Claire Freudmann


Juden Judenhaus Wiesbaden Adelheidstr. 94
Die Adelheidstr. 94 heute
Eigene Aufnahme
Adelheidstr 94, Judenhaus, Wiesbaden
Lage des Hauses
Adelheidstr. 94, Judenhaus Wiesbaden
Belegung des Judenhauses

 

 

 

 

 


Claire Klara Freudman, Alfons Freudmann, Irma Freudmann, Oskar Freudmann, Regina Freudmann Hanau, Judenhaus Adelheidstr. 94, Wiesbaden
Gestapo-Karteikarte von Claire Freudmann
Stadtarchiv Wiesbaden

Claire Freudmann war im eigentlichen Sinne keine Bewohnerin der Adelheidstr. 94. Gleichwohl hatte die Gestapo in Wiesbaden auch für sie eine Karteikarte angelegt, aber unter ‚Vermerke’ „zu Besuch“ eingetragen.

Claire Freudmann, Alfons Freudmann, Irma Freudmann, Richard Rothschild, Gert Freudmann, Colette Myriam Freudmann, Jakob Oskar Freudmann, Regina Freudmann Hanauu, Judenhaus Wiesbaden, Adelheidstr. 94
Stammbaum der Familie Freudmann
GDB

Sie war am 7. Februar 1941 aus Gotha gekommen, wo sie wohl – so ist der Karte noch zu entnehmen – als Hausgehilfin tätig war, und hatte bei der Familie Simon und Sofie Morgenthau im zweiten Stockwerk des Hauses eine Unterkunft gefunden. Ob es sich um einen persönlichen Besuch handelte oder ob sie möglicherweise eine berufliche Anstellung bei Morgenthaus suchte, ist den Unterlagen nicht zu entnehmen. Außer der Gestapokarteikarte gibt es nur eine sehr dünne Devisenakte, der aber nur zu entnehmen ist, dass sie sich mindestens bis August 1941 in Wiesbaden aufhielt.[1] Es handelte sich somit nicht nur um einen kurzen Besuch, sondern um einen doch längeren Aufenthalt in Wiesbaden. Möglicherweise gab es auch keinen bereits bestehenden persönlichen Kontakt zur Familie Morgenthau, vielleicht war ihr dort sogar nur ein Zimmer zugewiesen worden. Wann und unter welchen Umständen Claire Freudmann das Judenhaus  in der Adelheidstraße wieder verlassen hat, ließ sich nicht mehr rekonstruieren.

Claire Klara Freudmann, Judenhaus Adelheidstr.94, Wiesbaden, Pirmasens
Das Haus der Freudmanns in Pirmasens in der Fröbelgasse um 1920 (rechts mit Schild eines Schirmmachers)
Mit Genehmigung des Stadtarchivs Pirmasens

Es ist der Pirmasenser Initiative zum Gedenken an die ehemaligen jüdischen Mitbürger zu verdanken, dass das Schicksal der Familie Freudmann inzwischen zumindest teilweise aufgearbeitet werden konnte.[2] Marie Klara Freudmann, die aber auch in amtlichen Schreiben immer nur Claire genannt wurde, war am 11. Oktober 1908 in Pirmasens geboren worden. Obwohl also in Deutschland geboren, trug die Gestapokarteikarte von Claire Freudmann den Vermerk „Staatlos“, womit auf ihren familiären Hintergrund verwiesen ist. Ihr Vater Jakob Oskar Freudmann stammte aus dem ostgalizischen Städtchen Breschan, wo er am 8. Oktober 1873 geboren wurde.[3] Seine Frau Regina, geborene Hanau, war allerdings am 26. August 1874 in Beaumarais bei Saarlouis zur Welt gekommen. Etwa seit der Jahrhundertwende lebte das Paar in Pirmasens, wo es in der Fröbelgasse 7 ein Haus erworben hatte, in dem sich auch eine kleine Fabrikation für Schirme, eine Reparaturwerkstatt und ein Ladengeschäft zum Verkauf der Produkte befand.

In Pirmasens waren auch die drei Kinder von Oskar und Regina Freudmann zur Welt gekommen. Noch vor Claire war am 11. Dezember 1905 der Sohn Maximilian Alfons geboren worden. Die jüngere Schwester der beiden, Stefanie Irma, kam am 27. April 1910 zur Welt.

Oskar Freudmann, Claire Freudmann, Judenhaus Wiesbaden, Adelheidstr. 94
Liste der polnisch-stämmigen Juden in Pirmasens 1938
Mit Genehmigung des Stadtarchis Pirmasens

Sicher wird auch die Familie Freudmann unter den wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik und unter dem wachsenden Antisemitismus in den Jahren nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ gelitten haben, den entscheidenden Einschnitt brachte dann aber die Auseinandersetzung um die in Deutschland lebenden, aber aus Polen stammenden Juden, die das Deutsche Reich im Herbst 1938 abschieben, Polen aber nicht aufnehmen wollte. Auch Oskar, Regina und Alfons Freudmann waren unter den etwa 40 Personen, die am 10. Oktober 1938 aus Pirmasens nach Polen verbracht wurden. Emanuel Baumöhl, ein Überlebender der sogenannten „Polenaktion“, in deren Gefolge es am 9. November zur Reichspogromnacht kam, legte später Zeugnis über das damalige Geschehen ab:
„Auf dem Gerichtsgebäude (gemeint Amtsgericht Pirmasens) teilte man uns mit , dass alle Verhafteten polnische Staatsangehörige seien und infolgedessen als staatenlose Ostjuden abgeschoben würden. Wir vorbrachten die Nacht im Gerichtsgebäude und wurden am nächsten Morgen, 11.10.1938, auf Lastwagen nach Kaiserslautern ins Gefängnis gebracht. Meine Eltern und die übrigen Juden mussten hier alle Wertgegenstände, die sie bei sich trugen, abgeben. Anschließend ging es vom Gericht zum Hauptbahnhof, wo wir unter Polizeischutz in Personenwaggons verladen wurden. Pro Waggon bewachten uns zwei Polizisten bis zur polnischen Grenze. Von Kaiserslautern aus ging der Transport über Ludwigshafen, Mannheim, Berlin nach Frankfurt / Oder. Überall, wo der Transport hielt, wurden weitere Waggons mit Juden angehängt oder die Juden in die vorhandenen Waggons gepfercht. So ging es von Stadt zu Stadt. Nach einigen Tagen erreichten wir an der damaligen deutsch-polnischen Grenze Neu-Bentschin.
Bei strömendem Regen und furchtbarer Kälte mussten wir die Waggons verlassen. Entlang der Gleise wurden wir über das sogenannte Niemandsland auf die polnische Seite getrieben. Doch die Polen ließen die Menschen nicht in ihr Land, so dass wir einige Tage unter freiem Himmel auf den Gleisen verbringen mussten. Nach drei Tagen wurden wir von den Polen in eine nahegelegene leerstehende Mühle verfrachtet, die wir nicht verlassen durften. In dieser Mühle, die eine Ruine ohne jegliches Mobiliar war, verbrachten wir fast ein Jahr. Wir schliefen auf Stroh. Einmal täglich erhielten wir vom polnischen Roten Kreuz unsere Verpflegung.
[4]

Es müssen chaotische Zustände geherrscht haben, da die polnischen Behörden mit diesem Zustrom von insgesamt etwa 4.800 Menschen allein in Bentschen völlig unvorbereitet konfrontiert waren. „Mehrere tausend Menschen irrten im Niemandsland umher, drängten sich auf dem Bahngelände, hausten im Stationsgebäude oder auf nahe gelegenen Plätzen in der polnischen Grenzstadt Bentschen sowie auf den die Stadt umgebenden Wiesen. (…) Nachdem sich die polnischen Grenzposten darum bemüht hatten, die Ausgewiesenen zu registrieren bzw. ihre Pässe zu kontrollieren, konnten viele von ihnen innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die nicht wussten wohin und denen man die Einreise verweigerte, wurden in Bentschen interniert.“[5]

Oskar Freudmann, Claire Freudmann, Judenhaus Wiesbaden, Adelheidstr. 94
Ein Ziel der Vertreibung: Schaffung von freiem Wohnraum
Mit Genehmigung des Stadtarchis Pirmasens

Die beiden Töchter Claire und Irma scheinen von dieser Aktion nicht betroffen gewesen zu sein, vermutlich hatten beide zu dieser Zeit ihre Heimatstadt bereits verlassen. Das weitere Schicksal der drei abgeschobenen Familienmitglieder ist nur bruchstückhaft rekonstruierbar. Völlig unbekannt ist, was mit Regina Freudmann nach ihrer Registrierung in Bentschen weiter geschah. Obgleich ihr Name im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz nicht aufgenommen ist, muss man davon ausgehen, dass auch sie später der Shoa zum Opfer fiel.[6]

Claire Klara Freudman, Alfons Freudmann, Irma Freudmann, Oskar Freudmann, Regina Freudmann Hanau, Judenhaus Adelheidstr. 94, Wiesbaden
Beleg für die Ermordung von Alfons Freudmann
https://collections.arolsen-archives.org/archive/4117855/?p=1&s=Alfons%20Freudmann&doc_id=4117855

Für den Sohn Alfons ist das gewiss. Er lebte bis zur Besetzung Polens durch die deutschen Truppen in Polen, wurde dann aber am 16. November 1939 inhaftiert und in das KZ Sachsenhausen überstellt. Schon am 20. März des folgenden Jahres wurde er dort ermordet.  Von den Dreien hat allein der Vater überlebt. Allerdings gibt es keine Informationen darüber, wie es ihm gelingen konnte, nach der Abschiebung von Polen nach Belgien zu gelangen, wo er definitiv seit 1940 lebte. Möglicherweise hatte man ihm erlaubt, was auch in vielen anderen Fällen ermöglicht wurde, noch einmal nach Deutschland zurückzukommen, um das Geschäft und einen Verkauf des Hauses in Pirmasens abzuwickeln. Zwar kam es zu einem solchen Verkauf nicht mehr, aber an den Immobilien der Juden bestand überall ein großes Interesse, so auch in Pirmasens, wie ein Schreiben des Oberbürgermeisters an die Bezirksregierung der Pfalz vom Dezember deutlich macht.[7]

Allerdings war ein erzwungener Eigentumswechsel nicht so ohne Weiteres möglich, denn der Raub war auch im nationalsozialistischen Unrechtsstaat nach „Recht und Gesetz“ zu vollziehen. Eine Vermögensverfall war auch bei Juden solange ausgeschlossen, bis auch die beiden Töchter aus Deutschland ausgewiesen bzw. deportiert waren oder sie das Staatsgebiet freiwillig verlassen hatten. Sie waren, obwohl vermutlich nicht mehr in Pirmasens wohnhaft, dennoch offensichtlich noch dort gemeldet. In einem Verzeichnis über den Wohnbesitz der im Oktober abgeschobenen Juden aus Pirmasens vom 29. November 1938 heißt es, dass das Haus in der Fröbelstr. 7 noch von den beiden Töchtern bewohnt würde. Möglicherweise waren sie aber auch nach den Ereignissen vom Oktober zurückgekommen, um das Haus und die darin befindliche Einrichtung zu bewachen und ihre Besitzansprüche geltend zu machen.[8]

Johanna Wolf, Judenhäuser Wiesbaden
Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu Isenburg
Mit Genehmigung des Jüdischen Museums Frankfurt

Zumindest von Irma ist bekannt, dass sie vom 18. November 1936 bis zum 25 März 1937 in Neu-Isenburg im Heim des ‚Jüdischen Frauenbundes’ wohnte. Dieses von der Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim gegründete Haus diente ledigen Müttern als Schutzraum während und nach der Geburt ihrer unehelichen Kinder.[9] Auch Irma Freudmann brachte am 24. Dezember 1936 dort ihren unehelichen Sohn Baruch Gerd, auch Gert, zur Welt. Im Frühjahr 1937 war sie mit ihrem Sohn noch einmal in Pirmasens gemeldet. Gert wurde danach wieder in einem Haus des ‚Jüdischen Frauenbundes’, dem ‚Frankfurter Kinderhaus der Weiblichen Fürsorge’, ebenfalls von Bertha Pappenheim gegründet, untergebracht.[10] In diesem Haus, das seit 1939 nominell von der ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland’ betrieben wurde, verbrachte Gert die wenigen Lebensjahre, die ihm bleiben sollten. Vom 1. September bis zum 7. September 1939, so ist den Unterlagen aus Arolsen zu entnehmen, weilten Claire und Irma Freudmann für eine Woche in Frankfurt.[11]

Claire Klara Freudman, Alfons Freudmann, Irma Freudmann, Oskar Freudmann, Regina Freudmann Hanau, Judenhaus Adelheidstr. 94, Wiesbaden
Der Transportschein für Gert Freudmann in das Gas von Auschwitz
https://collections.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014202/0025/131076702/001.jpg
Claire Freudmann, Irma Freudmann, Gert Freudmann
Der kleine Gert Freudmann, ermordet in Auschwitz
Mit Genehmigung des Stadtarchivs Pirmasens

Ob er erst zu diesem Zeitpunkt in das Heim gebracht wurde oder ob es sich um einen vielleicht letzter Besuch von Mutter und Tante handelte, ließ sich nicht klären. Am 14. September 1942, nachdem das Heim in Frankfurt auch formal von der NSDAP übernommen worden war, wurden die Pflegekräfte mit allen Kindern mit dem Transport XII/3, der insgesamt 1372 Menschen umfasste, nach Theresienstadt verbracht. Gert hatte zuletzt mit sechs anderen Jungen in einem Zimmer im zweiten Stock des Hauses gewohnt. Er war mit fünf Jahren sozusagen der Stubenälteste; die anderen Kinder im Zimmer waren alle erst vier Jahre alt.[12] Zwei weitere Jahre hat Gert im Ghettolager Theresienstadt verbracht,[13] bevor man ihn am 23. Oktober 1944 in das Gas von Auschwitz schickte.

Gerts Mutter Irma Freudmann war zu einem nicht bekannten Zeitpunkt nach Belgien gegangen. Ob sie bereits vor ihrem Besuch im September 1939 dort lebte und bei Kriegsausbruch noch einmal zu ihrem Sohn nach Frankfurt zurückkehrte, konnte bisher nicht ermittelt werden. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie erst nach Kriegsausbruch und einem letzten Abschied von Gert in das belgische Exil ging, sicher noch immer in der Hoffnung, ihren Sohn später holen zu können. Sie hatte inzwischen – wann und wo, ist nicht bekannt – den aus Mannheim stammenden Richard Rothschild geheiratet. Er war am 29. Februar 1940 ebenfalls nach Belgien geflohen, wurde bald aber verhaftet und am 31. Oktober 1942 von Mechelen aus auch nach Auschwitz deportiert und ermordet.[14] Vermutlich war er der Vater von Colette Myriam, die am 20. August 1940 im Lager Gurs geboren wurde. In dieses Lager am Rand der Pyrenäen hatte man die schwangere Irma Rothschild-Freudmann verbracht. Im Februar 1942 war sie, vermutlich mit ihrer kleinen Tochter, noch in das Nebenlager Noe in der Nähe von Toulouse verlegt worden.[15] Beide überlebten die Grauen dieses Lagerlebens auf wundersame Weise. Vom Schicksal ihres Sohnes hatte sie keine Kenntnis erhalten.

Belgien scheint der gemeinsame Zufluchtsort zumindest für die Familienmitglieder gewesen zu sein, denen es zunächst gelungen war, Deutschland zu verlassen. Auch Oskar Freudmann war auf unbekanntem Weg 1940 dorthin gelangt, nachdem er 1938 zunächst nach Polen abgeschoben worden war.[16] 1941 lag er in Brüssel bzw. Linkenbeck bei Brüssel in einem „Hospital des reconvales“. In dieser Zeit stand er in Kontakt mit seiner Tochter Claire, die seit Februar 1941 in Wiesbaden weilte. Private Korrespondenzen liegen nicht vor, aber im Juni 1941 hatte sie von ihrer Adresse im Judenhaus Adelheidstr. 94 für ihren Vater bei der Devisenstelle in Frankfurt einen Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut gestellt. Dieser Bitte war offensichtlich abgelehnt oder unbeantwortet geblieben, sodass sie die Liste erneut am 25. August 1941 bei der Behörde einreichte.

Claire Klara Freudman, Alfons Freudmann, Irma Freudmann, Oskar Freudmann, Regina Freudmann Hanau, Judenhaus Adelheidstr. 94, Wiesbaden
Brief von Claire Freudmann an die Devisenstelle in Frankfurt
HHStAW 519/3 27837 (1)

In dem Begleitbrief bat sie darum, ihrem Vater Kleidung in die Klinik senden zu dürfen, da dieser „so gut wie gar nichts mehr zum Anziehen“ habe. Man möge wenigstens das Wichtigste aus der beiliegenden Liste genehmigen.[17] Die Liste enthält insgesamt 28 Artikel, darunter Unterwäsche, Hemden, ein Mantel, Krawatten und einige kleine Gebrauchsgegenstände wie Feuerzeug oder Füllfederhalter – „alles gebrauchte Sachen“, wie Claire notiert. Der Vater hatte seine Tochter gebeten, sein Gesuch an die „zuständige Stelle“ weiterzuleiten. Wenn das die Devisenstelle in Frankfurt war, so muss man daraus schließen, dass auch der Vater zuvor im Amtsbereich dieser Behörde gewohnt haben muss.

Welche überbordende Bürokratie aber diese kleine Bitte auslöste, zeigt der Aktenvermerk der Devisenstelle in dieser Angelegenheit:

„1.    In A-Liste eintragen unter (Aktenzeichen)
Versand von Kleidungsstücken
2.      AU-Mappe anlegen:
Jakob Oscar Freudmann – Brüssel
3.      Karteikarte anlegen
4.      Vermerk auf Karteikarte: Versand von Kleidungsstücken durch Claire Sara Freudmann,   Wiesbaden, Adelheidstr. 94
5.      Karteikarte anlegen für Claire Sara Freudmann, Wiesbaden, Adelheidstr. 94
6.      Karteivermerk: Versand von Kleidungsstücken an Jakob Oscar Freudmann, z.Zt. Brüssel
7.      W.V
.[Wiedervorlage – K.F.] Herrn Ullrich
8.      Nach Wiedervorlage der Akten ist die Umzugsgutsliste mit Genehmigungsvermerk an Claire Sara Freudmann, Wiesbaden, zu senden.
(erl. Ul 29.8.41)
9.      Das Verfahren wird eingestellt
10.    Vermerk auf Karteikarte
11.    Vermerk A-Liste
12     Akten weglegen
I.A. Ul“
[18]

Es muss immer wieder verwundern, dass dieses Regime, dessen Verwaltungsaufwand, bei aller Willkür, selbst vor den Toren der Konzentrationslager nicht Halt machte, nicht an seiner eigenen Bürokratie erstickte. Beide Aspekte dieses Herrschaftssystems, Willkür und Bürokratismus, treten in dieser kleinen Episode um den Koffer mit alten Kleidungsstücken deutlich zu Tage, Dass der gerade zuvor abgelehnte Antrag dieses Mal genehmigt wurde, obwohl es dazu keine neuen Erkenntnisse oder Akten gab, muss trotz des erfreulichen Ausgangs für die Freudmanns, ebenfalls als ein Akt der Willkür bezeichnet werden.

Claire Klara Freudman, Alfons Freudmann, Irma Freudmann, Oskar Freudmann, Regina Freudmann Hanau, Judenhaus Adelheidstr. 94, Wiesbaden
Auszug aus der Deportationsliste vom 10.6.1942
HHStAW 519/2 1381

Dieser Briefwechsel ist bis zum Ende des Nazi-Regimes das letzte Lebenszeichen sowohl von Oskar als auch von Claire Freudmann. Ihr weiteres Schicksal bleibt bisher weitgehend im Dunklen. Zwar steht Claires Name auf der Deportationsliste vom 10. Juni 1942 und auch ihre Gestapokarteikarte enthält den üblichen Vermerk „10.6. 42 – nach dem Osten evakuiert“, inzwischen ist aber klar, dass es sich hier mit großer Wahrscheinlichkeit um falsche bzw. irrtümliche Einträge handelt. Wenn sie tatsächlich damals in Wiesbaden den Zug bestiegen haben sollte, dann hätte es ihr gelingen müssen, vor Ankunft in Sobibor – etwa in Izbica, Lublin oder an einem anderen kurzen Haltepunkt – den Zug unbemerkt zu verlassen, ein Wunder, an das man nicht glauben mag, das auch sicher schon früher publik geworden wäre. Nach bisherigen Erkenntnissen hat es von diesem Transport keine Überlebenden gegeben. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass sie in diesem Zug befand.[19]

Auf der nach dem 10. Juni erstellten Liste, in der die von Juden belegten Wohnungen festgehalten worden waren, ist Claire Freudmann nicht mehr aufgeführt, was wiederum bedeuten würde, dass sie zumindest nach dem 10. Juni, womöglich aber auch schon viel früher nicht mehr in Wiesbaden lebte. Eine mögliche Antwort auf die Frage, weshalb sie bei der Deportation „verschont“ blieb, gibt Claire Freudmann in einem nach dem Krieg abgesendeten Brief an den Oberbürgermeister von Pirmasens, in dem sie ihre Entschädigungsansprüche anmeldete. Es heißt darin:
“Seit dieser Zeit (seit der Evakuierung der sogenannten ‚Roten Zone’, dem Grenzgebiet zu Frankreich nach dem Kriegsausbruch 1939 – K.F.) bin ich nicht mehr in Pirmasens gewesen. Mein lieber Vater lebt in Brüssel. Ich selbst bin das einzige Familienmitglied, das in Deutschland lebt und obliegt mir demgemäss die Sorge um unsere Rechte. Bis zu meiner Befreiung durch die Amerikaner bin ich politischer Häftling gewesen.“[20] Möglicherweise hatte somit eine Verhaftung durch die Gestapo sie vor dem sicheren Tod in den Gaskammern von Sobibor bewahrt und ihr das Überleben in einem anderen Konzentrationslager ermöglicht. Weder liegen aber Informationen darüber vor, wo sie in dieser Zeit inhaftiert war, noch wegen welcher Aktivitäten dies geschah.

Passagierliste der ‚General Suart‘ mit der Claire Freudmann 1951 in die USA auswanderte
https://www.ancestry.de/interactive/7488/NYT715_7946-0643?pid=3026655507&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D7488%26h%3D3026655507%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&usePUBJs=true.

Nur eine Woche nach dem Ende des Krieges, am 15. Mai 1945, meldete sich Claire Freudmann in München in der Grimmestr. 2 an.[21] 1951 verließ sie Deutschland, um in den USA ein neues Leben zu beginnen. In den Unterlagen ist ihr Beruf mit Sekretärin angegeben. Den verschiedenen Listen ist zudem zu entnehmen, dass sie für verschiedene Ausschiffungen aus Deutschland registriert war, dann aber aus unbekannten Gründen dort wieder gestrichen wurde. Nicht gestrichen ist sie auf der Liste, die in Bremen-Grohn entstanden war und die Passagiere des Schiffs ‚US General Stewart’ enthält. Das Schiff war am 31. Januar 1951 in Bremerhaven ausgelaufen und hatte New York am 23. Februar 1951 erreicht. Von dort – so hatte sie angegeben – beabsichtigte sie weiter nach Cleveland in Ohio zu reisen.[22] Ihre letzte bekannte Adresse – sie war inzwischen verheiratet und trug den Nachname Jäger – war in Newark im Staat New Jersey, von wo aus sie 1958 letztmalig wegen des Entschädigungsverfahrens Kontakt mit ihrer Heimatstadt aufgenommen hatte.

Auch Oskar Freudmann war nach Kriegsende aus Belgien, wo man ihm am 28. Juni 1948 noch einen Fremdenkarte ausgestellt hatte, nach München zu seiner Tochter gezogen. Nach deren Auswanderung kam er in den beiden folgenden Jahren zunächst im Jüdischen Altersheim in der Kaulstr. 65 unter, dann für einen kurzen Zeitraum bis zu seiner eigenen Ausreise in die USA, in der Funkkaserne im Münchner Stadtteil Freimann, die damals als Lager für jüdische „Displaced Persons“ diente. Am 16. Juni 1953 meldete er sich in München ab und emigrierte nach Amerika zu seiner Tochter.

Dorthin war zu einem nicht bekannten Zeitpunkt auch Irma gelangt, die inzwischen erneut verheiratet war und nun den Nachname Leinwand trug. Sie versuchte von New York aus 1962 über den Internationalen Suchdienst in Arolsen etwas über das Schicksal ihres zurückgelassenen Sohnes Gert in Erfahrung zu bringen. Acht Jahre später erhielt sie die Nachricht, dass er in Auschwitz ermordet worden war.

 

Veröffentlicht: 13. 11. 2017

Letzte Änderung: 19. 04. 2020

 

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Anmerkungen:

[1] HHStAW 519/3 27837 (1). Inzwischen sind allerdings auch diverse Einträge auf Listen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit vom Arolsen-Archiv online gestellt, aus denen sich weitere Daten ihrer Lebensgeschichte erschließen lassen. Siehe zu ihrer Ankunft in Wiesbaden siehe https://collections.arolsen-archives.org/archive/70479707/?p=1&s=claire%20freudmann&doc_id=70479707. (Zugriff: 17.4.2020).

[2] Siehe dazu generell https://www.pirmasens.de/leben-in-ps/kultur/gedenkprojekt/. (Zugriff: 16.9.2020). Zur Familie Freudmann siehe https://www.pirmasens.de/bilder/kultur/gedenkprojekt/froebelgasse-7/schirmgeschaeft/internettext-freudmann-st19062020.pdf?cid=13j.  (Zugriff: 6.9.2020). Autor des Artikels über die Familie Freudmann ist Frank Eschrich vom AK Geschichte der Juden in Pirmasens/StA PS. Dank dieser umfassenden Recherchen wurde die ursprünglich am 17.11.2017 von mir publizierte Seite über Claire Freudmann völlig neu überarbeitet. Die jetzigen Ausführungen beruhen somit zu einem großen Teil nicht auf eigener Forschungsarbeit, sondern auf der von Frank Eschrich. Ihm sei an dieser Stelle besonders gedankt.

[3] Breschan, der deutsche Name der Stadt, hatte eine wechselvolle Geschichte. Nach dem Zerfall der KuK-Monarchie gehörte es als Brzeżany zunächst zu Polen, dann zur Sowjetunion, heute liegt der Ort als Bereschany auf ukrainischem Staatsgebiet.

[4] Juden in Pirmasens – Spuren ihrer Geschichte, 2004, S. 444 f., zit. nach https://www.pirmasens.de/bilder/kultur/gedenkprojekt/froebelgasse-7/schirmgeschaeft/internettext-freudmann-st19062020.pdf?cid=13j. S. 18. (Zugriff: 6.9.2020).

[5] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/zwangsausweisung.html.de?page=2. (Zugriff: 17.4.2020).

[6] Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz sind allerdings zwei Personen mit dem Namen Hanau aus Beaumarais als Opfer gelistet, Simon Hanau, geboren am 31.12.1878, und Marx Hanau, geboren am 19.12.1875. Möglicherweise handelt es sich um Brüder von Regina Freudmann, geborene Hanau.

[7] Das Schreiben ist auf der Internetseite der Gedenkinitiative veröffentlicht. Es heißt darin u.a.: „Die große Wohnungsnot im Stadtgebiet macht im Übrigen die sofortige Maßnahme notwendig, die nun seit Wochen unbenutzten Wohnungen zu räumen und sie dem Wohnungsmarkt zur Verfügung zu stellen.“

[8] Das Haus wurde offensichtlich nicht verkauft, obwohl es nachweislich zumindest eine Interessentin gab, die dort eine Heißmangel einrichten wollte. Inzwischen war allerdings der Verkaufsstopp für jüdische Immobilien erlassen worden, sodass die Begehrlichkeiten der arischen Volksgenossen unerfüllt blieben. Zwar wurde das Haus vom Deutschen Reich beschlagnahmt, ein Beleg für einen Verkauf oder Verfall der Immobile an das Reich gibt es allerdings nicht. Das Anwesen wurde im Krieg zum großen Teil zerstört, ein begonnenes Entschädigungsverfahren, das sowohl vom Vater als auch von der Tochter Claire nach dem Krieg initiiert wurde, scheint nicht zu Ende geführt worden zu sein. Siehe zu dem Vorgang ebenfalls die Seite der Gedenk-Initiative Pirmasens. Siehe zur Aneignung jüdischer Immobilien auch generell oben das Kapitel über den Raub der jüdischen Immobilien.

[9] Siehe zu Bertha Pappenheim unten.

[10] https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de/?page=3. (Zugriff: 17.4.2020). In dem 1911 gegründeten Haus waren jüdische Waisenkinder, uneheliche oder auch nur solche Kinder untergebracht, die in sozial sehr schwierige Verhältnisse hineingeboren waren. Es waren insgesamt etwa 50 Kinder, vom Säuglingsalter bis zum 6. Lebensjahr.

[11] https://collections.arolsen-archives.org/archive/70339811/?p=1&s=Claire%20Freudmann&doc_id=70339811. (Zugriff 17.4.2020).

[12] Siehe die Liste der Deportierten unter https://www.platz-der-vergessenen-kinder.de/?page=22. (Zugriff: 17.4.2020).

[13] Unweigerlich ist man an erinnert an den Bericht von Charlotte Opfermann über ihre Zeit in Theresienstadt und ihre Arbeit in der Baracke der Kinder. Siehe Opfermann, Remembering Theresienstadt, S. 69 ff.

[14] Sein Geburtsdatum ist laut Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz der 3.2.1911.

[15] Zu diesem Lager siehe https://www.gedenkorte-europa.eu/content/list/376/. (Zugriff: 17.4.2020).

[16] Dass er 1940 nach Belgien kam, ergibt sich aus einem Schreiben von 1948, das im Arolsen-Archiv deponiert ist, siehe https://collections.arolsen-archives.org/H/SIMS5/03020104/0076/163597772/001.jpg. (Zugriff: 17.4.2020). Ob seine Tochter zu diesem Zeitpunkt schon verhaftet und nach Gurs deportiert worden war, ist nicht bekannt.

[17] Siehe https://www.gedenkorte-europa.eu/content/list/376/. (Zugriff: 17.4.2020).

[18] HHStAW 519/3 (4).

[19] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen S. 214. Die mit Verweis auf die entsprechende Wiesbadener Deportationsliste gemachte Aussage der Gedenkinitiative Pirmasens, es sei „sicher“, dass Claire Freudmann, am 10. bzw. 11. Juni 1942 „an einen unbekannten Ort deportiert wurde“, ist m. E. eher gewagt.

[20] Zit. nach https://www.pirmasens.de/bilder/kultur/gedenkprojekt/froebelgasse-7/schirmgeschaeft/internettext-freudmann-st19062020.pdf?cid=13j. (Zugriff: 6.9.2020). (Hervorhebung K.F.) Der Brief, handschriftlich verfasst, liegt im Stadtarchiv Pirmasens. Im Archiv von Arolsen liegt eine nach dem Krieg erstellte Liste, laut der Claire Freudmann am 31.10.1944 in das Krankenhaus von München-Schwabing eingeliefert wurde. Der Grund und die Dauer des Aufenthalts sind allerdings nicht angegeben. Bei der in der Liste aufgeführten Personen handelt es sich ausnahmslos um Polen, möglicherweise Zwangsarbeiter, von denen eine Krankenakte angelegt worden war, siehe

https://collections.arolsen-archives.org/G/wartime/02010101/0298/1414672/001.jpg. (Zugriff: 17.4.2020).

[21] Die Angabe macht die Gedenkinitiative Pirmasens mit Verweis auf das Stadtarchiv München, AZ 3029/3231.0). Es gibt allerdings in den Unterlagen vom Archiv Arolsen auch einen Eintrag, wonach sie in München im Lager für Displaced Persons in der Warnerkaserne untergebracht worden war. Ein Zeitraum ist hier aber nicht genannt, möglicherweise war sie hier nur registriert worden, siehe https://collections.arolsen-archives.org/H/Child%20Tracing%20Branch%20General%20Documents/03010302/aa/gc/ba/001.jpg. (Zugriff: 17.4.2020).

[22]  https://www.ancestry.de/interactive/7488/NYT715_7946-0643?pid=3026655507&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D7488%26h%3D3026655507%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&usePUBJs=true. Zu anderen Listen siehe die verschiedenen Dokumente im Arolsen-Archiv unter ihrem Namen.