Eine weitere Bewohnerin des Hauses Hallgarter Str. 6, die am 1. September 1942 deportiert wurde, war Clara Rose. Bevor Clara Rose nach Wiesbaden kam, hatte sie zuvor in verschiedenen Städten Deutschlands gelebt. Das ist sicher ein Grund dafür, dass über ihr Leben eher wenig bekannt ist. Geboren wurde sie am 7. Januar 1869 in Stuttgart, soweit bekannt, als älteste Tochter von Adolph und Johanna Fraenkel, geborene Wartenberg. Sie hatte noch zwei weitere Schwestern, die ebenfalls in Stuttgart geboren wurden. Zunächst kam Gertrud am 18. Oktober 1870 zur Welt, anschließend Dorothea Lydia, die am 25. April 1876 geboren wurde und später auch in Wiesbaden lebte.[1] Der am 14. April 1879 ebenfalls in Stuttgart geborene Bruder Erwin wohnte zuletzt in Berlin, von wo er im November 1941 deportiert wurde. Gertrud, verheiratete Schwabe, hat mit ihrer Familie in Frankreich den Holocaust als einzige der bekannten Geschwister überlebt.[2]
Über den Ehemann von Clara, Gustav Rose, ist durch eine knappe Notiz in der Steuererklärung von 1940 bekannt, dass er bereits am 17. September 1917 verstarb.[3] Seitdem war sie verwitwet und lebte als Privatiere. Kinder waren nach ihren eigenen Angaben aus der Ehe nicht hervorgegangen.[4] Zum Zeitpunkt seines Ablebens waren Gustav Rose und seine Frau in Braunschweig gemeldet.[5]
Über das Leben der Witwe in den folgenden knapp zwanzig Jahren liegen keine Informationen vor. Am 15. Januar 1935 war sie aus Berlin kommend – vielleicht hatte sie dort bei ihrem Bruder gelebt – nach Bad Ems gezogen und hatte eine Wohnung bzw. vermutlich ein Zimmer in der Adolf Hitler Str. 23 in der Pension „Stadt Algier“ angemietet. Die kleine Kurstadt an der Lahn war im 19. Jahrhundert nicht nur ein bevorzugter Treffpunk für den europäischen Hochadel geworden,[6] auch viele betuchte Juden wählten den Ort, um dort ihre körperliche Leiden behandeln zu lassen oder auch nur um auf der Promenade oder im Casino am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, quasi als wahrnehmbarer Beweis für eine gelungene Emanzipation und Integration.[7] Clara Rose gehörte sicher nicht zu den wohlhabenden Juden, aber noch reichte ihr Vermögen aus, um sich dort auch auf Dauer als Pensionsgast einquartieren zu können.[8]
Aber neben den Gästen gab es in Bad Ems auch eine beachtliche Zahl jüdischer Bürger. Die etwa 100 Personen stellten in der Zeit der Weimarer Republik rund 1,5 Prozent der Bevölkerung. Mit ihren Aktivitäten im Handel, im Handwerk wie auch im Tourismusgewerbe trugen sie zur Prosperität der Stadt bei, über viele Jahre geachtet und weitgehend integriert. Aber schon Ende der zwanziger Jahre verschafften sich auch in Bad Ems zunehmend Gruppierungen und Einzelpersonen Gehör, die mit ihren antisemitischen Klischees die Juden aus der Stadt und auch aus Deutschland herausdrängen wollten, u.a. der spätere Gauleiter Sprenger. Und sehr schnell nach dem 30. Januar 1933 wandelten sich die politischen Machtverhältnisse in der Kommune und damit auch das Bild der Stadt selbst.[9]Die NSDAP übernahm das Bürgermeisteramt und oppositionelle Kommunalpolitiker wurden verfolgt, verhaftet oder zum Rückzug gezwungen. Am Rathaus wurde die Hakenkreuzflagge gehisst und die Lahnstraße, in der Clara Rose später ihre Unterkunft fand, wurde zu Ehren des „Führers“ in Adolf Hitler Straße umbenannt. Im Jahr 1935, als Clara Rose nach Bad Ems kam, wandte sich der damalige Bürgermeister Messerschmidt an die ortsansässigen Firmen und forderte sie in vorauseilendem Gehorsam auf, die Juden aus dem Wirtschaftsleben und dem sozialen Leben überhaupt herauszudrängen: „Die Judenfrage in Deutschland kann grundsätzlich nur gelöst werden, wenn jegliche Beziehungen zu Juden aufhören; dazu gehört auch, dass die Stadt und ihre sämtlichen Betriebswerke und Einrichtungen grundsätzlich nur Geschäftsverbindungen unterhalten und Lieferungen und Arbeitskräfte nur an solche Volksgenossen vergeben, die grundsätzlich keinerlei Beziehungen geschäftlicher und privater Art zu Juden haben.“[10] Zwar konnte dieser Beschluss wegen des Widerstands der Emser Geschäftsleute damals nicht durchgesetzt werden, aber der Beschluss zeigt klar, dass eine Clara Rose dort nicht mehr willkommen war. Noch rangierten aber geschäftliche Interessen vor ideologischen Überzeugungen, denn noch immer kamen einige jüdische Kurgäste in die Stadt.[11] Im Mai 1938 konnte dann die Lahnzeitung melden, dass sich Die Stadt gemeinsam mit der NSDAP Ortsgruppenleitung und den Inhabern der Hotels, Pensionen und Gaststätten darauf geeinigt hatten, Juden künftig nicht mehr zu bedienen und dies durch eine deutliche Beschilderung auch anzuzeigen.[12]
Auch in Bad Ems wurde dann das Jahr 1938 zum entscheidenden Wendepunkt. Im Mai 1938 beschlossen die Hotel- und Gaststättenbetreiber, dass ab sofort keine Juden mehr bedient würden und man kein Interesse mehr an jüdischen Gästen habe. Zu einem regelrechten Gewaltexzess kam es am 10. November 1938. Waren in anderen Orten Deutschland schon in der Nacht zuvor die Synagogen in Brand gesetzt und die jüdischen Bürger verfolgt worden, so begannen die Ausschreitungen in Bad Ems sozusagen „verspätet“ erst am Nachmittag des 10. November. Dafür waren sie dann aber auch umso brutaler. Mit der Parole ‚Kein Jude soll in dieser Nacht wissen, wo er schlafen kann!’, begann der zum Teil auch von auswärtigen SA-Leuten angeführte Mob, der sich aus drei Trupps zusammensetzte, sein teuflisches Werk. Viele Einheimische unterstützten die Aktionen, wenn nicht handgreiflich, dann wenigstens mit zustimmendem Applaus. Hubertus Seibert hat in einem späteren Vortrag zum Gedenken an diesen Tag die wesentliche Ereignisabfolge zusammengefasst:
„Eine erste Gruppe drang zunächst in das neben dem Wiener Hof liegende jüdische Altersheim ein. Hier wurde in brutaler Weise das ganze Inventar zerstört und zum Teil auf die Straße geworfen; dabei entstand solch eine Unordnung, daß die Emser Polizei erst nach tagelangem Suchen in den Räumen zwischen den Möbeltrümmern und Scherben Schmuckgegenstände und Andenken der Insassen wiederfinden konnte. Außerdem wurden die Plumeaus und Kissen der Betten aufgeschlitzt und ihr Inhalt zum Teil auf die Römerstraße entleert, die nachher mit einer dicken Federschicht bedeckt war. Die Insassen des Altersheims, rund 80 alte und hilflose Menschen, wurden teilweise unter Schlägen in den Keller getrieben und dort eingesperrt. Auch an anderen Stellen der Stadt trieben die Rollkommandos ihr verbrecherisches Unwesen. In der Grabenstraße, bei dem jüdischen Bankier Kirchberger, wurden wertvolle Möbelstücke, Einrichtungs- und Kunstgegenstände sowie seltene Stiche und Drucke mit Äxten und Beilen in Stücke gehauen.
Auf der anderen Lahnseite, im Kurlogierbetrieb der Geschwister Kaufmann, im Hotel Pfälzer Hof in der Mainzer Straße, zerschlugen die braunen Horden Scheiben, eine Klosettschüssel, zwei Fensterflügel, drei Türen mit Fassungen und 24 Waschbecken mit Spiegel. Nebenan bei dem jüdischen Arzt Dr. Cohn, ein paar Häuser weiter bei dem Rabbiner Dr. Laupheimer und in der jüdischen Metzgerei Levi zertrümmerte man die Einrichtung mit einem solchen Elan, daß der Schutt und die Scherben auf die Straße kullerten.
Ein dritter Zerstörungstrupp drang in das Anwesen Bernstein in der Römerstraße ein. Während sich einige in der Wohnung im 1. Stock zu schaffen machten, räumten andere das im Parterre gelegene Hutgeschäft aus. Neben der SA waren hier viele Jugendliche und Zivilisten am Werk. Aus dem Laden des jüdischen Uhrengeschäfts Sundheimer flogen die Wecker auf die Straße. So wurden nach und nach die Einrichtungen von rund 30 jüdischen Wohnungen und Geschäften in gründlicher Weise demoliert. Keiner wurde vergessen. Selbst den armen Rentenempfänger Grünbaum, dessen Ehefrau zudem eine Christin war, suchte ein Trupp noch um 22 Uhr heim. Ein Täter kletterte den Dachkändel hoch, zerschlug ein Fenster, drang in die Wohnung ein und öffnete seinen Komplizen die Tür, die alsdann auch hier ‚reinen Tisch’ machten.
Die Synagoge war den Nazis ein besonderer Dorn im Auge. Gegen 19 Uhr fuhren hier mehrere (vermutlich auswärtige) Autos vor, die Insassen forderten zunächst den Synagogendiener Neumann auf, den Schlüssel herauszugeben. Als dieser sich weigerte, drangen sie mit Gewalt in die Synagoge ein, zerschlugen das Mobiliar und warfen Teile der verwüsteten Einrichtung und kultischen Gegenstände sowie Gebetsbücher auf die Straße. Die Inbrandsetzung scheiterte daran, daß man befürchtete, daß das Feuer auf die Nachbarhäuser übergreifen würde.
Auch dem Rabbiner Dr. Friedrich Laupheimer und seiner Familie wurde bös mitgespielt. Nach den Angaben seines Sohnes Hananija drangen drei Nazis in die Wohnung ein und verwüsteten sie völlig. Einer der Täter war der Mann, den Mutter und Sohn Laupheimer am Vormittag des 10. November auf dem Emser Rathaus wegen der Emigration der Familie aufgesucht hatten. Die verzweifelten Versuche des Rabbiners, die Zerstörungen zu verhindern, indem er seine Kriegsauszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg vorzeigte, blieben ohne jede Wirkung. Unter Schlägen wurde er schließlich auf die Straße gezerrt; umringt von einer ihn verhöhnenden Menschenmenge scherte ihm einer der SA-Männer den Bart.“[13]
Dieser Pogrom machte auch dem Letzten klar, dass Bad Ems kein Ort mehr war, wo man als Jude leben und überleben konnte. Hatte es im September 1938 noch 105 jüdische Bewohner gegeben, so hatte sich diese Zahl innerhalb von zwei Jahren auf achtzehn vermindert. Im September des folgenden Jahres 1941 war Bad Ems „judenfrei“.[14] Die Ereignisse im November 1938 hatten auch Clara Rose veranlasst, die Stadt zu verlassen und in das vermeintlich sichere Wiesbaden zu ziehen. Auch sie war unmittelbar betroffen gewesen und – wie sich aus einem Briefwechsel mit dem Finanzamt Diez ergib – zum Ziel der Gewaltaktion geworden. Das Finanzamt hatte ihr im Dezember 1938 als Judenvermögensabgabe die Summe von 1.800 RM abverlangt, zu zahlen in vier Raten. Dieser Rechnung war mit Stichtag 27. April 1938 ein Vermögen von 9.000 RM zugrunde gelegt worden.[15] In einem Brief vom 12. Dezember bat sie darum, bei der Berechnung der Abgabe ihre inzwischen erfolgte Vermögensänderung zu berücksichtigen. Durch die „Demolierung“ ihres Hausstandes am 10. November sei ihr ein Teil – faktisch die Hälfte – ihres Vermögens verloren gegangen. Auch sei ihr Sparkassenbuch und Schmuck von den Eindringlingen mitgenommen worden. Sie habe den Verlust unmittelbar danach der Polizei gemeldet, allerdings ohne Erfolg. Nur 4.600 RM seien ihr noch geblieben und sie befände sich dadurch jetzt in einer „Notlage“.[16] Tatsächlich wurde eine Neuberechnung durchgeführt, nach der sie jetzt „nur“ noch insgesamt 1.000 RM zahlen sollte.[17] Um den Forderungen nachkommen zu können, musste Clara Rose ihre noch vorhandenen Wertpapiere verkaufen.[18] 1.000 RM Strafe dafür, dass der Nazimob die Hälfte ihrer Habe geraubt oder zerstört hatte!
In der Vermögensaufstellung, die von den Finanzämtern im Zusammenhang mit der Judenvermögensabgabe gefordert wurde, wird noch eine interessante Verbindung zu einer anderen ehemaligen jüdischen Familie von Bad Ems erkennbar. Eugen Goldfisch, seine Frau Lina und der Sohn Manfred hatten die Stadt, in der sie seit etwa 1910 das koschere Hotel und Restaurant „Löwenstein“ führten, bereits 1936 verlassen. Bisher ist nicht bekannt, ob Clara Rose in diesem Hotel, das in der Adolf Hitler Str. 22 in unmittelbarerer Nachbarschaft zum ‚Haus Algier’ gelegen war, einmal selbst gewohnt hatte. Es muss aber in jedem Fall eine engere Verbindung zu dem aus Süddeutschland stammenden jüdischen Hotelier gegeben haben, denn – so ist ihrer Vermögenserklärung zu entnehmen – sie hatte ihm an einem nicht bekannten Zeitpunkt ein größeres Darlehen gewährt.[19] Es mag Zufall sein, aber die Eltern von Eugen Goldfisch, wohnten früher zumindest zeitweise in Stuttgart, der Heimatstadt von Clara Rose. Dort war der ältere Bruder von Eugen, Alfred Goldfisch, geboren worden. Eugen Goldfisch selbst war in Ulm zur Welt gekommen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Familien Fraenkel und Goldfisch sich von Stuttgart her kannten oder zumindest die gemeinsame Herkunft zum Anknüpfungspunkt für eine spätere Freundschaft wurde.[20] Vielleicht war diese Verbindung sogar der Grund gewesen, weshalb sie überhaupt nach Bad Ems gekommen war.
Nach ihrem Umzug nach Wiesbaden war Clara Rose bei ihrer Schwester Lydia und ihrem Schwager Hermann Aron in der Viktoriastr. 39 untergekommen. Diese waren vermutlich bereits 1937 aus Recklinghausen zugezogen.[21] Das schöne, aber nicht mondäne Haus lag im östlichen Villenviertel am Bierstadter Hang und gehörte einmal jüdischen Geschwistern Weis, die bisher dort noch gewohnt hatten, inzwischen aber ausgewandert waren.[22]
Anfang Juli 1940 wurde die Wohngemeinschaft mit ihrer Schwester und dem Schwager aufgelöst. Die Gründe dafür sind nicht bekannt, können aber vermutet werden. 1939 war das Haus, das nach einer Taxierung 1940 einen Wert von 33.000 RM hatte, versteigert worden und hatte für 28.000 DM den Besitzer gewechselt.[23] Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass der neue Eigentümer keine Juden mehr in seinem Haus duldete und ihnen die Mietverträge gekündigt hatte. Lydia und Hermann Aron zogen am 3. Juli 1940 in das Judenhaus Oranienstr. 60, wo sie bis zu ihrer Deportation blieben. Clara Rose fand keinen Ort mehr, an dem sie in all der Bedrängnis wenigstens Ruhe hätte finden können. Es begann für sie eine zweijährige Odyssee durch drei verschiedene Judenhäuser. Zunächst fand sie allerdings noch einmal für kurze Zeit eine Unterkunft in einem Nichtjudenhaus. Nach ihrem Auszug aus der Viktoriastraße am 1. Juli 1940 konnte sie für zwei Monate am Sedanplatz 5 als Untermieterin bei den Geschwistern Adelheid und Henriette Kneip im zweiten Stock einziehen.[24] Im Juni hatte ihr die Devisenstelle noch in die Victoriastr. 39 die Aufforderung geschickt, eine Vermögenserklärung und eine Aufstellung ihrer Lebenshaltungskosten abzuliefern. Möglicherweise hatte sie die Aufforderung nicht mehr ereicht oder sie war beim Umzug verlegt worden. Auf jeden Fall drohte man ihr Haft an, sollten die geforderten Unterlagen nicht umgehend zurückschickt werden.[25] Dem ausgefüllten Formular ist zu entnehmen, dass sie zu dieser Zeit noch ein Sparkassenguthaben von knapp 150 RM und Wertpapiere von 2.000 RM besaß. Daneben bestand noch die Darlehensforderung über 600 RM an Eugen Goldfisch. Für sich selbst benötigte sie 45 RM Miete und 120 RM für den übrigen Unterhalt. 25 RM schickte sie monatlich an ihren Bruder in Berlin, der zu dieser Zeit dort in der Jagowstr. 4 wohnte.[26]
Ihre nächste Adresse war das große Judenhaus in der Herrngartenstr. 11. Hier war sie am 31. August 1940 einquartiert worden. Als die NSDAP-Block- und Zellenwarte im Spätherbst 1941 aufgefordert worden waren, die noch in Wiesbaden wohnenden Juden aufzuspüren, meldete die Zelle 03, dass Clara Rose in ihrem Bezirk in der Herrngartenstr. 11 wohne.[27]
Angesichts der großen Zahl der dort einquartierten Juden muss man davon ausgehen, dass die Verhältnisse sehr beengt gewesen sein müssen. Wo und mit wem sie da zusammen wohnte, ist nicht mehr feststellbar.
Am 25. März 1942 zog sie erneut für etwa ein Vierteljahr in das ehemalige Jüdische Schwesterwohnheim in der Geisbergstr. 24. Das Haus fungierte eher als eine Art Sammelstation vor der Deportation. Fast 40 Bewohner waren hier zuletzt gemeldet, bevor sie in die Züge stiegen, die sie der Vernichtung zuführten. Dass Clara Rose nicht auch zu diesen gehörte, ist nicht wirklich nachzuvollziehen. Für die Deportation am 10. Juni 1942 war sie schon zu alt, hier sollten, so war die Vorgabe von Eichmann, nur jüngere, möglichst arbeitsfähige erfasst werden. Mit diesem Transport war aber Platz in anderen Judenhäusern geschaffen worden. Das mag der Grund gewesen sein, dass man einzelne aus dem übervollen Haus am Geisberg holte und diese in solche freigewordenen Judenhauswohnungen schickte. Clara Rose musste am Tag nach der Juni-Deportation wahrscheinlich deshalb am 11. Juni noch in das Judenhaus in der Hallgarter Str. 6 einziehen. Im Hinterhaus im dritten Stock, wo auch das Ehepaar Berthold und Klothilde Haas, Jakob Gottschall und Lina Levy wohnten, erhielt auch sie ein Zimmer.[28]
An dem letzten Wochenende des August mussten die Genannten, aber auch etwa 350 weitere Wiesbadener Juden sich in der Synagoge in der Friedrichstraße einfinden und die Formalitäten über sich ergehen lassen, mit denen ihnen die letzten Reste ihres Eigentums geraubt wurden. Am 1. September verließ der Zug den Bahnhof und brachte Clara Rose, ihre Mitbewohner aber auch ihre Schwester Lydia und ihren Schwager Hermann Aron mit viele anderen zumeist älteren Juden über Frankfurt nach Theresienstadt. Im Zimmer 4 des Gebäudes mit der Nummer 4320 ist sie in Theresienstadt nicht einmal drei Wochen später am 19. September 1942 an einem Darmkatarrh verstorben.
Stand: 22. 08. 2019
Anmerkungen:
1] Zum Schicksal von Lydia und ihrer Familie siehe unten im Kapitel zum Judenhaus Oranienstr. 60.
[2] Der Name der Eltern ist in der Geburtsurkunde von Lydia Fraenkel genannt, HHStAW 518 53570 (16), der Name des Bruders wird von Clara Rose in einem Formular an die Devisenstelle Frankfurt notiert, siehe HHStAW 519/3 5954 (4). Dass Clara und Lydia Schwestern waren, bezeugt Lydias Tochter Gertrud Schwabe, geborene Fraenkel, im Entschädigungsantrag für ihre Mutter und Tante, siehe HHStAW 518 53570 (3).
[3] HHStAW 685 658 (6, 10).
[4] Ebd. (1), Einkommensteuererklärung 1939.
[5] Ebd. (6), Einkommensteuererklärung 1941.
[6] Siehe Sarholz, Hans-Jürgen, Geschichte der Stadt Bad Ems, Bad Ems 1994, S. 284 ff.
[7] Ebd. S. 292. Sarholz schreibt ergänzend dazu „Eine recht beachtliche Minderheit unter den Badegästen bildeten die Juden. Der Zuspruch jüdischer Kurgäste ist wohl dadurch zu erklären, dass ihnen der Besuch bayrischer Bäder, vor allem Kissingen, unter Ludwig I., verleidet worden war. Allmählich fanden sich auch Juden aus Ost- und Westeuropa ein, so dass Ems, sozusagen als Nebeneffekt, zu einem Treffpunkt für Ost- und Westjuden wurde. Begünstigt wurde der Zustrom durch entsprechende Einrichtungen: jüdische Hotels und Gaststätten und gegen Ende des 19. Jahrhunderts das jüdische Kurheim Heilquelle. Ein altes jüdisches Gasthaus war die ‚Stadt Wiesbaden’, später kam das Hotel Wolf hinzu.“
[8] Hotelpreise lagen in Bad Ems laut dem Bad Emser Wohnungsanzeiger von 1929 für ein Bett bei 2,50 bis 3,50 pro Nacht auch in besseren Hotels, mit Verpflegung bei 5 bis 9 RM. Die Unterkunft in Pensionen wird entsprechend günstiger gewesen sein.
[9] Bei der Kommunalwahl am 12.3.1933 erhielten die NSDAP und der mit ihr verbündete ‚Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot’ 10 der insgesamt 18 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung, Sarholz, Bad Ems, S. 489.
[10] Zit. nach ebd. S. 510. Die Verordnung der Reichsregierung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben, der im Prinzip das gleiche Ziel verfolgte, wurde erst am 3.12.1938 erlassen, siehe RGBl I S. 1580.
[11] Nach Dieterichs logierten 1937 noch 355 jüdische Kurgäste in Bad Ems, siehe Dieterichs, Wilfried, Die Stadt. Herrenjahre in der Provinz. Bad Ems 1914-1964, Weilburg 2013, S. 159.
[12] Ebd. 169. Seit August 1937 gab es bereits die nationalweit gültige „Isolierungsrichtlinie“, nach der Juden nur noch in jüdischen Hotels untergebracht werden durften und sie in Kureinrichtungen, etwa Trinkhallen, nur noch zu bestimmten Zeiten Zutritt hatten.
[13] Seibert, Hubertus, Verlauf und Auswirkungen der ‚Reichskristallnacht’ im Raum Bad Ems am 9./10. November 1938, Bad Emser Hefte 74 / 1988, S. 10 ff. Siehe auch Sarholz, Bad Ems, S. 512 ff. Sehr umfassend hat sich Dieterichs dieses Pogroms angenommen. Anhand vieler Zeitzeugenaussagen versuchte er die Ereignisse dieser Nacht zu rekonstruieren, die in den Nachkriegsjahren weitgehend totgeschwiegen wurden. Viele, die damals noch als Kinder die brutalen Ausschreitungen miterlebten, konnten die Bilder je vergessen. Und es waren eben nicht nur – wie auch in anderen Städte und Gemeinden im Nachhinein immer kolportiert –Auswärtige, Anführer waren die heimischen Geschäftsleute, Lehrer und städtische Bedienstete. Wirklich gesühnt wurden die Taten nicht, zumal – so die Vermutung von Dieterichs – die Richter, bereits zu NS-Zeiten im Dienst, kein wirkliches Interesse an einer Aufklärung hatten. Siehe Dieterichs, Die Stadt, S. 170-193.
[14] Sarholz, Bad Ems, S. 516.
[15] HHStAW 685 658 (3).
[16] Ebd. (4, 6).
[17] Ebd. (7).
[18] HHStAW 519/3 5954 (o.P.). Für die Zahlung der zweiten Rate ist das belegt.
[19] HHStAW 685 658 (7). Wann dieses Darlehen vereinbart worden war und welchen Umfang es ursprünglich hatte, ist nicht bekannt. In den leider unvollständigen Steuerakten taucht das Darlehen erstmals 1938 in Höhe von 1.038 RM, Verzinsung 6 Prozent, auf, 1940 betrug die Forderung noch 600 RM.
[20] Eugens Bruder Alfred Goldfisch wiederum hatte 1905 Frieda Heumann, die ältere Schwester von Eugens Frau Lina geheiratet. Zum Zeitpunkt der Hochzeit lebte Alfred als Kaufmann in Wiesbaden. Das Paar hatte sich aber nicht in Wiesbaden niedergelassen, sondern war nach Köln gezogen, wo dann auch Eugen Goldfisch 1936 nach seiner Flucht vor den ständigen antisemitischen Anfeindungen in Bad Ems in der Cäcilienstr. 18-22 eine erste Unterkunft fand. Zur Familie Heumann aus Laupheim bei Ulm und ihrer Verbindung zur Familie Goldfisch siehe http://www.gedenk-buch.de/KAPITEL/47%20HEUMANN%20Heinrich.htm. (Zugriff: 3.7.2019) Das Ehepaar Eugen und Lina Goldfisch wurde am 28.7.1942 von Köln nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet, ihr Sohn Manfred, genannt Freddy, überlebte. Er hatte Bad Ems 1934 verlassen, war zwar in der Reichspogromnacht in Königsberg verhaftet worden, dann aber mit der Verpflichtung Deutschland umgehend zu verlassen über Trinidad nach Australien ausgewandert. Über seine Kindheitserinnerungen an Bad Ems hat er eine kleine Schrift verfasst, Goldfish, Manfred Die Schulzeit von Freddy Karpf, Bad Ems 2011. Seine Tochter Su Goldfish wiederum ist dabei einen Film über das Schicksal der Familie zu erstellen, Titel „The last Goldfisch“, siehe dazu https://www.swr.de/swr2/stolpersteine/menschen/eugen-goldfisch-bad-ems/-/id=12117596/did=12459840/nid=12117596/k17plo/index.html. (Zugriff: 3.7.2019).
Alfred und Frieda Goldfisch waren bereits am 4.3.1942 ebenfalls von Köln aus in das Ghetto Lotz verbracht worden, wo sie zu einem nicht bekannten Zeitpunkt umgekommen sind.
[21] Sie sind 1938 erstmals im letzten Wiesbadener Adressbuch der Vorkriegszeit eingetragen. In einer Vermögenserklärung an die Devisenstelle Frankfurt vom 27.7.1928 geben sie die Viktoriastr. 39 als Adresse an. Aber bereits im Februar 1937 hatte das Finanzamt Düsseldorf, zuständig für den bisherigen Wohnort Recklinghausen, beim Finanzamt Bad Kreuznach angefragt, ob Hermann Aron dort wohne. Er soll – so heißt es in dem Schreiben „dort Viktoriastr. 44“ wohnen. Da es aber sonst keine Dokumente des Finanzamt Bad Kreuznach in der Akte gibt, wird es sich vermutlich um einen Irrläufer mit nur vagen Angaben handeln und damals schon ihre neue Adresse die Victoriastr. 49 in Wiesbaden gewesen sein. HHStAW 685 18a (o.P.) und HHStAW 685 85c (3 ff.),
[22] Laut jüdischem Adressbuch wohnten dort Heinrich Weis, der dort auch ein Chemielabor betrieb, Jenny und Betty Weis. Betty Weis war 1936 nach Südafrika und Heinrich Weis 1939 nach Großbritannien ausgewandert.
[23] In einer Antwort auf eine Umfrage des Kreiswirtschaftsberaters der NSDAP vom Sommer 1941 zu Überprüfung sogenannter „Entjudungsgeschäfte“, meldete die Ortsgruppe Wiesbaden-Ost im August 1941 27 solcher Immobilienübertragungen seit 1933, u.a. die der „Victoriastr. 39, Besitzer Weis“, an den Neueigentümer Böhnke. Generell wurde festgestellt: „Inwieweit hierbei evtl. unzulässige Gewinne erzielt worden sind, entzieht sich meiner Kenntnis.“ HHStAW 483 10127 (16). Siehe zum Hintergrund dieser Umfrage des Kreiswirtschaftsberaters das Kapitel ‚Raub und Verwertung der jüdischen Immobilien’ oben.
[24] Eintrag auf der Gestapo-Karteikarte, dazu HHStAW 519/3 5954 (4). Die Geschwister Kneip wurden am 1.9.1942 deportiert und in Treblinka ermordet.
[25] Ebd. (3). Die Rücksendung des Formulars erfolgte dann erst am 5. August 1940.
[26] Ebd. (4).
[27] HHStAW 483 10127 (33, 40).
[28] Liste X1, laufende Nummer 92.
Stand: 07. 07. 2019