Das Leben im Haus Grillparzerstr. 9 wurde eigentlich ab 1939 von drei festen Wohnparteien geprägt. Neben den ehemaligen und neuen Eigentümern, den Steinbergs und den Schwestern Strauss, gehörten seit 1939 der frühere Kaufmann Ludwig Karlebach und seine Tochter Sophie dieser Hausgemeinschaft an.[1] Sie bewohnten fast drei Jahre die drei Mansardenräume im Obergeschoss.
Erst ab Februar 1942 änderten sich die Lebensverhältnisse im Haus und erst ab diesem späten Zeitpunkt kann man von einem typischen Judenhaus sprechen. Innerhalb kurzer Zeit kamen zu den vorhandenen sechs jüdischen Bewohnern fünf weitere hinzu, mit denen man die vorhandenen Räumlichkeiten teilen musste. Es waren Clara und Elsa Merten, Julie Blumenthal, Berta Blüthenthal und zuletzt das Ehepaar Arioni. In dem folgenden halben Jahr wurde das Haus zu dem besagten „Totenhaus“, in dem sechs der Bewohner sich das Leben nahmen. Die übrigen verloren es in einem der Todeslager im Osten.
Zu ihnen gehörte auch Sophie Karlebach. Sie bestieg am 10. Juni 1942 den Zug mit der Nummer DA 18 nach Frankfurt, der einen Tag später von dort aus 1253 Insassen weiter zu ihrem vorläufigen Zielort Lublin brachte. Zwei Tage dauerte die Fahrt. Dort angekommen wurde eine Gruppe von etwa 200 bis 250 Männern zu einem Arbeitseinsatz nach Majdanek, die Übrigen nach Sobibor überführt. Von dieser Gruppe, zu der auch Sophie Karlebach gehörte, hat keiner überlebt.[2] Ihr Todesdatum ist nicht bekannt, aber man muss davon ausgehen, dass sie bald nach ihrer Ankunft ermordet wurde.
Die am 10. Dezember 1909 in Wiesbaden geborene Sophie hatte bis dahin zusammen mit ihrem Vater Ludwig Karlebach die drei Mansardenzimmer in der Grillparzerstraße bewohnt. Wie dieser dem Finanzamt mitteilte, war er bisher auch finanziell auf die Tochter angewiesen, die als Fabrikarbeiterin einen minimalen Lohn von 50 RM monatlich verdiente. Es kann sich dabei nur um einen Zwangsarbeiterlohn gehandelt haben. Wichtiger für die Lebenshaltung wird die Erbschaft gewesen sein, die Sophie von einer Großmutter zugedacht worden war. [3]
Als seine Tochter verschleppt wurde, blieb der alte Mann allein zurück. Auch wenn es zu der Serie von Selbstmorden in diesem Hause passen würde, so entspricht die Angabe seiner Nichte Sofie Baumgart in der entsprechenden ‚Page of Testimony’ im Archiv von Yad Vashem, er habe sich aus Gram über den Abtransport seiner Tochter ebenfalls umgebracht,[4] nicht den Tatsachen. Man hatte ihn nach den Aufzeichnungen der Gestapo am 17. August 1942, zwei Wochen vor seiner eigenen Deportation, sogar noch einmal in das Judenhaus in der Oranienstr. 60 umquartiert.[5]
Veröffentlicht: 28. 04. 2018
Letzte Änderung: 29. 04. 2020
Anmerkungen:
[1] Die Mutter Martha Karlebach war bereits 5.2.1934 verstorben.
[2] Gottwaldt, Schulle, Judendeportationen, S. 214.
[3] HHStAW 519/3 3298 (11).
[4]https://namesfs.yadvashem.org/YADVASHEM/04032005_349_2908/169.jpg.
[5] Siehe zu Ludwig Karlebach und seiner Familie den entsprechenden Abschnitt im Kapitel Oranienstr. 60.