nicht mehr zu erwarten. Am 14. November 1938 wurde die Firma abgemeldet.[6]

Aber nicht nur die Firma, auch die Familie der Blumenthals befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Auflösung. Der erste, der Deutschland verließ war Siegfried Blumenthal. Der am 3. August 1871 geborene jüngere Bruder und bisherige Geschäftspartner von Joseph war verheiratet mit Lucie Altmann.[7] Das Paar hatte einen Sohn, den am 6. Dezember 1908 in Wiesbaden geborenen Günther Alfred Hans, der später das Entschädigungsverfahren für seine Eltern beantragte. Neben seiner Teilhaberschaft an der elterlichen Firma unterhielt Siegfried zumindest formal eine eigene Kohlehandlung, die zeitweise in der Bertramstr. 20, zuletzt bis 1938 in der Dreiweidenstr. 8, der Wohnadresse, angemeldet war.[8] Das Einkommen der Familie betrug in der Zeit zwischen 1930 und 1936 selten mehr als 1.500 RM im Jahr; die Geschäfte waren demnach eher bescheiden.[9] Dass sie früher besser gewesen sein müssen, kann man aus der Aussage eines ehemaligen Hausbewohners schließen, der die 4-Zimmer-Wohnung der Blumenthals als „sehr gut ausgestattet“ bezeichnete.[10]

1935, nachdem Siegfried Blumenthal von der Polizei vorgeladen worden war, flüchtete er anschließend sofort nach Holland und kehrte auch nicht mehr zurück. Seine Frau und sein Sohn waren zunächst zurückgeblieben. Als sich der Gesundheitszustand des seit längerem kränklichen Siegfried 1936 rapide verschlechterte, fuhr Lucie Blumenthal im April überstürzt nach Holland. Eigentlich sollte es nur ein Besuch sein, aber weil nach der Phase der „olympischen Zurückhaltung“ die antisemitische Hetze in Deutschland wieder deutlich verschärft wurde, beschloss sie unter Zurücklassung des gesamten Hausstandes ebenfalls im Exil zu bleiben.[11] Am gleichen Tag als sie ihre Reise angetreten hatte, war auch ihr Sohn Günther, der seit 1930 mit Selma Löwenstein verheiratet war,[12] mit seiner Frau nach Südafrika aufgebrochen, wo es ihm in den folgenden Jahren gelang, als gelernter Ladenbauer in Johannesburg eine sehr erfolgreiche eigene Firma in dieser Branche aufzubauen.[13] Nach dem Tod ihres Mannes am 19. Januar 1937 in Amsterdam, folge Lucie Blumenthal ihrem Sohn in das südafrikanische Exil, wo sie am 10. November 1943 verstarb.[14]

Die Bewohner des späteren Judenhauses Joseph und Lina Blumenthal hatten etwa 1897/98 geheiratet.[15] Am 28. März 1899 war hier in Wiesbaden die Tochter Stephanie Senta und am 12. November 1900 der Sohn Arthur Leo geboren worden. Während die Tochter in Wiesbaden blieb, sich hier – so kann man aus den Finanzakten entnehmen – in der Firma der Eltern engagierte, absolvierte Arthur eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Als solcher war er nach Berlin gegangen, wo er seine spätere Frau Vicky Newmann kennenlernte. Die aus Köln stammende Tochter von Rudolph und Else Newmann war zu dieser Zeit noch in ihrer Ausbildung zur Ärztin. 1935 wurde ihr als Jüdin die Fortsetzung ihrer Facharztausbildung zur Psychoanalytikerin verweigert. Sicher nicht zuletzt aus diesem Grund beschlossen die beiden, die 1934 geheiratet hatten, Deutschland zu verlassen. 1936 emigrierten sie nach Palästina und fanden in Haifa ein neues Zuhause. In der neuen Heimat ließen sie ihren Familienname in Bental und Arthur seinen Vornamen in Asher umändern. Es gelang ihnen bald auch beruflich in Palästina bzw. Israel wieder Fuß zu fassen. Arthur Blumenthal arbeitete in seinem erlernten Beruf als Bankangestellter und Vicky startete nach Abschluss ihrer Ausbildung als Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychiatrie eine bedeutende berufliche Karriere.[16]

Das Paar hatte drei Kinder, eines von ihnen, Benjamin, war 2010 anlässlich der Veröffentlichung des Erinnerungsblattes für seine Großeltern nach Wiesbaden gekommen.[17] Er berichtete bei diesem Anlass, dass der Vater nur wenig über seine Familie erzählt habe, führte das auf das schlechte Gewissen zurück, das sein Vater zeitlebens hatte, weil es ihm nicht gelungen sei, auch die übrige Familie zu retten. Es sei dadurch ein „Graben“ zwischen ihm und seinem Vater und noch mehr zwischen ihm und seiner Schwester Stephanie aufgerissen worden, an dem sein Vater Asher immer gelitten habe.[18]

Stephanie hatte am 3. Dezember 1940 Emil Mannheimer geheiratet. Laut Gestapo-Karteikarte war der am 27. November 1882 in Mannheim Geborene von Beruf Arbeiter.[19] Ein Tag zuvor, am 2. Dezember war ihr gemeinsamer Sohn Dan in Wiesbaden zur Welt gekommen, der am 22. Januar 1940 „die Rechtsstellung eines ehelichen Kindes erlangt(e)“, wie es auf der Gestapo-Karteikarte seines Vaters vermerkt ist. Der Karte ist ebenfalls zu entnehmen, dass Emil Mannheimer etwa ein Jahr zuvor, nämlich am 2. Januar 1940 von Frankfurt kommend in das Haus in der Dotzheimer Straße eingezogen war.[20] Unklar ist, ob er in das Haus kam, weil er zuvor Stefanie kennengelernt hatte und mit ihr zusammen leben wollte oder aber – dann möglicherweise sogar gezwungenermaßen – dort einquartiert worden war und sich erst dadurch die Beziehung zwischen den beiden ergab. Der Zeitpunkt Januar 1940 spricht allerdings eher für die erste Möglichkeit. Verwunderlich ist allerdings, dass die junge Familie Mannheimer in der oben genannten Aufstellung der Hausverwaltung Briel nicht aufgeführt ist. Der wahrscheinliche Grund wird darin zu sehen sein, dass alle zusammen in einer Wohnung lebten und damit nur eine Miete zu verbuchen war. Nach der Liste unbekannter Herkunft aus dem Jahr 1942 verfügten Blumenthals über 3 Zimmer im Erdgeschoss des Hauses.

Am 10 Juni 1942 wurden Stephanie und Emil Mannheimer mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn Dan deportiert. Möglicherweise wurden sie in Lublin, dem nach Frankfurt ersten Ziel des Zuges, noch getrennt, denn die arbeitsfähigen Männer rekrutierte man hier für Zwangsarbeiten nach Majdanek, wo auch sie bald zugrunde gingen. Die Übrigen, Frauen, Kinder und Alte, wurden von Lublin aus unmittelbar noch Sobibor in die Gaskammern geschickt.

Am 28. Juni, etwa zwei Wochen nach der Deportation, konnten die Eltern über das Internationale Rote Kreuz noch einen letzten Kontakt mit ihrem Sohn Asher in Palästina herstellen. Auf den wenigen Zeilen, die ihnen auf dem Formular blieben, ist zu lesen: „Seit November ohne Nachricht, sind beunruhigt. Steffi, Emil, Kind abgereist. Keine Adresse. Hoffen auf Wiedersehen mit Euch. Wir beide gesund. Herzlich grüsst küsst Euch – Eltern“[21]

Ein Wiedersehen sollte es nicht mehr geben. Mit dem nächsten Transport vom 1. September 1942 wurden auch die Eltern der Vernichtung zugeführt. In Theresienstadt, dem Ziel der Waggons, blieben sie nur kurz. Am 29. September wurden sie mit rund 2000 weiteren Insassen von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka überführt und unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.

Von den weiteren Geschwistern Joseph Blumenthals fielen auch die beiden Schwestern Helene und Sidonie dem Holocaust zum Opfer. Helene, verheiratet mit Julius Brill, der vermutlich bereits vor 1939 verstarb, wurde nach den Angaben des Gedenkbuchs des Bundesarchivs am 15. Juni 1942 von Köln aus nach Theresienstadt gebracht. Sie könnte dort theoretisch ihren Bruder noch getroffen haben. Auch sie wurde, allerdings schon am 19.9.1942 in Treblinka ermordet. Ebenfalls nach Angabe des Bundesarchivs wurde Sidonie Blumenthal, verheiratete Happ, am 5. SEptember 1942 von Berlin aus nach Riga deportiert. Von diesem Transport, der etwa 800 Teilnehmer hatte, wurden einige Männer zur Zwangsarbeit selektiert, die übrigen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft erschossen, darunter auch 25 Kinder nicht älter als 10 Jahre.[22]

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Zur Familie Blumenthal siehe auch das Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Blumenthal_Joseph.pdf. (Zugriff: 19.10.2017).

[2] Die Angabe auf dem Erinnerungsblatt für Joseph Blumenthal und seine Familie, sie hätten den Betrieb erst 1921 übernommen, also 25 Jahre nach dem Tod des Vaters, ist eher unwahrscheinlich. Auch die Angabe, dass ab 1925 die Firma unter Joseph und seiner Tochter firmierte ist fraglich, da 1931 Siegfried noch als haftender Gesellschafter geführt wurde, siehe 685 83b (10). Allerdings trat er im Dezember 1931 aus der Firma aus, siehe.
Gerson Blumenthal, geboren um 1830, war am 30.4.1896 verstorben, seine Frau Fanny Jessel, um 1840 geboren worden, starb am 21.11.1899. Fanny Jessel, Tochter von Gabriel und Sarah Jessel stammte aus Weilmünster. Es liegt nahe, dass sie auch mit Johanna Jessel, der Ehefrau von Eduard Kleineibst, bzw. deren Eltern Carl Josef und Minna Jessel verwandt war, die ebenfalls aus Weilmünster stammten. Deren Kinder Klothilde und Melanie waren Bewohner des Judenhauses Alexandrastr. 6.

[3] HHStAW 685 83b (10).

[4] Ebd. (36).

[5] Ebd. (16).

[6] HHStAW 685 83d (11).

[7] HHStAW 518 50794 (14).

[8] Ebd. (10, 37).

[9] HHStAW 518 50794 (8).

[10] Ebd. (37).

[11] Ebd. (30, 43).Eine Entschädigung für dieses Eigentum wurde dem Sohn später verweigert. Zwar war unzweifelhaft, dass sich der Hausbesitzer für die entfallene Miete die Badewanne und einen Kleiderschrank angeeignet hatte, ein bekannter Wiesbadener Möbelhändler die übrigen Möbel abgeholt und verkauft hatte, aber weil die Nachkommen nicht nachweisen konnten, dass der Händler nicht in ihrem Auftrag gehandelt und sie nichts von dem Ertrag erhalten hatten, wurde keine Entschädigung gezahlt. Allenfalls könne auf Rückerstattung des Mobiliars, das in alle Winde verstreut war, geklagt werden. Siehe den Bescheid vom 7.1.1964, HHStAW 518 50794 (42 ff.). Auch in einem weiteren Gerichtsbeschluss wurden die Ansprüche abgelehnt, ebd. (54 f.).

[12] Selma Löwenstein war am 11.6.1916 als Tochter von Sally und Frieda Löwenstein, geb. Schwarzschild, in Nordenstadt geboren worden. Zur Familie Löwenstein liegt ein Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse vor, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-L%C3%B6wenstein-Sali.pdf. (Zugriff: 18.10.2017).

[13] Günther Blumenthal hatte am 25.4.1936 die in Nordenstadtt geborene Selma Löwenstein geheiratet. Seine Ausbildung hatte er bei der in jüdischem Besitz befindlichen Wiesbadener Ladenbaufirma Steinberg & Vorsanger absolviert. Die von ihm aufgebaute Firma ‚Pan African Shopfitters’ wurde nach dem Tod ihres Gründers im Jahr 1980 von den beiden Söhnen Steven, geb. 1937 und Arnold, geb. 1940, fortgeführt und ist inzwischen zur größten Ladenbaufirma Afrikas aufgestiegen, siehe https://www.panafricanshopfitters.co.za/pan_about-us.html. (Zugriff: 11.12.2019) Hier sind auch Bilder des Firmengründers und seiner Kinder zu sehen.

[14] HHStAW 518 50794 (25).

[15] Lina Schaumburger, geboren am 9. August 1871, kam aus Diez an der Lahn, wo es verschiedene Familien dieses Namens gab. Eine genaue Zuordnung ist bisher nicht gelungen.

[16] Siehe https://www.psychoanalytikerinnen.de/israel_biografien.html. (Zugriff: 19.10.2017). Vicky Newmann war von 1970 bis 1975 Präsidentin der Psychoanalytischen Gesellschaft Israels.

[17] Neben Benjamin, dem Jüngsten, waren das der Bruder Gad und die Schwester Tamar Bental. Siehe Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden.

[18] Wiesbadener Tagblatt 5.11.2010. (Zugriff: 19.10.2017).

[19]. Emil Mannheimer war der Sohn Leopold Mannheimer aus Eltville und dessen zweiter Frau Johanna Rainach, siehe ‚DB Jüdische Bürger Wiesbadens des Stadtarchivs Wiesbaden’. Die Berufsbezeichnung ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass er nicht mehr in einem zuvor erlernten Beruf arbeiten durfte, sondern Zwangsarbeit verrichten musste.

[20] Es heißt darauf „bei Breil“, womit vermutlich der Zwangsverwalter des Hauses Briel gemeint ist.

[21] Faksimile der Nachricht ist abgedruckt auf dem Erinnerungsblatt für die Familie. Hier sind auch Bilder der Familienmitglieder zu sehen.

[22]. Siehe zu diesem Transport Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, a.a.O. S. 257.