Wie Rosa Meier war auch Flora Wieseneck von Beruf Dienstmädchen. Bis zu ihrer Ermordung im Vernichtungslager Sobibor hatte sie bereits eine lange Leidensgeschichte hinter sich gebracht. Eine Krankenakte der Psychiatrie Eichberg – mehr ist über ihr Leben nicht erhalten geblieben – gibt wenigstens einen kleinen Einblick in ihr Schicksal.
Geboren wurde sie am 26. Juni 1894 in Frankfurt als Tochter von Simon Wieseneck und seiner Frau Thekla, geborene Fürth.[1] Das Paar, das am 9. März 1888 getraut worden war, hatte insgesamt vier Kinder, von denen Flora die jüngste war.[2] Die älteste Tochter war die am 10. Februar 1889 – wie auch alle anderen Kinder – in Frankfurt geborene Recha. Die gelernte Krankenpflegerin sollte für Flora zumindest nach dem Tod der Eltern die wesentliche Bezugsperson aus der Familie bleiben, die auch den Kontakt zu den verschiedenen Einrichtungen aufrechterhielt, in die Flora im Laufe ihrer Erkrankung eingeliefert wurde.
Ihrem Bruder Moritz, der am 29. August 1890 schon wenige Wochen nach der Geburt verstarb, folgte am 3. Dezember 1992 ein weiterer Bruder mit dem Namen Ernst.[3] Nachdem Simons Frau Thekla am 22. Februar 1896 im Alter von 44 Jahren verstarb, heiratete er noch im selben Jahr am 21. Juli Bertha Collin, geboren am 2. Juni 1867 in Offenbach. Auch aus dieser Ehe ging noch ein Kind hervor, Irma wurde am 1. Oktober 1897 geboren.[4] Nachdem auch seine zweite Frau am 2. Februar 1896 verstarb, ging
Simon Wieseneck noch eine dritte Ehe mit einer Lisette ein, die aber kinderlos blieb. Er selbst starb am 22. Mai 1920 im Alter von 68 Jahren in Frankfurt. Die älteste Tochter Recha hatte nur wenige Tage davor, am 17. Mai 1920 in Frankfurt den Dekorateur Joseph Jeidel geheiratet.[5]. Für Joseph Jeidel war es die zweite Ehe. Er hatte am 3. Juli 1903 in Wandsbek bei Hamburg bereits die von dort stammende Selma Seligmann geehelicht und aus dieser Ehe den Sohn Walther, geboren am 24. Mai 1905, mit in die zweite Ehe gebracht.[6] Auch Rechas Bruder Ernst Wieseneck war im gleichen Jahr, am 11. März 1920, eine Ehe eingegangen. Sein Frau Margarete Elisabeth Desser, geboren am 7. Dezember 1898, stammte aus einer Offenbacher Kaufmannsfamilie.[7]
Laut ihrer Krankenakte war Flora Wieseneck erstmals 1922 in der Klinik Eichberg aufgenommen worden. Sie war eine von acht „Eilfällen“, deren Überführung die Frankfurter „Anstalts-Deputation“ im August beantragt und für die sie auch die Pflegekosten vorläufig übernommen hatte. Mehrfach wurde sie in der Folgezeit wieder entlassen und neu aufgenommen. Ein Amtspfleger aus Hattenheim hatte sich schon nach der ersten Einlieferung an Recha Jeidel mit der Bitte gewandt, „eine geeignete Stellung und Aufsicht für ihre Schwester zu beschaffen.“[8] Aber – so schrieb er später erneut an die Klinik – weder diese, noch der Bruder seien in der Lage bzw. bereit, die Kranke, die nach Meinung des Bruders „bösartig und unerträglich“ sei, bei sich aufzunehmen.[9] Auch weitere Versuche, sie außerhalb unterzubringen, scheiterten letztlich immer wieder. Allerdings hatte die Schwester sie zwischenzeitlich für einen „Urlaub“ mindestens einmal zu sich kommen lassen.
1925 war Flora dann doch aus der Klinik entlassen worden und hatte eine Arbeit bei einem Igstadter Bauern aufgenommen, über deren Dauer aber nichts bekannt ist.[10] Seit dem 26. Oktober 1926 war sie in Wiesbaden in der Bärenstr. 5 polizeilich gemeldet,[11] wurde aber schon wenige Tage darauf von den Städtischen Kliniken Wiesbaden erneut in die Psychiatrie auf dem Eichberg bei Kiedrich überstellt. Ende 1926 kam sie dann in einer Hattersheimer Pflegefamilie unter.
Sowohl auf dem Eichberg selbst als auch bei Aufenthalten außerhalb, so z. Bsp. für kurze Zeit im „Hotel Rose“ in Rüdesheim, arbeitete sie meist als Küchenhilfe, musste aber nach Aussagen der Pflegerinnen immer genau instruiert und zur Arbeit angehalten werden. In einem Brief der Klinik vom 10. Februar 1925 an den Magistrat Frankfurt war die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ gestellt worden,[12] eine Diagnose, die angesichts der Euthanasie-Aktionen der kommende Jahre eigentlich einem Todesurteil gleichkam.
Dass es ihr dennoch gelang, zumindest nahezu zehn Jahre der Nazizeit zu überleben, grenzt an ein Wunder, zumal ihre Geschwister auf Grund der zunehmenden Verfolgung Mitte der dreißiger Jahre Deutschland und damit auch sie verlassen hatten. Aber auch von den Geflohenen konnten am Ende nur wenige ihr Leben retten. Während es Ernst Wieseneck und seiner Frau Margarete gelang, den Nazis über England tatsächlich zu entkommen und 1939 in die USA auszureisen,[13] geriet Recha Jeidel mit ihrer Familie in Holland in die Fänge ihrer Verfolger. Laut Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz waren sie zu einem nicht bekannten Datum dorthin geflohen und hatten zumindest zuletzt in Amsterdam gelebt. Am 30 April 1943 wurden sie verhaftet und im Lager Westerbork interniert. Am 20 Juli brachte ein Transport sie in die Todesfabrik Sobibor, wo sie mit Sicherheit unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden.[14]
Zu diesem Zeitpunkt war ihr Sohn bzw. Stiefsohn Walther bereits verhaftet und deportiert worden. Auch er war vom Sammellager Westerbork am 28. August 1942 nach Auschwitz gebracht worden. Begleitet wurde er von seiner ebenfalls aus Frankfurt stammenden Frau Alice Paula Seligmann, die er vier Wochen zuvor noch im niederländischen De Bilt geheiratet hatte.[15] Sein Todesdatum, wie auch das seiner Frau, ist im Gedenkbuch des Bundesarchivs mit dem 30. April 1943, dem Ankunftstag in Auschwitz, angegeben.
Ruth, die gemeinsame Tochter von Recha und Josef Jeidel, die mit dem aus Liegnitz stammenden Alfred Braun verheiratet war und vor ihrer Flucht nach Holland in Bad Kreuznach lebte, wurde nach der deutschen Besetzung des Landes ebenfalls verhaftet und am 3. Juli 1943 vom Lager Vught-Hertogenbusch / Herzogenbusch nach Westerbork gebracht. Am 31. August 1943 verließ ihr Zug das Lager mit dem Ziel Auschwitz, wo sie selbst vermutlich unmittelbar von der Rampe aus in die Gaskammer getrieben wurde. Ihr Mann, der mit ihr deportiert worden war, überlebte dagegen Auschwitz bis zum 31. März 1944.[16]
Die Halbschwester Irma Wieseneck hingegen war bereits 1938 von Rotterdam aus in die USA ausgereist. Sie erreichte am 24. September den sicheren Hafen von New York.[17]
Eine solche Möglichkeit zur Rettung hatte sich für Flora Wiesenek nicht ergeben. Die Zurückgebliebene wohnte laut Eintragungen in den Wiesbadener Adressbüchern mindestens ab 1934/35 bis 1938 in der Rheinstr. 80 im dritten Stock. Anfangs verfügte sie sogar über einen Telefonanschluss. Ob sie hier in Diensten stand oder nur ihre Wohnung hatte, ist nicht bekannt. Laut der Krankenberichte in ihrer Akte war sie aber eigentlich nicht fähig alleine zu leben, sie bedurfte vielmehr ständiger Betreuung.[18]
Die Kranken- und Pflegekosten waren im Allgemeinen von öffentlichen Kassen, Frankfurt oder Wiesbaden, übernommen worden.[19] Zumindest in den zwanziger Jahren hatte sie durch ihre Arbeit als Küchenhilfe kleine Beträge für ihren Lebensunterhalt auch selbst verdienen können. Dennoch wird sie auch weiterhin auf Gelder der öffentlichen Fürsorge angewiesen gewesen sein.
Nach den Eintragungen in der Gestapo-Karteikarte kam sie am 1. November 1940 in die Adelheidstr. 94. Der Zeitpunkt legt einen erzwungenen Wohnungswechsel nahe, allerdings könnte es auch sein, dass sie zusammen mit Florine Strauss, die am gleichen Tag einzog, gekommen war. Vielleicht hatte die sie auch bereits zuvor in ihre Obhut genommen, aber das müssen angesichts der dürftigen Aktenlage reine Mutmaßungen bleibe.[20]
Über Floras Leben im Judenhaus ist nichts bekannt. Mit mindestens elf anderen Bewohnern der Adelheidstr. 94 trat sie am 10. Juni 1942, somit ein Jahr vor ihrer Schwester Recha, den Weg in das Vernichtungslager Sobibor an. Wie die anderen – von den etwa 180 bis 250 arbeitsfähigen Männern abgesehen – wurde sie vermutlich unmittelbar nach der Ankunft in Lublin weiter in die Gaskammern von Sobibor überführt und ermordet.[21]
Veröffentlicht: 13. 11. 2017
Letzte Änderung: 12. 01. 2021
Anmerkungen:
[1] Geburtsregister der Stadt Frankfurt 1738 / 1894.
[2] Siehe auch zu den folgenden Daten die Familienkarte von Simon Wieseneck, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt ISG_A.12.02_W17426.
[3] Geburtsregister der Stadt Frankfurt 4815 / 1892.
[4] Geburtsregister der Stadt Frankfurt 4857 / 1897.
[5] Heiratsregister der Stadt Frankfurt 749 / 1920. Josef Jeidel war am 14.2.1874 in Pfungstadt geboren worden. Seine Eltern waren Ferdinand und Karolina Jeidel geborene Strauss. Aus der Ehe ist zumindest eine Tochter Ruth, geboren am 13.9.1921 in Frankfurt, hervorgegangen.
[6] Heiratsregister Wandsbek 112 / 1903. Selma war am 1.9.1877 als Tochter von Jacob und Johanna Seligmann geboren worden, Geburtsregister Wandsbek 482 / 1877. Ob die Ehe geschieden wurde oder durch den Tod der Ehefrau aufgelöst wurde, ist nicht bekannt. Aus der Ehe war zuvor bereits am 22.2.1904 in Frankfurt ein Mädchen namens Berta geboren worden, das aber einen Tag später verstarb. Die Geburtsangabe von Walther beruht auf dem Eintrag im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz.
[7] Heiratsregister der Stadt Frankfurt 291 / 1920. Die Eltern waren Leib und Rosalie Desser, geborene Collin.
[8] HHStAW 430/1 7912 (17).
[9] Ebd. (18).
[10] Wie sich aus Kostenabrechnungen erschließen lässt, muss sie aber etwa einhalbes Jahr von Juli bis Ende November 1925 dort in Diensten gewesen sein, siehe ebd. (o.P.) Briefe vom 19.7.1925 und vom 24.11.1925.
[11] Ebd. (o.P.) Polizeiliche Anmeldung in Wiesbaden vom 18.10.1926.
[12] Ebd. (o.P.) In diesem Schreiben wird zudem festgestellt, dass eine Krankenhauspflege „wegen ihrer „Unfähigkeit zu selbständiger Lebensführung auf nicht absehbare Zeit“ weiterhin nötig sei.
[13] https://www.ancestry.de/interactive/2997/41039_b001537-00421?pid=146531059&backurl=https://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?indiv%3D1%26dbid%3D2997%26h%3D146531059%26tid%3D%26pid%3D%26usePUB%3Dtrue%26_phsrc%3DryV403%26_phstart%3DsuccessSource&treeid=&personid=&hintid=&usePUB=true&_phsrc=ryV403&_phstart=successSource&usePUBJs=true. (Zugriff: 3.1.2021).
[14] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de888417. (Zugriff: 3.1.2021).
[15] https://hetutrechtsarchief.nl/onderzoek/resultaten/archieven?mivast=39&miadt=39&miaet=54&micode=463-595-02&minr=29440216&miview=ldt. (Zugriff: 3.1.2021).
[16] Siehe zu den Angaben das Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de847645 und https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1573085. (Zugriff: 3.1.2021). Auf der Inhaftierungskarte von Recha Jeidel, https://collections.arolsen-archives.org/G/SIMS/01020402/0068/113134026/001.jpg https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=4253351&ind=1. (Zugriff: 25.4.2020).
[17] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2280/images/47294_302022005557_0585-00245?treeid=&personid=&hintid=&queryId=d79df5b688ebe18ab0b5668d2d20890c&usePUB=true&_phsrc=Ekt931&_phstart=successSource&usePUBJs=true&pId=6699399. (Zugriff: 3.1.2021).
[18] Im Jüdischen Adressbuch von 1935 war sie die alleinige Bewohnerin jüdischen Glaubens in dem Haus.
[19] In Frankfurt gab es neben der bereits erwähnten Recha Jeidel, geb. 10.2.1889, Mädchenname Wieseneck, eine weitere Recha Wieseneck, allerdings mit dem Geburtsdatum 4.11.1888, die von Beruf Krankenschwester war und im dortigen Jüdischen Krankenhaus arbeitete. In der Chronik über die Pflegegeschichte ist sie erwähnt mit einem Verweis auf Wiesbaden. Es heißt dort „19.11.1938 – 27.06.1942 Rückkehr aus Wiesbaden in der Gagernstr. 36 (jüdisches Krankenhaus)“siehe , http://www.juedische-pflegegeschichte.de/recherche/?dataId=339869319664719&attrId=339870278297656&opener=131724511929199&id=131724555879435&sid=5a50b4885233ed9355a8f52190b62927#A339870278297656. Es könnte sein, dass diese vermutliche Verwandte bis 1938 die Pflege von Flora übernommen hatte. Um die Schwester selbst wird es sich nicht gehandelt haben, nicht nur wegen des unterschiedlichen Geburtsdatums, sondern auch wegen des anderen Schicksals. Die zuletzt erwähnte Recha wurde am 27.6.1942 unmittelbar von Frankfurt aus deportiert. Nach Auskunft des Projekts „Jüdische Pflegegeschichte“ in Frankfurt vermutet man, dass Recha in einem Einzeltransport auf Anweisung der „Stapo“ möglicherweise in das Frauen-KZ Ravensbrück überstellt wurde. Ein Eintrag für sie ist im Gedenkbuch des Bundesarchivs nicht vorhanden.
[20] Möglicherweise gibt es eine ferne verwandtschaftliche Beziehung, denn die Schwiegermutter von Recha Jeidel, Karolina Jeidel, war eine geborene Strauss. Angesichts der Häufigkeit dieses Namens ist das aber ein sehr vages Indiz.
[21] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 214, dazu https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de992262. (Zugriff: 3.1.2021).