Nanny Rothschild


Felix Kaufmann, Jenny Kaufmann, Juden Wiesbaden
Das ehemalige Judenhaus Adolfsallee 30 heute
Eigene Aufnahme
Adolfsallee 30 Judenhaus
Lage des ehemaligen Judenhauses
Felix Kaufmann, Jude, Wiesbaden
Belegung des Judenhauses Adolfsallee 30

 

 

 

 

 


Am 2. Juni 1942 kam die Witwe Nanny Ida Rothschild in die Adolfsallee 30. Auch sie gehörte eigentlich zu den wohlhabenden Bewohnern des Hauses, wären da nicht die Nazis gewesen, die ihr zu diesem Zeitpunkt schon längst die Verfügung über ihr Vermögen entzogen hatten.

Max Moses Rothschild, Löb Nüsser, Maria Anna Nüsser, Judenhaus Wiesbaden, Adolfsallee 30
Stammbaum von Ida Nanny Rothschild, geborene Nüsser
(GDB-PLS)

Wie August Mohrenwitz so stammte auch Nanny Rothschild aus dem Fränkischen. Ihr Vater, der „Handelsmann“ Löb Süßer, geboren am 7. Mai 1847, kam aus Laudenbach,[1] ihre Mutter Maria Anna war am 7. März 1845 in Ottershausen geboren worden. Sie trug den Mädchenname Guttmann.[2] Am 30. August 1874 hatten die beiden in Würzburg geheiratet und ein Jahr später, am 20. November 1875, kam Ida Nanny als erstes von insgesamt drei Kindern zur Welt. Die beiden Söhne starben schon früh, Lazarus, geboren im September 1877 wurde nur 9 Wochen alt und der am 28. August 1880 geborene Abraham starb am 12. Mai 1888 bevor er das achte Lebensjahr vollendet hatte.[3] Ihr Vater, der später„wegen Geisteskrankheit entmündigt“ worden war, verschied am 11. September 1939 in der berüchtigten Heil- und Pflegeanstalt Werneck.[4] Die Mutter war am 7. März 1903 – vermutlich bereits ohne ihren Mann – nach Großauheim bei Hanau gezogen. Hier lebte zu dieser Zeit bereits Nanny mit ihrem Mann, dem Arzt Moses, genannt Max Rothschild, den sie am 17. August 1897 geheiratet hatte und der dort eine Arztpraxis betrieb.[5]

Der am 1. November 1872 in Angenrod unweit von Alsfeld geborene Moses Rothschild kam aus einem kleinen, aber bedeutenden Zentrum jüdischen Lebens in Hessen. Von den rund 600 Einwohnern des Ortes waren Mitte des 19. Jahrhunderts etwa vierzig Prozent jüdischen Glaubens, die zwar in einem mehr oder weniger definierten Wohngebiet ihre Häuser hatten – „Klein-Jerusalem“ genannt -, aber dennoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in völliger Harmonie mit ihren christlichen Mitbewohnern lebten – und das schon seit dem 16. Jahrhundert.[6] Besonders als Händler übten sie für die gesamte Region eine zentrale wirtschaftliche Funktion aus, von der gerade auch die christliche Bevölkerung profitierte.

Seit wann die Rothschilds in Angenrod wohnten ist nicht bekannt, denn sie hatten vermutlich erst Anfang des 19. Jahrhunderts diesen Nachname überhaupt angenommen. Als Stammvater der Familie, die sich im Laufe der Zeit in fünf verschieden ‚Stämme’ aufteilte, gilt der 1772 erstmals erwähnte Moyses David. [7] Einer der fünf Söhne von Moyses David, nämlich Isaac Rothschild, war der Großvater von Max Moses Rothschild. Der einzige Nachkomme von Isaac Rothschild, der nicht, wie die übrigen, kinderlos verstarb oder auswanderte, war der am 30. Mai 1825 geborene David Hirsch Rothschild, der Vater von Moses Max Rothschild.

David Hirsch Rothschild war einer der bereits erwähnten erfolgreichen Geschäftsleute der Region, der seit 1855 einen „Handel mit Rindvieh, Ellenwaare, Häuten und Knochen“ betrieb.[8] Im Mai 1854 heiratete er Sarah Schaumberger, die Tochter seiner Cousine. Sein Schwiegervater war zugleich Prokurist im gemeinsamen Familienunternehmen.[9] Max Moses selbst war das jüngste von insgesamt 8 Kindern des Paares.[10]

Seit 1880 gab es in Angenrod eine Volksschule, die die Kinder der unterschiedlichen Konfessionen gemeinsam besuchten. Auch für Juden auf dem Land öffneten sich damit die Türen zu den höheren Bildungsstätten, wie sie im benachbarten Alsfeld vorhanden waren. Moses Rothschild war einer von denjenigen, die diese Chance nutzten. An der Alsfelder Oberrealschule legte er die Grundlage für sein späteres Medizinstudium und für eine erfolgreiche Karriere als Arzt in Großauheim bei Hanau.[11]. Sein Bruder Hermann übernahm dagegen den elterlichen Betrieb und eröffneten ein Geschäft für „Herren- und Knaben-Confection“ in Alsfeld, in dem es auch „althessische Landestrachten“ zu kaufen gab.[12]

Max war das einzige der Kinder gewesen, das eine akademische Laufbahn beschritten hatte und wäre da nicht der Tod des einzigen 1900 geborenen Kindes Heinrich Justus, genannt Henri, im Jahr 1928 gewesen,[13] hätte man das Leben von Max und Nanny Rothschild vor der Machtübernahme der Nazis als erfolgreich, vielleicht sogar als glücklich beschreiben können.

Anfang der dreißiger Jahre verfügten die Rothschilds über ein jährliches Einkommen von mehr als 20.000 RM im Jahr, wobei etwa dreiviertel aus der beruflichen Tätigkeit als Arzt und ein Viertel aus der Verzinsung des inzwischen erworbenen Kapitals resultierte.[14] Bei der im April 1938 geforderten Vermögenserklärung gab Max Rothschild an, Papiere im Wert von 193.000 RM zu besitzen, daneben auch weitere „edle Metallgegenstände“ im Wert von ca. 2.000 RM, Versicherungsscheine ebenfalls über mehrere Tausend Reichsmark. Nannys Schmuck war zuzüglich mit knapp 5.700 RM bewertet.[15] Insgesamt ein unzweifelhaft großes Vermögen, das möglicherweise auch zum Teil auf Erbschaften aus dem väterlichen Unternehmens gründete.

Angesichts dieser – scheinbaren – materiellen Sicherheiten wird der Rückgang der Berufseinkünfte nach 1933 auf die Hälfte Max Rothschild zumindest finanziell kaum Sorgen bereitet haben, zumal er im gleichen Zeitraum die Erträge aus den Wertpapieren verdoppeln konnte.[16]

Bedrohlicher war hingegen, dass die Nazis ihn von Anbeginn unter besondere Beobachtung gestellt hatten, wie sich aus einem Bericht an das Finanzamt Hanau vom 29. März 1933 ergibt. Auf Veranlassung des dortigen NSDAP-Kreisleiters Löser, der vom Regierungspräsidenten zum Sonderkommissar ernannt worden war, wurde die Devisenbewirtschaftungsstelle Frankfurt aktiv: „Kommissar Löser teilte mit, dass ihn von Groß-Auheim alarmierende Nachrichten über eine beabsichtigte Flucht des Dr. R. zugegangen seien und er diese Mitteilung pflichtgemäß den Behörden weitergeleitet habe.“

Dieser habe sein Auto abgemeldet und außerdem Grundbesitz veräußert und zu Geld gemacht. Im Moment könne er aber nichts Näheres mitteilen, „da er persönlich die Sache noch nicht untersuchen konnte. Er wolle aber am 28./3. nachmittags den Bürgermeister in Gross-Auheim aus dem Auto (! sic) entfernen und einen neuen einsetzen. Diesen werde er beauftragen, die Angelegenheit im Auge zu behalten und ihn auf dem Laufenden zu halten.“[17]

Das Finanzamt stellte sich zu diesem Zeitpunkt noch vor Dr. Rothschild und bescheinigte ihm beste Steuerdisziplin. Zudem würde er sein Auto immer abmelden, wenn er sich für längere Zeit im Ausland befände. Die Sicherung der Reichsfluchtsteuer in Höhe von 40.000 RM wurde, wie einem Brief von Max Rothschild an das Finanzamt Wiesbaden vom 29. November 1938 zu entnehmen ist, später doch noch angeordnet.

1937 wurde die Praxis in Großauheim endgültig aufgegeben und Rothschilds zogen nach Wiesbaden in die Bierstadter Str. 32 in den ersten Stock.[18]. Sie hielten sich aber in der Folgezeit immer wieder auch für längere Phasen in Südeuropa auf, so von November 1938 bis Anfang März 1939 in Griechenland und Italien – und dies sicher nicht nur aus gesundheitlichen Gründen. In den Tagen als in Deutschland die Synagogen brannten weilten sie in Rodi in Apulien. Auf dem Briefbogen des Hotels schrieb Max Rothschild an das Finanzamt Wiesbaden, er habe aus Zeitungen erfahren, dass sie zu einer „Contribution“ herangezogen werden sollten, die 20 % ihres Vermögens ausmachen solle. Unter Bezugnahme auf die geforderte Vermögenserklärung teilte er dem Finanzamt mit, dass seine Vermögensverhältnisse dem Amt „restlos bekannt“ seien, er zur Zahlung der verlangten Beträge aber auf die Liquidierung von Wertpapieren angewiesen sei, die gegenwärtig allerdings in gesicherten Depots lägen. Er bat um die Freigabe dieser Papiere und wegen seiner Krankheit zugleich um Zahlungsaufschub.[19] Im Januar 1939 forderte der Fiskus dann von Max Rothschild die Summe von 41.200 RM als Judenvermögensabgabe.[20].

Auch wenn er schon seit längerer Zeit erkrankt war, so hat dieser Willkürakt der Machthaber sicher mit dazu beigetragen, dass Max Rothschild bei einem erneuten Kuraufenthalt am 2. März des Jahres 1939 in San Remo verstarb.[21]

Als vertraute Person war Nanny Rothschild jetzt nur noch ihre arische Haushälterin Frau Maria Fehres geblieben, die schon seit 1920, also bereits seit der Hanauer Zeit, in ihren Diensten stand. Zwischen ihr und dem Ehepaar Rothschild bestand weitaus mehr als nur ein Arbeitsverhältnis. Frau Fehres war auch geblieben, als die Anfeindungen gegenüber den Juden, wie auch den „Judenfreunden“ immer bedrohlicher wurde. Erst 1942 musste sie auf Geheiß der Gestapo ihre Stellung bei Frau Rothschild aufgeben. Sogar ein Aufenthaltsverbot für Wiesbaden war ihr erteilt worden, damit sie nicht mehr, wie zuvor geschehen, Frau Rothschild noch mit Lebensmittel versorgen konnte.[22]

Wegen dieser Haltung hatten die Rothschilds noch zusammen bereits 1936 ihre Haushälterin testamentarisch zur Alleinerbin gemacht[23] und noch 1941 hat Nanny Rothschild ihr – sicher ahnend, dass der „NS-Rechtsstaat“ sich wenig um jüdische Testamente kümmern würde – ihr vorab schon 10.000 RM in Form von Wertpapieren geschenkt.[24]

Unklar ist, ob Frau Fehres zumindest zunächst auch noch mit ihr zusammen wohnte, als diese gezwungen wurde, ab Juni 1940 Quartier in drei unterschiedlichen Judenhäusern zu nehmen. Ihre erste Station nach der Bierstadter Straße war das Judenhaus Kaiser-Friedrich-Ring 72. Knapp ein Jahr später, am 8. Mai 1941 musste sie erneut umziehen, diesmal in das Judenhaus Bahnhofstr. 25.

Judenhaus Adolfsallee 30 Wiesbaden, Max Moses Rothschild, Löb Süsser, Maria Anna Guttmann
Grabstein für Ida Nanny Rothschild auf dem Jüdischen Friedhof Platter Straße in Wiesbaden
Eigene Aufnahme

Die letzten Wochen ihres Lebens verbrachte sie in der Adolfsallee 30. Nachrichten oder andere Informationen über diese Zeit in den verschiedenen Judenhäusern liegen nicht vor, nicht einmal behördliche Schreiben. Es ist als ob das Leben der zuvor so aktiven, weitgereisten Frau allmählich erloschen sei. Nur in der Steuerakte ist mit dem Datum 7. September 1942 noch ein Schreiben des Finanzamts Wiesbaden enthalten, mit dem die Freigabe der Sicherungsanordnung für die Reichsfluchtsteuer angeordnete wurde. Sie war obsolet geworden. Nanny Rothschild hatte einen Fluchtweg gefunden, den auch eine Fluchtsteuer von 40.000 RM nicht verhindern konnte. Als in Wiesbaden die Liste für den Septembertransport nach Theresienstadt bekannt wurde, auf der auch ihr Name stand, nahm sie sich in der Nacht vom 20. zum 21. August 1942 in ihrem Zimmer in der Adolfsallee 30 das Leben. „Selbstmord mit unbekanntem Gift“ heißt es auf dem Eintrag im Sterberegister.[25]

 

 

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Anmerkungen:

 

[1] In der weiteren Umgebung von Würzburg gibt es mehrere Laudenbach,  im Familienstandszeugnis ist nicht erwähnt, um welches Laudenbach es sich handelt. HHStAW 518 482383 (19). Die Eltern von Löb Süßer waren schon bei Anlage des Familienstandszeugnisses unbekannt.

[2] Im Sterberegistereintrag anlässlich des Todes von Marie Anna Rothschild ist der Vorname der Mutter als Marianna zusammengeschrieben

[3] Ebd. (19, 20).

[4] Ebd. (20) Zwar war Werneck in die Aktion T4 eingeschlossen, allerdings liegt das Sterbedatum knapp vor der organisierten Ermordung psychisch kranker Erwachsener.

[5] HHStAW 685 689a (1).

[6] Stahl, Ingfried, Opfer des NS-Regimes – Angenrods letzte Israeliten, in: OHG – Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen, 2010, S. 186. Angenrod war in dieser Zeit der Ort mit dem zweithöchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im heutigen Hessen.
Sehr empfehlenswert ist die Internetseite des Fördervereins zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg, in der historische wie auch aktuelle Ereignisse des jüdischen Lebens in diesem Raum umfassend und sehr strukturiert dargestellt werde. Siehe http://juedische-geschichte-vogelsberg.de/. (Zugriff: 1.12.2017).  Ein wahres Kleinod ist das handgeschriebene fast 200 Seiten umfassende Memorbuch, das im pdf-Format dort ebenfalls vorliegt. https://www.dropbox.com/s/wh88uwz3ggb235r/Memorbuch%20gescannt%20-%20I.%20Stahl%20April%202013.pdf?dl=0. (Zugriff: 1.12.2017).

[7] Hansen, Norbert, Rothschild – Geschichte einer jüdischen Familie aus Angenrod, Mitteilungen des Geschichts- und Museumsvereins Alsfeld, Heft 2 2007 S. 16.

[8] Hansen, Rothschild, S. 60.

[9] Hansen, Rothschild, S. 58 ff.

[10] Die zwei ältesten starben schon im Kindesalter, Hannchen, geb. 25.1.1862 wurde nach Minsk deportiert und ist dort verschollen; Hermann, geb. 15.9.1864 gelang die Emigration nach Südafrika; Ester, geb. 26.1.1867 starb in Theresienstadt; Cheskel Hugo, geb.  14.1.1870 starb 1938 in Gießen, siehe Hansen, Rothschild, S. 85 f.

[11] Stahl, Angerods letzte Israeliten, S. 188. Aus Schulstatistiken geht hervor, dass von den 68 Realschülern, die seit 1861 die Schule in Alsfeld besuchten, 51, d.h. 75 % jüdischen Glaubens waren.

[12] Hansen, Rothschild, S. 64.

[13] http://www.historisches-unterfranken.uni-wuerzburg.de/juf/Datenbank/detailsinclude.php?global=;search;29197;unscharf;;1;Roths;Hein;;;;;;;;;;;;;alle;;;;;~ORDER~BY~name. (Zugriff: 1.12.2017). Heinrich hatte wie sein Vater ein Medizinstudium absolviert und war Arzt geworden.

[14] HHStAW 518 20421 (10).

[15] HHStAW 685 689b (2, 4).

[16] HHStAW 518 20421 (10).

[17] HHStAW 685 689 (73) Das Schreiben ist nur in einer Abschrift an das Finanzamt Hanau vom 29.3.1933 vorhanden, es kann daher vermutet werden, das es sich bei „Auto“ eine Verschreibung handelt, es eigentlich „Amt“ heißen müsste.

[18] HHStAW 685 689a (136) Die Meldung des Umzugs an das Finanzamt Hanau ist datiert mit dem 14.4.1937.

[19] HHStAW 685 689b (8, 10).

[20] HHStAW 685 689b (19).

[21] HHStAW 685 698a (8).

[22] HHStAW 518 20421 (1), HHStAW 518 75408 (3).

[23] HHStAW 518 48283 (21).

[24] HHStAW 685 689 (36).

[25] Sterberegister der Stadt Wiesbaden 1942 / 1779.