Ob tatsächlich etwas an der Geschichte dran ist, dass ein Vorfahre von Julius Lilienstein, der auf seiner Wanderfahrt einmal in Sachsen an dem markanten Berg Lilienstein vorbeigekommen war und 1841, als die Juden in Nassau verpflichtet wurden, feste Familiennamen anzunehmen, sich dieses Bergs erinnerte und dessen Namen als seinen eigenen wählte, ist heute kaum mehr zu verifizieren.[1] In jedem Fall aber gehörten die Liliensteins zu den alten jüdischen Familien, die sich in den Gemeinden im nordöstlichen Taunus im frühen 19., vielleicht auch schon im Jahrhundert zuvor angesiedelt hatten.
Erstmals ist im Jahr 1719 ein Jude namens Löb in Grävenwiesbach aktenkundig geworden.[2] Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um den Großvater von Kai-Sara, der Tochter von Samuel Löb aus Grävenwiesbach, die 1785 einen Joseph Zadock heiratete, der vermutlich ursprünglich aus Burgsolms stammte. Das Paar hatte neben anderen Kindern einen Sohn namens Isaak David, geboren am 3. Dezember 1768, der 1841 den Namen Lilienstein annahm.[3] Es müsste sich also um denjenigen gehandelt haben, der nach der Überlieferung einmal die Sächsische Schweiz durchwandert hatte. 1823 hatte er in Grävenwiesbach das Haus 52 erworben, das nach der später erfolgten Neunummerierung in den Stadtplänen als Haus 86 in der „Frankfurter Stroaß“ bezeichnet wurde.[4] In diesem Haus, das neben dem „Jurrehaus“ der ebenfalls bedeutenden jüdischen Familie Strauß gelegen war, wohnte die Familie Lilienstein bis zu ihrem Wegzug nach Usingen. In Isaak Liliensteins Ehe mit Rosa Wolf [5] wurde neben anderen Kindern am 4. November 1819 der Sohn Wolf Lilienstein geboren, der am 9. September 1846 die aus Holzhausen über Aar stammende Regina Blumenthal ehelichte.[6] Vermutlich war sie verwandt mit ihrer späteren Schwiegertochter Pauline Blumenthal, die ebenfalls aus Holzhausen stammte. Pauline Blumenthal hatte am 23. August 1887 in Wiesbaden Julius, den jüngsten der drei Söhne von Wolf und Regina Lilienstein geheiratet.[7] Vor ihm waren schon am 3. Juni oder Juli 1848 Joseph und am 16. September 1854 Siegmund in Grävenwiesbach zur Welt gekommen.[8] Auch die beiden Brüder von Julius gründeten eigene Familien, auf deren Schicksal während der NS-Zeit in der vorliegenden Arbeit ebenfalls eingegangen werden soll. 1875 heiratete Joseph die etwa vierundzwanzigjährige Karoline Stern, genannt Ännchen.[9] Sechs Jahre später vermählte sich Siegmund mit Emma Cibora Stern, der um etwa fünf Jahre älteren Schwester von Julius’ Frau Karoline. Beide stammten aus dem kleinen Ort Meudt im Westerwald, der in der Nähe von Westerburg gelegen ist.[10]
Der Vater der drei Brüder führte ursprünglich in Grävenwiesbach ein Geschäft für Manufaktur- und Kurzwaren, das aber Anfang der achtziger Jahre nach Usingen verlegte wurde, wohin zuvor auch seine beiden Söhne Joseph und Siegmund mit ihren Familien gezogen waren. Joseph, der älteste Sohn, hatte bereits 1875 in Grävenwiesbach ebenfalls ein solches Geschäft eröffnet und es ab 1882 dann in Usingen weitergeführt. Das väterliche Geschäft war 1883 in Grävenwiesbach abgemeldet und das Haus im folgenden Jahr abgerissen worden.[11] 1884 eröffnete Siegmund Lilienstein sein ursprünglich noch in Grävenwiesbach gegründetes Geschäft für Landprodukte neu in Usingen. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konnte das Städtchen allmählich wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung verzeichnen, nachdem es durch die Verlegung der nassauischen Residenz nach Wiesbaden zuvor in einen „Dornröschenschlaf“ verfallen war.[12] Auch viele andere jüdische Geschäftsleute zogen in dieser Zeit aus dem Umland in das wachsende neue Zentrum im Hochtaunus. Wie angesehen die jüdischen Geschäftsleute in dieser Zeit noch waren, kann man dem Gedicht „Weihnachtswanderungen in Usingen“ entnehmen, das 1894 in der örtlichen Zeitung veröffentlicht wurde. So heißt es darin:
“Hirsch und Lilienstein, ganz willig,
Geben Rock und Mantel billig;
Billig auch ist’s Hosenzeug –
Notabene – zahlt man gleich. (…)“[13]
Aber solche wohlwollenden Botschaften spiegeln die Stellung der Juden in Usingen im ausgehenden 19. Jahrhundert nur unzureichend wider. In seiner chronologisch angelegten Darstellung des jüdischen Lebens in der Taunusstadt ist es Stephan Kolb sehr gut gelungen, die widersprüchliche Haltung, das ständige Nebeneinander von höchster Anerkennung und aggressiver Ausgrenzung, die die Mehrheitsgesellschaft ihren jüdischen Mitbürgern gegenüber einnahm, darzustellen.[14] So war es auch in der Zeit, in der das Gedicht in der Zeitung erschienen war, mehrfach zu Angriffen auf die Synagoge gekommen. Kurz hintereinander waren deren Scheiben fünfmal eingeschlagen worden, was Wolf Lilienstein dazu veranlasste, 5 Mark Belohnung zur Ergreifung der Täter auszusetzen.[15] Und nur fünf Jahre später war der Friedhof geschändet worden.
Wolf Lilienstein und seine beiden mit nach Usingen gekommenen Söhne spielten nicht nur in der Jüdischen Gemeinde – Joseph trat zumindest zwischen 1884 und 1887 als deren Vorsitzender in Erscheinung[16] – und im Geschäftsleben eine wichtige Rolle, auch in der Kommunalpolitik und im Vereinsleben engagierten sie sich und später auch einige ihrer Kinder.
Noch vor ihrem Umzug nach Usingen waren dem Ehepaar Joseph und Karoline Lilienstein in Grävenwiesbach drei Kinder geboren worden. Zunächst der Sohn Isidor am 24. April 1876, dann die Tochter Rosa am 11. März 1878.[17] Julius, der jüngste, kam am 18. Februar 1884 dann in Usingen zur Welt.[18] Er war es dann, der 1913 das väterliche Geschäft in der Kreuzgasse 16 übernahm. Im gleichen Jahr verstarb am 5. Dezember der Großvater Wolf Lilienstein im hohen Alter von 94 Jahren. Seine Frau Regine war bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor am 25. Oktober 1889 in Usingen zu Grabe getragen worden.[19]
Auch Siegmund Lilienstein führte sein Geschäft für Landprodukte nach seinem Umzug 1884 nach Usingen zunächst in der dortigen Untergasse 6 weiter. Es muss sich um ein prosperierendes Unternehmen gehandelt haben, denn 1920 erwarb er ein Gebäude mit einem recht großen Gelände in der Bahnhofstr. 18. Nachdem Ende des Jahrhunderts Usingen an die Bahnlinie nach Bad Homburg angeschlossen, ein Bahnhof erbaut und eine dorthin führende Straße angelegt worden war, hatte Usingen mit dieser ersten Ortserweiterung ein neues, zukünftiges wirtschaftliches Zentrum erhalten. Das Geschäft in dieser Umgebung offenbart ganz sicher die Erwartung des Eigentümers, seinen Handelsumfang und sein Absatzgebiet unter den neuen Gegebenheiten noch ganz erheblich ausweiten zu können.[20]
In der Ehe seines Bruders Siegmund mit Emma Cibora Lilienstein waren sogar vier Kinder geboren worden. Auch in dieser Familie erhielt der am 13. September 1882 geborene älteste Sohn den Namen Isidor, genannt wurde er aber später meist Theo oder Theodor.[21] Wie er kam auch der folgende am 28. Juni 1884 geborene Sohn Alfred noch in Grävenwiesbach zur Welt.[22] Erst Helma, geboren am 5. Januar 1887, und Otto, geboren am 20. August 1891, wurden in das Geburtsregister von Usingen aufgenommen.[23]
Was die Zahl der Nachkommen anbelangt, übertraf der letzte Sohn von Wolf und Regine Lilienstein alle seine Brüder. In der Ehe von Julius Lilienstein mit Pauline Blumenthal wurden insgesamt acht Kinder geboren. Aber fast alle, die die ersten Kinderjahre bzw. den Ersten Weltkrieg überlebten, fielen entweder dem Holocaust oder anderen tragischen Ereignissen zum Opfer, sodass dieser Familienzweig – abgesehen von einer nicht ehelich geborenen Enkelin von Julius Lilienstein – letztlich fast vollständig ausgelöscht wurde.
Pauline Blumenthal war die älteste Tochter von Gerson und Fanny Blumenthal, geborene Jessel, die insgesamt ebenfalls acht Kinder hatten und in Wiesbaden – Biebrich eine Kohlehandlung betrieben.[24] Vermutlich war die Ehe zustande gekommen, weil die beiden Familien aus dem Taunus schon über Julius’ Mutter miteinander bekannt bzw. sogar verwandt waren. Zwar wissen wir nicht, wann die Ehe geschlossen wurde, aber mit großer Wahrscheinlichkeit geschah dies im Laufe des Jahres 1886, denn im folgenden Jahr erschienen die Vermählten nicht nur erstmals im Wiesbadener Adressbuch mit der Adresse Wellritzstr. 5, am 3. November 1887 wurde in Wiesbaden auch ihr erstes Kind Rosa Luci geboren.[25] Die beiden folgenden Kinder, Erna Regina und Nelly, verstarben bereits im Kleinkindalter.[26] Danach wurde am 30 November 1892 mit Curt Joseph der erste Sohn geboren.[27] Die drei folgenden Kinder, Pepi Stefanie, Gertrud, genannt Gerda, und Hans Günter kamen ab 1895 im Abstand von jeweils einem Jahr zur Welt.[28] Die letzte, Thea Fanny, geboren am 17. Januar 1901, war ein Kind des neuen Jahrhunderts.[29] Möglicherweise war die wachsende Zahl der Kinder der Grund, weshalb in diesen Jahren mehrfach die Wohnung gewechselt wurde. Bald nach der Geburt des ersten Kindes war man in die Schützenhofstr. 9, dann Anfang der neunziger Jahre in die Albrechtstr. 23a gezogen.
Sehr wenige Informationen liegen über die berufliche Tätigkeit von Julius Lilienstein vor. Er scheint aber in der Sparte seiner Eltern geblieben zu sein, denn mit dem Umzug nach Wiesbaden hatte er zugleich auch in der Webergasse 23 ein Geschäft für Seide-, Manufaktur- und Weißwaren eröffnet, das unter dem Namen „Blumenthal u. Lilienstein“ firmierte. Leider liegen keine Steuerakten über dieses Geschäft mehr vor, sodass nicht geklärt werden konnte, wer aus der Familie Blumenthal sich an dem Geschäft finanziell beteiligt hatte. Möglicherweise lässt die Namensgebung auch nur auf die Beteiligung seiner Frau Pauline schließen. Da keine entsprechenden Unterlagen mehr vorhanden sind, können auch keine Aussagen zur geschäftlichen Entwicklung des an sich sehr günstig, unmittelbar am Kurviertel gelegenen Ladens gemacht werden. Die Firma mit dieser Bezeichnung lässt sich auch nur bis zum Jahr 1893/94 in den Adressbüchern nachweisen, danach tritt Julius zunächst alleine als Eigentümer auf, dann aber ohne Verweis auf ein bestimmtes Geschäft für mehrere Jahre nur noch als Kaufmann. Auffällig ist auch, dass die Familie in den Jahren zwischen 1890 und 1910 insgesamt sechsmal die Wohnung wechselte, bevor sie dann um 1907 für etwa fünf Jahre am Kaiser-Friedrich-Ring 34 eine Wohnung im Parterre fand. Der Wechsel ist insofern von Interesse, als es damals bei Julius Lilienstein auch eine Neuausrichtung in seiner beruflichen Tätigkeit gab. Zunächst gemeinsam mit einem Kompagnon namens Buchwald stellte er Csikos-Extrakte her, vermutlich ein Gewürz ungarischer Herkunft. Es kann sich aber kaum um eine größere Unternehmung gehandelt haben, denn die Fabrikation war, wie den Adressbüchern zu entnehmen ist, im Hinterhof des Hauses eingerichtet worden. Spätestens mit dem Ausbruch des Weltkriegs scheint die Produktion dann eingestellt worden zu sein. 1912 war die Familie in die Rheinstr. 88 verzogen, wo sie für die folgenden zehn Jahre eine dauerhafte Bleibe im Erdgeschoss hatte.
Wie so viele andere, auch jüdische Familien hatten Liliensteins im Weltkrieg den Verlust von einem ihrer Söhne zu beklagen. Schon im März 1917 war ihr Sohn Hans Günther verwundet worden, allerdings nur leicht. Zwar gibt es keine Unterlagen darüber, an welcher Front er im folgenden Jahr kämpfte, aber in einer am 13. November 1918 erstellten Liste über die Kriegsopfer ist er als vermisst eingetragen.[30] Er kehrte auch später aus dem Krieg nicht mehr zurück.
Bald nach dem Umzug in der Rheinstraße wurde die Familie von einem weiteren schweren Schicksalsschlag getroffen, dessen Hintergründe weitgehend im Dunklen bleiben müssen. Auffällig ist zunächst, dass am 29. August 1919 in der Städtischen Klinik Wiesbadens sowohl die 57jährige Mutter Pauline Lilienstein, als auch die 31jährige Tochter Rosa Luci starben.[31] Da zudem für beide der Todeszeitpunkt elf Uhr notiert wurde, kann der Tod kaum durch eine Erkrankung verursacht worden sein, sondern muss eine andere Ursache gehabt haben. Schlägt man das „Wiesbadener Tageblatt“ vom 29. August 1919 auf, so erfährt man in einer knappen Meldung, dass sich an diesem Tag in der Wohnung „an der Adelheidstraße“ eine „Familientragödie“ ereignete.[32] Zwar werden keine Namen genannt, aber diese Tragödie trug sich unzweifelhaft in der Familie Lilienstein zu. Schon zwei Tage zuvor hatte sich eine der Töchter – auch hier wurde kein Name genannt – versucht das Leben zu nehmen. Sie konnte wohl noch rechtzeitig in das Krankenhaus gebracht werden und so überleben. Dort war sie am folgenden Tag von ihrer Mutter und ihrer Schwester Rosa besucht worden. Unmittelbar nach diesem Besuch öffneten beide zuhause in ihrem Badezimmer den Gashahn, um auch sich selbst umzubringen. Die Zeitung vermerkte, dass es kaum Aussicht gebe, sie am Leben zu halten. Am folgenden Tag, dem 29. August, verstarben sie dann tatsächlich. Irritierend an diesem Bericht ist, dass die Mutter zum einen als „alleinstehend“ bezeichnet wird und sie zusammen mit zwei ihrer Töchter gelebt haben soll, der Vater zum anderen gar nicht erwähnt wird. Allem Anschein nach waren die drei Frauen bereits zuvor aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Die Familie war ganz offensichtlich längst zerbrochen, wenn daraus aber solche Konsequenzen gezogen wurden, dann muss diese Trennung mit schwersten seelischen Erschütterungen verbunden gewesen sein, über deren Ursachen hier aber nicht spekuliert werden soll.
1920 ist der Name von Julius Lilienstein in den Adressbüchern erstmals mit dem Beruf eines Kunsthändlers verknüpft. Auch sein Sohn Curt ist mitunter als Inhaber des ebenfalls in der Rheinstr. 88 gelegenen Geschäfts angegeben. Man wird vermuten können, dass es sich hierbei angesichts der allgemeinen wirtschaftlichen Notlage gerade gegen Ende der 20er Jahre eher um ein Geschäft kleineren Umfangs gehandelt haben wird, vielleicht sogar um einen Trödel. Allerdings muss man auch konstatieren, dass die beiden folgenden Umzüge von Julius Lilienstein, 1932 in die Adolfsallee 14 und 1934 in die Taunusstr. 38 – beides eher gute Wohnlagen -, doch einen gewissen Wohlstand vorausgesetzt haben müssen.
Curt Joseph war in den frühen zwanziger Jahren mit der nichtjüdischen Helene Höfler liiert, eine Ehe waren die beiden aber nicht eingegangen. Eine sichere Identifizierung von Helene Höfler ist bisher nicht gelungen, aber sie stammte ursprünglich nicht aus Wiesbaden, sondern war am 22. September 1899 in Sachsen, möglicherweise in dem Städtchen Meerane, geboren worden.[33]
Aus der Beziehung zwischen Curt Lilienstein und Helene Höfler war am 15. März 1923 eine Tochter hervorgegangen, die den Namen Inge Elfriede erhielt.[34] Die Beziehung der Eltern war jedoch nicht von Dauer und Curt Lilienstein zog zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt nach Mannheim,[35] wo er am 24. Mai 1938 aus nicht bekannten Gründen für nahezu ein ganzen Jahr in Haft genommen wurde.[36] Möglicherweise war seine Schwester Gertrud schon damals ebenfalls dorthin gezogen, vielleicht um ihm zu helfen. Letztlich teilte sie in Mannheim das Schicksal ihres Bruders.
Am 3. Mai 1939 kam Curt Joseph wieder frei, wurde aber dann im Rahmen der sogenannten „Wagner-Bürckel-Aktion“ am 22. Oktober 1940 mit etwa sechseinhalbtausend anderen Jüdinnen und Juden aus Südwestdeutschland in das Territorium des Vichy-Regimes im südlichen Frankreich deportiert. Er, wie die meisten anderen, wurde im Lager Gurs am Rand der Pyrenäen interniert. Mit seinen knapp 48 Jahren gehörte er zu den noch Kräftigeren, die nicht schon auf dem mehr als 1000 km langen Transport und auch nicht unter den menschenunwürdigen Bedingungen des Lagerlebens zu Tode kamen. Nach der Überstellung in das Sammellager Drancy wurde er am 4. September 1942 von dort aus mit etwa 1000 anderen Inhaftierten in die Gaskammern von Auschwitz gebracht und ermordet.[37]
Liste der Gefangenen in Gurs (links), die nach Drancy für den Weitertransport nach Auschwitz überstellt wurden (rechts)
Arolsen Archiv
Man muss davon ausgehen, dass auch Gertrud Lilienstein Opfer der „Wagner-Bürckel-Aktion“ wurde, denn die einzige Nachricht über ihr weiteres Schicksal stammt vom 8. August 1942. An diesem Tag, also schon mehr als zwei Monate vor ihrem Bruder, wurde sie mit dem Transport 18 unter der Zugnummer 901-13 vom Lager Gurs über Drancy ebenfalls nach Auschwitz-Birkenau gebracht und mit größter Wahrscheinlichkeit dort im Gas umgebracht.[38]
Curt Liliensteins Tochter Inge Elfriede, die aber nie seinen Namen trug, war die einzige der vielen Nachkommen von Julius Lilienstein, die durch die Gründung einer eigenen Familie diesen Familienzweig am Leben erhielt.[39] Ob sie, die evangelisch getauft und aufgezogen wurde, über das Schicksal ihres Vaters und ihre auch jüdischen Wurzeln Kenntnis hatte, ist nicht bekannt, zumindest ging dieses Wissen in der folgenden Generation dann verloren.[40]
Aus einer ebenfalls nicht ehelichen Verbindung mit dem aus Wismar stammenden Erich Brockmann wurde Inge Elfriede Mutter von dem im Februar 1945 geborenen Sohn Erich Peter Heinrich. Es war in den letzten Kriegstagen im Keller des durch einen Fliegerangriff weitgehend zerstörten Krankenhauses zur Welt gekommen und wurde von seiner Mutter alleine aufgezogen.[41] Später lernte Inge Elfriede Höfler den in Wiesbaden stationierten amerikanischen Soldaten Charles Robert Darr kennen, der am 8. April 1919 in Pennsylvania geboren worden war. Nach ihrer Eheschließung am 5. Mai 1956 in Wiesbaden, bei der Inge Elfriedes Sohn von dem Ehemann adoptiert und ehelich erklärt wurde, wohnten sie zusammen im amerikanischen Viertel in der Washington Str. 44.
Am 27. Mai 1958 wanderte die Familie in die USA aus und ließ sich in Ogden im Bundesstaat Utah nieder.[42] Gestorben ist Inge Elfriede Darr am 15. Februar 1994 in Tucson Arizona.[43] Ihr Sohn Erich Peter Heinrich Darr war zwei Mal verheiratet, in erster Ehe, geschlossen 1952, ehelichte er Dolly Torre, in zweiter Ehe Janette Ruth Baker. In dieser Ehe wurden drei Kinder und inzwischen sechs Enkelkinder geboren, sodass trotz aller Opfer, die während der Shoa der Familie abverlangt wurden, auch der Zweig von Julius Lilienstein überleben konnte.[44]
Dem Jüdischen Adressbuch von 1935 ist zu entnehmen, dass Julius Lilienstein zum Zeitpunkt als sein Sohn Curt nach Mannheim zog, in der Taunusstraße zusammen mit seiner Tochter Gertrud wohnte, während die beiden Töchter Stefanie und Thea sich zusammen in der Nikolasstr. 21, der heutigen Bahnhofstraße, eingemietet hatten. Man kann davon ausgehen, dass ihr Vater über die Deportationen aus Süddeutschland nach Frankreich informiert war und auch wusste, dass sich seine beiden Kinder unter den Zwangsausgesiedelten befanden. Zudem war er selbst inzwischen ins Visier von NSDAP-Parteifunktionären und der Behörden geraten. Auch wenn er letztmalig im Wiesbadener Adressbuch von 1934/35 in Erscheinung tritt, so war er dennoch weiterhin in Wiesbaden wohnhaft, muss sogar noch mehrfach umgezogen sein.
Auf seiner Gestapokarteikarte, die um 1939 ausgestellt worden war, ist seine Adresse, es handelt sich sogar um die einzig darauf notierte, die Bahnhofstr. 39. Als die NSDAP mit ihren Umsiedlungen in die Judenhäuser begann und alle Juden durch ihre Zellenwarte registrieren ließ, wohnte er noch dort. Laut der handgeschriebenen Liste, die der Zellenwart der Zelle 04 am 5. Juni 1940 der Ortsgruppenleitung übergeben hatte, bewohnte er dort alleine ein einzelnes Zimmer.[45] Offensichtlich war er damals auch der einzige jüdische Bewohner des Hauses.
Bald darauf – ein genaues Datum gibt es nicht – muss er dann gezwungen worden sein, in das Judenhaus in der Herrngartenstr. 11 umzuziehen. Damals war auch eine Devisenakte auf seinen Namen angelegt worden, die auf dem Aktendeckel zwar noch die alte, allerdings durchgestrichene Adresse in der Bahnhofstraße enthält, auf der aber schon die neue in der Herrngartenstraße eingetragen ist. Die Akte selbst enthält nur zwei Schreiben. Aus dem ersten Brief, der von seiner Tochter Stefanie am 23. November 1940 verfasst wurde, geht hervor, dass man ihren Vater in Frankfurt vorgeladen hatte.
Vermutlich war auch gegen ihn die übliche Sicherungsanordnung erlassen worden, verbunden mit der Aufforderung, der Devisenstelle eine Vermögenserklärung zukommen zu lassen. Wahrscheinlich war diese aber unbeantwortet geblieben, denn die Tochter teilte in dem Brief der Behörde den Tod ihres Vaters am 17. November 1940 mit, worauf diese das Sicherungsverfahren einstellte. Auf der Sterbeurkunde heißt es zwar, dass er an Altersschwäche gestorben sei,[46] er war tatsächlich 80 Jahre alt geworden, aber die Lebensmüdigkeit, die den Tod herbeiführte, war ganz sicher auch dem erfahrenen Leid und der Sorge um die noch lebenden Kinder geschuldet.
Gemeldet war Julius Lilienstein bei seinem Tod noch in der Herrngartenstraße, verstorben ist er aber in der Friedrichstr. 38, in der Wohnung seiner Tochter Pepi Stefanie, die dem Standesamt auch den Tod meldete. Auch ihr waren von der Devisenstelle wohl schon im Sommer 1940 die Unterlagen für die Vermögenserklärung zugesandt worden, waren aber wohl in der Bürokratie verloren gegangen, denn es existiert nur noch eine Abschrift der Erklärung aus dem November 1940.[47] Immerhin erfährt man daraus und aus den Einträgen auf ihrer Gestapokarteikarte, dass sie in diesem Jahr noch einer Beschäftigung in einem inzwischen arisierten Betrieb nachgegangen war und insgesamt etwa 900 bis 1.000 RM verdient hatte. Für ihren bescheidenen Lebensunterhalt benötigte sie 31 RM für Miete und 45 RM für die übrigen Kosten. 10 RM hatte bis zu seinem Tod der Vater von ihr monatlich erhalten. Die gut eineinhalb Jahre, die ihr bis zu ihrer Deportation verblieben, konnte sie in ihrem Zimmer in der Friedrichstraße bleiben. Wie aus der Liste hervorgeht, die nach der Deportation vom 10. Juni erstellt wurde, um den dadurch frei gewordenen Wohnraum zu erfassen, handelte es sich um eine Teilwohnung im zweiten Stock des dortigen Mittelbaus.[48] Am 10. Juni 1942 wurde sie mit dem Transport „Da 18“ über Frankfurt zunächst nach Lublin gebracht und nach einem kurzen Aufenthalt dort den Gaskammern von Sobibor zugeführt. Über den genauen Todestag von Pepi Stefanie Lilienstein liegen keine Informationen vor. Aber man muss davon ausgehen, dass sie kurz nach Ankunft des Zuges am 13. Juni ermordet wurde.[49]
Pepis jüngste Schwester Thea hatte all die Jahre auch in Wiesbaden gewohnt. Hatten die beiden 1935 noch die gemeinsame Wohnung in der Nikolasstr. 21 gehabt, so müssen sich ihre Wege danach getrennt haben. Während Pepi die Unterkunft in der Friedrichstraße fand, mietete sich Thea bis 1939 in der Frankfurter Str. 24 ein. Seit dem 15. April 1939 hatte sie dann ein Zimmer zur Untermiete in der Kapellenstr. 18 bei der Familie Eliasz. Noch am 14. Mai 1942 ging sie kurz bevor die Deportationen in Wiesbaden begannen eine Ehe mit Heinz Arioni ein. Beide wohnten die letzten Monate ihres Lebens in den beiden Judenhäusern Grillparzerstr. 9 und Martinsthaler Str. 2. Am 1. September 1942 wurden beide zunächst nach Theresienstadt deportiert, von da später in das Vernichtungslager Auschwitz überstellt und umgebracht.[50]
Anders als Julius Lilienstein hatten seine Brüder und deren Frauen die NS-Zeit nicht mehr bzw. Siegmund nur noch die Anfänge der Diktatur erleben müssen. Bereits am 24. September 1912 war Karoline Ännchen Lilienstein, die Frau von Joseph Lilienstein, mit 61 Jahren in Frankfurt im Jüdischen Krankenhaus in der Gagernstraße verstorben.[51] Im folgenden Jahr zog sich Joseph Lilienstein selbst aus dem Textil- und Möbelgeschäft zurück und übergab es seinem Sohn Julius,[52] der 1914 die am 15. Oktober 1890 in Langenschwalbach, dem heutigen Bad Schwalbach, geborene Antonia, genannt Toni Marxheimer, geheiratet hatte.[53] In den folgenden Jahren waren auch aus dieser Ehe drei Kinder hervorgegangen, von denen die beiden ersten in Frankfurt zur Welt kamen, obwohl die Familie damals dort nicht gemeldet war. Auf Heinz, geboren am 20. April 1915, folgte Fritz am 1. Juli 1919.[54] Am 6. Dezember 1922 wurde zum Schluss noch Robert in ihrem Wohnort Usingen geboren.[55]
Nachdem Julius Lilienstein das väterliche Geschäft übernommen und 1913 auch das Hausgrundstück in der Kreuzgasse 16 von seinem Vater für 14.000 RM erworben hatte,[56] begann er mit der Renovierung und Modernisierung des Ladens. Es war damals – so später sein Sohn Fritz – eines der modernsten und schönsten Geschäfte für Textilien und Kleinmöbel im Zentrum von Usingen.[57] Aber diese Investitionen wurden zur Unzeit, unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs getätigt. Für dieses Völkerschlachten, das auch von den fast durchweg nationalistisch eingestellten Usinger Juden mit Begeisterung begrüßt wurde, war man bereit, größte Opfer, sei es Geld oder Blut, zu bringen.[58] Eine Begeisterung, die sich für die deutschen und auch für die Usinger Juden nicht auszahlen sollte. Das Denkmal für die gefallen Soldaten, das 1924 zum größten Teil mit Spenden jüdischer Geschäftsleute errichtet werden konnte, enthielt zwar zunächst noch die Namen der jüdischen Kriegsopfer, aber die waren später mit Hilfe eines Meisels wieder leicht zu entfernen gewesen. An den ökonomischen Folgen des Krieges trugen alle. Da aber der sogenannte Dolchstoß und der Versailler Vertrag schon bald als Produkt der jüdischen Weltverschwörung gedeutet wurden, konnte die Erklärung für die Niederlage in diesem Krieg zum wesentlich Katalysator für den aufkeimenden Antisemitismus der Weimarer Zeit werden.
Von den Krisenjahren der Republik, die als Folge dieser Verschwörung interpretiert wurden, blieben – zu ergänzen wäre vor dem Hintergrund des Erklärungsmusters: paradoxerweise ! – auch die Geschäfte und Unternehmungen der Juden nicht verschont, auch nicht der Textil und Möbelladen von Julius Lilienstein. Zwar gaben Zeugen an, die Familie habe ein recht hohes Einkommen gehabt, das ihr einen gutbürgerlichen Lebensstandard ermöglicht habe, zudem seien immer mehrere Angestellte im Haus und im Laden angestellt gewesen und auch für den ambulanten Verkauf der Waren in den Westerwalddörfern habe man ein Auto besessen. Mitte des Jahrzehnts hatte das Geschäft noch sein 50jähriges Jubiläum feiern können und das Kreisblatt gratulierte herzlich, pries das „Unternehmen, das selbst über den Kreis Usingen hinaus einen guten Ruf“ genieße und wünschte dem Nachfolger des Gründers alles Gute für die Zukunft.[59] Aber diese Zukunft sah in Wahrheit düster aus. Spätestens mit dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise war Julius Lilienstein nicht mehr in der Lage, seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Finanzbehörden und den Gläubigern nachzukommen.[60] Noch konnte 1932 ein Vergleich geschlossen werden,[61] aber die Voraussetzungen für einen Wiederaufstieg der Firma waren mit dem Machtantritt der Nazis im folgenden Jahr völlig entschwunden.
Usingen und auch weitere Ortschaften der Umgebung hatten sich innerhalb weniger Jahre zu Hochburgen der NSDAP entwickelt, wo sie schon bei Wahlen zu Beginn der dreißiger Jahre gerade in evangelisch geprägten Orten deutliche Mehrheiten erringen konnte.[62] Für Julius Lilienstein und seine Familie kam die unmittelbare Bedrohung hinzu, dass die Partei damals in ihrem Nachbarhaus in der Kreuzstr. 9 ihr Parteibüro eröffnete. Für die beiden Söhne Heinz und Fritz veränderte sich nun auch ihr Kinderalltag: „Als Kinder haben wir noch mit den Nachbarkindern gespielt. Als das Parteibüro eingerichtet wurde, da gab es nur noch wenige nichtjüdische Kinder, die mit uns spielen wollten.“[63] Schon vor 1933 kam es in der Stadt auch immer wieder zu gewalttätigen Handgreiflichkeiten.
Mit der Übergabe der Kanzlerschaft an Hitler, die auch in Usingen mit einem Fackelzug und dem blasphemischen Abgesang von „Nun danket alle Gott“ gefeiert wurde,[64] verschlimmerte sich auch die Situation für die verschiedenen Familien der Lilienstein erneut.
Auf den Boykottaufruf zum 1. April 1933, der auch in der lokalen Presse verbreitet wurde, reagierten die jüdischen Geschäftsleute in Usingen damit, dass sie ihre Schaufenster mit den im Weltkrieg erworbenen Orden und Tapferkeitsmedaillen dekorierten. Und in dieser Hinsicht konnten gerade die Söhne von Siegmund mit einigem aufwarten: Alle vier waren mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden.
Spätestens 1936, wahrscheinlich sogar schon ab 1933 waren im Geschäft von Julius Lilienstein nur noch Familienangehörige tätig. Die antisemitischen Boykottaktionen zeigten zunehmend Wirkung wie auch der ehemalige Landrat im späteren Entschädigungsverfahren bezeugte.[65]
Heinz, der älteste Sohn, war eigentlich dazu ausersehen worden, das Geschäft später weiterzuführen. Er hatte nach seiner Schulzeit ab 1929 noch eine dreijährige Lehre in einem Betrieb für Konfektions- und Manufakturwaren in Gedern im Vogelsberg absolviert. Aber schon während seiner Schulzeit hatte er Kontakt mit zionistischen Organisationen in Frankfurt aufgenommen und angesichts der absehbaren Entwicklung in Deutschland beschlossen, nach Palästina auszuwandern. Auf einem Aussiedlerhof bei Usingen erwarb er die notwendigen Fertigkeiten, um in einem Kibbuz beim Aufbau des Landes tatkräftige Hilfe leisten zu können. Als einer der ersten Usinger Juden wanderte der überzeugte religiöse Zionist 1935 aus und lebte später als landwirtschaftlicher Arbeiter im Kibbuz Givath-Brenner.[66] Seinen Ruhestand verbrachte er zuletzt im israelischen Herzlia nördlich von Tel Aviv.
Nicht klar ist, ob auch sein Bruder Fritz damals mit ihm zusammen nach Palästina gelangt war. Dass er zeitweilig dort war, ergibt sich aus den Einreiseunterlagen in die USA. Am 4. November 1938 war er mit dem Schiff „New Amsterdam“ vom palästinensischen Petach-Tikwah kommend in New York gelandet. Als Kontaktperson hatte er in den Unterlagen den Bruder seiner Mutter Sally Marxheimer angegeben.[67] Ob er in Palästina zuvor nur seinen Bruder besucht hatte oder ursprünglich ebenfalls dort bleiben wollte, dann aber – wie viele andere – vielleicht enttäuscht oder von der schweren Landarbeit in einem Kibbuz überfordert das Land wieder verließ, ist nicht bekannt.
Immerhin waren die beiden ältesten Söhne in Sicherheit bevor die schlimmste Phase der Verfolgung in Deutschland begann, aber noch lebten Robert und seine Eltern unter immer schwierigeren Bedingungen in Usingen. Die Hoffung, den Betrieb dort noch erhalten zu können, wurde zunehmend illusorisch. Bei einer Betriebsprüfung im August 1936 wurde festgestellt:
“Der Betrieb befindet sich in nichtarischen Händen u. ist daher stark zurückgegangen. Der Umfang und die Art der vorhandenen Warenvorräte – früheres Möbellager vollständig geräumt, Textilwaren sehr gering, Konfektion nur Restbestände – lassen den Eindruck eines schwachen Betriebs aufkommen. Seitdem das Ladengeschäft so gut wie ganz ruht, werden Umsätze nur noch durch Reisetätigkeit im Taunusgebiet erzielt.“[68]
Zum 1. Oktober 1937 gab Julius Lilienstein auf. Ein örtlicher Konkurrent übernahm das Geschäft, mietete die Räume aber zunächst nur an.[69] Das Warenlager selbst wurde von einem anderen Kaufmann für rund 1.000 RM erworben.[70] Eine weitere traditionsreiche Firma war der Arisierung zum Opfer gefallen.[71]
Die Restfamilie zog am 26. Oktober 1937 nach Frankfurt in die Freiherr vom Stein Str. 9. Man hatte Usingen verlassen, bevor auch dort während der Reichspogromnacht der Mob wütete, die jüdischen Bewohner drangsaliert und deren Geschäfte zerstört wurden.[72]
Auch Liliensteins wurden zur Begleichung der Schäden herangezogen, die der faschistische Pöbel und die SA-Männer überall verursacht hatten. Auf Basis einer Vermögenserklärung, bei der der Wert des Hauses in Usingen mit einem Einheitswert von 15.400 RM veranschlagt wurde, allerdings abzüglich der darauf lastenden Hypothek von 7.300 RM, kam die Finanzbehörde auf eine Summe von etwa 11.000 RM, was eine Judenvermögensabgabe von vier mal 550 RM bedeutete.[73]
Da Julius Lilienstein diese Summe unmöglich aufbringen konnte, er zudem die Hoffnung hatte, noch aus Deutschland ausreisen zu können, entschloss er sich, das Hausgrundstück in Usingen zu verkaufen. Das geschah am 9. Februar 1939, allerdings nicht zu dem am Einheitswert orientierten Preis, sondern für nur 14.200 RM.[74] Nach Tilgung der Hypothek, Begleichung anderer Forderungen, wie der noch fälligen „Sühneleistung“, blieben ihm nach Abzug der Kosten, die für die Vorbereitung der Ausreise angefallen waren, gerade noch 1.300 RM von dem Verkaufserlös übrig.[75]
Ursprünglich hatte Julius Lilienstein seine Auswanderung für Ende März 1939 geplant, wobei aber unsicher ist, welche Formalitäten er zu diesem Zeitpunkt bereits erledigt hatte. Das Schreiben, das diese Information enthält, stammte vom Landrat und ist datiert mit dem 21. März 1939. Dass dieser Zeitplan nicht mehr aufgehen konnte, ist offensichtlich, zumal dem Finanzamt in Bad Homburg der Verkaufsabschluss erst Mitte April zuging.[76] Ende Oktober des gleichen Jahres teilte er im Zusammenhang mit der Bitte um Erlass der 5. Rate der Judenvermögensabgabe dem Finanzamt Frankfurt mit, dass er nun seine Ausreise für das nächste Jahr plane.[77] In der Zwischenzeit lebte er von dem Erlös des Hauses und früheren Ersparnissen, insgesamt knapp 5.000 RM, die allerdings auf einem gesperrten Konto festgelegt waren. Schon im Mai hatte er die Devisenstelle gebeten, ihm monatlich 700 RM davon freizugeben, um seinen Lebensunterhalt und die monatliche Miete von 140 RM bestreiten zu können.[78] Ob dieser Antrag genehmigt wurde, ist den Akten nicht zu entnehmen. Im Februar 1940 wurde er aber zur Abgabe einer Vermögenserklärung aufgefordert, aus der sich ergibt, dass seine finanziellen Mittel inzwischen auf etwa 400 RM zusammengeschmolzen waren. Seinen monatlichen Bedarf bezifferte er auf 285 RM.[79] Im August waren auf dem Konto nur noch 20 RM und Julius Lilienstein bat die Devisenstelle die ihm Anfang des Jahres auferlegte Pflicht, ein kostenpflichtiges Sicherungskonto bei der Bank einzurichten, wieder aufzuheben. Zudem teilte er der Behörde mit, dass er seit einer Woche bei der „Glanzstoff AG“ in Kelsterbach als Arbeiter – zu ergänzen ist: als Zwangsarbeiter – mit einem Stundenlohn von -,68 RM beschäftigt sei. Er bat darum, dass ihm der Lohn, den er dringend für den Lebensunterhalt seiner Familie benötige, direkt ausgezahlt werden dürfe. Die Familie war inzwischen in Frankfurt in den Gärtnerweg 9 umgezogen.[80]
Ende des folgenden Monats erging eine ähnliche Bitte. Inzwischen hatte er wie auch sein Sohn Robert eine neue Arbeitsstelle angetreten. Julius Lilienstein verdiente bei der Firma „Gebr. Roever“ Frankfurt –Niederrad 25 RM in der Woche, sein Sohn als Weißbinder bei der Firma Peter Diel in Frankfurt – Fechenheim 30 RM, zusammen kamen sie auf ein Einkommen von 225 RM im Monat. Einen Teil ihrer Wohnung hatten sie, so ist dem Schreiben weiter zu entnehmen, untervermietet. Diesmal wurde die entsprechende Genehmigung, die Löhne in bar entgegennehmen zu dürfen erteilt, die Sicherungsanordnung als solche blieb aber bestehen.[81] Deshalb musste er im September 1941 erneut eine Vermögenserklärung abgeben. Immerhin hatte sich die finanzielle Situation nicht weiter verschlechtert, denn auf dem Sparkonto lag jetzt eine Summe von mehr als 1.100 RM und er gab an, dass das Familieneinkommen im laufenden Jahr vermutlich 2.640 RM betragen würde.
Ausgefüllt wurde das Formular am 29. September 1941. Es ist das letzte Lebenszeichen von Julius Lilienstein, seiner Frau Toni und dem Sohn Robert.[82]
Drei Wochen später, am 20. Oktober, wurden alle drei zusammen mit dem Zug „Da 6“, der zuvor tausend Prager Juden nach Litzmannstadt / Lodz gebracht hatte und als Leerzug von dort am 19. Oktober in Frankfurt eingetroffen war, in eben dieses Ghetto gebracht. Es waren insgesamt zwanzig solcher Transporte, die im Herbst 1941 zwischen dem 15. Oktober und dem 3. November nahezu 20.000 Juden aus Wien, Prag, Luxemburg, Trier, Berlin, Frankfurt, Köln, Hamburg und Düsseldorf in dieses Ghetto schafften, wo sie unter unglaublich unmenschlichen Bedingungen eingepfercht waren. Viele verloren schon dort ihr Leben, bevor sie in die unweit entfernt gelegenen Todesfabriken von Chelmo oder Auschwitz verbracht wurden.[83] Wo sie das Ehepaar Lilienstein und ihr Sohn letztlich ihr Leben verloren, ist nicht bekannt.
Ein ähnliches Schicksal wie Julius Lilienstein erlitt auch sein älterer Bruder Isidor, der allerdings Usingen schon wesentlich früher verlassen hatte. Nach dem Abschluss der Schullaufbahn mit dem Zeugnis der Mittleren Reife, machte auch er eine Ausbildung in der Textilbranche in Hanau, um danach Mitinhaber der Textilfirma Rothschild & Co. in Frankfurt zu werden.[84] Er wohnte auch dort, als er am 24. April 1901 in deren Heimatort die aus Heldenbergen bei Friedberg stammende Mathilde Strauss heiratete. Geboren am 14. Mai 1885 war sie eines von drei Kindern von Simon und Emma Strauss, geborene Heilmann. [85] Die Eltern müssen recht wohlhabend gewesen sein, denn Mathilde brachte 50.000 Mark als Mitgift in die Ehe, womit sie im März 1912 gemeinsam die Wäscheversandfirma „Lilienstein & Co.“ gründeten.[86] Sie wohnten damals im Bäckerweg 28, von wo aus auch die bestellten Waren vertrieben wurden. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zu dem Isidor Lilienstein eingezogen worden war, geriet die Firma in Schieflage und wurde aufgegeben. Nach dem Krieg versuchte er nur noch als Handelsvertreter auf Provisionsbasis für andere Firmen ein Auskommen für die inzwischen auf drei Personen angewachsene Familie zu erwirtschaften.
Am 29. Mai 1908 war als einziges Kind des Paares die Tochter Ruth in Frankfurt geboren worden,[87] die nach Auskunft ihres Onkels Paul Strauss an der Elisabettenschule, einem Frankfurter Lyzeum, eine sehr gute Ausbildung erhielt. Nach deren Abschluss besuchte sie ein Kindergärtnerinnenseminar, absolvierte zum Abschluss der Ausbildung sogar noch ein Praktikum in England und wurde dann Kindergärtnerin. Sie habe, so der Onkel, sogar mit finanzieller Unterstützung der Eltern einen eigenen privaten Kindergarten in Frankfurt gegründet.[88] Der Familie sei es finanziell sehr gut gegangen, man habe eine große und mit teurem Inventar ausgestattete 6-Zimmer-Wohnung gehabt und viele soziale Kontakte gepflegt.[89]
Dieses Bild, was Zeugen im Rahmen des späteren Entschädigungsverfahrens zeichneten, will allerdings nicht ganz zu den Dokumenten passen, die in den Finanzakten überliefert sind. Immer wieder bittet da Isidor Lilienstein schon in den Zwanziger Jahren die Behörde um Stundung oder gar Erlass fälliger Steuern. Wie viele andere litt auch er zunächst unter den Folgen der galoppierenden Inflation, in der die ursprünglich vereinbarten Provisionen durch den horrenden Kaufkraftverlust in kürzester Zeit wertlos wurden. Aber auch nach der Währungsreform klagte er: „Mein Einkommen als Handelsvertreter ist seit Ostern [1924 – K.F.] so minimal, dass ich bei weitem nicht in der Lage bin hiermit meine Familie zu ernähren.“ Oder im Jahr 1926, also während der sogenannten Stabilitätsphase der Republik, heißt es: „ Unter Berücksichtigung der misslichen Geschäftslage & der großen Ausfälle bin ich nicht in der Lage irgend eine Steuer zu entrichten. Ich lebe in den allerbescheidensten Verhältnissen & und bin am Ende aller meiner Mittel.“[90] Hinzu kam, dass er selbst im Winter 1926/27 über einen längeren Zeitraum schwer erkrankt und arbeitsunfähig war, zudem hohe Krankenkosten von etwa 5.000 RM aufbringen musste. Er sei, so führt er weiter aus, in dieser Zeit ohne Einnahmen und auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen gewesen.[91]
Ob es sich hier um das nicht ganz unübliche „Gejammer“ vieler Selbstständiger handelt, um Ansprüche des Fiskus zu minimieren oder ob es eine tatsächliche Notlage der Familie widerspiegelt, ist schwer einzuschätzen. Das zu versteuernde Einkommen im Jahr 1928 belief sich auf rund 5.500 RM, ein ganz sicher eher bescheidener Betrag.[92] Und das bereits am Beginn der eigentlichen Krise. Für die folgenden Jahre sind die Einkommensteuerunterlagen vorhanden und denen ist zu entnehmen, dass sich die Einkünfte, wenn auch nicht gleichmäßig, aber doch kontinuierlich verringerten. Waren es 1930 noch 3.000 RM, so mussten 1933 nur noch 300 RM versteuert werden. Zwar gingen die Zahlen in den Folgejahren, dank der Hitler’schen Boomjahre, von denen offensichtlich auch manche jüdische Geschäfte profitieren konnten, wieder hoch – 1935 betrug das Einkommen mehr als 3.000 RM -, fiel aber dann bis 1936 wieder auf 1.600 RM ab.[93] Immer mehr Firmen entzogen ihm als Juden schon aus Eigeninteresse die Vertretungsaufträge: „Juden konnten nicht mehr kaufen und Arier wollten es nicht mehr,“ schrieb seine Tochter im späteren Entschädigungsverfahren.[94] Vermutlich sollte der im März 1934 vollzogene Umzug vom Bäckerweg in den Kettenhofweg 111 auch dazu beitragen, die Lebenshaltungskosten zu senken.[95] Aber ein solcher Schritt konnte die eigentliche Ursache für den Niedergang des Geschäfts nicht beheben. Am 31. August 1938, ein Vierteljahr bevor die „Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“ auch gesetzlich beschlossen wurde, meldete Isidor Lilienstein sein Gewerbe endgültig ab.[96]
Ohne eigenes Einkommen, war man jetzt wieder auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen.[97] Ein Notgroschen lag aber auch noch auf einem eigenen Konto.[98] Darauf mussten Liliensteins zurückgreifen, weil sie seit Beginn des Jahres 1940 keine Zuwendungen mehr von dem Konto des Verwandten erhalten durften. Die eigenen Reserven waren dann auch bald aufgebraucht, sodass sie auf die Hilfe der Wohlfahrt angewiesen waren.[99]
Noch hatte das Ehepaar damals weiterhin die eigentlich illusionäre Hoffnung gehegt, aus Deutschland noch herauskommen und nach Palästina auswandern zu können. Im Januar 1940 bat Isidor Lilienstein die Devisenstelle um einen Freibetrag von 200 RM, um die dafür notwendigen Kosten für die Beschaffung der entsprechenden Genehmigungen aufbringen zu können. Eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung war ihm noch ausgestellt worden,[100] dann hatte man die Pläne angesichts der Aussichtslosigkeit wohl doch aufgegeben.
Wie sein Bruder war auch er 1941 – genauere Angaben lassen sich den Akten nicht entnehmen – zur Zwangsarbeit verpflichtet worden. Dies bestätigten nicht nur seine Tochter und sein Schwager, man kann dies auch einem Schreiben an die Devisenstelle Frankfurt entnehmen, die ihn vorgeladen hatte. Er war aber wegen seiner Arbeitsverpflichtungen gezwungen, um Terminverschiebung zu bitten.[101] Der Grund der Vorladung waren mehrfache Wohnungswechsel, die er entgegen den Bestimmungen der Behörde nicht gemeldet hatte. Wegen einer schweren Erkrankung von Mathilde Lilienstein waren sie zwischenzeitlich in eine Pension gezogen, wo sie versorgt werden konnte. Dennoch erlag sie am 14. Februar 1941 in Frankfurt ihrer Krankheit.[102]
Der Witwer wohnte danach im Grüneburgweg und zum Schluss seit Juli 1942 im Baumweg 3. Hier wurde er letztmalig zur Abgabe einer Vermögenserklärung aufgefordert. Er habe kein Vermögen und seine Lebenshaltungskosten würden sich auf 95 RM belaufen, teilte er mit. Ein Drittel davon entfiel auf die Miete und 10 RM musste er für das Mittagessen in der Jüdischen Wohlfahrtsküche aufbringen.[103] Sein Leben am Abgrund währte nur noch wenige Wochen. Am 1. September 1942 wurde er mit dem Zug, in dem sich auch viele Wiesbadener Juden befanden, in das Ghetto nach Theresienstadt gebracht. Am 17. März 1943 fiel er den unmenschlichen Lebensbedingungen in diesem Ghetto zum Opfer.[104]
Seine Tochter Ruth hat die Shoa überlebt. Es ist nicht bekannt, wann sie Deutschland auf welchem Weg verlassen hat. In den Frankfurter Adressbüchern ist sie nur bis 1933 gelistet. Ihr Entschädigungsverfahren betrieb sie nach dem Krieg von Haifa aus als verheiratete Ruth Stock. Als sie am 13. Juli 1957 den entsprechenden Antrag einreichte, war sie Mutter von zwei Kindern im Alter von 14 und 16 Jahren.[105]
Wenig bekannt ist über das Schicksal von Rosa Lilienstein. Die Schwester von Isidor und Julius war am 11. März 1878 noch in Grävenwiesbach geboren worden.[106] Am 19. Dezember 1898 hatte sie in Usingen den aus Jesberg bei Trysa stammenden Kaufmann Berthold Katz geheiratet. Er war dort am 2. September 1870 als Sohn von Lehmann Katz und dessen Frau Käthchen Rosenthal zur Welt gekommen.[107] Das Paar hatte sich danach in Trysa niedergelassen und neun Kindern das Leben geschenkt. Der gesamten Familie war es gelungen rechtzeitig Deutschland zu verlassen und in Palästina ein neues Leben zu beginnen.[108]
Siegmund, der jüngste Sohn von Wolf und Regine Lilienstein, erlebte selbst noch den Machtantritt der Nazis in Usingen, während seine Frau Emma Cibora bereits am 8. Februar 1932 verstorben war.[109] Man muss davon ausgehen, dass auch Siegmund Lilienstein und sein Landesproduktenhandel von den Boykottaufrufen im April 1933 betroffen waren. Ein „Kreiskomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“ hatte für Sonntag, den 2. April zu einer Großkundgebung auf dem am 31. März 1933 in „Adolf-Hitler-Platz“ umbenannten Marktplatz aufgerufen. Wenn in einer Rede, gehalten von einem Parteifunktionär auf einer zwei Tage später erneut einberufenen Kundgebung, zwar verkündet wurde, dass „der Boykott nicht bestimmt (war), den Juden den Garaus zu machen, obwohl sie das für ihre Verbrechen verdient hätten“, dann hätte jeder Zuhörer das ungesagte „noch nicht“ mithören können. Immerhin sollten allen, die es wagen würden weiterhin Geschäfte mit Juden zu machen, ein Stempel mit dem „Kainszeichen“ aufgedrückt werden.[110]
Wenn Kolb im Hinblick auf die Wirkung des Boykotts schreibt, dass es „den Nationalsozialisten mit den Aktionen vom 1. April nicht gelungen (sei), einen dauerhaften Boykott gegen jüdische Geschäfte in Usingen und anderswo zu organisieren, so hatte jener Tag sein Ziel erreicht: Dieser Tag markierte die schrittweise Ausgrenzung der Usinger Juden aus dem öffentlichen Leben“,[111] dann kann man diese Aussage bezüglich der Familie von Siegmund Lilienstein nur im zweiten Teil zustimmen. Als erster symbolischer Akt wurde in der nächsten Sitzung der Stadtverordneten mehrheitlich beschlossen, das Gedenkbuch der jüdischen Gefallenen des Weltkriegs, das im Jahr zuvor von Alfred Lilienstein, dem Sohn von Siegmund Lilienstein, dem Bürgermeister übergeben worden war, diesem wieder zurückzugeben. Seit diesem Beschluss habe es in Usingen kaum noch Freundschaften zwischen Juden und Christen gegeben, so Kolb.[112]
Was die wirtschaftlichen Folgen des Boykotts angeht, so muss man der Einschätzung Kolbs jedoch widersprechen. Die Firma, die über viele Jahre sogar eine Monopolstellung in der Region besaß und über viele Jahre drei Familien ernährte – die von dem Gründer selbst, aber auch die der beiden Söhne Alfred und Otto – war unzweifelhaft Opfer dieser Maßnahmen geworden. Man habe in den Jahren 1925 bis 1933 ein durchschnittliches jährliches Einkommen von 8.000 bis 10.000 RM erwirtschaftet, erst durch die Boykotte sei das Geschäft dann „rapide“ zurückgegangen.[113] In einer ersten Entscheidung der Entschädigungsbehörde wurde den Eigentümern aber nach dem Krieg eine Entschädigung für den Schaden am beruflichen Fortkommen mit dem Argument verweigert, dass die Firma bereits vor dem Machtantritt der Nazis völlig überschuldet gewesen sei, es somit keinen Verlust gegeben habe.[114] Tatsächlich hatte bereits 1931 mit den Lieferantengläubigern ein Vergleich geschlossen werden müssen, bei dem diese auf 50 Prozent ihrer Forderungen verzichten mussten und tatsächlich waren Grundbuchbucheinträge über 45.000 RM zugunsten der Hausbank vorhanden. Aber selbst diese Bank bescheinigte im Widerspruchsverfahren gegen den ersten Bescheid, dass es sich bei dem Geschäft der Liliensteins um ein grundsätzlich gesundes Unternehmen gehandelt habe. Kredite waren bereitwillig zur Verfügung gestellt worden und Siegmund Lilienstein war seinen Verpflichtungen gegenüber der Bank immer nachgekommen.[115] Anders als viele der durch die Weltwirtschaftskrise ins Straucheln geratenen Unternehmen hatte ein Landesproduktenhandel mit dem Heraufziehen der Nazizeit allerdings ein ganz besonderes Problem, das für Kleidungs- oder Lebensmittelgeschäfte in jüdischer Hand nicht gleichermaßen vorhanden war. Gerade die bäuerliche Kundschaft des Betriebs, die für die Blut- und Bodenideologie der Nazis besonders empfänglich war und zudem in Usingen von einem Freund des späteren Gauleiters Sprenger radikalisiert und aufgehetzt wurde, war sehr schnell bereit, die über Jahrzehnte gepflegte Geschäftsbeziehungen zu beenden.[116]
1934 zog sich dann der Seniorchef Siegmund Lilienstein auch formal aus dem Geschäft zurück,[117] das nach seinem Tod am 26. September 1935 zunächst von Alfred allein, später von ihm und seinem Bruder Otto gemeinsam in eine allerdings düstere Zukunft geführt wurde.
Alfred war der zweitälteste Sohn, der am 28. Juni 1884 noch in Grävenwiesbach geboren worden war.[118] Er hatte in Friedberg die Augustinerschule besucht und in dieser Zeit bei der Familie Oppenheimer gewohnt, deren Sohn Ernst Oppenheimer Mitbegründer der berühmten Diamantendynastie ‚Oppenheimer & de Beers’ in Südafrika wurde. Wo er seine kaufmännische Ausbildung absolvierte, ist nicht bekannt. Wie seine Brüder war auch er im Ersten Weltkrieg eingezogen und hoch dekoriert entlassen worden. Vielleicht durch die Kriegserfahrung geläutert, hatte er sich von der eher nationalliberal – konservativen Haltung der meisten Usinger Juden distanziert und sich schon früh für den demokratischen Liberalismus, wie ihn die Deutsche Demokratische Partei (DDP) vertrat, engagiert, womit er natürlich später erst recht, auch politisch zum Feind der örtlichen NSDAP wurde.[119]
Bald nach dem Krieg, am 15. März 1920 hatte er in Grebenstein die dort am 9. Juli 1895 geborene Dina Voremberg geheiratete.[120] In Usingen wurden dem Paar in den folgenden Jahren die drei Kinder Ernst Günter und Helga und zuletzt Eva geschenkt, Ernst Günter wurde am 18. Oktober 1921, Helga am 29. November 1924 und Eva am 5. April 1928 geboren.[121] Dinas Mutter Karoline Voremberg war wohl nach dem Tod ihres Mannes am 19. September 1930 nach Usingen gezogen und hatte seitdem mit der Familie ihrer Tochter zusammen gelebt und dann auch deren Schicksal geteilt.
Noch im Herbst des Jahres 1933war Alfred Lilienstein in „Schutzhaft“ genommen und in das örtliche Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert worden, weil er angeblich mit Bestechungsgeldern daran beteiligt gewesen sein soll, dass ein Justizinspektor und Parteigenosse in Usingen von der übergeordneten Behörde seines Amtes enthoben wurde.[122] So etwas war 1933 noch möglich. Wie lange Alfred Lilienstein inhaftiert blieb, ist nicht bekannt.
1937 ergriff die Familie die Flucht, weil – so Alfred Lilienstein später – er sich in Usingen nicht mehr sicher fühlte, wo es immer wieder zu gewaltsamen Aktionen gegen Gegner des Regimes gekommen war. Er sei von Freunden öfter vor solchen Akteinen gewarnt worden. Zunächst hatte er sich wohl alleine nach Frankreich abgesetzt, wo sich bereits sein jüngerer Bruder Otto seit 1933 befand. Aber bald darauf muss auch seine übrige Familie mit den beiden Töchter Helga und Eva samt der inzwischen 67jährigen Schwiegermutter nachgekommen sein. Nicht dabei war aber Hans Günter, der vermutlich zu dieser Zeit schon im Rahmen der Rettungsaktion ‚Jugendaliah’ für Kinder und Jugendliche nach Palästina gelangt war und dort zunächst in einem Kibbuz arbeitete. Später wurde Soldat der englischen Marine, wanderte aber dann in die USA aus, wo er als Lehrer tätig war und sich im Rahmen seiner Gewerkschaftsarbeit für einen internationalen Austausch engagierte.[123] Am 22. Dezember 1950 hatte er die New Yorkerin Mabel Wong geheiratet.[124]
Für die Eltern und Geschwister begann in Frankreich eine schwierige Zeit.[125] Zwar hatten sie zunächst noch eine Wohnung mit ca. 30 qm, aber Alfred Lilienstein hatte keine Arbeitserlaubnis, sodass er nur mit illegalen Gelegenheitsarbeiten Geld für den Unterhalt verdienen konnte. Noch schwieriger wurde die Situation nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940. Alfred und seine Familie waren durch Veröffentlichung im Preußischen Staatsanzeiger vom 13. Juni 1941 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen worden.[126] Unmittelbar lebensbedrohend wurde ihre Situation, als auch die Juden in Frankreich am 7. Juni 1942 gezwungen wurden, den „Judenstern“ zu tragen. Das Original von Alfred Liliensteins Sterns ist in einem brüchigen Umschlag in seiner Entschädigungsakte erhalten geblieben.
Gleich am ersten Tag wurde Alfred Lilienstein, durch den Stern verraten, von der Gestapo verhaftet und in ein Sammellager gebracht, dann aber – man muss von einem kleinen Wunder sprechen – nach Vorzeigen seiner Kriegsauszeichnungen tatsächlich wieder frei gelassen. Um weiteren Razzien, die besonders Jugendliche und Erwachsene zwischen dem 15ten und 60sten Lebensjahr im Visier hatten, zu entgehen fanden er, seine Frau und die ältere Tochter Helga einen Unterschlupf bei einer französischen Bekannten, die sich dann dafür einsetzte, dass der Familie ein Zimmer mit Kochnische im Hinterhaus vermietet wurde. In diesem Raum, der etwa 10 qm groß war, hauste die fünfköpfiger Familie bis zum Ende des Krieges unter unmenschlichen Bedingungen, aber es gelang ihr mit Hilfe gefälschter Papiere und der Unterstützung von Menschen, die sie mit Lebensmitteln versorgten, zu überleben.[127]
Alfred Lilienstein verstarb am 5. Dezember 1960 in Paris, seine Frau am 7. März 1973 ebenfalls in der französischen Hauptstadt.[128] Wann deren Mutter Dina Voremberg starb, die in der Zeit im Untergrund bereits schwer erkrankt war, ist nicht bekannt. Auch die beiden Töchter Helga und Eva sind nach der Befreiung in Frankreich geblieben und haben dort eigene Familien gegründet. Helga Lilienstein, verheiratete Sweck, verstarb am 23. April 2012 in Paris. Ob ihre Schwester Eva, verheiratete Wollner, vielleicht sogar noch lebt, ist nicht bekannt.[129]
Ein ähnliches Schicksal hatte auch Alfreds um sieben Jahre jüngerer Bruder Otto zu erleiden, allerdings mit einem wesentlich schlimmeren Ausgang.
Er hatte nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg am 20. August 1922 die gelernte Konditorin Hildegard Philippsborn geheiratet, die am 30. Januar 1904 in Neudam bei Küstrin geboren worden war.[130] Auch Otto war Mitarbeiter in dem väterlichen Betrieb, von dem auch seine Familie leben konnte. Seine Frau gab in einer eidesstattlichen Erklärung im Entschädigungsverfahren an, dass sie in den Jahren bis zur „Machtergreifung“ in geordneten und finanziell sorglosen Verhältnissen gelebt hätten, immer eine Hausangestellte und sogar ein Auto mit Chauffeur gehabt hätten. Die Ehe war in all den Jahren zunächst kinderlos geblieben. Schon im Juni 1933 verließ das Paar Deutschland, um sich in Paris niederzulassen. Zu diesem Zeitpunkt war das Geschäft noch nicht verkauft. Es ist nicht bekannt, ob es noch einen anderen konkreten Anlass als die Verhaftung des Bruders Alfred für diese überstürzte oder auch weitsichtige Flucht gab.[131] In Paris kam dann am 2. Dezember 1934 die einzige Tochter Irene zur Welt.[132] Die kleine Familie muss schon in den Jahren bevor die deutschen Truppen das Land okkupierten in sehr bedrückenden Verhältnisse gelebt haben, denn eine neue berufliche Perspektive konnte Otto Lilienstein im französischen Exil nie finden. Möglicherweise hatte auch das dazu beigetragen, dass die Ehe zerbrach und am 5. Dezember 1938 offiziell geschieden wurde.[133] Wegen des gemeinsamen Kindes war aber der Kontakt zwischen den Eltern nie abgebrochen. So konnte Hildegard, geschiedene Lilienstein, im Entschädigungsverfahren bezeugen, dass ihr früherer Ehemann zu Beginn der Besatzungszeit zwar zunächst verhaftet worden war, wegen seines Kindes, das die französische Staatsbürgerschaft besaß, aber wieder entlassen wurde. Erst im August 1942 habe man ihn erneut inhaftiert und in das Arbeitslager Les Milles verbracht. Anschließend soll er in einem Arbeitslager St. Auban gewesen sein, über das allerdings keine genaueren Informationen vorliegen.[134] Am 10. Februar 1943 wurde er nach Drancy eingewiesen, von wo aus er am 20. November des gleichen Jahres mit dem Transport 62 nach Auschwitz deportiert wurde.[135] Seit diesem Tag hatte niemand mehr etwas von ihm gehört, sodass man davon ausgehen muss, dass er in den Gaskammern von Birkenau ermordet wurde. Sein Todestag wurde amtlich auf den 8. Mai 1945 festgelegt. In Yad Vashem hat seine Nichte Hilde Schattner 1985 eine ‚Page of Testimony’ zur Erinnerung an ihn hinterlegt.[136]
Hilde Schattner war die Tochter von Otto Liliensteins älterer Schwester Helma, manchmal auch Helene genannt, die mit ihrem Mann ebenfalls zu den Opfern des Holocaust gehörte. Helma war am 5. Januar 1887 in Usingen geboren worden,[137] hatte aber die Stadt nach ihrer dort am 15. November 1908 geschlossenen Ehe mit Hermann Blumenfeld verlassen. Der „Landmesser“, wie er in der Heiratsurkunde bezeichnet wird, war am 16. Oktober 1874 als Sohn des Kaufmannpaares Moses und Sara Blumenfeld, geborene Stern, in Kirchhain geboren worden.[138] Er hatte seit 1898 eine feste, beamtete Anstellung als Vermessungsrat im Kulturamt Hanau.[139] Dorthin war das Paar nun auch verzogen, wo den beiden in der Admiral-Scheer-Str. 17 eine große Wohnung zur Verfügung stand. Dort war am 21. August 1909 auch die Tochter Hilde geboren worden,[140] während ihr Bruder Hans fast zehn Jahre später am 3. Juli 1918 in Frankfurt in einer Entbindungsanstalt zur Welt kam.[141] Dass die Verwaltung der Einrichtung damals die Geburt dem Standesamt meldete, hatte sicher seinen Grund darin, dass der Vater zu dieser Zeit noch im Krieg war, zu dem er sich, obwohl eigentlich „dauernd untauglich“ geschrieben, 1918 freiwillig gemeldet hatte. Mitte November 1918, als der Krieg schon längst verloren war, trat er, von verschiedenen Kriegsverletzungen gezeichnet, von der Westfront den Rückmarsch an. Als einer der Ältesten der Abteilung – wie er betonte – war er am 3. Dezember 1818 entlassen worden.[142] Anschließend setzte er seine berufliche Tätigkeit in Hanau fort, wo auch die Kinder zur Schule gingen. Nach ihrem Abitur studierte Hilde an der Pädagogischen Akademie in Frankfurt mit dem Ziel Volksschullehrerin zu werden. Ihre Erste Lehramtsprüfung legte sie 1931 dort mit der Note „gut“ ab. Anschließend war sie an mehreren Schulen in der Umgebung beschäftigt worden, darunter die Jüdische Volksschule in Groß-Krotzenburg und zuletzt bis zum 1. April 1933 an der Uhland-Schule in Frankfurt.[143]
Das Jahr 1933 bedeutete für alle in der Familie eine entscheidende Zäsur. Auch ihr jüngerer Bruder Hans konnte seine Pläne nicht mehr realisieren, nicht mal bis zum Abitur durfte er an seiner Schule bleiben. Als einziger Jude in der Klasse an der Hanauer Oberrealschule hatte er schon seit längerer Zeit unter den antisemitischen Anfeindungen seiner Mitschüler und mancher Lehrer zu leiden gehabt. Seinen Plan, zu studieren und einen ähnlichen Beruf wie sein Vater zu ergreifen, war durch den Machtantritt der Nazis zunichte gemacht worden. Im März 1934 musste er die Schule verlassen. Die „besten Wünsche für sein ferneres Wohlergehen“, die man ihm auf dem Abgangszeugnis wünschte, klingen wie reiner Hohn, waren aber vom Direktor, der – so Hans Lilienstein später – kein Nazi war, wohl ernst gemeint, aber dennoch wenig realistisch.[144]
Ihr Vater war als Jude eigentlich von dem am 7. April 1933 verabschiedeten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ betroffen und wohl zunächst auch entlassen worden. Da aber Hindenburg das sogenannte „Frontkämpferprivileg“ durchgesetzt hatte, wurde auch Hermann Blumenfeld nach einer Beurlaubung wieder eingestellt. Erst Ende 1935, nach Verabschiedung der Nürnberger Gesetze wurde dann auch er in den Ruhestand versetzt, allerdings erhielt er dank seines Fronteinsatzes auch weiterhin bis zur Deportation seine Pension, wenn auch um 25 Prozent gekürzt.[145] Aber das bedeutete im Vergleich zu vielen anderen Juden, die aus ihren Anstellungen entlassen worden waren, in den folgenden schwierigen Jahren doch wenigstens eine gewisse materielle Sicherheit.
Wie in vielen jüdischen Familien sorgten die Eltern zunächst dafür, dass angesichts des heraufziehenden Unglücks die Kinder in Sicherheit gebracht wurden. Hans hatte nach seinem Rauswurf aus der Schule schon mit Blick auf eine Ausreise nach Palästina eine Schlosserlehre begonnen, aber wohl nicht abgeschlossen. Auch hatte er sich in Frankfurt Kontakt mit einer zionistischen Jugendaliah aufgenommen, die solche Ausreisen organisierte, für die aber von den Eltern ein Beitrag in einer Höhe von 800 RM aufgebracht werden musste. Am 1. Juli 1935 gehörte auch Hans zu einer der Auswanderergruppen,[146] möglicherweise sogar mit dem Großcousin Heinz, dem Sohn von Julius Lilienstein, der ebenfalls mit dieser Organisation im Sommer 1935 nach Palästina gegangen war. Dort arbeitete Hans zunächst im Kibbuz Kvar Geladim, später in Revivim. Angesichts der wachsenden Spannungen in der Region übernahm er von 1942 bis 1946 nach der generellen Mobilisierung soldatische Aufgaben. Ab Mitte 1947 diente er in der damals noch illegalen, dann nach der Staatsgründung offiziellen israelischen Armee und wurde Berufssoldat. Obwohl ohne formalen Berufsabschluss gelang ihm dort noch der Einstieg in die Offizierslaufbahn. Finanziell ging es ihm und seiner – vermutlich zweiten – Frau Esther, geborene Asch, die er 1954 geheiratet hatte, weiterhin sehr schlecht. 1956 lebten sie zusammen zur Untermiete in einem einzigen Zimmer, wofür alleine der größte Teil des Solds verwendet werden musste. Hinzu kam, dass er durch die klimatischen Bedingungen in Palästina sich schon bald nach seiner Ankunft mit Malaria und Gelbsucht infiziert hatte.[147] Der letzte bekannte Wohnsitz von Hans Lilienstein und seiner Frau war Tel Aviv.
Seine Schwester Hilde war ihm im Jahr 1936 gefolgt. Ihre berufliche Karriere als beamtete Lehrerin war mit der Entlassung 1933 beendet. Zunächst hatte man sie beurlaubt, dann im Herbst 1933 endgültig von der Liste der Bewerberinnen für den Schuldienst gestrichen.[148] Sie scheint sich danach für eine kurze Zeitspanne in Norwegen aufgehalten zu haben, denn für ihre nächste Anstellung im Jüdischen Kinder- und Landschulheim Caputh bei Potsdam, wurde sie nach Zeugenaussagen von der Gründerin und damaligen Leiterin Gertrud Freitag extra gebeten, aus dem Exil nach Caputh zurück zu kommen, um dort Religion und Musik zu unterrichten.[149] Sie blieb aber dort nicht sehr lange, sondern wechselte im folgenden Jahr an die jüdische Mädchenschule in Berlin, wo sie von Ostern 1934 bis Ostern 1936 einen Lehrauftrag hatte. Im April 1936 verließ sie über Triest den europäischen Kontinent, um in Palästina, in Haifa, ihre Lehrerlaufbahn fortzusetzen.[150]
Aber auch für sie war der Berufsstart dort nicht einfach. Zunächst musste sie – ohne ein eigenes Einkommen zu haben – die Sprache erlernen. Bei freier Kost und Logis und einem minimalen Gehalt begann sie dann zunächst als Erzieherin in einem Kinder- und Jugendheim in Kirjath Bialik, einem Heim, das ebenfalls von der Jugendaliah organisiert war und für die neu ankommenden Jugendlichen ein erster sicherer Hafen sein sollte. Ab 1941 erhielt sie eine Anstellung an einer Schule in Jerusalem, aber auch dort zunächst nur als Kindergärtnerin, bald darauf aber auch als Lehrerin für die Grundschulklassen. Im selben Jahr war sie, die sich in Israel Naomi nannte, eine Ehe mit dem Geographen Prof. Yitzak Schattner eingegangen, aus der im Jahr 1945 ein Sohn hervorging. Im Zusammenhang mit der Geburt des Kindes brach bei ihr eine Krankheit aus, die Folge der früher zugezogenen Tropenkrankheiten war. Wie ihr Bruder hatte auch sie sich Malaria und andere typische Infektionen zugezogen, die es ihr nun unmöglich machten, ihren Beruf weiterhin voll auszuüben. Von den allgemeinbildenden Schulen wechselte sie an ein Seminar, in dem Kindergärtnerinnen und Volksschulehrerinnen ausgebildet wurden und absolvierte nebenbei noch eine Zusatzausbildung als Psychotherapeutin. Am 1. Februar 2012 verstarb sie in ihrem letzten Wohnort Jerusalem.[151]
Vielleicht war es das gesicherte Einkommen, über das die Eltern mit der Pension von Hermann Blumenfeld verfügen konnten, vielleicht war es sein angeschlagene Gesundheitszustand – er litt seit vielen Jahren an einer Blasenerkrankung -, vielleicht war es aber auch die starke Identifikation mit der deutschen Kultur, der deutschen Geschichte und dem Deutschtum überhaupt, die in seinem freiwilligen Kriegseinsatz zum Ausdruck kam, der Grund dafür zu suchen, weshalb die Eltern so lange mit der eigenen Emigration zögerten.
Zum Jahresbeginn 1936 waren sie von Hanau nach Frankfurt in die Savignystr. 30 verzogen.[152] Welche Gründe es dafür gab, ist nicht bekannt. Finanziell ging es ihnen bis 1939 mit ihrer monatlichen Pension von fast 600 RM vergleichsweise gut. Nach der Reichspogromnacht, müssen aber auch sie erkannt haben, dass sie nicht länger in Deutschland bleiben konnten, ohne Gefahr zu laufen, selbst Opfer weiterer Gewaltaktionen zu werden. Im April 1938 hatten sie bei der Devisenstelle die Unterlagen zur Überführung ihres Umzugsguts ins Ausland eingereicht und als Ziel Palästina – möglicherweise über den Umweg USA – eingereicht.[153] Hermann Blumenfeld hatte mit Hinweis auf seinen Kriegseinsatz und sein geringes Vermögen darum gebeten, ihm die DEGO-Abgabe zu erlassen. Die Behörde blieb jedoch bei ihrer Forderung von 360 RM.[154] Mit welcher Akribie auf der einen und Willkür auf der anderen Seite diese Listen kontrolliert wurden, kann man an Beispiel der Blumenfelds sehen. Statt des angegebenen Wertes für 6 Tuben Schuhcreme, die Blumenfelds mit 1.50 RM bewertet hatten, setzte der Sachbearbeiter 2,00 RM ein, 7 Glühbirnen wurden statt mit 5,76 RM mit 6.00 RM taxiert.[155]
Sein Auswanderungsantrag hatte auch zur Folge, dass ihm die Führung eines gesicherten Kontos zur Auflage gemacht wurde, auf das im Weiteren die Pension eingezahlt werden sollte. Diese hatte man übrigens 1939 auf etwa 350 RM gekürzt,[156] weil Pensionäre die auferlegte Judenvermögensabgabe über einen direkten Einbehalt beim Ruhegehalt zu zahlen hatten. Bis aber all das geregelt war, musste Hermann Blumenfeld für jeden Betrag, den er zu zahlen hatte, bei der Devisenstelle um eine entsprechende Freigabe bitten. Ende September wurde ihm dann ein Freibetrag von 400 RM monatlich eingeräumt, über den er frei verfügen konnte.[157] Im März 1940 musste er noch einmal eine Vermögenserklärung abgeben, laut der er ein Bankkonto in Höhe von rund 1.500 RM besaß. Hinzu kam die Pension in Höhe von etwa 5.500 RM im laufenden Jahr. Seine Ausgaben bezifferte er monatlich auf 465 RM.[158] Auf einem Schreiben vom 23. März 1940, in dem er wegen permanenter Kosten für Arzneimittel um die Erhöhung des Freibetrags auf 425 RM bat, ist der handschriftliche Vermerk zu lesen, dass sein Auswanderungsantrag noch immer am Laufen sei.[159] Der Freibetrag wurde tatsächlich angepasst,[160] die Auswanderung kam aber nicht mehr zustande. Am 30. September 1940 teilte er der Devisenstelle mit, dass erneut seine Wohnung gewechselt habe und jetzt bei Mainzer in der Windmühlstr. 5 parterre wohne.[161] Das war dann auch die Adresse, von der das Paar am 19. Oktober 1941 unter Zurücklassung ihrer gesamten noch vorhandenen Habe nach Litzmannstadt / Lodz im Generalgouvernement deportiert wurde.[162] Es war der selbe Transport, in dem auch Helma Blumenfelds Cousin Julius Lilienstein mit seiner Frau Toni und dem Sohn Robert saßen. Anders als bei diesen drang von Helma und Hermann Blumenfeld noch einmal eine Nachricht aus dem dortigen Ghetto heraus. Eigentlich war nach dem Krieg die Entschädigungsbehörde davon ausgegangen, dass mit dem Transport faktisch auch das Leben der Deportierten zu Ende gewesen sei, was die fällige Entschädigung für den sogenannten Freiheitsschaden erheblich gemindert hätte.[163] Am 13. August 1941 hatte ihre Tochter Hilde von Palästina über das Rote Kreuz noch eine Nachricht über die Hochzeit ihres Bruders mit Ruth Hermann, in das Ghetto geschickt. Etwa ein halbes Jahr später, am 5. Februar 1942 erhielt sie eine Antwort aus dem Ghetto und damit ein Lebenszeichen der Eltern: „Begrüssen freudig Ruth, wünschen glückliche Zukunft. Waren erstaunt. Wir sind gesund, wohnen seit Oktober Litzmannstadt-Getto, Abteilung Frankfurt. Begrüssen Ruths Eltern, Euch Hilde, Eure Eltern.“[164] Wie lange sie dort noch lebten, ob sie vielleicht sogar noch im Zuge der Liquidation des Ghettos in ein anderes Lager verbracht wurden, ist nicht bekannt.
Isidor, das älteste der Kinder von Siegmund und Emma Lilienstein, war am 13. September 1882 noch in Grävenwiesbach geboren worden.[165] Da von ihm keine Entschädigungsakte vorliegt, ist sein weiterer Lebensweg auf dr Basis amtlicher Papiere nur sehr lückenhaft zu rekonstruieren. Da aber seine Tochter Ruth später eine bedeutende Rolle im kulturellen Leben Nachkriegsdeutschlands spielen sollte, sie auch auf Grund ihres ereignisreichen Lebens sich im hohem Alter von 82 Jahren noch entschloss, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, konnten aus diesen „erzählten Erinnerungen“ – so nannte sie ihr Buch im Untertitel – wichtige Informationen auch über das Leben der übrigen Familienmitglieder gewonnen werden.[166]
Offensichtlich hatte Isidor Theodor Lilienstein kein Interesse, an die lange Tradition der Familie anzuknüpfen und ebenfalls Kaufmann zu werden. Stattdessen absolvierte er eine akademische Ausbildung und studierte Medizin. Sicher spielte es auch eine Rolle, dass er als Erstgeborener dieses Privileg erheilt, weil das Geld nicht ausreichte, um allen Kindern eine höhere Bildung zu ermöglichen. Er war ein Arzt, der – so Ruth Liepmann – seinen Beruf mit aller Begeisterung ausübte, der in dem kleinen Eifeldorf Polch, wo er seine erste Praxis hatte, großes Ansehen genoss „- auch als Jude“.[167]
Am 22. März 1908 heiratete der promovierte Mediziner in Bad Ems seine Cousine Johanna Hilde Stern, die am 24. Mai 1880 geborene Tochter von Marcus und Bertha Stern, geboren Bickhard.[168] Sie soll – so ihre Tochter – eine sehr schöne Frau gewesen sein, die aber gegenüber ihren Kindern, besonders gegenüber Ruth, in der Erziehung eine ungewöhnliche Strenge walten ließ und damit gerade bei ihr eine Haltung des Widerstands und Aufbegehrens evozierte, die sie für ihr gesamtes Leben prägen sollte. In Polch war sie am 22. April 1909 geboren worden. Während sie sich an diesen Ort später kaum mehr erinnern konnte, hatten die Besuche bei den Großeltern – sowohl bei denen des Vaters in Usingen als auch bei denen der Mutter in Bad Ems – sich als Bilder von kindlicher Geborgenheit und Glück eingeprägt:
„Er [ihr Vater – K.F.] entstammte einer jüdischen Familie aus Usingen im Taunus. nicht weit von Frankfurt. Dort lebten die Großeltern, meine Vettern und Kusinen mit dem Hund Polly. Überall im Hof ihres Hauses lagen Getreidesäcke. Die Großeltern hatten, wie Juden häufig in Kleinstädten, einen Getreide- und Futtermittelhandel. Mein Vater war der älteste Sohn und konnte studieren. Die Familie hatte ein großes Haus in der Untergasse, in dem es ein eigenes Zimmer nur für Backwerk gab. Meine Großmutter buk jeden Tag, und ich habe heute noch den Duft von frischem Zwetschgenkuchen in der Nase. Meine Kusine Hilde und ich durften überall hin, auch in die Vorratskammer, wo für den Winter Kartoffeln und Äpfel aufbewahrt wurden. Es duftete durch das ganze Haus. Meine Großmutter war eine zierliche Frau mit roten Apfelbäckchen, die für die ganze Familie sorgte, besonders für uns Enkel. Nichts schmeckte mir besser als ein Stück vom frischen runden Laib Brot mit selbst geschlagener Butter.
Ich erinnere mich sogar noch an meinen Urgroßvater. Er saß mit einem Käppchen in einem Schaukelstuhl, nahm mich auf den Schoß und schaukelte mit mir. Seine schwarze Kappe war bestickt und oben flach.
Auch die Eltern meiner Mutter lebten nicht sehr weit entfernt, in Bad Ems (…)
Auch ihre Familie gehörte zum jüdischen Bürgertum. (…) Meine Emser Großeltern hatten ein Schuhgeschäft und wohnten in der Braubacher Straße in einem großen Haus am Berg. Hinter dem Haus lag ein herrlicher Garten. Dort konnten meine Kusine und ich frische Walderdbeeren pflücken, und in der Erdbeerzeit duftete das ganze Haus danach. Der Berg hinter dem Haus war für uns Kinder wichtiger als das Haus. Auf der Toilette allerdings gab es farbig bemalte Jugendstilkacheln, ich ging dort gar nicht gern weg, weil ich mir immer die Geschichten auf den Kacheln anschaute. (…)
Die Großeltern beiderseits waren praktizierende Juden. Sie unterstützten arme Juden, luden sie zum Freitagabend ein, der bei ihnen noch gefeiert wurde, bei meinen Eltern dann schon nicht mehr. Wenn wir später in Hamburg die Emser Großmutter zu Besuch erwarteten, achtete meine Mutter aber darauf, dass alles koscher war, wie es die Großmutter erwartete.
Meine Eltern waren keine religiösen Juden. Von Anfang an hat vor allem mein Vater mich an das rationale Denken herangeführt. Er versuchte mir die Welt ohne den lieben Gott zu erklären. Aber obwohl die Religion bei uns keine Rolle spielte, bekannte man sich immer zum Judentum und fühlte sich als Jude.“[169]
Später zog die Familie in verschiedene Städte wie Köln, Berlin und ließ sich zuletzt kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs auf Dauer in Hamburg nieder, wo Isidor Lilienstein eine Praxis als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten betrieb. Der Krieg, zu dem auch Isidor sich sofort freiwillig meldete, unterbrach die weitere berufliche Karriere. Als national gesonnener Student war er schon während seines Studiums in Würzburg in einer schlagenden jüdischen Verbindung aktiv gewesen. Aber auch ihn hatte die Erfahrung des Krieges politisch verändert, sodass auch er später der Deutschen Demokratischen Partei nahe stand, aber kein Mitglied wurde.
In der Elbmetropole wurden dann auch die beiden Söhne Manfred und Wolfgang geboren, Manfred am 18. Februar 1919 und Wolfgang am 8. März 1928.[170] Die Kinder waren also jeweils fast zehn Jahre auseinander. Während die beiden jüngeren Brüder in den folgenden Jahren während der NS-Herrschaft mit den Eltern verbunden blieben, fand Ruth einen eigenen Lebensweg, der von den Eltern zunächst nicht goutiert wurde, aber die enge Beziehung zwischen ihnen auch nicht ernstlich gefährdete.
Einer der ersten Konflikte war die Frage der Schulwahl. Während die Eltern ihre begabte Tochter auf einem „ordentlichen“ Gymnasium sehen wollten, hatte sie beschlossen, die sehr freie reformpädagogische Lichtwarkschule zu besuchen,[171] die sie mit ihrem Konzept entscheidend dabei unterstützte, einen sehr eigenen und mutigen Lebensweg einzuschlagen. Viele Freunde und persönliche Bindungen, die dort entstanden, begeleiteten sie ihr ganzes Leben. Nach dem Abitur studierte sie in Hamburg und Berlin Jura und sie konnte, obwohl die Nazis ihr bereits 1933 Berufsverbot erteilten, 1934 sogar noch promovieren.
Nicht nur als Jüdin war sie der Verfolgung ausgesetzt, sondern in den ersten Jahren der Diktatur noch viel mehr durch ihr politisches Engagement für die KPD, aber gerade in der Kombination – Jüdin, politisch engagierte Frau und dann noch Kommunistin – entsprach sie in jeder Hinsicht dem Feindbild der Nazis. Mit ihrem Engagement, das sie zeitweilig auch zur Fabrikarbeiterin werden ließ und bald nur noch illegal ausgeübt werden konnte, kam sie auch in Verbindung mit wichtigen Parteifunktionären, auch solchen, die nach dem Krieg in der DDR Karriere machten. 1934 wurde sie wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zur Fahndung ausgeschrieben, konnte sich aber rechtzeitig – an ihrem 25sten Geburtstag – nach Holland absetzen, wo sie sich mit Gelegenheitsarbeiten, u. a. als Weberin, ihren Lebensunterhalt verdiente. Obwohl auch ihre Eltern, die ihre politische Arbeit ganz und gar nicht goutierten, in Hamburg mit Hausdurchsuchungen drangsaliert wurden, verhielten sie sich, ihr gegenüber – so Ruth Liepmann – zumindest nach außen hin immer solidarisch. Ihre Aktivitäten setzte sie ungeachtet aller Gefahren in Holland zunächst im Untergrund, sogar länderübergreifend fort. 1935 heiratete sie in Amsterdam den schweizer Architekten Oscar Stock, wodurch ihr dessen Staatsbürgerschaft zuteil wurde. Diese „Schutzehe“ – heute würde man despektierlich „Scheinehe“ dazu sagen – wurde erst nach dem Krieg wieder aufgelöst, aber Ruth Stock hatte nun die Möglichkeit wieder legal aufzutreten und es gelang ihr sogar als Juristin in der Schweizer Botschaft als persönliche Sekretärin des dortigen Botschafters zu arbeiten. In dieser Funktion und mit Unterstützung des Botschafters selbst setzte sie sich – etwa durch Kurierdienste – für die wachsende Zahl der eintreffenden Emigranten ein. In diesem Zusammenhang besuchte sie mit ihrem schweizer Pass sogar einmal das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, um dort eine Liste mit Namen von Juden vorzulegen, die vor einer Verhaftung verschont bleiben sollten, weil sich die NSDAP durch deren Erpressung die dringend benötigten Devisen erhoffte. Vielen gelang durch diesen Zeitgewinn noch die Flucht. Als die deutschen Truppen 1940 die Niederlande okkupierten versuchte sie dann selbst vergebens noch aus dem Land zu entkommen. Getarnt als Hausmädchen verbrachte sie die Zeit bis zur Befreiung bei einer calvinistischen Arbeiterfamilie in Beverwijk im Untergrund. Aus dieser gemeinsamen Zeit erwuchs eine tiefe Freundschaft.
Nach dem Krieg ging sie zurück nach Hamburg, wo sie den aus der Emigration zurückgekehrten jüdischen Schriftsteller und Journalisten Heinz Liepman – ursprünglich Liepmann -, den sie von ihrer früheren Zeit in Hamburg kannte, traf, neu kennen und lieben lernte und heiratete. Sie hatte sich inzwischen von ideologischen Doktrin, die durch den stalinistischen Terror ohnehin diskreditiert waren, losgesagt und engagierte sie sich auch unter dem Einfluss ihres Mannes für die Wiedergeburt des literarischen Lebens in Europa. Viele internationale Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die in die Emigration hatten gehen müssen, hatten sie und ihr Mann in den Jahren zuvor kennen gelernt. Nach dem Leben im Untergrund konnten die Verbindung zu ihnen jetzt wieder aufgenommen. Autoren wie Alfred Andersch, Günter Weisenborn oder Ida Ehre gehörten genauso dazu wie der Verleger Ledig Rowohlt. So wurde die Idee geboren, eine Literaturagentur zu gründen, die diesen so lange verfemten Autoren die Türen zu den Verlagshäusern öffnen und ihre Werke einer internationalen Leserschaft bekannt machen sollte. Faktisch wurde sie zum Kopf des Unternehmens, während ihr Mann sich primär seinem eigenen literarischen Schaffen widmete. Ab 1961 hatte die Agentur ihren Sitz in der Schweiz, wo Autoren wie Elias Canetti, Vladimir Nabokov, aber auch amerikanische Schriftsteller wie Jack London, Norman Mailer, Artur Miller, F. Scott Fitzgerald, J.D. Salinger oder später Stephen King von ihr vertreten wurden. Ihr Mann verstarb 1966, sie selbst, mit vielen Preisen und Ehrungen bedacht, verstarb im hohen Alter von 92 Jahren am 29. Mai 2001 in Zürich.[172]
Ihr Vater hatte die Karriere seiner Tochter nicht mehr erleben dürfen. Die Eltern waren 1936 auf der Flucht aus Nazi-Deutschland, wo Isidor Lilienstein seine Approbation verloren hatte und nur noch als „Krankenbehandler“ für Juden arbeiten durfte, mit den beiden Söhnen noch einmal in Holland bei ihrer Tochter vorbeigekommen. Sie hatten ihre gesamte Habe in Hamburg zurücklassen müssen und wollten in Amsterdam bleiben, bis ihre Visaangelegenheiten erledigt sein würden. In diesen Wochen entschied sich der ältere, damals 17jährige Bruder Manfred – noch war der Krieg nicht ausgebrochen und Holland noch nicht besetzt – bei seiner Schwester in Amsterdam zu bleiben und dort eine technische Mittelschule zu besuchen.
„Als sich 1936 meine Eltern verabschiedeten, um nach Amerika zu gehen, sah ich meinen Vater zum letzten Mal in meinem Leben weinen. Er sagte, ich weiß, dass ich dich zum letzten Mal sehe. Er war ein sehr deutscher Jude, er konnte das alles nicht fassen und war tief deprimiert und empört. Seine Welt war zusammengebrochen.“[173]
Am 1. August 1936 fuhren die Eltern mit dem noch halbwüchsigen Sohn Wolfgang von Liverpool aus mit dem Schiff „Scythia“ nach New York, wo Isidor Lilienstein seine Examina noch einmal ablegte und auch eine Anstellung an einem New Yorker Hospital fand. Am 27. August 1939 folgte nach abgeschlossener Ausbildung auch Manfred mit dem Schiff „Georgic“ seinen Eltern nach Amerika, gerade noch rechtzeitig, denn nur wenige Tage später brach der Zweite Weltkrieg aus. Der Passagierliste des von Le Harve aus startenden Schiffs weist ihn als „student“ aus, der sich bis zuletzt bei seiner Schwester in Amsterdam aufgehalten hatte.[174] Die, von Ruth abgesehen, wiedervereinigte Familie konnte die gemeinsame Zeit der Freiheit in den USA nur kurz genießen. Schon am 21. Juni 1940, fast fünf Jahre bevor der Hitler-Faschismus endlich besiegt war, verstarb Isidor Lilienstein in New York.[175]
Seine Frau und ihr Sohn Manfred waren in New York geblieben, wo Ruth die damals schon schwer kranke Frau im Jahr 1948 besuchte. Im folgenden Jahr nach einem leichten Schlaganfall holte Ruth sie nach Hamburg zu sich, um dort ihre Pflege besser organisieren zu können. Immerhin lebte sie noch einige Jahre in der Stadt, die einmal ihre Heimatstadt war. Am 17. August 1956 verstarb sie im dortigen Marienkrankenhaus. Ihre letzte Ruhe fand sie nach der Überführung im Familiengrab im Cedar Park Cemetery in Ney York.[176]
Robert Wolfgang war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und ebenfalls Arzt geworden. Zum Zeitpunkt des Todes seiner Mutter praktizierte er am General Hospital in St. Luis Obispo in Kalifornien, später in Stockton. Wann und wo er und seine Frau Henrietta verstarben, ist nicht bekannt.
Sein Bruder Manfred hatte bereits am 18. März 1941 die in Frankfurt geborene Edith Stern, Tochter von Heinrich und Elsa Stern, geheiratet.[177] Nicht ausgeschlossen, dass auch sie mit der Familie Stern verwandt war, aus der schon mehrere männliche Liliensteins ihre Frauen gewählt hatten. Er war nach seiner Einbürgerung amerikanischer Soldat geworden und war mit der US-Army in Italien gelandet, um mitzuhelfen, Europa zu befreien. Er hatte damals überall in Europa versuchte, seine Schwester zu finden. Dass sie überlebt hatte, erfuhr er erst viel später. Er konnte seinem Berufswunsch Techniker zu werden realisieren und machte sich in der IT-Branche selbstständig. Am 16. September 1997 verstarb er im kalifornischen San Diego.[178]
Neben den vielen Opfern des Holocaust, die es in der Familie Lilienstein gab, war es auch einer großen Zahl gelungen, Wege zum Überleben zu finden. „Man Braucht viele Freunde,“ schreibt Ruth Liebman in ihren Erinnerungen in Dankbarkeit für die Hilfe, die ihr auf ihrer Flucht und im Untergrund entgegengebracht wurde.[179] Aber da ist auch die Trauer um die, die diese Höllenzeit nicht überlebten. Ein Gedicht ihrer Freundin Mascha Kaléko, zugleich eine der von ihr vertretenen Autorinnen, das Ruth Liepman in ihren Erinnerungen abdrucken lies, soll auch hier zum Abschluss des Kapitels über die Familie Lilienstein zitiert werden.
Memento
Von Mascha Kaléko
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
Und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muss man leben.
Veröffentlicht: 21. 11. 2020
Letzte Revision: 11. 01. 2024
Anmerkungen:
[1] Arnsberg, Peter, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang – Untergang – Neubeginn, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1971, S. 318 f., zit. nach Bierwirth, Joachim, Die jüdischen Einwohner von Usingen. Materialien zur Rekonstruktion insb. ihrer älteren Geschichte, Usingen 2000, S. 30.
[2] So war es einst. Grävenwiesbach im Wandel der Zeiten, hg. Heimatverein Grävenwiesbach, Grävenwiesbach 2002, S. 101.
[3] Bierwirth, Jüdische Einwohner von Usingen, S. 69. Hier wurde vom Autor versucht, einen Stammbaum der Familie Lilienstein zu erstellen. Er selbst bezeichnet ihn vorsichtig als einen „möglichen Stammbaum“, will wohl heißen, dass die genealogischen Verbindungen und Lebensdaten nicht völlig gesichert zu sein scheinen. Unvollständig ist er in jedem Fall. Siehe auch So war es einst, S. 101.
[4] Grävenwiesbach – Gestern und Heute … Eine Zeitreise durch die letzten Jahrhunderte, hg. Heimat- und Geschichtsverein Grävenwiesbach e.V., Grävenwiesbach 2009, S. 195.
[5] Sowohl in So war es einst, S. 101, wie auch in Bierwirth, Jüdische Einwohner von Usingen, S. 69 und Grävenwiesbach – Gestern und Heute S. 195 wird als Frau von Isaak Lilienstein eine Rosa / Röschen Herz, geboren 1794 in Schuppach, angegeben. Es könnte sein – eine Quellenangabe fehlt leider -, dass das eine frühere oder spätere Ehefrau von Isaak Lilienstein war. Im Sterbeeintrag ihres Sohnes Wolf ist hingegen Rosa Wolf, als dessen Mutter und Ehefrau von Isaak Lilienstein angegeben, siehe Sterberegister Usingen 31 / 1913.
[6] So war es einst, S. 102.
[7] Heiratsregister Wiesbaden 306 / 1887.
[8] Bierwirth, Jüdische Einwohner von Usingen, S. 69 gibt als Geburtsmonat von Joseph den Juli, ancestry den Juni an. Siehe auch zum Geburtsdatum von Siegmund https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/87022979/person/48546632506/facts. (Zugriff: 8.11.2020).
[9] Geboren wurde Karoline am 7.6.1851 in Meudt bei Westerburg, https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/87022979/person/48546635446/facts. (Zugriff: 8.11.2020)
[10] Regina war das zehnte und letzte, Emma, geboren am 19.6.1859, das achte Kind von Isaak Stern, geboren am 12.5.1809 in Meudt, dort gestorben am 6.2.1868, und seiner Frau Sara, geborene Kahn, geboren am 22.11.1821 in Limburg, verstorben am 3.1.1908 in Montabaur. https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/87022979/person/48546635414/facts. (Zugriff: 8.11.2020).
[11] Bierwirth, Jüdische Bürger Usingen, S. 44, 55. Bei der Angabe des Gründungsjahres des Geschäfts im Jahr 1875 handelt es sich um eine Mutmaßung meinerseits. Bierwirth nennt das Jahr 1975 (!). Vermutlich handelt es sich dabei um einen Druckfehler und soll wohl eigentlich 1875 heißen.
[12] Ebd. 48.
[13] Zit. nach ebd. S. 49.
[14] Kolb, Stephan, „… aus der Stadt gewiesen“ Die Juden von Usingen. Gießen 1996, S. 34-83.
[15] Ebd. 47 f. Welcher Riss aber offenbar auch durch die jüdische Gemeinde selbst ging, wird deutlich, wenn man liest, dass der von Kolb als orthodox charakterisierte Wolf Lilienstein den wohl eher liberal gesonnenen Glaubensbruder Rosenberg, der meinte, nur zwei Scheiben seien zerschlagen worden, mit der Bemerkung anging, dass dieser das gar nicht beurteilen könne, weil er in der letzten Zeit nur selten in der Synagoge anzutreffen gewesen sei.
[16] Bierwirth, Jüdische Bürger Usingen. S. 44.
[17] Geburtsregister Grävenwiesbach 23 / 1876 und 10 / 1878,
[18] Geburtsregister Usingen 6 /1884.
[19] Sterberegister Usingen 31 / 1913 und 40 / 1889.
[20] Siegmund Lilienstein war – so die Meldung des Kreisblatts vom 17.10.1895 – „war der erste Passagier, welcher den von hier (Usingen) abgegangenen ersten fahrplanmäßigen Zug benutzte.“ Zit. nach Kolb, Juden von Usingen, S.49.
[21] Geburtsregister Grävenwiesbach 32 / 1882.
[22] Geburtsregister Grävenwiesbach 30 / 1884.
[23] Geburtsregister Usingen 5 / 1887 und 37 /1891.
[24] Gerson Blumenthal, Sohn von Joseph und Sarah Blumenthal, geborene Straus, war um 1830 in Holzhausen geboren worden. Er verstarb am 30.4.1896 in Wiesbaden, Sterberegister Wiesbaden 443 / 1896. Seine Frau Fanny Jessel war um 1840 in Weilmünster geboren worden. Sie verstarb am 21.11.1899 ebenfalls in Wiesbaden, Sterberegister Wiesbaden 1208 / 1899. Siehe zu Gerson und Fanny Blumenthal oben
[25] Geburtsregister Wiesbaden 1289 / 1887.
[26] Geburtsregister Wiesbaden 1334 /1889 und Sterberegister Wiesbaden 540 / 1893 für Erna Regina. Geburtsregister Wiesbaden 127 / 1891 und Sterberegister Wiesbaden 504 / 1893 für Nelly.
[27] Geburtsregister Wiesbaden 1713 / 1892.
[28] Pepi, geboren am 1.3.1895, Geburtsregister Wiesbaden 376 / 1895 (der eingetragene Name lautet tatsächlich Pepi und nicht Peppi, wie später in Urkunden verwendet), Gertrud, geboren 5.6.1896, Geburtsregister Wiesbaden 899 / 1896 und Hans Günther, geboren am 10.11.1897, Geburtsregister Wiesbaden 1838 / 1897.
[29] Geburtsregister Wiesbaden 139 / 1901.
[30] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2124/images/31924_b042446-00227?treeid=&personid=&hintid=&queryId=20f079af320a27c3c156f04f9af9c652&usePUB=true&_phsrc=ryV2391&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=1240689 und https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2124/images/45886_1751%5E27%5E2%5E-01094?treeid=&personid=&hintid=&queryId=20f079af320a27c3c156f04f9af9c652&usePUB=true&_phsrc=ryV2392&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=7417313. (Zugriff: 8.11.2020)
[31] Sterberegister Wiesbaden 1371 / 1919 und 1372 / 1919.
[32] Wiesbadener Tageblatt vom 29.8.1919.
[33] Information des Stadtarchivs Wiesbaden. Der Geburtsort ist auf der Meldekarte nicht mehr sicher lesbar. Die Vornamen der Eltern sind nicht bekannt, nur der Mädchenname der Mutter soll Kopp gewesen sein.
[34] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/36860984:60901?tid=&pid=&queryId=87af8bd2ac3d7e966ef3f44af007052b&_phsrc=OEb185&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.1.2024).
[35] Eine Meldekarte liegt in Mannheim nicht vor, aber aus anderen Quellen ist laut Information des Stadtarchivs Mannheim rekonstruierbar, dass er dort zumindest zeitweise die Adresse L 13,2 hatte.
[36] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de916016. (Zugriff: 8.11.2020). Vermutlich saß er im Gefängnis in Freiburg ein.
[37] https://www.mappingthelives.org/bio/c531865c-948d-4491-8129-01b3db245a41. (Zugriff: 8.11.2020) und https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de916016. (Zugriff: 8.11.2020)
[38] HHStAW https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=3199002&ind=1. (Zugriff: 8.11.2020) Siehe dazu auch die ‚Page of Testimony’, die von Hilde Noomi Schattner 1985 in Yad Vashem hinterlegt wurde. Allerdings ist hier ein anderes Deportationsdatum angegeben, möglicherweise das der Abfahrt des Transport von Drancy.
[39] Die Information über Inge Elfriede Hoeffler verdanken wir deren Tochter Jeanette Darr, die diese in einer Mail an den Autor am 14.11.2023 übermittelte.
[40] Erst durch einen DNA-Test der Nachkommen bei Ancestry traten diese jüdischen Wurzeln wieder zu Tage.
[41] Sein leiblicher Vater Erich Brockmann, geboren am 5.10.1917 in Wismar lebte nach dem Krieg in der späteren DDR. Wann er in den Westen übersiedelte, ist nicht bekannt, aber er verstarb am 19.4.1987 in Erkrath bei Düsseldorf.
[42] Information Stadtarchiv Wiesbaden vom 4.1.2024..
[43] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/14104398:3693. (Zugriff: 20.1.2024).
[44] Die Informationen zu den Nachkommen von Julius Lilienstein verdankt der Autor im Wesentlichen Janette Darr, der Ehefrau von dessen Urenkel Erich Peter Heinrich Darr.
[45] HHStAW 483 10127 (80).
[46] Sterberegister Wiesbaden 2084 / 1940.
[47] HHStAW 519/3 5076 (4).
[48] Unbekannte Liste X 3.
[49] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 214.
[50] Zum Schicksal von Thea und Hans Arioni siehe das entsprechende Kapitel unter dem Judenhaus Martinsthaler Str. 2.
[51] Sterberegister Frankfurt V 1327 / 1912.Gemeldet war sie zum Todeszeitpunkt aber in Usingen.
[52] Bierwirth, Jüdische Bürger Usingen, S. 55.
[53] HHStAW 518 811 (13).
[54] HHStAW 518 811 (6, 7), in ebd. (4) ist fälschlicherweise für Fritz der 2.7.1919 als Geburtsdatum angegeben.
[55] Ebd. (18), dazu Geburtsregister Frankfurt 730 / 1915 für Heinz, Geburtsregister Usingen 42 / 1922 für Wolfgang Robert. Die Angabe bei ancestry,com, wonach alle Kinder in Usingen geboren worden seien, ist nicht richtig, obgleich die Eltern damals noch in Usingen wohnten.
[56] HHStAW 676 4959 Vermögensteuer (41).
[57] HHStAW 518 811 (30, 128). Laut Auskunft des Landrats wurden die Renovierungen erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs beendet, ansonsten gibt auch er ein umfassendes Bild des Gebäudes samt Laden, ebd. (129 ff.).
[58] Kolb, Juden von Usingen, S. 66-82.
[59] Kreisblatt vom 28.11.1925, zit. nach Kolb, Juden von Usingen, S. 111.
[60] Am 27.2.1932 ließ Julius Lilienstein über seinen Treuhänder Arthur Stern seinen Gläubigern mitteilen, dass er sich nicht mehr in der Lage sieht, seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen und sich deshalb zur Einstellung seiner Zahlungen gezwungen sehe. „Die Ursachen des Geschäftsrückganges liegen neben der allgemeinen Wirtschaftlage vor allem darin, dass es sich bei den Kunden der Firma in erster Linie um kleinere Landwirte und Arbeiter handelt, die fast durchweg auf Abzahlung kaufen, aber zu irgend welchen Leistungen derzeit nicht imstande sind. Infolgedessen sind an den Aussenständen erhebliche Ausfälle entstanden, sodass zur Feststellung des tatsächlichen Wertes grössere Abschreibungen vorgenommen werden mussten. Die letzte Veranlassung zur Zahlungseinstellung war jedoch die Kündigung des Geschäftskredits seitens der Nassauischen Landesbank, da keine Möglichkeit bestand, von anderer Seite Mittel zu erlangen.
Bezüglich des Warenlagers ist zu bemerken, dass nur verhältnismässig geringe Bestände gangbarer Ware vorhanden sind, während der übergroße Teil des Lagers schon Jahre alt ist zu einem großen Teil sogar aus der Inflation stammt.“ HHStAW 676 4959 Vermögensteuer (99). Insofern kann die Aussage von Kolb, Juden in Usingen, S. 189, den Usinger Juden sei es bis zum Beginn der NS-Zeit wirtschaftlich gut gegangen, zumindest was die die Geschäfte der Liliensteins betrifft, nicht bestätigt werden.
[61] Ebd. (110).
[62] Bei den Reichstagswahlen im März 1933 erhielt die NSDAP 64 % der Stimmen, sie
[63] Zit. nach Kolb, Juden von Usingen, S. 126 f.
[64] Ebd. S. 142.
[65] HHStAW 518 811 (131).
[66] Ebd. (6, 18, 128). Laut Kolb, Juden von Usingen, S. 323 hatte er sich am 10.11.1933 zunächst von Usingen nach Hamburg abgemeldet. Siehe zu seiner Biografie auch ebd. S. 206 f.
[67] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6246-0237?treeid=&personid=&hintid=&queryId=79a54ab0a49f9b47ef00f5340420354a&usePUB=true&_phsrc=ryV2415&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=24944030. (Zugriff: 8.11.2020) Am 29.10.1942 trat er als Fred Lilienstein in die amerikanische Armee ein, um seinen Beitrag zur Befreiung Europas zu leisten, siehe https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/1850/images/31323_145594-00114?usePUB=true&_phsrc=ryV2629&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=3022817. (Zugriff: 8.11.2020).
[68] HHStAW 686 4959 Einkommensteuer (2). Die Jahreseinkommen beliefen sich in den Jahren 1935 und 1936 auf 1545 bzw. 1428 RM. Darin enthalten sind aber auch Mieteinnahmen von 230 bzw. 274 RM, ebd. (o.P.).
[69] HHStAW 676 4959 Einkommensteuer (21). Für die Geschäftsräume zahlte er monatlich 100 RM und für die 6-Zimmer-Wohnung 40 RM.
[70] HHStAW 676 4959 Umsatzsteuer (63).
[71] HHStAW 676 4959 Einkommensteuer (21). Ohne jeden Bezug zu den politischen Hintergründen heißt es bei Bierwirth, Jüdische Bürger Usingen, S. 55, „1913 übergab er (Joseph Lilienstein –K.F.) den Betrieb in der Kreuzgasse 16 an seinen Sohn Julius. Wohnung, Geschäftsräume und Geschäft wurden am 1.10.1937 von Gustav Scherf übernommen.“ [Hervorhebung – K.F] Falsch ist hier zudem, dass auch das Hausgrundstück bereits 1937 verkauft worden sei, dies geschah erst im Februar 1939.
[72] Siehe dazu ausführlich Kolb, Juden von Usingen, S. 160-188.
[73] HHStAW 676 4959 Vermögensteuer (3).
[74] Ebd. (11). Nach dem Krieg und einem Rückerstattungsantrag kam es 1951 zwischen den ehemaligen und den neuen Eigentümern zu einem Vergleich, laut dem die Neueigentümer einen Abgeltungsbetrag von 15.000 DM zu zahlen hatten, dafür das Haus behalten durften, siehe ebd. (89, 90).
[75] Ebd. Zur Eintreibung des noch nicht gezahlten Betrags von 1.100 RM für die dritte und vierte Rate, wurde am 12.5.1939 eine Arrestverfügung erlassen. Ob Julius Lilienstein tatsächlich in Haft musste, ist der Akte nicht zu entnehmen, siehe ebd. (10). Weil der Verkaufspreis geringer war als in der Vermögenserklärung kalkuliert, wurde ihm später tatsächlich die 5. Rate der Judenvermögensabgabe erlassen, ebd. (13).
[76] HHStAW 676 4959 Vermögensteuer (142, 143).
[77] Ebd. (11).
[78] HHStAW 519/3 4566 (1).
[79] Ebd. (4).
[80] Ebd. (6).
[81] Ebd. (8).
[82] Ebd. (10). Bis zu diesem Zeitpunkt hatte auch Heinz in Palästina mit seiner Familie noch in regelmäßigem brieflichem Kontakt gestanden, siehe HHStAW 518 811 (19).
[83] Siehe dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 52-83. Zum Transport aus Frankfurt besonders die S. 72 f., auch Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle. Die Deportation der Juden 1941-1945, , S.153 ff.
[84] HHStAW 515 22415 (3).
[85] Heiratsregister Heldenbergen 2 / 1901. Nach dem Tod der Mutter am 3.7.1928 waren neben Mathilde als Erben ihre Brüder Hans und Paul Strauss eingesetzt worden. HHStAW 687 1618 (89). Von Paul ist bekannt, dass er später nach Brasilien auswandern konnte, siehe HHStAW 518 22415 (12).
[86] Ebd. (3, 24).
[87] Ebd. (1).
[88] Ebd. (12). Vermutlich handelte es sich dabei aber eher um eine kleine Kindergrippe oder um Räume, in denen Ruth als eine Art Tagesmutter fungierte. Im Frankfurter Adressbuch von 1932 ist im Bäckerweg 28, wo die Eltern damals wohnten, unter dem Namen von Ruth Lilienstein allerdings ein Kindergarten eingetragen, siehe https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/60654/images/31006_133354-00543?treeid=&personid=&hintid=&queryId=938e8a794198a19bbefad6932588c4df&usePUB=true&_phsrc=ryV2441&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=33670605. (Zugriff: 8.11.2020)
[89] Ebd. (12, 13).
[90] HHStAW 687 1618 Einkommensteuer (28, 45).
[91] Ebd. (65).
[92] Ebd. (78).
[93] Ebd. (90-170 passim). Siehe dazu auch die Umsatzsteuerakten (77-98 passim).
[94] HHStAW 518 22415 (3).
[95] HHStAW 687 1618 (136).
[96] Ebd. (173).
[97] Laut einem Schreiben der Finanzbehörde durfte seine Frau monatlich 200 RM von Inlandsguthaben des inzwischen in die USA emigrierten Verwandten Berthold Strauss beziehen, ebd. (178).
[98] HHStAW 519/3 4467 (3).
[99] HHStAW 687 1618 Einkommensteuer (o.P.).
[100] Ebd. (o.P.). Sie ist undatiert, nur das Jahr 1940 ist eingetragen.
[101] HHStAW 519/3 4467 (7).
[102] Sterberegister Frankfurt V 237 / 1941.
[103] HHStAW 519/3 4467 (11).
[104] https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/95020-lilienstein-isidor-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/. (Zugriff: 8.11.2020)
[105] HHStAW 518 22415 (1).
[106] Geburtsregister Grävenwiesbach 10 / 1878.
[107] Heiratsregister Usingen 16 / 1898.
[108] Kolb, Juden von Usingen, S. 322.
[109] Sterberegister Usingen 2 / 1932.
[110] Kolb, Juden von Usingen, S. 148. Interessant ist, dass der NS-Jargon hier auf eine der Thora entlehnte Begrifflichkeit zurückgreift, die in ihrem ursprünglichen Gehalt aber nicht nur die Bedeutung des „Schandflecks“ hatte, sondern zugleich auch ein Schutzversprechen Gottes bedeutete.
[111] Kolb, Juden von Usingen, S. 148.
[112] Ebd., S. 149.
[113] HHStAW 518 22413 (7, 13).
[114] Ebd. (33 f.).
[115] Ebd. (72 f.).
[116] Ebd. (79) Zeugnis des ehemaligen Bürgermeisters von Usingen Hans Meier. Die ursprünglich verweigerte Entschädigung wurde dann doch nach einem Gerichtsbeschluss im Jahr 1955 doch noch gezahlt.
[117] Bierwirth, Jüdische Bürger Usingen, S. 56
[118] Geburtsregister Grävenwiesbach 30 / 1884.
[119] Kolb, Juden von Usingen, S. 97, auch HHStAW 518 22413 (13).
[120] Heiratsregister Grebenstein 12 / 1920. Ihre Eltern waren der Kaufmann Herz und Karoline Voremberg, geborene Mayer, wobei der Name Mayer in den Dokumenten in verschiedenen Varianten geschrieben ist.
[121] HHStAW 518 22413 (164) Erbschein.
[122] Kolb, Juden von Usingen, S. 156 ff., auch HHStAW 518 22413 (14).
[123] Kolb, Juden von Usingen, S. 207.
[124] 1953 hatten sie zusammen noch einmal ihre Verwandten in Frankreich besucht, siehe https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/60882/images/42155_333401-01050?treeid=&personid=&hintid=&queryId=e0cfa004184a34909a8a11c58f30fac9&usePUB=true&_phsrc=Ekt13&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=3285922. (Zugriff: 8.11.2020)
[125] Die folgende Darstellung orientiert sich an der eidesstattliche Erklärung von Alfred Lilienstein, die er am 11.10.1956 im Rahmen des Entschädigungsverfahren abgegeben hatte, siehe HHStAW 518 22413 (3).
[126] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/60882/images/42155_333401-01050?treeid=&personid=&hintid=&queryId=e0cfa004184a34909a8a11c58f30fac9&usePUB=true&_phsrc=Ekt13&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=3285922. (Zugriff: 8.11.2020)
[127] HHStAW 518 22413 (3).
[128] Für Alfred Lilienstein siehe Kolb, Juden von Usingen, S. 322, für Dina Lilienstein HHStAW 518 22413 (194).
[129] Zu den Angaben über die Töchter siehe Kolb, Juden von Usingen, S. 323.
[130] HHStAW 518 22417 (6).
[131] Ebd. (29). Laut einer Meldebestätigung der Polizeibehörde war Otto Lilienstein vom 20.8.1891 bis zum 14.6.1933 in Usingen gemeldet.
[132] Ebd. (7), Geburtseintrag.
[133] Im Entschädigungsverfahren nach dem Krieg trat die geschiedene Hildegard Lilienstein als Hildegard De Lac auf. Wann und mit wem sie die neue Ehe eingegangen war, ist den Akten nicht zu entnehmen. Ihre Tochter Irene hatte 1959 Peter Moritz geheiratet und lebte seitdem in Neu-Ulm in Deutschland.
[134] HHStAW 518 22417 (6).
[135] Ebd. (13).
[136] https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=en&s_id=&s_lastName=Lilienstein&s_firstName=Otto&s_place=&s_dateOfBirth=&cluster=true. (Zugriff: 8.11.2020)
[137] Geburtsregister Usingen 5 /1887.
[138] Heiratsregister Usingen 20 / 1908.
[139] HHStAW 518 69777 (22).
[140] HHStAW 518 67709 (Deckblatt).
[141] Geburtsregister Frankfurt 692 / 1918.
[142] Siehe zu seiner militärischen Laufbahn HHStAW 518 9777 (84). Noch 1935 (!) war er, obwohl Jude, mit dem ‚Ehrenkreuz für Frontkämpfer’ ausgezeichnet worden.
[143] HHStAW 518 67709 (24, 69).
[144] HHStAW 518 47278 (8).
[145] HHStAW 518 9777 (22).
[146] HHStAW 518 47278 (57) zum Zeitpunkt der Ausreise, (7) zu den übrigen Angaben zu seiner weiteren Biografie.
[147] Ebd. (36). Eine beantragte Entschädigung für diese Leiden wurde ihm von deutscher Seite verweigert, da es aus keiner konkreten antisemitischen Gewaltmaßnahme resultieren würde.
[148] HHStAW 67709 (24).
[149] Siehe zu dem Landschulheim den ausführlichen Artikel in Wikipedia, in dem auch Hilde Blumenfeld einige besonderen Zeilen gewidmet sind, https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdisches_Kinder-_und_Landschulheim_Caputh. (Zugriff: 8.11.2020)
[150] HHStAW 67709 (70).
[151] http://www.jigsaw-navi.net/content/schattner-naomi-born-blumfeld-hilde. (Zugriff: 8.11.2020)
[152] HHStAW 9777 (82, 160).
[153] Ebd. 84 f.).
[154] HHStAW 519/3 18298 (5). Ob sie tatsächlich bezahlt wurde, geht aus den Unterlagen nicht hervor.
[155] Ebd. (6).
[156] Ebd. (9).
[157] Ebd. (3, 15).
[158] Ebd. (18).
[159] Ebd. (19).
[160] Ebd. (20).
[161] Ebd. (23).
[162] HHStAW 518 9777 (30).
[163] HHStAW 518 9776 (7). Er hätte bei Annahme des Todeszeitpunkts 19.10.1941 150 DM betragen, die Behörde war dann bereit den Todeszeitpunkt auf das bei Reitlinger, Endlösung, S. 317 angegebene Datum der Liquidation des Ghettos am 5.9.1944 anzunehmen und dann eine Summe von 5.100 DM zu bewilligen. Nach einem erneuten Widerspruch der antragstellenden Kinder kam es am 6.4.1960 zu einem Vergelich, bei dem das Todesdatum 31.1.1945 angenommen wurde, was die Behörde zu einer weiteren Zahlung von 750 DM verpflichtete. Ebd. (14, 24)
[164] Ebd. (50 f.).
[165] Geburtsregister Grävenwiesbach 32 / 1882.
[166] Liepman, Ruth Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall. Erzählte Erinnerungen, Hamburg 2011, erstmals veröffentlicht 1993. Im gegebenen Rahmen kann auf die gesamte, unbedingt lesenswerte Biografie hier nur punktuell eingegangen werden. Wo nicht anders vermerkt, entstammen die im Weiteren gegebenen Informationen dieser Quelle. Auf exakte Seitenangaben wurde – von wörtlichen Zitaten abgesehen – dabei um der besseren Lesbarkeit willen verzichtet. Da das Buch weitgehend chronologische aufgebaut ist, lassen sich die Aussagen im Buch leicht wiederfinden. Das Buch ist im Übrigen mit Familienfotos reich bebildert.
[167] Ebd. 13.
[168] Die Angaben zu ihrer eigenen Person entstammen dem Einbürgerungsbegehren von Johanna Lilienstein, siehe https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2499/images/31301_168825-00762?treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&usePUBJs=true&pId=904338298&lang=de-DE, zum Namen der Eltern siehe https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/9783347:60901?indiv=try&o_vc=Record%3aOtherRecord&rhSource=2499. (Zugriff: 8.11.2020) Hier ist allerdings der Name der Mutter falsch angegeben, siehe dazu wiederum den Heiratseintrag der Eltern unter Heiratsregister Hadamar 7 / 1879.
[169] Liepman, Glück, S. 13-15.
[170] Geburtsdaten nach Angaben ihrer Mutter bei ihrem Antrag auf Einbürgerung in den USA, https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2499/images/31301_168825-00762?treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&usePUBJs=true&pId=904337979&lang=de-DE. (Zugriff: 8.11.2020)
[171] Bekannt geworden ist die Schule auch dadurch, das das spätere Kanzlerpaar Helmut und Locki Schidt die Schule besuchten.
[172] Siehe den Nachruf anlässlich ihres Todes in der Neuen Züricher Zeitung vom 31.5.2001 https://www.nzz.ch/article7FEFH-1.503753. (Zugriff: 8.11.2020) Beeindruckende Fotos von der gealterten Ruth Liepman, die von der berühmten Fotografin Isolde Ohlbaum aufgenommen wurden, sind zu finden unter https://www.ohlbaum.de/foto/liepman-ruth-2/. (Zugriff: 8.11.2020)
[173] Liepman, Glück, S. 82.
[174] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/7488/images/NYT715_6388-0526?treeid=&personid=&hintid=&queryId=a1fcb121ccdc323dd084255c651fecf2&usePUB=true&_phsrc=ryV2445&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=1005355283&lang=de-DE. (Zugriff: 8.11.2020)
[175] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv=1&dbid=9131&h=4010336&tid=&pid=&queryId=025b3e95e8ea8ce751f101d6b0b63fb9&usePUB=true&_phsrc=ryV2529&_phstart=successSource. (Zugriff: 8.11.2020). Die Angabe wird auch durch den Eintrag seiner Frau bei ihrem Einbürgerungsantrag bestätigt.
[176] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/1616/images/31070_B017519-00304?treeid=&personid=&hintid=&queryId=3d03f247b043fd0cbc6c25eb41b6fa0e&usePUB=true&_phsrc=ryV2477&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=160006&lang=de-DE. (Zugriff: 8.11.2020)
[177] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?dbid=61788&h=335795&indiv=try&o_vc=Record:OtherRecord&rhSource=5180. (Zugriff: 8.11.2020)
[178] https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?dbid=5180&h=4313563&indiv=try&o_vc=Record:OtherRecord&rhSource=2280. (Zugriff: 8.11.2020)
[179] Liepman, Glücki, S.94.