Frankenstr. 15


Hirsch Offen Ester Rorberger Offen, Jakob Offen
Das ehemalige Judenhaus in der Frankenstr. 15
Eigene Aunahme
Lage des Judenhauses
Judenhaus Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Frankenstr. 15

 

 

 

 

 

 


Die Familie von Hirsch Offen

Die Frankenstr. 15 stand auf der offiziellen Judenhaus-Liste von 1940, aber das dortige Gebäude wurde erst sehr spät und auch dann nur in einem sehr kleinen Umfang für diesen Zweck genutzt.

Judenhaus Frankenstr. 15, Hirsch Offen, Jakob Offen, Ester Offen Rorberger
Lage von Dabrowa in Galizien im heutigen Polen

Das Haus war im Besitz der Familie Offen, Angehörige der Landsmannschaft der galizischen Juden, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wegen der vielfachen Pogrome in ihrer Heimat die Habsburger Lande verließen. Einen regelrechten Schub der Emigration vollzog sich im Anschluss an die Neuordnung in Osteuropa im Gefolge des Ersten Weltkriegs, als mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn neue eigenständige Staaten in der ehemaligen k.u.k.-Monachie Österreich-Ungarn geschaffen worden waren. Die kleine westgalizische Stadt Dobrawa in der Nähe von Krakau, in der Hirsch Offen am 21. März 1878 geboren wurde, gehörte nun zum polnischen Staatsgebiet. Für den durch die Neugründungen angefachten Nationalismus wurden die jeweiligen jüdischen Minderheiten, wie nur allzu oft, in den einzelnen Ländern ein willfähriges Objekt für die eigene negative Identitätsfindung. Viele flohen vor den neu aufkeimenden Pogromen in den Westen, eine wachsende Zahl kam auch nach Wiesbaden – keineswegs willkommen, sondern von Anbeginn verschiedenen Verdächtigungen und Diskriminierungen ausgesetzt.[1]

Stammbaum der Familie Offen
(GDB-PLS)

Anders als Schneider annahm, war aber Hirsch Offen nicht erst im Gefolge dieser erneuten Verfolgungswelle nach 1918 aus Galizien nach Wiesbaden gekommen,[2] sondern schon etwa zehn Jahre früher, also noch vor dem Ersten Weltkrieg. Im Wiesbadener Adressbuch von 1910 ist er erstmals als Bewohner der Yorckstr. 8 eingetragen, wo er im vierten Stock eine Wohnung hatte. Zu dieser Zeit lebte auch noch seine Frau Rosalie / Reizel, eine geborene Strum / Strom, die ebenfalls aus Dabrowa stammte. Die um 1880 Geborene war die Tochter von Moritz Isaak Strum und seiner Frau Jette, geborene Lärner.[3] Mit ihr zusammen hatte er die drei Kinder Heinrich, Jakob und Jette, die alle noch in Dabrowa geboren worden waren, Heinrich am 16. Januar 1905, Jette am 17. August 1908 und Jakob am 6. Februar 1909.[4] In Wiesbaden kam am 3. September 1912 noch der Sohn Abraham Salomon zur Welt. Er verstarb dort allerdings schon nach drei Jahren am 6. Oktober 1915.[5]

Schon bald nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Hirsch Offen am 19. August 1920 die ebenfalls aus Galizien stammende Ester Rorberger.[6] Aus dieser Ehe ging am 22. April 1921 der Sohn Moritz Jehuda hervor.[7]

Zum Zeitpunkt der zweiten Eheschließung wohnte Hirsch Offen mit seinen Kindern in der Yorkstr. 7 im Hinterhaus, wo er noch mit seiner ersten Frau um 1916/1917 eingezogen war. Nach ihrer Übersiedlung nach Wiesbaden hatte die Familie nach den Angaben der Wiesbadener Adressbücher im ersten Jahr eine Wohnung in der Yorckstr. 8 und im folgenden Jahr eine in der Zimmermannstr. 7 bezogen. Danach lebte sie weitere vier Jahre in der Blücherstr. 15, bevor sie dann die Wohnung in der Yorckstr. 7 mietete. Um 1924 zog die neu gegründete Familie in das Haus in der Frankenstr. 15, das das Ehepaar am 22. Januar 1923 bei einer Versteigerung erworben hatte.[8] Man wird davon ausgehen können, dass der Vorbesitzer namens Vogel die Folgen der Hyperinflation nicht mehr bewältigen konnte, denn durch die Krise waren auch Hauseigentümer betroffen, weil die Mieten die horrend steigenden Kosten nicht mehr deckten. Welchen Preis das Ehepaar Offen damals für die Immobilie zahlte, ist nicht bekannt. Der Einheitswert des Hauses belief sich 1935 auf 35.000 RM, 1941 aber nur noch auf 24.000 RM.[9]

Möglicherweise baute Hirsch Offen beim Kauf des Hauses auf die für Schuldner positive Wirkung der Inflation,[10] denn das Einkommen der Familie wird nicht sehr hoch gewesen sein. In den verschiedenen Akten und Eintragungen im Wiesbadener Adressbuch wird er immer als Händler bezeichnet, aber nach Angaben des Zeitzeugen Monju Tiefenbrunner betrieb er eine Altwarenhandlung, [11] die sicher nur einen geringen Ertrag abwarf. In den Wiesbadener Adressbüchern der späten zwanziger Jahre wird das Geschäft als Sackhandlung bezeichnet. Nicht auszuschließen ist aber, dass im Haus in der Frankenstr. 15 auch andere Altwaren angekauft und verkauft wurden.

Das innere Westend zwischen Schwalbacher Straße und Erstem Ring, das von der Frankenstraße durchzogen wird, war damals ein beliebtes Wohngebiet der ostjüdischen Zuwanderer. Dort konnte man in relativ billigen Wohnungen mit seinesgleichen zusammenleben, man hatte die Geschäfte für den täglichen Bedarf in unmittelbarer Nähe und auch viele der chassitischen Glaubensbrüder verliehen diesem Stadtbezirk ansatzweise den Charakter eines jiddischen Schtetls.[12] Informationen darüber, inwieweit sich die Familie Offen auch in der orthodoxen jüdischen Gemeinde engagiert hatte, liegen nicht vor. Einzig Jakob Offen ist als Mitglied in einem der jüdischen Vereine und Gemeinschaften auszumachen. Er war laut Jüdischen Adressbuch von 1935 Mitglied im jüdisch-orthodoxen Jugendbund „Esra“.

Hirsch Offen, Jakob Offen, Ester Offen Rorberger
Lage des Hauses am Michelsberg 15
Das Haus Michelsberg 15 optisch zwischen Synagoge und Marktkirche gelegen
Mit Genehmigung des Stadtarchivs Wiesbaden

Um 1931 zogen Offens offensichtlich aus ihrem eigenen Haus aus und mieteten eine Wohnung im Haus Michelsberg 15, das an der Ecke zur Coulinstraße und unmittelbar gegenüber der Synagoge gelegen war.[13] Auch unter dieser Adresse ist Hirsch Offen zunächst noch als Kaufmann eingetragen, erst vom Adressbuch 1934/35 an ist neben seinem Namen „Pension“ notiert. Möglichweise bot man hier tatsächlich auch Übernachtungsmöglichkeiten an, um damit in Zeiten, in denen es für Juden kaum mehr Verdienstmöglichkeiten gab, noch ein Zusatzeinkommen zu erwirtschaften. Nach den Erinnerungen von Monju Tiefenbrunner bot die fünfköpfige Familie Offen hier allerdings einen Mittagstisch mit koscherem Essen an.[14]

Hirsch Offen, Jakob Offen, Ester Offen Rorberger
Das Haus am Michelsberg 15 heute
Eigene Aufnahme
Offen, Hirsch, Jakob, Jette Ester
Eintrag im Jüdischen Adressbuch von 1935

 

 

 

 

Am 1. Juli 1936 verstarb Hirsch Offen im Alter von 58 Jahren. Die Umstände seines Todes sind ungeklärt. Am 2. Juli überbrachten keine Verwandten, sondern das Polizeipräsidium Wiesbaden dem Standesamt die Nachricht über dessen Tod am vorausgegangenen Tag.[15] Sicher ist, dass er im Polizeigewahrsam im Gefängnis Albrechtstr. 29 zu Tode kam, offiziell beging er dort Selbstmord.[16] Gegenüber dieser offiziellen Version gibt es allerdings auch Aussagen, die die Wahrscheinlichkeit, zumindest die Möglichkeit eines vertuschten Mordes nahelegen. Georg Schneider hat bei seinen Recherchen in Israel 2010 auch mit der Zeitzeugin Doris Suchovolski, geborene Weiser, gesprochen. Allerdings basieren ihre Angaben nicht auf eigenen Wahrnehmungen, sondern auf den Berichten ihres Vaters Moritz Weiser, der als Mitglied der Wiesbaden Chewrah Kadischa, den traditionellen jüdischen Beerdigungsgesellschaften, den Leichnam von Hirsch Offen gesehen und bezeugt habe, dass die Leiche am Hals Verletzungen aufwiesen, die auf Misshandlungen hindeuteten. Mit Bedacht merkt Schneider zu diesen Angaben an, dass diese Version, bei aller Wahrscheinlichkeit, nicht als gesichert angenommen werden dürfe, da in dieser Zeit in Wiesbaden mehrfach Gerüchte über die Ermordung von Juden kursierten, die sich im Nachhinein als unwahr erwiesen.[17] In jedem Fall ist Hirsch Offen keines natürlichen Todes gestorben und Selbstmord war in diesen Zeiten ohnehin nichts anderes als eine besonders perfide Art des Mordes, weil sich die Täter auf diese Weise auch noch ihrer juristischen Verantwortung entziehen konnten.

Hirsch Offen, Jakob Offen, Jette Offen, Judenhaus Wiesbaden
Der Abriss der Synagoge um 1950, im Hintergrund das Haus Michelsberg 15
Mit Genehmigung des Stadtarchivs Wiesbaden

Auch über die Hintergründe der Festnahme liegen nur noch die Aussagen von Doris Suchovolski vor. Aber auch diese Informationen konnte sie nur vom Hörensagen kennen, denn selbst zugegen war sie auch hier nicht. Nach ihrer Darstellung hatte sich Hirsch Offen am 1. Juli 1936 vormittags auf einer Bank am Bismarckring unter den dortigen Alleebäumen niedergelassen. Bald habe sich ein junges, ihm unbekanntes und vermutlich nichtjüdisches Mädchen zu ihm gesetzt. Wiederum kurz darauf sei die Gestapo erschienen und habe ihn festgenommen.[18] Möglicherweise wollte man Hirsch Offen wegen „Rassenschande“, dem neuen, aus den Nürnberger Gesetzen abgeleiteten Straftatbestand, anklagen, der seit dem 1. Juni 1936 verfolgt wurde. Es bleibt aber unsicher, ob sich die Ereignisse tatsächlich so zugetragen haben.

Einige Monate nach dem Tod ihres Ehemanns war Ester Offen mit den beiden Kindern Jette und Abraham in die Stiftstr. 14/16 gezogen, wo sie ebenfalls versuchten mit einer Pension, vielleicht auch weiterhin mit dem Angebot von Essen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dieses Haus in der Stiftstraße, das der ebenfalls aus Galizien stammenden Witwe Cäcilie Reizel Erteschick gehörte, wurde später auch zu einem Judenhaus umfunktioniert.[19]

Auch wenn die genauen zeitlichen Abläufe nicht mehr zu rekonstruieren sind, so scheint ihr Stiefsohn Jakob Offen nicht mit seiner Mutter umgezogen zu sein. Er hatte – so die Angaben des Ehestandsregisters Wiesbaden – 1937 die aus Rückershausen im Taunus stammende Annie Kahn geheiratet.[20] Nach Angaben ihres Bruders Egon Jakob, der nach seiner gelungenen Flucht nach England und später in die USA den Namen Edy annahm, war seine Schwester mit ihrem Mann und der am 1. Februar 1937 geborenen Tochter Inge Rosa bereits 1936 nach Italien ausgewandert.[21] Da sowohl die Ehe 1937 in Wiesbaden geschlossen und auch die Tochter hier geboren wurde, muss man jedoch davon ausgehen, dass die Emigration auch erst 1937 stattgefunden hatte. Ihr Mobiliar, ihre Wertgegenstände und anderes Eigentum hatten sie nach Angaben von Edy Kahn damals mitnehmen können. Über das weitere Schicksal der Familie liegen nur wenige Informationen vor. 1938 reiste sie von Italien weiter nach Vichy in Frankreich. Ob ihr Hab und Gut bereits bei dieser erneuten Flucht in Italien zurückgeblieben war oder erst in Frankreich verloren ging, wusste der Bruder später nicht zu sagen.[22] Nicht bekannt ist auch der Zeitpunkt, zu dem sie dort in das Lager Drancy, dem Camp de Pyreenee, interniert wurde. Anders als der Bruder annahm, starben die drei nicht im französischen Vichy, sondern wurden – nach den Recherchen von Beate und Serge Klarsfeld – mit unterschiedlichen Transporten in das Vernichtungslager Auschwitz überstellt. Während Jacob Offen bereits am 19. August 1942 mit dem Transport 21, Zugnummer 901-16, von Drancy aus deportiert wurde, ereilte seine Frau und die kleine Inge etwa drei Wochen später, mit dem Transport 29, der das französische Lager am 7. September verließ, das gleiche Schicksal. Alle drei verloren ihr Leben im Gas von Auschwitz.[23]

Judenhaus Frankenstr. 15, Wiesbaden
Einträge zur Familie Offen auf dem Fries der Gedenkstätte am Michelsberg. Inge und Annie kamen nicht in Vichy, sondern in Auschwitz ums Leben. Moritz, Jette und Ester Offen wurden mit Sicherheit auch Opfer des Holocaust, ihre Namen fehlen leider gänzlich.
Eigene Aufnahme

Ester Offen, ihr Sohn Moritz und die Stieftochter Jette, die zurückgeblieben waren, wurden im Herbst 1938, wie die anderen etwa 17.000 im Deutschen Reich lebenden polnischen Juden, zum Spielball der antisemitischen Politik zweier nationalistischer Regierungen. Die polnische Regierung wollte ihren im Ausland lebenden jüdischen Bürgern unter bestimmten Voraussetzungen die Staatsbürgerschaft entziehen und der deutsche Staat wollte nicht gezwungen sein, den dann Staatenlosen hier einen Daueraufenthaltsrecht zu gewähren. Aus diesem Grund, noch bevor das polnische Gesetz faktisch in Kraft getreten war, wurde in einer koordinierten Großaktion von Polizei, Reichsbahn, Rotem Kreuz, Diplomatie und unter Beteiligung der Finanzämter innerhalb weniger Tage, man kann sogar sagen, innerhalb weniger Stunden, die Deportation dieser Menschen organisiert, die dann zum großen Teil für Wochen im Niemandsland zwischen den beiden Staaten ausharren mussten.[24]

Das Schreiben der Regierungspräsidenten Wiesbaden u.a. an den hiesigen Polizeipräsidenten mit der Aufforderung „alle polnischen Juden, die im besitz gültiger Pässe sind, … sofort in Abschiebungshaft zu nehmen und unverzüglich nach der polnischen Grenze im Sammeltransport abzuschieben“, ist datiert mit dem 28. Oktober 1938.[25] Noch am gleichen oder am folgenden Tag wurden Ester Offen mit ihrer Stieftochter Jette und ihrem Sohn Moritz nach Polen verbracht.[26] Von diesem Zeitpunkt an verlieren sich ihre Spuren.

Von Ester Offen weiß man, dass sie später in Krakau, vermutlich im dortigen Ghetto lebte,[27] ob die Kinder noch bei ihr waren, ist nicht bekannt. Es liegen auch keine Informationen darüber vor, wann und wo Moritz Jehuda, Jette und Ester Offen ermordet wurden.[28]

Judenhaus Wiesbaden Frankenstr. 15, Hirsch Offen
Schreiben des Hausverwalters v. Briel an das Amtsgericht Wiesbaden vom 5. März 1940
Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 340 Bl. 5064 Innen

Die Information, dass Ester Offen nach ihrer Abschiebung zumindest zeitweise in Krakau lebte, stammt von Carl von Briel, dem Verwalter des Hauses in der Frankenstraße. In einem Schreiben unterrichtete er im Mai 1942 den Oberfinanzpräsidenten Berlin davon, dass ihm vom Amtsgericht Wiesbaden die Abwesenheitspflegschaft über das Vermögen der jetzt in Krakau lebenden Jüdin Ester Offen übertragen worden sei. Diese Funktion, die Briel nicht nur für Ester Offen, sondern auch in  vielen anderen gleichgelagerten Fällen übernahm, war ihm vermutlich bald nach der Ausweisung übertragen worden. In einem Schreiben an die Grundbuchstelle im Amtsgericht Wiesbaden vom 5. März 1940 gab er an, dass die DAF-Kreisverwaltung Wiesbaden ihn mit dieser Aufgabe betraut habe.[29] Im Wesentlichen handelte es sich bei dem zu verwaltenden Vermögen um das Wohngrundstück Frankenstr. 15 und um die zurückgelassenen Möbel im Wert von etwa 200 RM, die bei der Spedition Rettenmayer eingestellt worden waren.[30]

Bei der Frage nach der Zuständigkeit und der Vorgehensweise bei der Vermögensverwertung war die Staatsangehörigkeit der Betroffenen von entscheidender Bedeutung. Laut den Eintragungen im Jüdischen Adressbuch von 1935 hatte die gesamte Familie Offen die polnische Staatsangehörigkeit, was ja auch zu ihrer Ausweisung geführt hatte. Aber ganz sicher war man sich offensichtlich nicht, wie sich aus einem Schreiben Briels an das Finanzamt Moabit vom 19. Mai 1942 ergibt: „Es ist zu bemerken, dass die Eigentümerin die polnische Staatsangehörigkeit besitzt. Sofern die Anmeldung der Vermögens der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 (RGBL I S. 722) unterliegt,“ – diese wäre heranzuziehen gewesen, wenn Offens die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen – „so bitte ich dieses Schreiben als Anmeldung zu betrachten.“[31] Immerhin hatte die Familie Offen Polen verlassen, bevor der Staat überhaupt gegründet worden war. Nach Aussage von Monju Tiefenbrunner hatte Hirsch Offen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten,[32] worauf sich seine Aussage stützt, ist nicht bekannt, auch nicht, ob diese – was zu vermuten wäre – auch für die übrige Familie gilt. Der Punkt wird nicht mehr zu klären sein und spielt letztlich auch nur eine untergeordnete Rolle, weil er nur die Frage betrifft, wer für die Verwertung des jüdischen Vermögens zuständig war. Die NS-Behörden – aber auch die der späteren Bundesrepublik – behandelten die Familie Offen in jedem Fall als polnische Staatsbürger, weshalb auch nicht das Finanzamt in Berlin Moabit, an das die Akten zunächst gegangen waren, verantwortlich war, sonder der Oberfinanzpräsident in Kassel bzw. das ihm untergeordnete Finanzamt Wiesbaden, wo die Akten ab Mitte August in der Verwertungsstelle lagen.[33] Hier war man in der folgenden Zeit entweder untätig geblieben oder die Unterlagen waren verloren gegangen bzw. vernichtet worden.
Eine im Finanzamt gefertigte Notiz deutet eher auf die erste Alternative hin, denn man erinnerte sich hier zwar, dass es bei der Spedition einmal eine Partie alten Mobiliars der Offens gegeben hatte, aber man wusste nicht, was damit geschehen war. In einem folgenden Gespräch mit Briel konnte der mitteilen, dass die Gegenstände inzwischen verwertet worden seien[34] – offensichtlich aber am Finanzamt vorbei. Andernfalls wäre ja einen Kasseneingang verbucht worden.

Was mit dem Hauseigentum geschehen war, blieb nach dem Krieg ebenfalls unklar. Briel hatte in seinem Schreiben an den Oberfinanzpräsidenten Berlin mitgeteilt, dass er im Rahmen seiner Pflegschaft die Hausabrechnungen mit dem Amtsgericht Wiesbaden erledige, das formalrechtlich die Zuständigkeit für die entsprechende Übertragung besaß, wenngleich diese faktisch durch die DAF bestimmt worden war. Unklar ist, ob auch die finanziellen Abrechnungen, Mieteinnahmen und Kosten, dem Gericht vorgelegt wurden, was außergewöhnlich wäre, weil die Verwertung des jüdischen Vermögens im Allgemeinen der Finanzverwaltung oblag. Spätestens nachdem das Finanzamt Wiesbaden zuständig war, wird das auch in diesem Fall so gewesen sein. Diesbezügliche Unterlagen sind aber nicht mehr vorhanden.

Im späteren Rückerstattungsverfahren, in dem die Hessische Treuhandverwaltung wegen nicht mehr vorhandener Erben als Antragsteller auftrat, widersprach der Hessische Minister der Finanzen dem Rückerstattungsbegehren mit dem Argument, dass das Haus sich nie in der Verwaltung des Reichs befunden habe und auch eine Beschlagnahmung durch das Reich nicht stattgefunden habe. Und tatsächlich, das ergeben auch die Grundbuchakten, hatte eine Übertragung der Immobilie auf das Reich nie stattgefunden.[35] Auch eine Beschlagnahme aufgrund der „Verordnung über die Behandlung von Vermögen der Angehörigen des ehemaligen polnischen Staates vom 17. September 1940“, die die Aneignung des Eigentums polnischer Juden – unabhängig davon ob diese selbst oder die Vermögenswerte sich in Polen befanden – „legalisieren“ sollte,[36] hatte nach Befund des Gerichts nicht stattgefunden, weil ein entsprechender Eintrag im Grundbuch nicht vorhanden sei. Ein Vermögensverfall nach der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz habe aber auf Grund der Tatsache, dass die Familie Offen als polnische Staatsbürger angesehen wurde, auch nicht eintreten können. Gleichwohl kam das Gericht zu dem Schluss, dass ein Entzug bzw. – so die Formulierung im Urteil – „eine Wegnahme des Grundstücks durch Staatsakt“ stattgefunden habe, und im Grundbuch der Stadt Wiesbaden ein entsprechender Eintrag über eine Rückerstattung zu notieren sei.[37]

 

Während der Zeit zwischen 1933 und 1939 belegen die Wiesbadener Adressbücher, dass das Haus Frankenstr. 15 durchgängig vermietet war, im Allgemeinen mit 10 bis 15 Mietparteien, jüdische Familien sind aber darunter nicht feststellbar.[38] Verwunderlich ist deshalb, dass das Haus Anfang 1940, als die Judenhaus-Liste entstanden war, überhaupt darin aufgenommen wurde. Möglicherweise ging man davon aus, dass es leicht sein würde, dort, nachdem die Eigentümer verstorben bzw. abgeschoben waren und das Haus faktisch unter NSDAP-Verwaltung stand, Juden einzuquartieren. Immerhin handelte es sich hier um eines der größeren Judenhäuser mit mehr als zehn Wohneinheiten. Vielleicht waren aber die arischen Altmieter nicht bereit, ihre Wohnungen für Juden frei zu machen, sodass es sich somit bei der Frankenstr. 15 um ein Judenhaus ohne Juden handelte – fast. Denn aus dem Haus wurden nach den vorliegenden Unterlagen zuletzt doch noch drei jüdische Mitbürger deportiert, nämlich das Ehepaar Ernst und Agathe Rosenthal und Yvonne Wiegand.

Stand: 16. 01. 2019

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] Schneider, Familie Tiefenbrunner, S. 117 ff.

[2] Ebd. S. 120.

[3] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 803/1919.

[4] Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden. Herrn Klaiber vom Stadtarchiv Wiesbaden verdanke ich den Hinweis auf den Sohn Heinrich, der bisher nicht bekannt war. Es liegt für ihn allerdings kein Geburtseintrag vor, sodass die Elternschaft von Hirsch und Reisel Offen nicht als gesichert angesehen werden kann. Heinrich wohnte aber 1930 wie die vermutlichen Eltern am Michelsberg 15, wo er einen Textilhandel angemeldet hatte. Zuvor, 1925, betrieb er in der Frankenstr. 19 einen Gummiwarenhandel. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Adresse auch um einen Schreib- oder Lesefehler und das Geschäft war im elterlichen Haus mit der Nummer 15 angesiedelt. Über Heinrich Offen liegen sonst keine Informationen vor. Vermutlich ist er bereits vor 1933 ausgewandert.

[5] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1716/1915. Der Geburtsname der Mutter ist hier mit Strom und nicht mit Strum angegeben.

[6] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 895/1920. Ester Rorberger war in dem kleinen Ort Przemysl, einem Ortsteil von Debica, östlich von Krakau geboren worden.

[7] Geburtsregister der Stadt Wiesbaden 636/1921.

[8] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 340 Bl. 5064 Innen (6).

[9] Stadtarchiv Wiesbaden WI / 3 983 und HHStAW 519/2 2245 (9). In der letztgenannten Quelle wird der Einheitswert des Hauses zum 1.1.1935 allerdings mit 39.300 RM angegeben. Zur Belastung des Hauses ebd. (5).

[10] 1942 war die Immobilie mit Hypotheken im Wert von etwa 20.000 RM belastet, siehe HHStAW 519/2 2245 (5).

[11] Die Informationen von Monju Tiefenbrunner sind in einem Gesprächsprotokoll festgehalten, das Georg Schneider am 22.11.2010 in einem Altenheim in Jerusalem mit dem ehemaligen Wiesbaden Bürger jüdischen Glaubens führte.

[12] Siehe dazu Schneider, Familie Tiefenbrunner, S. 125-132. Hirsch Offen ist mit seinen beiden Frauen auch in der Liste der von Schneider zusammengestellten Liste Chassitischer Familien aufgeführt, ebd. S. 129.

[13] Im Wiesbadener Adressbuch von 1931 ist Hirsch Offen nur im Namensverzeichnis, nicht aber im Straßenverzeichnis mit der Adresse Michelsberg 15 eingetragen. Dies ist erst in der folgenden Ausgabe der Fall.

[14] Im Jüdischen Adressbuch von 1935 ist der Vater Hirsch Offen als Inhaber der Pension eingetragen, während sein Sohn Jakob das „vegetarische Speiserestaurant“ führte, Eintrag im Jüdischen Adressbuch unter der Rubrik „Hotels und Pensionen“ S. 168.

[15] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1024/1936.

[16] Dass es sich um Selbsttötung gehandelt habe, ist auch einem Beschluss des Landgerichts Frankfurt vom 10.6.1955, gefallen im Rahmen eines Rückerstattungsverfahrens, als Faktum zugrunde gelegt, siehe Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 340 Bl. 5064 Innen (13).

[17] Siehe Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden, Eintrag zu Hirsch Offen. Der weitere angesprochene Fall eines angeblichen Mordes betraf Isaac Grau, der am 27.12.1935 auf dem Weg in die Städtischen Kliniken zu Tode kam, siehe ebd.

[18] Ebd. Eintrag Hirsch Offen.

[19] Siehe zum Judenhaus Stifterstr. 14/16 unten.

[20] Heiratsregister der Stadt Wiesbaden 83/1937. Annie Kahn war als Halbwaise aufgewachsen. Ihr Vater Arthur Kahn, verheiratet mit Hedwig Mayer aus Kettenbach, war etwa zwei Monate vor der Geburt seiner Tochter am 4.1.1915 in Frankreich gefallen, die Tochter selbst wurde am 13.3.1915 geboren. Hedwig Mayer heiratete am 12.12.1919 erneut, siehe HHStAW 518 18038 (5). Aus der Ehe mit Leopold Kahn, genannt Albert Kahn, geboren am 23.12. 1883, war mit Egon Jakob Kahn am 3.8.1920 ein Halbbruder von Annie Kahn geborenen worden, siehe HHStAW 518 63407 (1). Diesem war später die Flucht über England in die USA gelungen. Egon Jakob bzw. Edy Kahn, hat in Yad Vashem eine ‚Page of Testimony’ für seine Nichte Inge hinterlegt, siehe https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_lastName=Offen&s_firstName=&s_place=Wiesbaden&s_dateOfBirth=&s_inTransport=. (Zugriff: 3.12.2019). Über das tragische Schicksal seiner Eltern Hedwig und Leopold Kahn gibt das Erinnerungsblatt des Aktiven Museums Spiegelgasse Auskunft, siehe http://www.am-spiegelgasse.de/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Kahn-Leopold-und-Hedwig.pdf. (Zugriff: 3.12.2019). Hier ist allerdings nicht erwähnt, dass Hedwig Mayer bereits zuvor mit Arthur Kahn verheiratet und auch Mutter von Annie Kahn war.

[21] HHStAW 518 63407 (5). Die Tochter war knapp zwei Wochen vor der Eheschließung geboren worden, der Vater erklärte sich allerdings bei der Eheschließung als Kindsvater, sodass die Tochter statt den Nachnamen der Mutter nachträglich den des Vaters, nämlich Offen, erhielt. Die Information verdanke ich Herrn Klaiber vom Stadtarchiv Wiesbaden.

[22] Eine Entschädigung für die verlorenen Wertgegenstände wurde mit der Begründung versagt, dass diese nicht in Deutschland zurückgeblieben seien, siehe HHStAW 518 63407 (8 f.).

[23] https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=3207093&ind=5, https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=3207091&ind=3&winId=6601980948642375279 (Zugriff: 3.12.2019) und https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=3207092&ind=2&winId=6601980948642375279. (Zugriff: 3.12.2019). Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz ist einzig die Tochter Inge eingetragen.

[24] Einen Überblick über die Ereignisse, Hintergründe und Folgen gibt Trude Maurer, Abschiebung und Attentat. Die Ausweisung der polnischen Juden und der Vorwand für die „Kristallnacht“, in: Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“ zum Völkernord, Frankfurt 1988, S. 52-73. An die Ereignisse in Berlin erinnerte im Sommer 2018 eine Ausstellung im Centrum Judaicum. Im zugehörigen Ausstellungskatalog werden auf dem neuesten Stand auch die politischen Hintergründe erläutert und exemplarisch Schicksale einzelner Familien dargestellt, siehe Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der ‚Polenaktion’, hg. Bothe Alina, Pickham, Gertrud, Berlin 2018. Zu den Ereignissen in Wiesbaden siehe Bembeneck, Kein deutscher Patriot mehr S. 66.

[25] HHStAW 425 431.

[26] Der Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz nennt den 28.10., auf der Gestapo-Karteikarte von Ester Offen ist dagegen der 29.10. eingetragen.

[27] Noch 1953 bezeichnet ein Dr. Raue, Regierungsdirektor in der Hessischen Treuhandverwaltung, diese Vertreibung euphemistisch als einen Umzug: „… Frau Ester Offen soll früher in der Stiftstr. 14 ansässig gewesen und dann nach Krakau verzogen sein.“ Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 340 Bl. 5064 Innen (9).

[28] Moritz, Jette und Ester Offen sind sowohl im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz als auch in Yad Vashem als Opfer des Nationalsozialismus aufgenommen worden, in der Opferliste der Paul-Lazarus-Stiftung  für die Opfer aus Wiesbaden fehlen alle drei unverständlicher Weise. Ihre Namen fehlen auch auf dem Mahnmal am Michelsberg.

[29] Ebd. (6).Im späteren Urteil des Landgerichts Frankfurt in der Rückerstattungsangelegenheit heißt es eigenartigerweise, dass Briel die Verwaltung erst am 29.10.1942 übertragen worden sei ebd. (13). Das widerspricht den Angaben von Briel, der ja nach seiner Darstellung bereits im März 1942 diese Aufgabe gehabt haben will.

[30] HHStAW 519/2 2245 (5).

[31] Ebd. Von der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz waren ausschließlich deutsche Staatsbürger betroffen. Waren sie jüdischen Glaubens, so verloren sie diese Staatsbürgerschaft in dem Moment, in dem sie Deutschland verlassen hatten bzw. verließen, gleichgültig, ob durch Flucht, Vertreibung oder Deportation. War die Staatsbürgerschaft entzogen, so war der Staat ermächtigt, das Vermögen der Betroffenen einzuziehen.

[32] Genealogische Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung Wiesbaden, Eintrag Hirsch Offen.

[33] HHStAW 519/2 2245 (6, 7).

[34] HHStAW 519/2 2245 (3).

[35] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 340 Bl. 5064 Innen (10).

[36] RGBl 1940 I, S. 1270.

[37] Grundbuch der Stadt Wiesbaden Bd. 340 Bl. 5064 Innen (13 ff.). Ob später noch gesetzliche Erben Ansprüche auf die Immobilie erhoben, ist nicht bekannt, vermutlich fiel das Gebäude an die Hessische Treuhandverwaltung.

[38] Zwar gab es auch Mieter namens Weiß, Schneider oder Bauer, die möglicherweise auf eine jüdische Herkunft verweisen, aber bei keinem dieser Namen stimmt der Vornamekürzel mit einem in der Genealogischen Datenbank der Paul-Lazarus-Stiftung verzeichneten Personen überein. Im Januar 1940, als die Judenhaus-Liste entstand, soll es allerdings einen jüdischen Bewohner gegeben haben, siehe HHStAW 483 10127 (66). Im ersten Wiesbadener Nachkriegsadressbuch von 1948 sind vier der früher dort wohnenden nichtjüdischen Familien bzw. Personen wieder aufgeführt.