Karolina Neumann, genannt Lina, und ihre Familie


Das Judenhaus Nerotal 53
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Lage des früheren Judenhauses Nerotal 53

 

 

 

 

 

 

 


Anders als die übrigen Mitbewohner im Judenhaus Nerotal 53, die erst mit dem letzten Transport am 1. September 1942 aus Wiesbaden deportiert wurden, gehörte Lina Neumann zu denjenigen, die man schon ein Vierteljahr zuvor, am 10. Juni „evakuiert“ hatte – so die euphemistische Formulierung der Nazis für die die Deportationen. Ihr war auch keine noch so kleine Überlebenschance gegönnt, denn dieser Zug brachte die Menschen unmittelbar in die Gaskammern von Sobibor.

Stammbaum der Familie Neumann aus Rauenthal
Stammbaum der Familie Neumann aus Rauenthal
GDB

Lina Neumann stammte ursprünglich aus der Rheingaugemeinde Rauenthal, die heute zur Verbandsgemeinde Eltville gehört. In Sichtweite des Ortes befand sich damals die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg, die als einer der zentralen Orte des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms in die Geschichte eingegangen ist. Für viele Insassen war die Anstalt Stätte grausamster Folter, sei es durch Nahrungsentzug, Sterilisation oder andere Formen der psychischen oder physischen Folter. Wie die Sterbebücher der Anstalt zeigen,[1] gehörte aber der Tod, sprich Mord, zum Anstaltsalltag, auch schon bevor der Eichberg als Zwischenstation im Gesamtkonzept des Euthanasieprogramms eingerichtet wurde und unzählige Opfer von dort aus nach Hadamar geschickt wurden, wo sie dann ermordet wurden. In den umliegenden Orten, so auch in Rauenthal, kannte man die Busse der GEKRAT, der ‚Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft’, die die Patienten in die Anstalt brachten oder sie von dort abholten. In Rauenthal hätte man früh wissen können, welche mörderischen Ziele die Nazis tatsächlich verfolgten.

Die NSDAP begann in den späten Zwanzigerjahren auch im Rheingau mit ihren Propagandaaktionen und mit dem Aufbau organisatorischer Strukturen, allerdings zunächst ohne groß beachtet zu werden. So war selbst der Auftritt des damaligen Reichspropagandaleiters Gregor Strasser in Eltville im Herbst 1927 der lokalen Presse keiner Erwähnung wert.[2] In dieser frühen Phase kamen auch der NSDAP-Bezirksleiter Habicht aus Wiesbaden und der Gauleiter Sprenger mehrfach in den Rheingau. Für Rauenthal sind allerdings nur vier Propagandaveranstaltungen verzeichnet, auf welche Resonanz die Partei damals traf, ist aber nicht überliefert. Handgreifliche und gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Nazi-Gegnern gehörten in dieser, von den Nazis später als Kampfzeit glorifizierten Phase, auch im Rheingau zum Alltag. Seit dem Frühjahr 1930 gab es auch in Rauenthal eine lokale NSDAP-Gruppe, die ihrem Charakter nach aber nur ein Stützpunkt, keine Ortsgruppe war.[3] Wie schnell aber auch Rauenthal damals von der braunen Flut überschwemmt wurde, zeigen die Wahlergebnisse der Reichstagswahlen zwischen 1928 und 1933. Hatte die NSDAP im Mai 1928 noch keine einzige Stimme erhalten, so waren es im September 1930 schon 39, im November 1932 erhielt sie 58 und am 5. März 1933 dann 298 Stimmen.[4] Ob die in Rauenthal lebenden Juden damals schon den Aufstieg der Antisemiten in ihrem Dorf zu spüren bekamen, ist schwer zu sagen.

Seit dem 14. Jahrhundert waren vereinzelt Juden im Raum Eltville aufgetreten, aber erst seit dem 17. Jahrhundert lassen sich jüdische Familien nachweisen, die sich dort auf Dauer niedergelassen hatten. Im 18. Jahrhundert müssen auch welche in Rauenthal gewohnt haben, denn damals waren die dort lebenden Juden der Jüdischen Gemeinde von Eltville zugeordnet worden. Die vier Familien, die dort 1865 lebten und vermutlich untereinander verwandt waren, hatten sich, als sie 1842 gezwungen wurden, erbliche Familiennamen anzunehmen, für den Namen Neumann entschieden.[5]

Rauenthal
Rauenthal im Jahr 1906

Der älteste bekannte Vertreter dieser Familien war der Metzger Abraham Neumann, dessen Geburts- und Sterbedaten allerdings nicht bekannt sind. Verheiratet war er mit Carolina Löwenstein, die um 1817 in Laufenselden zur Welt gekommen war. Von ihr sind sogar die Eltern bekannt. Es handelt sich um Löb Löwenstein und seine Frau Katharina Rosenthal. Ihre Namen sind im Sterbeeintrag von Carolina Neumann festgehalten, die am 21. Juni 1883 in Rauenthal verstarb.[6] Aus ihrer Ehe waren die zwei bekannten Söhne Adolf und Samuel, genannt Simon, hervorgegangen, aber es könnten noch einige mehr gewesen sein, denn zumindest die Mutter lebte noch etwa 40 Jahre nach der Geburt der beiden bekannten Söhne. Zunächst war Adolf am 24. Juli 1842,[7] dann im folgenden Jahr am 7. August 1843 Simon geboren worden.[8]
Der ältere Adolf heiratete zu einem nicht bekannten Datum eine Betty Löwenstein, über die aber nichts Genaues bekannt ist.[9] Allerdings legt ihr wahrscheinlicher Mädchenname die Vermutung nahe, dass sie aus der weiteren Familie ihrer Schwiegermutter Caroline stammte. Soweit bekannt, kamen in dieser Ehe zwischen 1872 und 1889 mindestens zehn Kinder zur Welt.

Die Familie von Samuel Simon Neumann

Nur drei Nachkommen wurden dagegen in der Ehe von Adolfs Bruder Simon geboren. Dieser hatte am 27. Juli 1876 in Rauenthal Fanny Bacharach aus Bensheim an der Bergstraße geheiratet. Sie war die Tochter von Koppel und Johanette Bacharach, geborene Oppenheim.[10] Der ältere Adolf hatte die Metzgerei des Vaters übernommen. Die Tätigkeit, mit der sein Bruder Simon sein Geld verdiente, ist in den Quellen eher vage festgehalten. In den ersten beiden Geburtseinträgen wird er allgemein als Händler oder Handelsmann ausgegeben, vermutlich hat er aber schon damals auch mit Vieh gehandelt, was angesichts des familiären Hintergrunds plausibel erscheint. 1878 wohnte Simon Neumann mit seiner Frau in der Hauptstr. 57, wo am 2. Januar 1878 Albert als erstes Kind geboren wurde.[11] Ein Jahr später, am 15. September 1879, folgte dann die Tochter Berta.[12]

Karolina Lina Neumann
Geburtsurkunde von Karolina Neumann

Erst fünf Jahre später kam mit Karolina am 9. Mai 1885 noch eine weitere Tochter zur Welt. Die Familie war inzwischen in die Hauptstr. 64 verzogen und der Vater der Neugeborenen wird jetzt, anders als in den anderen Geburtsanzeigen, nicht mehr einfach als Händler, sondern als Manufakturwarenhändler bezeichnet.[13] Möglicherweise wurde das Geschäft nebenbei, vielleicht sogar primär von seiner Frau betrieben, denn in der Entschädigungsakte von Karolina Neumann heißt es bezogen auf ihren Bruder Albert, dass dieser in Rauenthal „ein alteingesessenes, vom Vater ererbtes und gut gehendes Viehhandelsgeschäft betrieben“ habe.[14] Das Haus in der Hauptstr. 64, in dem Karolina mit ihrem ebenfalls ledigen Bruder später wohnte, war auch räumlich auf beide Erwerbsquellen ausgerichtet. Es handelte sich um ein Wohnhaus mit Hofraum, einem Schlachthaus und Stall, den Simon Neumann noch neu hatte errichten lassen. In dem eher kleinen, eigentlichen Wohnhaus selbst befand sich im Parterre das Wohnzimmer, die Küche und das vermutlich winzige Textilgeschäft. Im darüber liegenden Stockwerk lagen drei Schlafzimmer und unter dem Dach gab es noch einen Speicherraum.[15] Wie so oft in den kleinen Landgemeinden wird auch die Familie Neumann in Rauenthal gezwungen gewesen sein, verschiedene Erwerbsquellen zu nutzen, um das wohl eher karge Dasein zu finanzieren.
Allerdings kam im Rahmen des Entschädigungsverfahrens auch die Ausstattung der Wohnung der beiden Geschwister zur Sprache, die auf ein zumindest ausreichendes Einkommen der Eltern schließen lässt. Sie sei „reichlich“ möbliert gewesen, ein schöner Teppich habe im Wohnzimmer gelegen, Bilder, eine große Uhr und ein alter Sekretär hätten den Raum geschmückt. Neben einer umfangreichen Aussteuer für Karolina sei auch einiges an Silber vorhanden gewesen, gab die überlebende Schwester Berta im Verfahren an.[16]

Rauenthal Hauptstr. 57
Das Haus von Karolina und Albert Neumann, heute in der Hauptstr. 15
Eigene Aufnahme
Rauenthal, Hauptstr. 73
Das Haus von Josef Neumann, heute in der Hauptstr. 29
Eigene Aufnahme

 

 

 

 

 

 

 

 

Stolpersteine für Josef, Ludwig und Lore Neumann
Eigene Aufnahmen
Stolpersteine für Albert und Karoline Neumann
Eigene Aufnahme

 

 

 

 

 

Beide Eltern waren noch in den Jahren der Weimarer Republik verstorben. Die Mutter Fanny am 15. August 1924, der Vater Simon am 20. Juli 1931,[17] dem Jahr, in dem die NSDAP in Rauenthal ihren „Stützpunkt“ eingerichtet hatte. Der weitere Aufstieg der Nazis blieb ihnen aber somit erspart.

In ihrem Testament hatten die Eltern ihren Besitz im Wert von etwa 8.000 RM an die drei Kinder gleichmäßig verteilt. Neben dem Elternhaus gehörten zur Erbschaft eine ganze Reihe von Äckern, Feldern, Wiesen und auch zwei Weingärten, die aber zum Teil mit Hypotheken belastet waren.[18]1935 beschlossen die drei Geschwister, das gemeinsame Erbe aufzuteilen. Dabei verzichtete Berta, die nach ihrer am 22. Oktober 1913 geschlossenen Ehe mit dem Lehrer Gustav Nußbaum, Rauenthal verlassen hatte und zu ihm nach Nieder-Ingelheim auf die andere Rheinseite gezogen war,[19] auf das Eigentum an den diversen Grundstücken in und um Rauenthal. Sie war dafür aber auch von allen finanziellen Forderungen, Steuern und Zinszahlungen befreit. Karolina und Albert Neumann teilten die Grundstücke untereinander auf, wobei jedem ein Besitz von etwa 2.000 RM zufiel. Ihren Anteil am Haus behielt Berta Nußbaum aber auch nach dieser Erbauseinandersetzung.[20]

Nach der „Machtergreifung“ konnte Albert Neumann zunächst seinen Viehhandel und seine Schwester ihr kleines, von den Eltern übernommenes Textilgeschäft noch eine Zeit lang weiterführen. Die Einnahmen hätten, so der Bürgermeister von Rauenthal im Entschädigungsverfahren, für ihren „bescheidenen Lebensunterhalt“ ausgereicht. Erst ab 1936 sei Karolina Neumann durch die Boykottmaßnahmen betroffen gewesen.[21] Es handelte sich dabei um eine allerdings eher willkürliche Feststellung, da das zuständige Finanzamt Rüdesheim im Verfahren keine Unterlagen über die Einkommensverhältnisse von Karolina Neumann vorlegen konnte.[22]
Aber auch ihr Bruder trug ganz sicher mit seinem Einkommen zum Unterhalt im gemeinsam geführten Haushalt bei. Leider konnte das Finanzamt auch über sein Einkommen in den Jahren der Weimarer Republik und den ersten Jahren der NS-Zeit keine Daten bereitstellen. Seine Schwester Berta gab an, er habe „ein schönes Einkommen“ gehabt.[23] Ihr Ehemann meinte, dass dieses, da die alteingesessene Familie seit mehreren Generationen als Viehhändler und Metzger im Ort bekannt gewesen sei und auch das Vertrauen der Bauern genossen habe, etwa zwischen 400 und 500 RM gelegen haben müsse.[24] Wegen fehlender fundierter Belege muss auch die Frage, seit wann es zur Beschränkung seiner beruflichen Tätigkeit gekommen war, offen bleiben. Christhard Hoffmann schreibt in seiner Untersuchung über die Landjuden in der NS-Zeit, die anfänglichen Boykottaktionen seien im Laufe des Jahres 1933 zunächst erst einmal wieder aufgehoben worden, die jüdischen Viehhändler sogar in den „Reichsnährstand“ aufgenommen worden.[25] Auch hätten die Bauern noch lange an ihren Geschäftsbeziehungen zu den jüdischen Viehhändlern festgehalten, zumal die schon auf Grund ihrer dominierenden Stellung gar nicht so schnell hatten ersetzt werden können. Zudem waren sie, anders als die NS-Propaganda suggerierte, bei den Bauern beliebt, weil sie auch minderwertiges Vieh ankauften und Kredite gewährten. Bei den neu eingerichteten arischen Verkaufsgenossenschaften hätten die Bauern oft lange auf ihr Geld warten müssen. Dennoch wurde auch auf Initiative lokaler Behörden die Tätigkeit vieler jüdischer Viehhändler immer wieder eingeschränkt und sabotiert, sei es durch Kennzeichnung des von Ihnen angebotenen Viehs mit gelben Karten – quasi ein Judenstern für das Vieh -, oder durch penible Kontrolle der Bücher. Erst ab 1935 sei es dann zur systematischen Ausgrenzung gekommen. Seit diesem Zeitpunkt mussten sie jährlich neu eine Konzession beantragen, die sie als Angehörige des Reichsnährstands auswiesen. Es war den örtlichen Behörden ein Leichtes, ihnen diese Konzession aus banalen Gründen zu verweigern. Der letzte Schritt, die jüdischen Viehhändler mit einem faktischen Berufsverbot zu belegen, kam dann mit der am 25. Januar 1937 erlassenen „Verordnung über den Handel mit Vieh“, in der die Erteilung der Konzession an die persönliche Zuverlässigkeit des Antragstellers verknüpft war. Welcher Jude galt 1937 noch als persönlich zuverlässig? Als dann mit dem Erlass „Zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“ alle jüdischen Geschäfte und Unternehmen zur Aufgabe gezwungen wurden, gab es so gut wie keine jüdischen Viehhändler mehr in Deutschland. Allerdings räumt Hoffmann ein, dass der Prozess der Ausschaltung dieses Berufszweigs in Deutschland und in einzelnen Regionen oder auch Ortschaften mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablief. Insofern ist es auch nur schwer zu sagen, ab wann und in welchem Ausmaß Albert Neumann betroffen war, zumal entsprechende konkrete Studien für den Rheingau bisher nicht vorliegen.
Im Entschädigungsverfahren ging die Behörde ohne jeden Nachweis von der für die Antragsteller schlechtesten Möglichkeit aus und sah ein Ende der Berufstätigkeit von Albert Neumann erst mit dem Novemberpogrom gekommen. Geradezu perfide war, dass sie in der Begründung dies sogar noch als Zugeständnis formulierte: „Die selbständige Erwerbstätigkeit, aus der der Erblasser auf Grund von Verfolgungsmaßnahmen verdrängt worden ist, war seine Tätigkeit als selbständiger Viehhändler in Rauenthal, die er bis Anfang November 1938 ausgeübt hat. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass ohne die Verfolgungsmaßnahmen im Jahre 1938 der Erblasser diese selbständige Erwerbstätigkeit nicht verloren hätte. (…), denn zu dem vorgenannten Zeitpunkt ist das Wohngebäude nebst Inventar durch nationalsozialistische Maßnahmen beschädigt und der Erblasser zur Einstellung seines Gewerbes gezwungen gewesen.“[26]
Man war somit nur bereit, eine Entschädigung für den Schaden im beruflichen Fortkommen ab dem November 1938 zu zahlen, dies zudem auf dem niedrigsten Niveau, da er nur in die Beamtengruppe des einfachen Dienstes eingeordnet wurde. Eine höhere Eingruppierung hätte ein durchschnittliches Einkommen von 3.300 RM in den Jahren vor 1938 zur Voraussetzung gehabt. Wie aber sollte ein vermutlich in seiner Geschäftstätigkeit schon stark eingeschränkter Händler in den Jahren nach 1935 ein solches Einkommen erwirtschaften? Dieser Bescheid, der jeden Bezug zur Realität des NS-Staates vermissen lässt, war noch im Jahr 1965 ergangen, zwanzig Jahre nach dem Ende des Regimes!
Erst eine Klage gegen diese Entscheidung führte dazu, dass eine übergeordnete Kammer einen Vergleich vorschlug, nach dem Albert Neumann entsprechend einem Beamten des mittleren Dienstes und bereits ab dem 1. März 1933 bis 1935 mit einer Berufsbeschränkung von 50 und ab dem 1. Juli 1935 zu 100 Prozent entschädigt werden sollte.[27]

Völlig absurd war in diesem Zusammenhang allerdings die Aussage des früheren Ortslandwirts Sturm, der angab, Albert Neumann, der 1942 ermordet wurde, habe seinen Beruf bis 1945 ausüben können. Es habe „ein kleines Viehhandelsgeschäft (betrieben), das sich meist auf die kleinen Nachbarorte des Untertaunuskreises erstreckte“.
Die Einkünfte aus diesem Handel müssten gering gewesen sein, weil, so argumentierte er, dessen Schwester Berta ihm einmal erzählt habe, dass sie ihrem Bruder 1.000 RM zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts geschenkt habe. Offenbar habe Albert über keine eigenen, aus dem Viehhandel erwirtschafteten Ersparnisse verfügt, so seine Argumentation.[28]
Gegenüber dieser Behauptung gab seine Schwester Berta in einer eidesstattliche Erklärung an, ihr Bruder habe den Betrieb schon 1934/35 einstellen müssen, ihrer Erinnerung nach auf behördliche Anweisung.[29]

Gänzlich aufgeben musste Karolina Neumann ihr kleines Geschäft nach den Ereignissen in der Reichspogromnacht, in der der Nazi-Mob auch in Rauenthal wütete. Nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde den an der Aktion in Eltville beteiligten SA-Männern der Prozess gemacht.[30] In dem Verfahren ging es vordringlich um die in Eltville selbst begangenen Straftaten, die sich im Besonderen gegen das Möbelgeschäft des Kaufmanns Bernhard Eis richtete und die im selben Haus wohnende Familie Mannheimer. Zwar konnten die Angeklagten nicht leugnen, bei der Aktion zugegen gewesen zu sein, aber – wie in vielen anderen Verfahren auch -, gaben sie an, eher zufällig oder sogar widerwillig daran teilgenommen zu haben. Einzelne behaupteten sogar, die Opfer gewarnt und deren Eigentum vor dem Zugriff anderer geschützt zu haben. Als Rädelsführer bezichtigte man diejenigen, die inzwischen im Krieg gefallen waren. An andere Beteiligte wollte man sich nicht mehr erinnern können. Einer der Angeklagten, der SA-Obertruppführer Edel, Mitglied der NSDAP seit 1930, machte im Verhör folgende typische Aussage über die Aktion in Rauenthal:
“An der Judenaktion habe ich mich nicht aktiv beteiligt. Ich ging an einem Donnerstagabend Anfangs November 1938 durch die Stadt Eltville. An der Unterführung der Eisenbahn traf ich den SA-Obertruppführer Robert Störmann, den SA-Obersturmführer Martin Hief beide aus Eltville, die mich aufforderten, in dem PKW mitzufahren, wohin wusste ich nicht. Im Auto wurde mir gesagt, daß die Fahrt nach Rauenthal ging. Weiter war noch der Heinrich Hubert aus Eltville im Auto. Auf die anderen Personen kann ich mich nicht mehr besinnen. Es waren zwei PKW, die nach Rauenthal gefahren sind. Wer allerdings mitgefahren ist, kann ich heute nicht mehr sagen. Von Rauenthal zurück kamen drei PKW. Auch kann ich nicht sagen, wer die Besitzer der PKW waren. In Rauenthal waren zwei Judenhäuser, die aber schon entzwei geschlagen waren. Soviel ich weiss, sollen es von Wiesbaden SA-Leute gewesen sein, die hier bereits alles kaputt geschlagen hatten. Ich bin durch das Haus gegangen. Es war niemand mehr drinnen gewesen. Die Möbel waren fürchterlich demoliert und das Geschirr war entzwei. Von uns wurde nichts entzwei geschlagen, weil alles schon erledigt war. Durch das andere Judenhaus sind wir auch durchgegangen, es war aber das gleiche Bild. Wir stiegen in die Autos und fuhren zurück.“[31]

Aus einer anderen Zeugenaussage geht hervor, dass die Straßen in Rauenthal bei Ankunft des Trupps außergewöhnlich belebt waren und die Ortsbewohner vor den Häusern der beiden jüdischen Familien, deren Inventar auf der Straße herumlag, standen und sich über das Geschehen unterhielten. Das ganze Dorf hatte gesehen, was geschehen war. Geholfen hatte offenbar keiner. Neben den beiden Geschwistern Albert und Lina Neumann hatte man auch das Haus der Familie ihres Cousins, des Metzgers Josef Neumann, in der Hauptstr. 73 angegriffen und demoliert.

Der Schaden war erheblich. Abgesehen von dem zerschlagenen Mobiliar, der zerrissenen oder geraubten Wäsche, waren auch die Silberwaren entwendet und das Lager des Textilladens von Karolina Neumann ausgeräumt worden.[32] Sie selbst soll damals nach einer Aussage des späteren Bürgermeisters Korn vom 5. Oktober 1945 zudem von auswärtigen Personen auch körperlich misshandelt worden sein.[33]

 

Man muss somit davon ausgehen, dass ab 1937 die Geschwister Neumann kaum noch, ab dem Novemberpogrom 1938 gar kein eigenes Einkommen mehr bezogen.

Albert Neumann
Grundstücksverkäufe von Albert Neumann
HHStAW 519/3 5606 (10)

Um überleben zu können, verkauften sie damals Teile ihres Grundvermögens in der Umgebung von Rauenthal. Dokumentiert ist zum Beispiel der Verkauf eines Grundstücks im Jahr 1939 an einen ortsansässigen Bauern und Küfer, der das Land für 201 RM erwarb.[34] Wie üblich pochte der damalige Käufer im Rückerstattungsverfahren nach dem Krieg darauf, dass es sich um einen völlig frei vollzogenen Verkauf gehandelt habe, aber allein der Preis für diesen Obstgarten in bester Lage ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine, durch die Not erzwungene Arisierung handelte. Auch wenn der Käufer selbst kein Nazi gewesen sein und er auch persönlich keinen Druck ausgeübt haben will, so sei allein die Tatsache, dass es sich um jüdisches Eigentum handelte und der Käufer dies auch wusste, Beweis für eine rückerstattungspflichtige Arisierung.[35] Weiterhin kam am 2. März 1939 der Verkaufsvertrag über Land mit einem Rauenthaler Bauern zustande, laut dem die Erwerber dafür 602 RM zahlen sollten. Allerdings war das nicht die Summe, die auch dem ehemaligen Eigentümer ausgezahlt wurde. 122 RM davon hatte der Käufer bereits an die Kreiskasse zu Gunsten des Kreises eingezahlt – Zweck unklar -, weitere 60 RM sollte er als sogenannte „Ausgleichszahlung“ an den Fiskus abtreten. Das war das Geld, was das Reich zu seinen Gunsten quasi als Provision für solche Geschäfte mit jüdischem Eigentum einforderte. Der Restbetrag sollte Albert Neumann auf sein Konto überwiesen werden. Aber auch diese Restsumme von 420 RM stand ihm nicht zur Verfügung, denn der Betrag musste auf ein Sicherungskonto eingezahlt werden. Aus dem Schreiben geht somit indirekt hervor, dass er Albert Neumann zur Anlage eines solchen Kontos gezwungen wurde, über das die Devisenstelle in Frankfurt fortan alle seine finanziellen Angelegenheiten kontrollieren und beschränken konnte.[36] Ein Weingarten in Eltville war bereits  am 2. März 1939 für 584 RM verkauft worden, auch hier wurden 50 RM als Ausgleichszahlung dem Verkäufer zu Gunsten des Reichs vom Kaufpreis abgezogen.[37] Nur eine Woche später veräußerte er weiteres Land für 155 RM.[38]

Albert Neumann Rauenthal
Albert Neumann muss die Devisenstelle um Freistellung von 20 RM für seinen Lebensunterhalt bitten
HHStAW 519/3 5606 (13)

Am 7. Dezember 1939 bat Albert die Devisenstelle, ihm einen Vorschuss – ihm war bisher noch kein fester Freibetrag zugesagt worden – von 20 RM für seinen Lebensunterhalt zu gewähren.[39] Es muss schon recht große Not geherrscht haben, wenn er um eine solch kleine Summe bitten musste. Am 7. Februar 1940 wurde ihm dann bis zur Abgabe einer Einkommens- und Vermögenserklärung ein vorläufiger Freibetrag von 200 RM monatlich gewährt.[40] In der Vermögenserklärung, die er wenige Tage später auf dem üblichen Formular der Devisenstelle übermittelte, gab er an noch Grundbesitz im Wert von 2.600 RM und etwa 150 RM sonstiges Vermögen zu besitzen, allerdings seien davon etwas mehr als 1.200 RM abzuziehen. Dies seien Verpflichtungen, die ihm wegen der noch nicht gezahlten Reichsfluchtsteuer oder Judenvermögensabgabe nicht wirklich zur Verfügung ständen. Welche der beiden Sondersteuern tatsächlich zu zahlen waren, geht aus den Unterlagen nicht hervor.[41] Die Vermögenserklärung hatte zur Folge, dass angesichts dieser finanziellen Knappheit, die Devisenstelle den Freibetrag auf 170 RM absenkte.[42]

Albert Neumann verdient sich seinen Lebensunterhalt als Erntehelfer bei Rauenthaler Bauern
HHStAW 519/3 5606 (23)

Im Mai 1941 bat er die Behörde, ob sie ihm erlauben könne, die kleinen Betrag, die er tageweise als Aushilfsarbeiter bei der Ernte auf Rauenthaler Bauernhöfen verdiene, auch in bar entgegennehmen dürfe, was ihm sogar gestattet wurde.[43]
Den größten Teil des Besitzes eignete sich allerdings nach der Deportation der beiden Geschwister der Reichsfiskus an, d.h. die Grundstücke verfielen dem Deutschen Reich und wurden von diesem verwertet.[44]

Wie das Alltagsleben der beiden Geschwister, die nach der Reichspogromnacht im Ort zu Parias geworden waren, tatsächlich aussah, wissen wir nicht. Ob die Anfeindungen anhielten, ob es auch Mitleid, vielleicht sogar stille Zeichen der Solidarität gab, ist nicht bekannt. Aber vielleicht ist die Tatsache, dass man ihm Arbeit anbot, ist vielleicht sogar so zu interpretieren. Albert und Lina Neumann  blieben noch bis zum Sommer 1941 in dem Ort wohnen, der für sie einst wirklich Heimat, jetzt aber Feindesland war.

Das gleiche Schicksal wie Albert und Karolina hatte, wie oben bereits angemerkt, in der Pogromnacht auch die Familie ihres Cousins Josef Neumann, dem zweitältesten Sohn von Adolf Neumann, erfahren müssen. Er hatte nach dem Tod des Vaters dessen Metzgerei übernommen und war in Rauenthal geblieben. Verheiratet war er seit dem 2. Mai 1912 mit der Schiersteinerin Recha Regina Schönberger. Sie war die am 25. Juni 1884 geborene Tochter des damals schon verstorbenen Kaufmanns Löb Schönberger und seiner Frau Jettchen, geborene Rosenthal.[45] Am 13. April 1913 war ihnen der Sohn Ludwig und dann erheblich später am 10. Februar 1926 noch die Tochter Betty Lore geboren worden.[46] Die Metzgerei, in der auch die Mutter mitarbeitete, bescherte der Familie zwar kein sehr hohes, aber ein Einkommen, das ihr bisher einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht hatte.[47] Die Wohnung war gut ausgestattet und Adolf und seine Frau besaßen ebenfalls einige landwirtschaftliche Grundstücke in der Umgebung. Zur finanziellen Absicherung im Alter hatte Josef Neumann auch eine Lebensversicherung abgeschlossen.
Ihr Sohn Ludwig konnte nach dem Besuch der Grundschule eine höhere Schule in Eltville besuchen und absolvierte dort auch eine Lehre in einer Elektrofirma. Die konnte er zwar noch abschließen, fand aber angesichts der Weltwirtschaftskrise anschließend keine Anstellung mehr. Notgedrungen half er anschließend ohne eigene Bezüge in der väterlichen Metzgerei aus. Als dann Hitler an die Macht kam, entschloss er sich im Januar 1934, Deutschland zu verlassen. Zunächst hielt er sich bei seiner in Leewarden in den Niederlanden verheirateten Tante Gertrude auf,[48] die ihn, der keine Arbeitserlaubnis erhielt, gegen freie Kost und Logis beschäftigte.

Ludwig NeumannLudwig Neumann

 

 

 

 

 

Ludwig NeumannLudwig Neumann

 

 

 

 

 

Reisepass von Ludwig Neumann
HHStAW 518 841 (27)

Erst 1937 konnte er dann mithilfe amerikanischer Verwandter in die USA ausreisen, zunächst nach New York, später nach Kalifornien. Aber die folgenden Jahre ernährte er sich eher notdürftig mit diversen Hilfsarbeiterjobs als Hotelpage, Reisender einer Bürstenfabrik oder als Arbeiter in einer Schiffswerft. Erst im April 1948 fand er eine feste Arbeitsstelle bei der Kofferfirma ‚Samsonite’, die ihm, wie er selbst sagte, ein „bescheidenes Leben“ ermöglichte. Seit 1940 war er verheiratet und Vater von zwei Kindern. [49] Immerhin: Er war der Einzige in der Familie, der die NS-Zeit überlebte.
Vermutlich hatte er noch erfahren, wie die Juden in seinem Heimatort immer mehr drangsaliert wurden, wie der Mob am 9. November auch sein Elternhaus überfiel und die Metzgerei und die Wohnung kurz und klein schlugen. Ein halbes Jahr nach diesem schrecklichen Ereignis verstarb seine Mutter Regina am 20. Mai 1939 in den Städtischen Kliniken von Eltville. Zwar ist die Todesursache nicht bekannt, aber körperliches Leiden hat immer auch andere Dimensionen.
Ihre Tochter Betty Lore war damals gerade 13 Jahre alt. Über ihr bisheriges Leben ist nichts bekannt, aber vermutlich hatte sie noch die Volksschule in Rauenthal besuchen dürfen. Ob und wie sehr sie als Kind in der kleinen Gemeinde ausgegrenzt wurde, weiß man nicht.

 

Friedrichssegen

Dann begann zweieinhalb Jahre nach den schrecklichen Novemberereignissen auch für die Rauenthaler Juden im Sommer 1941 eine neue und letzte Etappe auf ihrem Leidensweg.
Der NSDAP-Kreisleiter Wagner, der in jeder Hinsicht dem Klischee eines NSDAP-Bonzen entsprach und der in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren als „Diktator des Kreises“ bezeichnet wurde, wollte seine Ortschaften und die der Nachbarkreise „judenfrei“ machen. Er war einer der kleinen Funktionäre, getrieben von eigenem Ehrgeiz und beseelt von der Vorstellung, den unausgesprochenen Willen des „Führers“ zu kennen und realisieren zu müssen, die quasi „von unten“ die Radikalisierung der NS-Bewegung immer weiter vorantrieben. Sein Plan bestand darin, alle Juden der Landgemeinden des Rheingaus in einem regionalen Ghetto, in Friedrichssegen bei Oberlahnstein, zu sammeln und dort zur Zwangsarbeit zu verpflichten.[50]
Die Konflikte, die daraus mit den bestehenden Institutionen, etwa Arbeitsämtern, Amtsärzten oder anderen Behörden erwuchsen, zwangen ihn zu immer neuen despotischen Anweisungen und Handlungen, die aber die realen Konflikte und Widersprüche bei seinem Prestigeobjekt, kaum lösen konnten. Trotz des Chaos, das der von dumpfem Antisemitismus getriebene „Führer des Rheingaus“ bei der Umsetzung seiner Ideen anrichtete, blieben aber die Juden die eigentlichen Opfer. Obwohl der Plan eigentlich den von Heidrich vorgegebenen Richtlinien bei der Umsiedlung von Juden widersprach, Ghettos sollten gerade nicht geschaffen werden,[51] konnte er auch seinen Gauleiter Sprenger davon überzeugen.

Friedrichssagen
Die Siedlung Tagschacht / Friedrichssegen

Als geeigneter Ort war die heruntergekommene, ehemalige Bergarbeitersiedlung Friedrichssegen bei Lahnstein vorgesehen – im Volksmund als das „Tal des Grauens“ bezeichnet. Der Ort bestand wiederum aus verschiedenen Teilen, u.a. Tagschacht, Kölsch Loch oder Neue Welt. Die Siedlung Tagschacht, bestehend aus kleinen Reihenhäusern links und rechts einer Sackgasse, sollte die Juden aufnehmen. Allerdings handelte es sich dabei nicht um einen leer stehenden Wohnkomplex, sondern seit den zwanziger Jahren wurden diese ziemlich maroden, kaum heizbaren und zum Teil baufälligen Gebäude ohne fließendes Wasser, ohne sanitäre Einrichtungen, als Notunterkünfte für sozial schwache Familien genutzt. Und die – insgesamt etwa 78 Familien mit insgesamt 320 Mitgliedern –[52] lebten 1938/39 immer noch dort, zum Teil in einem – Marxisten würden sagen – „lumpenproletarischen“ Milieu: Kriminalität, Prostitution, Arbeitslosigkeit und fehlende Bildungsangebote charakterisierten das soziale Zusammenleben, aber – und das war auch einer der Konflikte: Trotz aller Konflikte und miserablen Verhältnisse war dort im Laufe der Jahre eine irgendwie funktionierende soziale Einheit entstanden. Die Bewohner fühlten sich in ihrer Abgeschiedenheit – vermutlich gerade auch wegen der Ferne des NS-Staats – recht wohl und wollten gar nicht raus aus ihren prekären Verhältnissen.

Tagschacht
Wohnanlage Tagschacht um 1960
Mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Lahnstein

Diese als „Asoziale“ im NS-Staat ebenfalls ausgegrenzte Gesellschaftsgruppe sollte in die Wohnungen ziehen, die von den Juden in ihren Heimatorten zwangsweise frei gemacht worden waren, und sich dort um Arbeit kümmern, was in vielen Orten auf Empörung stieß. Man wollte zwar die Juden loswerden, aber die Wohnungen sollten an wohl situierte Bürger gehen und nicht an „Asoziale“. Die gesamte von Wagner angestoßene Aktion war somit sowohl innerhalb der NSDAP als auch in der Bevölkerung sehr umstritten. Und natürlich wollten auch die betroffenen Jüdinnen und Juden nicht dorthin, obwohl man in ihren bisherigen Wohnorten so schlimm mitgespielt hatte.
Dennoch fand die Umsiedlung statt. Laut dem Protokoll eines Treffens der Landräte von St. Goarshausen und dem Rheingau unter Leitung von Wagner vom 22. Mai 1941 lebten damals noch 18 der bisherigen Familien, d. h. 95 Menschen, in Friedrichssegen – jetzt zusammen mit bereits dorthin gebrachten Juden. Andererseits wohnten in zehn Gemeinden der Kreise noch 22 männliche, 25 weiblich Juden und 2 Kinder, die noch nicht umgesiedelt worden waren.[53] Als diese dann gezwungen werden sollten, ebenfalls in das Ghetto zu ziehen, um dort Zwangsarbeit zu verrichten, wehrten sich diese über ihren Rechtskonsulenten in Frankfurt, der wiederum den Regierungspräsidenten einschaltete. Anders als man es in einem hierarchisch organisierten Einparteienstaat erwarten müsste, legte dieser Widerspruch gegen die von Wagner geplante Deportation ein und verhinderte, dass die Polizei die Juden zwangsweise nach Friedrichssegen beförderte.[54] Wagner drohte, dann die SS und die SA einzusetzen, was aber vorerst eine leere Drohung blieb. Stattdessen sollten die Ortsgruppenleiter die „Juden unter allen Umständen umzugsreif machen. Mit Hilfe der Arbeitsämter sind die Juden in ihren jetzigen Wohnorten zur Arbeit heranzuziehen. Die Juden eignen sich am besten zur Abort- und Latrinenreinigung.“[55] Aber auch diese Schikanen fruchteten zunächst nicht.
Der Regierungspräsident begrüßte nach Intervention der Gauamtsleitung zwar die Umsiedlung der Juden, lehnte aber weiterhin den Einsatz der Polizei ab, was Wagner aber ausreichte, um am 2. Juli 1941 den betroffenen Juden einen Marschbefehl folgenden Inhalts zu präsentieren:
“Den Juden ist Folgendes zu eröffnen:
1.) Alle Juden haben sofort Arbeit aufzunehmen. Das Arbeitsamt wird jeden Juden in den nächsten Tagen dienstverpflichten. Bei Nichterscheinen auf der Arbeitsstelle wird mit den gesetzlichen Mitteln gegen die Juden vorgegangen.
2.) Der Regierungspräsident billigt die Maßnahme des Kreisleiters, die Juden in Arbeit unterzubringen. Die Bürgermeister haben die Bestrebungen des Kreisleiters zu unterstützen.
3.) Wegen des besonderen Arbeitseinsatzes ist es notwendig, dass die Juden nach Friedrichssegen ziehen. Wohnungen sind dort vorhanden. Die Juden haben bei dem Wohnungsamt in Oberlahnstein die Zuteilung einer Wohnung zu erbitten.
4.) Die bisher von den Juden innegehabten Wohnungen sind an die Familien, die von Friedrichssegen wegziehen, zu vermieten.
5.) Den Transport der Möbel usw. nach Friedrichssegen hat jeder Jude selbst zu tätigen. Spediteure, die den Transport vornehmen können, sind vorhanden.
6.) Wenn ein Jude oder eine Jüdin wegen Krankheit nicht einsatzfähig ist, ist ein amtsärztliches Zeugnis des zuständigen Kreisarztes vorzulegen.
7.) Die in Oberlahnstein wohnenden Juden haben ihre Arbeit in Friedrichssegen bis
spätestens Montag, den 7.7.41 aufzunehmen. Ist das nicht der Fall, wird gegen sie vorgegangen werden.
Den Juden sind vorstehende Punkte gegen Unterschrift bekanntzugeben.
St. Goarshausen, den 2.7.1941.
Wagner Kreisleiter
[…].[56]

Der Arbeitseinsatz, den das Arbeitsamt anordnen musste, führte dann zu einem neuen Problem. Die meisten der gelisteten Personen waren alte Menschen, oft sogar über 70 Jahre alt, was der Ortsgruppenleiter von Eltville dem Kreisleiter schon im Februar 1941 gemeldet hatte.[57] Geschlossene Arbeitseinsätze waren aber damals noch auf Juden im Alter zwischen 18 und 55 Jahren beschränkt. Auch Krankheit war ein Grund, sich dem Einsatz zu entziehen. Und es gab tatsächlich auch noch Ärzte, die bereit waren, solche Atteste auszustellen.
Die Arbeit, die auf die Menschen in Friedrichssegen wartete, war hart. In einem Ziegelwerk musste der eine Teil, zumeist Frauen, über Stunden fertige Ziegel aufstapeln, die andere Gruppe hatte in einem arisierten, ehemaligen jüdischen Betrieb für Altmetallverwertung Schrott zu sortieren. Als Belastung kam der zwei Kilometer lange Fußweg hinzu, der morgens und abends unter dem Absingen von Liedern bewältigt werden musste. Besonders abends, nach einem schweren Arbeitstag und völlig unzureichender Nahrungsversorgung, eine unmenschliche Anstrengung für die alten und schwachen Menschen.
Trotz allem Druck weigerten sich weiterhin viele Juden verständlicherweise, dem Befehl zur Umsiedlung nachzukommen, wie man aus einem Schreiben des Ortsgruppenleiters von Erbach vom 23. Juli 1941 erfährt: „In der Judensache wurde von mir alles Erforderliche veranlasst. Ich habe aber den Eindruck, dass die Juden ohne Gewalt nicht zu entfernen sind.[58] Die Reaktion von Wagner war die erneute Drohung: „Ich weise Sie hiermit nochmals an, die Juden energisch zu drücken, dass sie nach Friedrichssegen ziehen. Wenn die Juden es darauf ankommen lassen wollen, dann hole ich sie durch die SA und SS weg. In allen Ortsgruppen, mit Ausnahme von Erbach und Rauenthal, leisten die Juden der Aufforderung zum Umzug Folge, Heil Hitler.“[59]

Josef Neumann
Ludwig Neumann war am 2. August 1941 nach Friedrichssegen „verzogen“ und wurde zu einem unbekannten Datum „evakuiert“ !
HHStAW 518 3438 (15)

Zu denjenigen, die zwar den Marschbefehl unterzeichnet hatten, sich bisher aber weiterhin beharrlich weigerten, nach Friedrichssegen umzuziehen, gehörten offenbar auch die Neumanns aus Rauenthal. Am 30. Juli erhielten sie noch einmal eine Aufforderung, dem Befehl Folge zu leisten, aber zunächst wieder ohne Erfolg. Wagner setzte den Ortsgruppenleitern von den Orten Lierschied, Erbach und Rauenthal, wo die „renitenten“ Juden wohnten, eine letzte Frist bis zum 15. August. Bis zu diesem letzten Termin hatten sie dafür zu sorgen, dass „ihre“ Juden den Ort verließen. Am 12. August meldete der Rauenthaler Ortsgruppenleiter seinem Vorgesetzten Vollzug: „Die in der Ortsgruppe Rauenthal/ Rhg. Ansässigen Juden wurden von mir am 30.7.1941 mit dem in Durchschrift beigefügten Schreiben nachdrücklichst zur Abreise aufgefordert. Die Wirkung war groß. Sofort wurde gepackt und pünktlich am 2. August erfolgte der Umzug nach Friedrichssegen.“[60]

Zeitzeugen erklärten, dass der „Umzug“ von Josef, Lore, Albert und Lina (!) nicht freiwillig, sondern erzwungen war
HHStAW 518 3438 (23)

Die Umzüge sollten mit angemieteten Lastwagen auf eigene Kosten erfolgen. Zwar durften die Zwangsverschickten somit zumindest einen Teil ihres Mobiliars mitnehmen, aber in den Gebäuden, in denen oft nur zwei kleine Zimmer für mehrere Menschen zur Verfügung standen, war kaum Platz für die eigenen Möbel.

Ob damit aber die Zwangsumsiedlung tatsächlich abgeschlossen war, muss bezweifelt werden. Aus weiteren Schreiben, die zwischen den verschiedenen Ämtern und Parteiorganisationen kursierten, ergibt sich, dass viele Juden zwar der Arbeitsverpflichtung Folge leisteten, aber dennoch in ihren bisherigen Wohnungen geblieben waren, somit täglich von Zuhause mit der Bahn nach Friedrichssegen hin und her fuhren. Gründe dafür waren sicher, dass die Juden ihr eigenen Wohnungen bzw. Häuser nicht verlassen wollten. Das eigentliche Problem bestand aber darin, dass sie nur dann zum Auszug gezwungen werden durften, wenn ihnen eine Unterkunft zur Verfügung gestellt werden konnte. Und das war in Friedrichssegen in vielen Fällen nicht möglich, weil die dortigen Bewohner nicht wegziehen wollten. Zudem konnte ihnen an den Orten, wohin man sie neu ansiedeln wollte, oft keine Arbeit angeboten werden.[61] Auch waren die leeren Judenwohnungen, wenn sie noch in Schuss waren, sehr begehrt bei den Ortsansässigen oder aber sie waren nach dem Novemberpogrom noch in einem Zustand, der selbst denjenigen, die bisher in miserablen Notunterkünften gelebt hatten, zu schlecht. So fragte auch der Ortsgruppenleiter von Rauenthal am 12. August 1941 an, wer für die notwendigen Instandsetzungskosten aufkommen würde. „Die Wohnungen“ seien „zum Teil noch etwas von der damaligen Judenaktion mitgenommen“.[62] Hiermit kann nur die Wohnung von Albert und Karoline Neumann oder die von Josef Naumann gemeint sein.
Am 27. August meldete Wagner seinem Stabsamtsleiter im Gau, dass die Umsiedlung „im Großen und Ganzen“ abgeschlossen sei. Sie zog sich aber in Einzelfällen tatsächlich bis in den Winter 1941/42 hin.

 

Karolina Neumann

Die hier nur in groben Zügen geschilderten Probleme bei der Zwangsumsiedlung der rheingauer Juden, das ständige Hin und Her, erklärt vielleicht, wieso nicht auch Karolina Neumann später von Friedrichssegen aus in den Tod geschickt wurde. Jahn gibt an, dass neben verschiedenen anderen Familien aus Eltville und Erbach auch Lina und Albert Neumann sowie ihr Cousin Josef Neumann mit seiner 15-jährigen Tochter Lora – seine Frau Recha Regina, geborene Schönberger, war am 20. Mai 1939 verstorben – aus Rauenthal in das Ghetto verbracht worden seien. Im Hinblick auf Lina ist das allerdings ungewiss. Ihr Name steht zunächst nicht auf der Liste der Ende Juli 1942 von Friedrichssegen in den Tod geschickten Jüdinnen und Juden. Jahn vermutet dennoch, dass auch sie zu den von dort aus Deportierten gehörte oder aber verstorben sei, was das Fehlen ihres Namens auf der Deportationsliste erklären würde.[63] Beides ist aber definitiv falsch.
Ihre Schwester Berta gab im Entschädigungsverfahren die vage Auskunft, Lina sei 1941 nach Wiesbaden geflohen, nannte aber kein genaues Datum. Theoretisch wäre es deshalb möglich, dass sie zunächst ebenfalls nach Friedrichssegen kam und erst von dort aus die Flucht ergriff. Immerhin gibt es ein Datum, an dem sie sich in Wiesbaden meldete. Auf ihrer Gestapokarteikarte ist als Zugangsdatum der 9. August 1941 eingetragen. Sie sei von Rauenthal, Adolf-Hitler-Str. 66, die umbenannte ehemalige Hauptstraße, wo ihr Elternhaus stand, zugewandert, ist dort weiterhin vermerkt, somit genau eine Woche, nachdem der Transport nach Friedrichssegen abgegangen war. Das lässt zumindest die Möglichkeit zu, dass auch sie in Friedrichssegen war.

Karolina Lina Neumann Rauenthal
Vermögensteuerakte von Karolina Neuman mit der Friedrichssegener Anschrift
HHStAW 685 617

Gestützt wird die Vermutung durch einen Eintrag auf ihrer Vermögensteuerakte, auf der nach der Rauenthaler Adresse Adolf-Hitler-Str. 66, als nächste Adresse „Friedrichsegen / Lager (Tagesschacht)“ notiert, dann aber wieder gestrichen ist. Diese Streichung besagt aber nicht, dass die Angabe falsch war, sondern nur, dass die Anschrift veraltet und durch eine neue – jetzt Wiesbaden Nerotal 53 – ersetzt wurde.
Ganz offensichtlich hatte man zumindest geplant, auch Karolina Neumann nach Friedrichssegen zu bringen und das zuständige Finanzamt in Rüdesheim auch bereits darüber informiert. Wieso hätte man auch gerade sie verschonen sollen. Laut Rummel hatte auch der Ortgruppenleiter von Rauenthal ihren Namen auf der Liste der damals Deportationen festgehalten.[64]
Zu welchem Zeitpunkt sie sich dann der Deportation entzog, muss allerdings offen bleiben.
Möglicherweise konnte sie sich aber in dem gesamten Chaos, in dem einige in Friedrichssegen arbeiteten, aber nicht dort wohnten, nach Wiesbaden absetzen und der Ortsgruppenleiter von Rauenthal konnte dem Kreisleiter melden, dass auch sein Dorf „judenfrei“ war. Eine Fahndung nach ihr wurde offenbar nicht eingeleitet und so konnte sie sich ohne Probleme ganz offiziell in Wiesbaden bei der Polizei melden. Die Gestapo legte dort problemlos eine Karteikarte an, ohne die Polizei in Eltville bzw. Rauenthal zu informieren. Bis zum 1. September war es den Bewohnern von Friedrichssegen ohnehin möglich, das nicht umzäunte Lager, ohne besondere Genehmigung zu verlassen.

Möglicherweise hatte ihr auch der Umstand geholfen, dass sie von Anbeginn auch eine Arbeit in Wiesbaden hatte, vielleicht war die entsprechende Abmachung auch schon zuvor getroffen worden. Sie erhielt eine Anstellung als Haushaltshilfe bei dem jüdischen Ehepaar Heymann, das früher Inhaber von ‚J.Hertz – Damenmoden’, einem der einmal renommiertesten Konfektionsgeschäfte in Wiesbaden, gewesen war. Das Ehepaar, das bis zum 10. Juli 1939 auf einer großen Etage im Haus Nerotal 35 wohnte, hatte am besagten Termin in die ursprünglich einem Verwandten gehörende Villa im Nerotal 53 ziehen müssen, die inzwischen zum Judenhaus erklärt worden war. Am 10. Mai 1941 hatten Heymanns auf behördliche Anordnung ihre bisherige Wohnung frei machen und innerhalb des Hauses umziehen müssen. Eine einzelne Fliegerbombe der RAF hatte am 6. Mai erhebliche Schäden angerichtet, sodass Wohnraum für die Ausgebombten gesucht werden musste. Was lag näher, als die Juden zu zwingen, diese Räume freizumachen. Heymanns bewohnten seitdem nur noch zwei Zimmer im zweiten Stock des Gebäudes. Als Karolina Neumann am 9. August 1941 nach Wiesbaden kam, wurde auch sie Bewohnerin dieses Ghettohauses. Vermutlich musste sie sich die zwei Zimmer im zweiten Stock mit Heymanns teilen. Zumindest zählte er sie zum gemeinsamen, aus drei Personen bestehenden Haushalt. Über ihre Zeit in Wiesbaden liegen von ihr selbst so gut wie keine Dokumente vor,[65] nur in den Akten ihres Arbeitgebers taucht ihr Name einmal auf. So geht aus der Aufstellung über die Lebenshaltungskosten der Heymanns vom Februar 1942 hervor, dass ihre Angestellte einen monatlichen Lohn von 67 RM erhielt.[66]

Wie es zu der Verbindung zwischen dem Ehepaar Heymann und Lina Neumann gekommen war, ist unklar. Möglicherweise gab es aber ältere geschäftliche Verbindungen zwischen der Familie Neumann und Heymann, da ja beide in der gleichen Branche tätig waren.[67]

Neben der wenig informativen Entschädigungsakte existiert nur noch die bereits erwähnte dünne Vermögensteuerakte, die noch beim Finanzamt Rüdesheim angelegt worden war und nur die Erklärungen der Jahre 1940 und 1942 beinhaltet. 1940 wohnte sie noch in Rauenthal und besaß einige landwirtschaftliche Flächen und ein Drittel am Elternhaus, das mit einem Einheitswert von 4.480 RM taxiert worden war. Ein Gewerbe hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. Vor diesem Hintergrund ist es eher unwahrscheinlich, dass sie mit 2.000 RM zur Judenvermögensabgabe herangezogen wurde, wie ihre Schwester Berta im Entschädigungsverfahren angab.[68] Sie hätte 1938 ein Vermögen von etwa 8.000 bis 10.000 RM besessen haben müssen, was angesichts der Zahlen in ihrer Steuererklärung von 1940 wenig wahrscheinlich ist. Das Gesamtvermögen wurde auf etwa 2.000 RM geschätzt, wofür sie 10 RM Vermögensteuer zu zahlen hatte. 1942 musste sie weder Einkommens- noch Vermögenssteuer bezahlen. Am Ende ihres Lebens besaß sie nichts mehr.
Ein kleines Formblatt stellt noch fest, dass sie am 10. Juni 1942 „abgeschoben“ wurde und ihre Steuerakte deshalb geschlossen werden könne.[69] Im Mai / Juni 1942 hatte ihre Schwester Berta – so gab sie an – noch ein letztes Lebenszeichen von Lina erhalten.[70]

Am 10. Juni verließ morgens ein Zug mit 371 „Passagieren“ den Wiesbadener Bahnhof mit dem ersten Ziel Frankfurt, wo etwa 880 Jüdinnen und Juden aus dem ganzen Regierungsbezirk Wiesbaden bereits in der Großmarkthalle versammelt waren. Eigentlich war das Ghetto von Izbica im Generalgouvernement als das Ziel des Transports mit insgesamt etwa 1250 Menschen vorgesehen. Auf dem Weg dorthin wurde in Lublin Zwischenstation gemacht, wo etwa 190 bis 250 arbeitsfähige Männer den Zug verlassen durften bzw. mussten, um zwangsweise beim Aufbau des nahe gelegenen Konzentrationslagers Majdanek zu helfen. Keiner von ihnen hat überlebt. Nicht sicher ist, ob der Transport von Lublin aus dann in Richtung seines ursprünglichen Ziels aufbrach. Das schon völlig überfüllte Ghetto konnte die große Zahl der Deportierten wahrscheinlich nicht mehr aufnehmen,[71] sodass der Zug spätestens nach zwei Tagen das Vernichtungslager Sobibor ansteuerte, wo die Menschen vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft in die Gaskammern getrieben wurden.[72]
Wenngleich ihr Todesdatum in der offiziellen Todeserklärung mit dem 10. Juni 1942 angegeben ist, also mit dem Tag der Abfahrt aus Wiesbaden, und daher so nicht stimmen kann, so kommt er dem tatsächlichen Todestag doch sehr nahe.[73] Die wenigen Tage, die ihr danach auf dem Transport noch blieben, können ohnehin nicht mehr dem Leben zugerechnet werden.

 

Die Deportation der Rauenthaler Juden aus Friedrichssegen

Nachrichten darüber, wie ihr Bruder Gustav und ihr Cousin Josef mit seiner Tochter Lore das Jahr in Friedrichssegen überstanden, gibt es nicht. Immerhin ist die Erinnerung der überlebenden Hildegard Brodan erhalten geblieben, die damals selbst noch Kind mit anderen Kindern gespielt hatte. Zu diesem Kreis gehörte auch die 16-jährige Lore, die aber auch schon in der Ziegelfabrik Zwangsarbeit verrichten musste.[74]

Nachdem die insgesamt 56 Insassen von Friedrichssegen, die namentlich bekannt sind,[75] ein Jahr des Leidens in dem Lager ertragen hatten, wurden sie im Sommer 1942 in zwei kleinen Transporten über Frankfurt in den Osten deportiert. Die erste Abschiebung mit 26 Personen fand am 10. Juni 1942 statt, dem gleichen Tag, an dem Karolina von Wiesbaden aus deportiert wurde. In Frankfurt wird sie vermutlich wieder auf die Gruppe aus Friedrichssegen getroffen sein.
Bei der Deportation sollten zunächst die jüngeren und zumindest noch ansatzweise arbeitsfähigen aus dem Regierungsbezirk Wiesbaden „evakuiert“ werden. Deswegen standen in Friedrichssegen auch Lore und Albert Neumann auf der Liste, Josef Neumann war immerhin schon fünf Jahre älter und stand vor Vollendung seines 70sten Lebensjahrs.
Man hatte damals die Gruppe noch aus Tagschacht per Lastwagen an den Bahnhof gebracht, von wo aus sie unter Polizeibegleitung mit dem Zug zunächst nach Frankfurt fuhren. Unter unmenschlichen Bedingungen mussten sie die Nacht in der Großmarkthalle verbringen.[76] Am nächsten Tag steuerte der Zug sein eigentliches Ziel, die Region Lublin im sogenannten Generalgouvernement an. Etwa 190 bis 250 arbeitsfähige Männer wurden – wie bereits erwähnt – von dort nach Majdanek geschickt, um als Zwangsarbeiter beim Lageraufbau zu helfen.

Als Todestag von Albert wurde amtlich der 10. Juli 1942 festgelegt.[77] Dieses Datum, das auf der Aussage des Bürgermeisters von Oberlahnstein beruhte, ist ohne faktische Substanz. Im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz steht noch immer, allerdings ohne konkretes Todesdatum, dass er in Minsk ermordet wurde.[78] Mit größter Wahrscheinlichkeit wurden Albert und Lore Neumann, wie alle anderen Insassen des Transports, in den Tagen zwischen dem 11. und 18. Juni 1942 im Gas von Sobibor ermordet.

Ein zweiter Transport mit 24 Personen verließ Friedrichssegen am 28. August 1942. Diesmal mussten die Betroffenen die Kilometer zu dem im Lahntal gelegenen Bahnhof zu Fuß gehen.
Ein Zeuge, damals noch im Kindesalter, erlebte den Abtransport dieser zweiten Gruppe:
„Es war an einem Nachmittag zwischen 14 und 16 Uhr, denn ich war schon aus der Schule nach Hause zurückgekehrt und mußte anschließend meine Hausaufgaben anfertigen. lch sah den Trauerzug der jüdischen Menschen sich dem Bahnsteig nähern, abgemagerte und verängstigte Gestalten waren es. Sie hatten keinerlei Hoffnung und auch keinerlei Chance, sich irgendwie wehren zu können. Einheimische waren zur Bewachung eingeteilt worden, fremde SS-Leute überwachten streng den Zug. Etwa eine halbe Stunde mussten diese bemitleidenswerten Menschen auf dem Bahnsteig warten. Es waren vorwiegend alte Menschen. Sie trugen nur armselige kleine Koffer und Taschen. Mir fielen ein Mädchen mit schweren langen Zöpfen  und ein Junge mit Pudelmütze auf. Insgesamt herrschte eine lähmende Stille auf dem Platze. Als endlich der Zug einlief, wurden die Menschen mit Faust- und Gewehrkolbenschlägen in die Abteile der Personenwagen gestoßen. Es tat weh, die Brutalität der Wachmannschaft mit ansehen zu müssen. Eine solche Eile war eigentlich nicht angebracht gewesen, denn der Zug stand noch einige Zeit auf dem Bahnsteig. Laut ging es jetzt zu: Die Bevölkerung stand herum, meist Frauen und Kinder. Einige klatschten vor Freude in die Hände und schrien ,’bravo’!“.[79]

Zu den Menschen, die auf diese Weise in den Tod verabschiedet wurden, gehörte jetzt auch Josef Neumann. Wieder bracht der Zug die kleine Gruppe nach Frankfurt, wohin auch die älteren 365 Wiesbadener Jüdinnen und Juden am Morgen des 1. September gebracht wurden. Von dort nahm der Zug am nächsten Morgen seine Fahrt nach Theresienstadt auf, das am folgenden Tag erreicht wurde.
Laut einer Aufstellung von Rummel über das Schicksal der zuvor in Friedrichssegen festgehaltenen Menschen verstarben mindestens neun von ihnen in Theresienstadt, fünf in Auschwitz und zehn wurden noch Ende September in einem Transport mit der Bezeichnung ‚Bs’ am 29. nach Treblinka geschickt.[80] Josef Neumann, dem man die Transportnummer 1739 gegeben hatte, gehörte zu dieser Gruppe. Namenlos verendete er vermutlich dort in einer der neu errichteten Gaskammern, die gerade ihren „Betrieb“ aufgenommen hatten. Er war einer von etwa 180 000, die allein im September oder einer von 210 000, die im Oktober 1942 dort umgebracht worden waren.[81]

 

Gustav und Berta Nußbaum, geborene Neumann, und ihre Tochter Lotte

Die Einzige, der drei Geschwister Neumann, die den Holocaust überlebte und später in den Entschädigungsverfahren Auskunft über das Geschehen geben konnte, war Berta. Dass das möglich wurde, hatte sie einer mehr als glücklichen Fügung zu verdanken, denn auch ihr war eigentlich schon der sichere Tod zugedacht gewesen.

Berta Neumann hatte am 22. Oktober 1913 in Rauenthal Gustav Nußbaum aus Niederingelheim geheiratet. Geboren war er aber am 11. Januar 1874 in Raboldshauesen als Sohn des Lehrers Josef Nußbaum und seiner Frau Bertha, geborene Wertheim, die aus Stendal im Regierungsbezirk Magdeburg kamen, zum Zeitpunkt der Hochzeit aber in Rhaunen im Hunsrück lebten.[82]

Für Gustav Nußbaum war es bereits die zweite Ehe, nachdem seine erste Frau Rosa Stern, die er am 19. Januar 1901 in Niederingelheim geheiratet hatte, im Alter von nicht einmal vierzig Jahren verstorben war.[83] In der Ehe waren zuvor zwei Kinder geboren worden, zunächst am 24. Oktober 1901 der Sohn Oskar, dann ein Jahr später am 16. November die Tochter Elisabeth.[84]
Durch seine erste Frau wurde Gustav Nußbaum in die jüdische Familie Stern aufgenommen, die in Ingelheim ein alteingesessenes, jüdisches Textilgeschäft betrieb. Gegründet worden war das Ellenwarengeschäft von Isaak Stern im Jahr 1822. Verkauft wurden aber auch Bettfedern, Kleidungsstoffe „mit neuestem Design“ und – wie er in einer Anzeige im Rheinhessischen Beobachter aus dem Jahr 1861 hervorhob – „ohne Flecken und Risse“.[85]

Das alte Textilgeschäft Ludwig Stern in der Mainzer Str. 78
Stadtarchiv Ingelheim

Nach dem Tod des Firmengründers im Januar 1862 übernahmen die beiden Söhne David und Leopold das Geschäft, das fortan unter dem Namen ‚I. Stern – Söhne‘ firmierte. Die beiden beschränkten sich nicht mehr nur auf Textilien, sondern boten auch landwirtschaftliche Produkte wie Heu und Stroh, aber auch Hustensaft an. Während David Stern 1889 nach Mainz verzog, blieb Leopold in Niederingelheim im Haus in der heutigen Mainzer Str. 78 und konzentrierte sich wieder auf sein ursprüngliches Kerngeschäft. Neben verschiedenen Stoffen bot er Textilien für Frauen und Mädchen sowie Herren und Knaben an.

Berta und Gustav Nussbaum
Berta und Gustav Nußbaum
Stadtarchiv Ingelheim

1863 hatte er Franziska Sundheimer, genannt Fanny, geheiratet. In dieser Ehe wurden zehn Kinder geboren, darunter am 14. November 1872 die Tochter Rosa, die erste Frau von Gustav Nußbaum. Nicht bekannt ist, ob Gustav Nußbaum nach seinem Einstieg in die Firma des Schwiegervaters und nach dessen Tod am 22. Februar 1917 bzw. nach dem Tod von Rosa und seiner Neuvermählung das Geschäft alleine oder mit weiteren Angehörigen weiterführte. In der zweiten Ehe mit Berta Neumann war am 20. Januar 1920 noch eine Tochter geboren worden, die den Namen Lotte erhielt.[86]
Über die geschäftliche Entwicklung ist nur wenig bekannt, aber aus dem Entschädigungsverfahren nach dem Krieg geht hervor, in welchen finanziellen Verhältnissen die Familie lebte:

„Es ist bekannt, daß die Familie Nußbaum finanziell sehr gut gestellt war, und daß auch ihre Einrichtung sowie die im Haushalt benötigten Wäschestücke einem gepflegten Haushalt entsprachen. Es ist hier weiter bekannt, daß durch die damalige Polizeibehörde im Auftrag der NSDAP aus dem Geschäft und Haushalt der Familie Nußbaum erhebliche Mengen Textilien beschlagnahmt wurden, die der NSV zur Verfügung gestellt worden sind. Darüber hinaus sind aufgrund einer späteren Anordnung, wie bei allen Juden, auch die Wertsachen, wie Gold- und Silbergegenstände, Pelze, elektrische Apparate und ein Radiogerät weggeholt worden. Auch die Ausstattung der Tochter ist so beschlagnahmt worden. Dem Ortsgericht ist natürlich nicht bekannt, was im einzelnen geholt worden ist, welche Mengen Textilien dies waren und welchen Wert die Gegenstände hatten.“[87]

Das Haus der Familie Nußbaum in der Mainzer Str. 78 heute
Eigene Aufnahme

Abgesehen vom Inventar und der Hofreite mit dem Geschäfts- und Wohngebäude, in dem es sechs Zimmer, Küche, Bad und Keller gab, besaß die Familie Nußbaum auch noch einen Acker und einen Weinberg in der Gemarkung von Ingelheim. Aber seit dem Ende der zwanziger Jahre, vielleicht zum Teil auch verursacht durch die Weltwirtschaftskrise, muss das Geschäft in Bedrängnis gekommen sein. Die erste überlieferte besorgniserregende Nachricht stammt vom Ende des Jahres 1933, dem Jahr in dem der Boykott jüdischer Geschäfte bereits in vollem Gange war. Zu diesem Zeitpunkt war Gustav Nußbaum alleiniger Inhaber.

Am 17. und 22. November erschienen zwei Anzeigen in der Ingelheimer Zeitung, in denen er seiner Kundschaft besonders preiswerte Waren offerierte, vermutlich unter dem Druck des Boykotts. Nur wenige Wochen später, zum Jahresende, musste er das Geschäft, das über 100 Jahre in Ingelheim existiert hatte, aufgeben.[88] 1935 erhielt Gustav Nußbaum mit 14 anderen jüdischen Kriegsteilnehmern

Gustav Nußbaum
Anzeige von Gustav Nußbaum in der Ingelheimer Zeitung vom November 1933

des Ersten Weltkriegs zynischerweise vom „Führer“ noch das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen.[89] Genutzt hat im diese Auszeichnung im Folgenden nicht. Schon wenige Wochen später wurden Juden prinzipiell vom Dienst in der Wehrmacht ausgeschlossen – noch das Geringste, was man ihnen antat.
In der Pogromnacht, in der die SA unter tatkräftiger Hilfe der Bevölkerung auch in Ingelheim die Wohnungen der Juden aufsuchte und sie bestialisch drangsalierte, konnte man dem Geschäft von Gustav Nußbaum nichts mehr anhaben, aber er selbst wurde verhaftet und Teile seines Vermögens wurden zumindest teilweise konfisziert.[90] Er selbst, seine Frau und seine Tochter blieben aber anders als viele andere jüdische Bewohner offenbar selbst verschont. Zumindest ist ihr Name in der Studie von Müller über die Novemberpogrome in den rheinhessischen Landgemeinden nicht genannt.[91]

Ingelheim war der erste Ort, den ein Rollkommando der SA aus Wackernheim aufsuchte. Dort waren die sogenannten „Legionäre“ in einem Lager untergebracht worden, die nach dem gescheiterten Putsch in Österreich vor dem „Anschluss“ des Landes  nach Deutschland geflohen waren. Ein Teil der etwa 1.700 österreichischen Nazis waren inzwischen zurückgekehrt, andere waren in Wackernheim geblieben. Diese durch die „Kampfzeit“ geprägten und hochgradig brutalisierten SA-Männer bildete die Speerspitze der Truppe, die dann mit jeweils örtlichen SA-Leuten das gewalttätige Vorgehen in den rheinhessischen Orten bestimmte. Sie zogen auch am Haus der Nußbaums vorbei, offenbar aber ohne dort aktiv zu werden. Die namentlich genannten Opfer, die „abgeschmiert“ werden sollten, waren die Metzgerfamilie Strauß, deren Möbel aus dem Fenster auf die Straße geworfen und angezündet wurden, der Düngemittelfabrikant Koch und die Familie Mayer. Frau Lina Koch wurde nach Zeugenberichten an in eigenen Haaren aus dem Fenster gehängt. Die Menschenmenge, die die Ausschreitungen mit ansah, zeigte – so Müller – einen Voyeurismus, der sie zu Komplizen des Pogroms werden ließ.[92] Oft war man aber auch bereit, den Mob selbst tatkräftig zu unterstützen. So half ihnen ein Nachbar der jüdischen Familie Eisemann in der Stiegelgasse mit seinem herbeigeholten Beil, die Tür einzuschlagen und der Meute Zutritt in die Wohnung zu verschaffen.[93]

Die schrecklichen Ereignisse dieser Tage veranlassten die Jüdinnen und Juden überall, bisher nur erwogene, aber noch nicht konkret in Angriff genommene Auswanderungspläne umgehend in die Tat umzusetzen. Spätestens seit Sommer 1939 lassen sich solche Absichten auch bei Nußbaums nachweisen. In einem Schreiben, das Gustav Nußbaum im Frühjahr an die Gemeinde richtete, erklärte er sich zum Verkauf oder zur Vermietung seines Hausgrundstückes bereit. Im Sommer 1940 versuchte er brieflich Kontakt mit seinem in Florida lebenden Schwager aufzunehmen. Der Brief erreichte diesen jedoch nicht mehr. Durch den Einstieg der Amerikaner in den Krieg wurde die dorthin adressierte Post kontrolliert und mit dem Vermerk „geprüft – Oberkommando Wehrmacht“ meist an den Absender zurückgeschickt. So auch der Hilferuf von Gustav Nußbaum.

Am 20. September 1942 wurden 17 Jüdinnen und Juden aus Ingelheim abtransportiert, darunter auch Gustav Nußbaum, seine aus Rauenthal stammende Frau Berta und ihre gemeinsame 22-jährige Tochter Lotte.

Die erste Station auf dem Weg ihrer Vertreibung war Mainz, wo die Jüdinnen und Juden aus Rheinhessen zusammen mit denen aus der Stadt selbst in der Turnhalle der dortigen Goetheschule gesammelt wurden.[94] Mehr als 1500 Menschen, etwa 630 aus Mainz und 890 aus Rheinhessen, warteten eng aneinander gedrängt dort auf ihren Weitertransport in das nächste Sammellager in Darmstadt.[95] Auch hier hatte man wieder eine Schule, die in der Nähe des Güterbahnhofs gelegene Liebigschule, für diesen Zweck gewählt und den Schulbetrieb kurzerhand für fast drei Wochen eingestellt. Niemals zuvor oder danach hatte es in Deutschland ein Sammellager über einen solch langen Zeitraum gegeben. Mitte September waren schon die ersten Juden aus Oberhessen, die zuvor in Gießen und Friedberg zusammengeführt worden waren, dort untergebracht worden. Weitere kamen danach aus Offenbach hinzu. Bevor man diejenigen aus Darmstadt und Umgebung ebenfalls dort einlieferte, waren am 24. September die aus Mainz und Rheinhessen eingetroffen. Alle hatten zuvor, wie üblich, strikte Anweisungen erhalten, was sie mitnehmen durften bzw. mussten, wie die Wohnung zurückzulassen war und wie viel Fahrgeld – 50 RM – sie für ihre Deportation zu zahlen hatten.[96] Eine Vermögenserklärung war der Gestapo ebenfalls vorzulegen.
Mehr als 2000 Menschen, dürftig verpflegt mit einer dünnen Wassersuppe, warteten zuletzt auf dem Schulgelände, bewacht von SS-Leuten, auf ihren Abtransport. Einige starben schon dort, bevor sie den Zug besteigen konnten. Ursprünglich war geplant, die Menschen in drei Transporten in den Osten zu bringen. Zu diesem Zweck war die Menge unterteilt worden in eine große Gruppe der Älteren, oft kränklichen, und eine Gruppe der unter 65-Jährigen. Letztere waren eigentlich für einen Arbeitseinsatz bei der Ernte im Bezirk Lublin vorgesehen – zumindest hatte man ihnen das gesagt. Die Älteren hingegen sollten in das „Vorzugsghetto“ Theresienstadt geschickt werden. In der Konsequenz bedeutete das, dass die Familien unter vielen Tränen schon in Darmstadt auseinandergerissen wurden. Nur Kinder unter 15 Jahren durften bei ihren Eltern bleiben. Am 27. September verließ der Zug mit der Kennung ‚Da 520’ und fast 1300 ältere Menschen den Güterbahnhof von Darmstadt. Zwar war der Zug mit seinen 20 Personenwagen völlig überladen und entsprach nicht der sonst gängigen Zahl von etwa 1000 Personen, aber man konnte so einen ursprünglich geplanten zweiten Zug nach Theresienstadt einsparen.[97]

Am nächsten Tag wurde das Ziel erreicht, genauer gesagt, der Bahnhof Bauschowitz, der 3 km von Theresienstadt entfernt lag. In kleinen Gruppen mussten sie die restliche Strecke mit ihrem Gepäck zu Fuß zurücklegen. Über die elendigen Zustände, die die Menschen in Theresienstadt erwarteten, liegen hinreichend Zeugnisse vor, auch von Überlebenden, die am 28. September dort angekommen waren.[98]
Kam ein neuer Transport in Theresienstadt an, so eilte die Kunde sofort durch das ganze Lager. Wo kamen die Menschen her ? Waren Bekannte oder Verwandte darunter ? Oft trafen sich hier Menschen wieder, die sich seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten. Aber angesichts der grassierenden Not, die die früheren Menschen zu sogenannten „Muselmännern“ hatte abmagern lassen, erkannten sie sich auf den ersten Blick oft nicht wieder. Ob Berta in Theresienstadt auf ihren Cousin Josef stieß, der möglicherweise im Juni 1942 von Friedrichssegen ebenfalls dorthin gelangt war, ist ungewiss, sogar eher unwahrscheinlich. Der Transport, der ihn Ende September nach Treblinka brachte, hatte ja gerade den Zweck, Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen.

Lotte Nussbaum
Lotte Nußbaum
Stadtarchiv Ingelheim

Nachdem der Zug mit den älteren Menschen, darunter auch Berta und Gustav Nußbaum, am 27. September Darmstadt verlassen hatte, musste ihre Tochter Lotte die Fahrt in den Tod alleine, ohne ihre Eltern antreten. Sicher ist, dass der Zug mit der Bezeichnung ‚Da 84’ am 30. September den Güterbahnhof verließ. Mindestens 880 Menschen, vielleicht sogar über 900, kauerten in den Wagen, nicht wissend, was ihnen bevorstand. Das ursprüngliche Ziel Izbica in der Region Lublin und dem nahe gelegenen Vernichtungslager Sobibor konnte nicht angesteuert werden, weil vom Juli bis in den Herbst 1942 Gleisarbeiten auf der Strecke verrichtet wurden, die deren Nutzung unmöglich machten. Aus diesem Grund wurde der Zug in die Region Warschau, nach Treblinka; umgeleitet, wo die SS im Rahmen der ‚Aktion Rheinhardt’ ihre mörderische Arbeit verrichtete.[99] Hier wurden alleine 18 000 Bewohner aus Theresienstadt in den Monaten September und Oktober 1942 ermordet. Dass auch der zweite Transport aus Darmstadt dorthin gelangte, ergibt sich aus einer Zeitzeugenniederschrift eines der wenigen Überlebenden des Lagers. Er notierte unmittelbar nach dem Krieg: „Mit den Transporten aus Darmstadt, aus Theresienstadt, überhaupt aus dem Westen, die in Personenwaggons ankommen, geht man noch milde um. Die scheinen noch immer nichts zu wissen. Jeder ahnungsvolle Gedanke wird gleich weit von sich gestoßen. Niemand kann sich sein eigenes Ende vorstellen – ein solches nacktes Ende.“[100]

Dieses nackte Ende kam unmittelbar nach Ankunft des Zuges. Unter dem Vorwand, von Treblinka aus in die Arbeitslager geschickt zu werden, zuvor aber aus hygienischen Gründen noch einmal geduscht werden zu müssen, mussten Männer und Frauen getrennt ihre Kleider abgeben. Ihre Haare wurden zur weiteren Verwertung geschoren. Anschließend wurden sie unter Schlägen durch den sogenannten „Schlauch“, ein mit Stacheldraht begrenzter Pfad, in die Gaskammern getrieben, in die die Abgase eines Panzer-Dieselmotors geblasen wurden. Der Todeskampf der Eingeschlossenen dauerte bis zu einer halben Stunde. Dann waren sie von ihrem Leiden erlöst. Lotte Nußbaum war, wie schon zuvor Josef Neumann, eines der Opfer dieser bestialischen Tortur.[101]

 

Der Tod ihrer Tochter im Gas von Treblinka war für die Eltern umso tragischer, als sie selbst zu den Überlebenden des Holocaust gehörten. Irgendwie überstanden sie die Zeit seit ihrer Ankunft in Theresienstadt im Frühherbst 1942 bis zum Niedergang des Regimes. Genauere Angaben, wo und wie sie dort überlebten, liegen nicht vor.
Aber im Spätherbst 1944, als die Niederlage der Nazis sich immer deutlicher abzeichnete, befürchtete man in Theresienstadt, dass auch dieses Ghetto zuletzt noch liquidiert würde.[102] Aber noch benötigte das Regime die Arbeitskräfte für die Kriegsproduktion. Für die dort Anfang 1945 noch lebenden Gefangenen bedeutete das, dass alle, die über zehn Jahre alt und arbeitsfähig waren, 70 Wochenstunden für den Endsieg schuften mussten. Gleichzeitig machte sich aber unter den SS-Leuten zunehmend Nervosität breit. Man war sich uneins, wie man mit den noch etwa 11 000 Gefangenen im Ghetto umgehen sollte. So wurden einerseits Vorbereitungen für eine mögliche Massentötung im Ghetto bzw. in den Befestigungsanlagen getroffen, andererseits versuchte man aber auch Theresienstadt noch einmal als Vorzeigeghetto zu präsentieren, in der Hoffnung, einer Strafverfolgung so entgehen zu können. Noch einmal – im April 1945 ! – kam eine Delegation des Roten Kreuzes  und bescheinigte nach Besichtigung ausgesuchter Kulissen und Gefangener den humanen Standard des Lagers. Auch versuchte die SS-Führung, namentlich Himmler selbst, die noch in Theresienstadt vorhandenen jüdischen Gefangenen als Verhandlungsmasse zu nutzen. Gegen Lastwagen, Traktoren und Maschinen, aber nicht gegen Geld und Devisen, die die Nazis nicht verwenden konnten, sollte eine bestimmte Zahl von ihnen frei kommen. Der Deal zwischen dem ehemaligen schweizerischen Bundesratsvorsitzenden Jean Marie Musy und der SS-Führung war bereits am 15. Januar 1945 geschlossen worden.[103] Am 5. Februar konnten dann 1 200 Menschen das Ghetto Theresienstadt mit einem Zug verlassen. Er brachte sie direkt in die Schweiz und damit in die Freiheit. Viele fürchteten, es handele sich nur um eine Finte und der Zug würde, wie so viele zuvor, in eines der Vernichtungslager führen, und wagten es nicht, sich auf die Liste setzen zu lassen. Der Chef des Prager „Zentralamts für die Regelung der Judenfrage“, ein SS-Sturmbannführer Günther und der Kommandant von Theresienstadt Rahm wählten die Namen derjenigen aus, die letztlich fahren durften. Erst in den folgenden Tagen erfuhr man dann durch das illegale Abhören ausländischer Rundfunksender, dass der Zug tatsächlich in St. Gallen angekommen war.[104] Berta und Gustav Nußbaum waren zwei seiner Insassen. Sie hatten den Mut gehabt, sich dem Risiko auszusetzen, und hatten überlebt.[105]

Evelyne und Raymonde Nussbaum
Evelyne und Raymonde, die Kinder von Oskar und Hanna Nußbaum
Stadtarchiv Ingelheim

Nach einer Quarantänezeit in der Schweiz konnten beide 1946 nach Frankreich ausreisen, wo die beiden Kinder von Gustav Nußbaum aus der ersten Ehe die NS-Zeit überlebt hatten. Oskar war mit seiner Frau 1939 in das Nachbarland geflohen und war dann nach dem Überfall der deutschen Truppen mit seiner Familie, zu der inzwischen auch zwei Töchter gehörten,[106] in Südfrankreich untergetaucht. Jedes halbe Jahr habe man aus Sicherheitsgründen die Wohnung gewechselt. Die beiden Töchter wurden von 1941 bis 1944 in einem südfranzösischen Kloster versteckt. Nach der Befreiung lebte die Familie wieder in Paris, wo Gustav Anfang der 90er Jahre verstarb.

Oskar und Elisabeth Nußbaum
Die Kinder von Gustav Nußbaum aus seiner ersten Ehe gehörten auch zu den Überlebenden
HHStAW 518 77759 (78)

Seine Schwester Elisabeth, genannt Lissy, hatte 1931 Benno Kapp aus Mainz Hechtsheim geheiratet.[107] Zusammen führten sie kurz noch ein Textilgeschäft in der Bahnhofstraße, das sie aber bald nach dem beginnenden Boykott aufgeben mussten. 1936 emigrierten sie nach Palästina, wo am 21. November 1937 ihre Tochter Ruth geboren wurde. Ihren eigentlichen Plan, in die USA auszureisen, scheiterte an der restriktiven Einwanderungspolitik der USA, weshalb die Familie zunächst ebenfalls nach Frankreich ausreiste, wo Lizzys Bruder lebte, um dort auf die Möglichkeit zu einer Weiterreise zu warten. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich beginnt für die Familie eine neue Phase der Verfolgung. Von Paris aus flohen sie in den angeblich freien Süden, nach Toulouse, wo auch Benno Kapps Bruder Heinrich mit seiner Familie sich verborgen hielt.[108] Es begann die Zeit der Illegalität, in der aber die Familie auch sehr viel Solidarität von Franzosen erfuhr, die sie versteckten und sie mit Nahrung versorgten. Ihre Tochter Ruth wurde bis zum Ende des Krieges zwar von ihren Eltern getrennt, aber in einem katholischen Waisenhaus vor ihren Verfolgern verborgen. Nach der Befreiung Frankreichs durch die alliierten Truppen kehrte die Familie von Elisabeth Kapp 1946 wieder nach Paris zurück. Ende des Jahres erfuhr Lizzy, dass zumindest ihr Vater und Berta, seine zweite Frau, auf wundersame Weise überlebt hatten. Die Geretteten wurden von den Familien ihrer in Paris lebenden Kinder bzw. Stiefkinder aufgenommen. Gustav Nußbaum verstarb allerdings bald nach seiner Befreiung, aber Berta Nußbaum, geborene Neumann aus Rauenthal, die die Entschädigungs- und Rückerstattungsverfahren für ihre ermordeten Geschwister in die Wege leitete, konnte sich nach den schlimmen Jahren in Theresienstadt noch einmal erholen. Sie verstarb am 12. Januar 1963 im hohen Alter von 83 Jahren in Paris.[109]

Nußbaum Nussbaum Ingelheim
Stolpersteine vor dem Haus Mainzer Str. 78 für die Familie Nußbaum
Eigene Aufnahme

 

Das Schicksal der Kinder von Adolf und Betty Neumann, geborene Löwenstein

Nicht nur die Kinder von Samuel Simon und Fanny Neumann waren zu Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns geworden, auch unter den Kindern seines Bruders Adolf, der nur wenige Meter entfernt in der Rauenthaler Hauptstr. 73 seine Metzgerei betrieb, gab es viele Opfer zu beklagen. Die Eltern der vermutlich zehnköpfigen Kinderschar selbst erlebten die Zeit der NS-Herrschaft nicht mehr. Der Vater verstarb am 2. November 1918, die Mutter am 3. März 1925 in ihrem rheingauer Heimatort,[110]

Im gegebenen Rahmen kann das Schicksal der Cousins und Cousinen der einst in Wiesbaden lebenden Judenhausbewohnerin Karolina Neumann umfassend dargestellt werden, aber wenigstens in knapper Form soll ihnen hier gedacht werden.

An Josef Neumann, den zweitältesten Sohn von Adolf Neumann, und seine Familie wurde im Zusammenhang mit der Umsiedlung der Rauenthaler Juden nach Friedrichssegen bereits erinnert.

Sein älterer Bruder Albert, geboren am 2. Januar 1872,[111] war das erste Kind von Adolf und Betty Neumann. Über sein Leben liegen nur wenige Informationen vor, aber die wenigen Hinweise, die es gibt, lassen auf ein sehr tragisches Leben schließen.
Schon früh muss er den Rheingau verlassen und sich als Kaufmann im bayrischen Bamberg niedergelassen haben. Aus einer der Kriegsranglisten kann man entnehmen, dass er spätestens 1891 in Bayern erfasst worden war.[112] Damals war er schon verheiratet mit der aus Bayern stammenden Frau Ida, geborene Sontheimer, die am 13. Oktober 1878 im nahen Würzburg zur Welt gekommen war. Vermutlich war die Ehe kurz nach der Jahrhundertwende geschlossen worden, den bald danach kamen die beiden Töchter des Paares in Bamberg zur Welt, zunächst Olga, geboren am 16. Februar 1903, dann Siegfriede, genannt Friedl, am 20. Dezember 1905. Zumindest der Name seiner zweiten Tochter legt nahe, dass Albert ein assimilierter Jude war, der den nationalen und imperialen Bestrebungen des Kaiserreichs zugetan war.

Eine von mehreren Kriegsranglisten von Albert Neumann, seine Frau war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben
https://www.ancestry.de/search/collections/1631/records/10575981?tid=&pid=&queryId=bb51258f-7034-42a2-bd08-ce557eb3f993&_phsrc=svo5754&_phstart=successSource

Als dann der Erste Weltkrieg ausbrach, war er von Anfang an dabei, obwohl er bereits das 40ste Lebensjahr überschritten hatte.[113] Vielleicht war dafür nicht nur seine politische Haltung verantwortlich, sondern auch die Tatsache, dass er seit dem 18. März 1914 Witwer geworden war.
Ob er nach dem Ende des Krieges bald wieder nach Bamberg zurückkehrte, ist nicht bekannt, aber dort lebte er wieder, nachdem den Nazis die Macht in Deutschland zugefallen war. Im Zusammenhang mit der Reichspogromnacht wurde er dort verhaftet.[114]

Albert Neumann
Karteikarte von Albert Neumann aus Theresienstadt mit Datum der weiteren Deportation
https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01014202/0146/132710126/001.jpg

Als sie dann begannen, ihren „Endlösungsplan“ zu realisieren, wurde auch Adolf Neumann erneut festgenommen und mit dem Transport II/25 am 11. September 1942 von Nürnberg aus nach Theresienstadt deportiert. Nur zwei Wochen blieb er in dem „Vorzugsghetto“. Am 26. September brachte ihn dann einer der sogenannten zehn Herbsttransporte, mit denen das völlig überfüllte Ghetto entleert werden sollte, in das Vernichtungslager Treblinka. Mehr als 2000 Menschen aus Theresienstadt wurden allein an diesem Tag den dortigen Gaskammern zugeführt.[115]

Hugo Lammfromm
Hugo Lammfromm
https://images.mgpd.de/img/101358978/crop/c16_9-w1200/1707701980/1475124547/foto1hugolammfrommtif.webp

Auch seine jüngere Tochter Siegfriede wurde in der Shoa ermordet. Sie war in der Württemberg-Hohenzollerischen Gemeinde Buttenwiesen mit Hugo Lammfromm verheiratet, der einer alteingesessenen jüdischen Familie entstammte, die schon früh den Rabbi in der Gemeinde gestellt hatte. Am 10. April 1934 war ihr Sohn Erwin geboren worden. Bald begann auch in dem kleinen Ort, in dem angeblich Juden und Christen über Jahrhunderte friedlich miteinander gelebt hatten, der Terror. Nachdem seine Geschäftsräume von den Nazis durchsucht worden waren, beging der Kaufmann Hugo Lammfromm, der Ehemann von Friedl, am 21. April 1938 noch vor dem Pogrom Suizid. Seine Frau und der kleine Sohn mussten die folgenden Jahre der Verfolgung alleine durchstehen. Am 1. April 1942 wurden dann alle noch in Buttenwiesen lebenden Juden deportiert, darunter neun Personen, die den Nachnamen Lammfromm trugen.[116] Am 3./4. April fuhr der Transport von München aus mit knapp 1000 Menschen aus verschiedenen Regionen und Städten Süddeutschlands in das Ghetto Biaski.[117] Siegfriede Lammfromm und ihr Sohn Erwin sind seitdem verschollen.

Olga Neumann war die Einzige in der Familie, die die NS-Zeit überlebte. Am 3. November 1928 hatte sie in Bamberg Hermann Obernauer geheiratet, der am 29. Dezember 1895 als fünftes und letztes Kind von Israel Obernauer und seiner Frau Pauline in Laupheim geboren worden war.[118] Die Eltern besaßen dort einen Zigarrengroßhandel, den Hermann und sein Bruder Wilhelm übernahmen. Bei einem seiner Geschäftsreisen traf Hermann in Bamberg auf seine zukünftige Frau Olga, die er im November des Jahres 1928 heiratete. Am 22. März 1930 wurde zunächst Paul Jürgen geboren, zwei Jahre später folgte am 22. Januar 1932 Rolf Arno.
Auch in dem kleinen Laupheim, in dem die Familie sehr anerkannt war, wurde die Situation immer schwieriger, sodass sie im Frühjahr 1938 beschloss, in die USA auszuwandern, was aber nicht so schnell realisiert werden konnte. In der Reichspogromnacht wurde Hermann Obernauer in Dachau inhaftiert und erst am 4. Februar 1939 freigelassen, nachdem die Ausreisepläne konkrete Gestalt angenommen hatten. Aber es gab noch eine Reihe von Hindernissen zu überwinden, bevor sie dann am 4. November 1939 von Genua kommend in New York amerikanischen Boden betreten konnten.[119] Hier gelang es ihnen, gemeinsam ein neues Leben aufzubauen. Die Enkelin von Olga und Hermann Obernauer, die deren deutsche Heimat nur aus den Erzählungen ihrer Großeltern kannte, kehrte später nach Deutschland, in die Geburtsstadt ihres Großvaters zurück, um die Stadt während eines längeren Sozialpraktikums selbst kennen zu lernen.

Der auf Josef folgende Sohn Leopold wurde am 3. April 1876 geboren, aber sein kurzes Leben endete schon am 20. September des gleichen Jahres.[120]

Die nächsten Kinder, Gertrude und Ida, kamen am 4. Mai 1877 als Zwillinge zur Welt. [121] Nur Gertrude war eine längere Lebenszeit vergönnt, aber dafür mit einem umso schlimmeren Ende. Ihre Zwillingsschwester verstarb nach nur einem Monat am 4. Juni 1877.[122]
Wann Gertrude ihren Heimatort Rauenthal verließ, ist nicht bekannt, aber ganz offensichtlich hat sie das Abenteuer gesucht oder war schon früh aus wirtschaftlichen Gründen weggezogen. Eine erste Spur von ihr findet man auf einer Passagierliste aus dem Jahr 1900 oder 1910, laut der damals eine Gertrud Neumann aus Deutschland auf dem Schiff ‚New Amsterdam’ von New York nach Rotterdam reiste.[123] Ob es sich dabei tatsächlich um die Gertrud aus Rauenthal handelte, ist aber nicht sicher. Immerhin lebte sie aber später definitiv in Holland, wo sie seit dem 1. Oktober 1919 offiziell gemeldet war.

Gertrude Neumann
Meldung von Gertrude Neumann im holländischen Leeuwarden
Gertrude van der Hoek Neumann
Eheschließung zwischen Gertrude Neumann und Jakob van der Hoek
https://images.memorix.nl/frl/thumb/640×480/3d766be1-5d1f-085a-a8cf-6d26f2de6d39.jpg

Dort heiratete sie am 18. Juni 1924 Jakob van der Hoek. Er war am 4. August 1867 als Sohn von Heiman Levy van der Hoek und seine Frau Betje, geborene  Kann, geboren worden und zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits 56 Jahre alt. Da auch Gertrude schon 47 Jahre alt war, ist klar, weshalb in dieser Ehe keine Kinder mehr geboren wurden.[124] Das Paar ließ sich in der nördlich von Amsterdam an der Nordseeküste gelegenen Stadt Leewarden nieder.
Über das weitere Leben der beiden konnten keine Informationen gefunden werden. Als die Nazis nach der Besetzung der Niederlande auch die dortigen Juden in ihr Vernichtungsprogramm aufnahmen, lebten sie mit zwei anderen jüdischen Bewohnern in Leeuwarden in der Sacramentsstraat 28.[125] Wann sie festgenommen und in das bekannte Durchgangslager Westerbork verbracht wurden, ist nicht bekannt. Dort mussten sie unfreiwillig auf den Zug warten, der sie von dort aus in den Osten bringen würde. Auf Grund des Todesdatums müsste es sich um den Transport gehandelt haben, der am 8. Dezember 1942 das Lager mit 927 Personen verließ. Zwar kam die grundsätzliche Order für die Deportationen aus Deutschland, aus der Abteilung Eichmanns im ‚Reichssicherheitshauptamt’, wurde dann von den zuständigen Stellen in Den Haag an den Lagerkommandanten weitergegeben. Der wiederum wies die jüdische Lagerleitung an, die entsprechenden Transportlisten zu erstellen. Die jeweiligen Barackenleiter hatten dann die schreckliche Aufgabe, den Betroffenen die Nachricht über ihren ‚Abschub’ mitzuteilen.
Am 10. Dezember 1942 erreichte der Zug Auschwitz-Birkenau. 39 Männer und 3 Frauen wurden nach der Selektion ins Lager eingewiesen, die übrigen, so auch Gertrude und Jakob van der Hoek, mussten den Weg in die Gaskammer antreten.

Kettchen Neumann Kabacoff
Heiratsurkunde von Kettchen Neumann und Joseph Kabacoff in Paris
https://www.ancestry.de/search/collections/62058/records/90855759.

Am 4. Januar 1879 gebar in Rauenthal Betti Neumann eine Tochter, die den etwas außergewöhnlichen Namen Kettchen erhielt.[126] Wann sie ihren Heimatort verließ, konnte nicht ermittelt werden, aber auch sie war wie ihre Schwester noch vor dem Ersten Weltkrieg ins Ausland gegangen. Der Heiratseintrag aus Paris vom 3. Mai 1910 legt zumindest nahe, dass sie sich länger in Frankreich aufgehalten hatte, wo sie damals als Zimmermädchen ihren Lebensunterhalt verdiente. Am besagten Tag heiratete sie in Paris den Schneider Joseph Kabacoff, der aus der russischen bzw. ukrainischen Stadt Kiew stammte. Er war, so ist dem Eintrag zu entnehmen, der älteste Sohn von Isaac Kabacoff und Sarah Braunstein, geboren am 22. April 1884. Auch sein Bruder Georges, der als Trauzeuge bei der Eheschließung anwesend war, übte das Handwerk eines Schneiders aus.[127]
In der Ehe wurde im folgenden Jahr am 28. Januar 1911 der Sohn Albert geboren. Von diesem Zeitpunkt an gibt es nur widersprüchliche Informationen über die Familie. Laut Genanet heiratete Albert Kabacoff im März 1935 in Paris die 1910 geborene Marie Josette Chaber, mit der er vier Kinder hatte. Dieser Quelle zufolge hätte nicht nur der Sohn Albert, der 1965 verstorben sein soll, den Holocaust überlebt, sondern auch seine Eltern. Kettchen sei laut dieser Angabe am 15. Dezember 1976 im Alter von 97 Jahren verstorben, ihr Ehemann Joseph am 8. November 1980, ebenfalls im hohen Alter von 96 Jahren.[128]
Völlig andere Informationen legt dagegen Yad Vashem vor, aber auch die sind nicht konsistent. So soll laut einem Datensatz ein Albert Kabacoff, der aber auch den Familiennamen Bonnet getragen haben soll, bei dem das Geburtsdatum und die Angaben über die Eltern aber richtig sind, in Auschwitz-Monowitz gewesen sein, aber überlebt haben.[129] Ein zweiter Datensatz, beruhend auf den Recherchen von Serge Klarsfeld, besagt dagegen, dass eben derselbe Albert Kabacoff am 30. Juni 1944 von Drancy nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet wurde.[130] Sein Name ist auf der Gedenkstätte für die ermordeten Juden in Paris eingraviert.[131] Die Namen der Eltern sind in Yad Vashem nicht zu finden. Zumindest die Mutter von Albert, Katharina bzw. Kettchen Kabacoff muss überlebt haben, wie aus einem Schreiben an das Landgericht Wiesbaden im Zusammenhang mit den Rückerstattungsverfahren hervorgeht. Demnach lebte sie im Mai 1948 in Savigny-sur-Orge in der Nähe von Paris.[132]

Nach Kettchen wurde am 12. Juli 1881 in Rauenthal wieder ein Sohn geboren, der den Namen Johann erhielt. Aber auch er erreichte nicht einmal das erste Lebensjahr. Am 18. März 1882 verstarb er in Rauenthal.[133]

Max Neumann
Heiratsurkunde von Max Neumann und Amalia Gans
HHStAW 518 55201 (10)

Drei Jahre später kam am 4. Juli 1884 mit Max wieder ein Sohn zur Welt.[134] der das Erwachsenenalter erreichte und dann auch eine Familie gründete. Am 19. Oktober 1919 heiratete er Amalia Gans, die am 25. April 1889 im niedersächsischen Leer geboren worden war.[135] Noch in Deutschland waren ihnen die beiden Kinder Adolf und Karola geboren worden, er am 16. Mai 1921, sie am 6. August 1922.[136]
Vermutlich lebte die Familie weiterhin im Rheingau, denn die Geburt der Kinder wurde im Standesamt Eltville registriert. 1924 wählte man Max Neumann zu einem der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde von Eltville mit ihren gerade mal 48 Mitgliedern.[137] Bei dem im Telefonbuch von 1932 registrierten Max Neumann, wohnhaft in der Rheingauer Str. 23, handelt es sich unzweifelhaft um den Sohn von Adolf und Betty Neumann. Er betrieb damals unter der angegebenen Adresse ein Konfektions- und Manufakturwarengeschäft. In einer Auflistung sämtlicher Juden, die am Stichtag 30. Januar 1933 in Eltville wohnhaft waren, ist die Familie noch immer mit dieser Adresse geführt. Das dortige Haus mit Hofraum und Lagerhaus mit einem Einheitswert von mehr als 30.000 RM war sein Eigentum.[138]
Wann sich das Paar zur Auswanderung entschloss, ist nicht bekannt, aber als letzten Wohnort vor ihrer Ausreise gaben sie noch immer Eltville an, möglicherweise war aber auch Rauenthal damit gemeint. Die Reichspogromnacht erlebten sie in jedem Fall nicht mehr in ihrer Heimat. Am 23. Mai 1936 hatten sie sich in Eltville abgemeldet und am 11. Juni 1936 bestiegen sie in Hamburg das Schiff ‚Manhattan’, das sie nach New York brachte.[139]

Die Familie von Max Neumann meldet sich nach New York ab
HHStAW 518 55201 I (11)

Bei der Volkszählung 1940 lebten sie noch immer in der Metropole an der Ostküste, aber wirtschaftlich muss es ihnen eher schlecht gegangen sein, den der Vater hatte einen Job als Küchenhilfe in einem Krankenhaus und auch die beiden Kinder, jetzt um die achtzehn Jahre alt, mussten vermutlich mit niedrigem Gehalt – Adolf arbeitete als ‚bus boy’ – zum Familieneinkommen beitragen.[140]
Als auch Adolf im folgenden Jahr seine amerikanische Staatsbürgerschaft beantragte, gab er an, seinen Vornamen – aus verständlichen Gründen – in Alfred geändert zu haben.[141]

Max Neumann
Das Grab von Max und Amalia Neumann in New York
https://images.findagrave.com/photos/2021/286/UNCEM_99920_6f5ae9f4-34ee-4bd2-9451-562409421ac1.jpeg?v=1634555924

Amalie Neumann verstarb 29. Juli 1978, Max Neumann am 21. Mai 1982, beide in der Stadt, in der sie nach ihrer Flucht aus Deutschland eine neue Heimat gefunden hatten.[142].
Von ihrer Tochter Carole ist bekannt, dass sie in den USA am 31. August 1948 den Emigranten Norbert David Hess aus Würzburg heiratete, der Ende September 1938 Deutschland verlassen hatte.[143]

Sally Simon, geboren am 3. April 1889,[144] erlebte die Zeit der Verfolgung nicht mehr. Er war bereits am 13. Mai 1916 im Ersten Weltkrieg gefallen.[145]

Als jüngstes Kind kam am 22. November 1890 noch einmal ein Sohn namens Julius in Rauenthal zur Welt.[146] Wie der Vater erlernte auch er den Beruf des Metzgers. Schon als 16-Jähriger verließ auch er seinen Heimatort und ging – möglicherweise als Geselle – nach Worms. Gemeldet war er dort in der Rheinstr. 22, wo damals eine Metzgerei angesiedelt war.[147] Er blieb aber nur ein knappes Jahr in Worms, um dann wieder nach Rauenthal zurückzukehren. Vermutlich arbeitete er in der folgenden Zeit im väterlichen Betrieb. Während des Ersten Weltkriegs war er als Kavallerist eingezogen worden.
Wann und wo er seine spätere Frau Helene Sonnheim, geboren am 18. Januar 1894 in Neuhemsbach, kennengelernt hatte und wann und wo die Ehe geschlossen wurde, konnte nicht ermittelt werden. Am 26. Oktober 1921 kam in Eltville ihr gemeinsamer Sohn Arthur zur Welt. Vermutlich wohnte die Familie damals im Rheingau. Am 17. November 1928 kehrte sie nach Worms zurück, wo Julius Neumann in der Römerstr. 70 die Metzgerei der Witwe Goldschmidt übernahm. Nach 1937 mussten sie dann noch zweimal die Wohnung wechseln. Die letzten Monate verbrachten sie zwangsweise in dem inzwischen zum Judenhaus umfunktionierten Gebäude in der Hinteren Judengasse 6, dem Zentrum der ehemaligen jüdischen Gemeinde mit dem Raschi-Haus, dem heutigen Jüdischen Museum der Stadt.
Ihr Sohn Arthur lebte während der NS-Zeit zunächst in Mannheim, später in Hilchenbach im Siegerland, bevor er am 26. Oktober 1940 zu seinen Eltern nach Worms zurückkehrte.
Am 1. März 1942 soll die Familie, ohne sich polizeilich abgemeldet zu haben, Worms verlassen haben. Wohin, hat man nicht gefragt, denn allen Beteiligten war klar, worum es ging. Nach einer Anordnung des RSHA waren die Meldeämter sogar instruiert worden, solche vagen Angaben zu machen, sogar die Daten der angeblichen Abmeldungen willkürlich zu wählen, damit nicht auf eine „Massenevakuierung“ geschlossen werden konnte.[148].
Am 19. März, einem kalten und feuchten Morgen, versammelten sich die Menschen mit ihrem Gepäck vor dem Jüdischen Gemeindehaus. „Manche trugen zwei Mäntel übereinander, um auf diese Weise etwas mehr an Kleidungsstücken mitnehmen zu können. Sie standen in düsterem Schweigen und warteten auf weitere Instruktionen. Beamte und Ordnungspolizei und der Gestapo standen dabei, als die Namen aufgerufen wurden. (…) Alle waren anwesend. Die Gruppe marschierte schweigend zur Bahnstation. (…) Fahrplanmäßig wurde der Waggon an einen durchfahrenden Zug angehängt, der nach Mainz weiterfuhr“, berichtete einer der Augenzeugen des damaligen Geschehens.[149]. Nur kurz können die Menschen noch im Sammellager in Mainz in der Feldbergschule geblieben sein, denn am 21. März verließ der Zug mit der Bezeichnung „Da 14“ den Güterbahnhof in Mainz, um dann von dem zentralen Sammellager Darmstadt aus am 25. März mit insgesamt 1000 Menschen aus dem gesamten Volksstaat Hessen seine Fahrt nach Osten aufzunehmen.

Straße im Ghetto von Piaski
https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/photo/deserted-street-in-sighet-marmatiei

Sein Ziel war das Ghetto Piaski, das am 27. März erreicht wurde. In den ersten Wochen gab es sogar noch vereinzelt postalischen Kontakt mit zurückgebliebenen Verwandten oder Bekannten, aber der wurde im Frühsommer verboten. Die anfangs zumindest teilweise noch relativ positiv beschriebenen Verhältnisse, verschlimmerten sich immer mehr, der Hungertod war eine permanente Bedrohung, Epidemien, wie Typhus, breiteten sich aus und immer mehr Leichen säumten die Wege im Ghetto. Das Ghetto wurde bis zum Sommer ein Ort unsäglichen Leidens. Am 22 Juni beschloss die SS das Ghetto zu räumen und es setzten die Transporte nach Sobibor ein. Nur wenige Jüdinnen und Juden lebten dort noch, als das Ghetto im Februar 1943 endgültig aufgelöst wurde.

Wann und ob Julius, Helene und Arthur Neumann ihr Leben in Piaski oder in einem der Vernichtungslager ihr Leben verloren, ist nicht bekannt.[150] Als offizieller Todestag der Verschollenen wurde der 8. Mai 1945 festgelegt. Am 22. Oktober 2016 wurden für Julius, Helene und Arthur Neumann sowie ihre Mitbewohner Ida und Albrecht Wachenheimer in der Seidenbenderstr. 18, ihrer letzten frei gewählten Wohnung, Stolpersteine verlegt. Auch im Gedenkraum der ehemaligen Synagoge, im Raschi-Haus, sind auf der Tafel der Opfer des Holocaust ihre Namen zu finden.

 

Veröffentlicht: 15. 03. 2025

 

 

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Anmerkungen:

[1] https://www.eltville.de/pdf-dokumente/buergerservice-rathaus/verwaltung/stadtarchiv/krankenmorde-eichberg-namensliste-recherche.pdf?cid=9jx. (Zugriff: 15.3.2025).

[2] Hell, Vom „Braunhemd“ zum „Persilschein“, S. 22.

[3] Ebd., S. 28.

[4] Ebd., S. 68.

[5] http://www.alemannia-judaica.de/eltville_synagoge.htm. (Zugriff: 15.3.2025).

[6] Sterberegister Rauenthal 21 / 1883.

[7] „Neumann, Adolf (1918) – Eltville“, in: Jüdische Grabstätten, https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/19704 (Stand: 21.8.2023).

[8] Heiratsregister Rauenthal 6 / 1876.

[9] Nach Lagis war sie am 21.5.1849 in Holzhausen geboren worden, aber schon ihr Nachname ist unsicher. So heißt es in Lagis, dass ihr Vater Joseph Löwenstein (?) oder Abraham Meyer aus Holzhausen über Aar gewesen sei. Ihre Mutter sei Jettchen Meyer gewesen, ebenfalls aus Holzhausen, deren Mädchenname aber nicht bekannt ist. Siehe „Neumann, Betti, geborene Meyer (oder Löwenstein) (1925) – Eltville“, in: Jüdische Grabstätten https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/19703. (Stand: 21.8.2023). In dem Heiratseintrag ihres Sohnes Josef heißt es aber eindeutig, dass seine Mutter Betty Löwenstein sei, siehe Heiratsregister Rauenthal 5 / 1912.

[10]Heiratsregister Rauenthal 6 / 1876.

[11] Geburtsregister Rauenthal 2 / / 1878.

[12] Geburtsregister Rauenthal 56 / 1879.

[13] Geburtsregister Rauenthal 20 / 1885.

[14] HHStAW 518 4158 (43). Auch in seinem Sterbeeintrag Rauenthal 17 / 1924 wird er als Viehhändler bezeichnet.

[15] Ebd. (41).

[16] Ebd.

[17] Sterberegister Rauenthal 17 / 1924 und 4 / 1931.

[18] Siehe dazu die genaue Aufstellung in HHStAW 518 4158 (44-50).

[19] Heiratsregister Rauenthal 5 / 1913.

[20] Zum den gesamten Abmachungen siehe ebd. (44-55).

[21] HHStAW 518 4158 (32).

[22] Ebd. (9).

[23] HHStAW 518 77759 (15).

[24] Ebd. (70). Im Hinblick auf die Entschädigung war vom Einkommen abhängig, ob der Verfolgte gemäß einem Beamten des einfachen oder gehobenen Dienstes einzuordnen war.

[25] Siehe Hoffmann, Landjuden, S. 383-386.

[26] HHStAW 518 77759 (57 f.).

[27] Ebd. (93).

[28] Ebd. (82).

[29] Ebd. (15).

[30] Siehe die Namen unter Stadtarchiv Eltville 2058 Judenangelegenheiten (o.P.). Es handelte sich um den SA-Obersturmführer Hief, SA-Obertruppführer Störmann, SA-Obertruppführer Edel, SA-Scharführer Simmer, SA-Scharführer Bettendorf, SA-Mann Bihrer. Aber auch eine Reihe anderer, nicht organisierter Personen wurde angeklagt, weil auch sie sich beteiligt haben sollen. In der Akte befinden sich dazu verschiedene Namenslisten und Beurteilungen der jeweiligen Täter.

[31] Ebd. (8). Andere gaben an, der SA-Hauptsturmführer und Justizangestellte Hief sei mit dem eigenen Motorrad nachgekommen.

[32] Berta Nussbau, die Schwester von Karolina und Albert Neumann, hatte im Entschädigungsverfahren einen Gesamtschaden in Höhe von etwa 20.000 RM reklamiert, allerdings war darin auch der Wert des Hauses selbst, das später entzogen wurde, enthalten. Die Entschädigungsbehörde war nur bereit, einen Schaden für die Wiederbeschaffung des zerstörten Eigentums in Höhe von 1.800 DM anzuerkennen, da ein großer Teil der geforderten Summe nicht zu entschädigen, sondern in einem Rückerstattungsverfahren zu begleichen war. Die zunächst eingereichte Klage gegen den Entschädigungsbeschluss wurde von der Erbin Berta Nußbaum dann nicht weiter verfolgt. Siehe ebd. (58, 79).

[33] Artikel von H. Jahn, ‚Judenverfolgung in Rauenthal’ aus dem Jahr 2015, Stadtarchiv Rauenthal.

[34] HHStAW Wi-K-752 II b, auch HHStAW 519/3 5606 (1-7).

[35] Ebd. Ein vorgeschlagener Vergleich, der für die damaligen Erwerber eine Nachzahlung von 500 DM zur Folge gehabt hätte, wurde von diesen nicht angenommen. Ebd. (18).

[36] HHStAW 519/3 5606 (8).

[37] Ebd. (12).

[38] Ebd. (15).

[39] Ebd. (13).

[40] Ebd. (16).

[41] Ebd. (18).

[42] Ebd. (19).

[43] Ebd. (23, 24).

[44] HHStAW Wi-K-752 II b (3). Eine Auflistung des früheren Landbesitzes, ebd. (2). Siehe auch Stadtarchiv Eltville 2058 Judenangelegenheiten (o.P.), woraus hervorgeht, welche Grundstücke noch nach dem Krieg (31.1.1948) verpachtet waren. Die beiden Häuser von Josef Neumann sowie von Albert und Karolina in der Hauptstr. 72 und 66 waren vermietet.

[45] Heiratsregister Schierstein 5 / 1912.

[46] Für Ludwig Geburtsregister Rauenthal 21 / 1913, für Betty Lore HHStAW 518 78326. Sie war in Eltville zur Welt gekommen.

[47] HHStAW 518 841 (11).

[48] Stadtarchiv Eltville 2058 Judensachen, ohne Paginierung.

[49] Zu seiner Biografie siehe ebd. (6, 11).

[50] Sehr akribisch hat Rummel die Planung und Umsetzung sowie die daraus entstandenen Konflikte für das Projekt Friedrichssegen analysiert und die immanenten, strukturellen Defizite im NS-Herrschaftssystem offengelegt. Siehe Rummel, Friedrichssegen, S. 419-507. Auf diese ausgezeichnete Arbeit wird im Folgenden immer wieder Bezug genommen. Eine erste, wesentlich kürzere Arbeit über Friedrichssegen stammt von Ries, Friedrichssegen, S. 26-33.

[51] Siehe dazu oben das Kapitel „Die antijüdische Wohnungspolitik des NS-Staates“.

[52] Ebd. S. 433.

[53] Ebd. S. 452 f.

[54] Ebd. S.453 f.

[55] Zit. nach ebd. S. 456 f.

[56] Ebd. S. 457 f.

[57] Ebd. S. 459.

[58] Zit. nach ebd. S. 467.

[59] Ebd.

[60] Ebd. S. 468.

[61] Ebd. S. 474, wo auch ausdrücklich das Problem für Rauenthal erwähnt wird.

[62] Ebd. S. 478.

[63] Diese falsche Annahme ist umso erstaunlicher, als 2015, dem Entstehungsjahr des Textes, auf Grund der vor mehreren Jahrzehnten abgeschlossenen Entschädigungsverfahren längst klar war, dass Lina Neumann nicht von Friedrichssegen deportiert wurde.

[64] Siehe Rummel, Friedrichssegen, S. 486, Anm. 285. Er selbst hat das weitere Schicksal nicht verfolgt und nur vage angemerkt, sie sei vor der Deportation der Friedrichssegener Juden vermutlich nach Wiesbaden gezogen und von dort deportiert worden. Er hält sie fälschlicherweise für verschollen..

[65] Eine Devisenakte von ihr ist nicht erhalten geblieben, obwohl vermutlich eine solche einmal angelegt worden war.

[66] HHStAW 519/3 534 (40).

[67] Es könnte allerdings auch sein, dass es eine weitläufige verwandtschaftliche Verbindung zwischen den Familien gab, denn die Mutter der Frau des Firmengründers Jesaias Hertz, Kätchen Rechele, geborene Hirsch, war Jettchen Nathan. Diese in Hachenburg im Westerwald ansässige Familie nahm den erblichen Familiennamen Neumann an. Aber das ist nur eine vage Möglichkeit, die genauer recherchiert werden müsste.

[68] HHStAW 518 4158 (7). Berta Nußbaum gab damals schon an, dass sie keine Belege für eine solche Zahlung vorlegen könne.

[69] HHStAW 685 617 (o.P.).

[70] HHStAW 469/33 2693 (2).

[71] Siehe zur Situation in Izbica, Kuwalek, Durchgangslager Izbica, passim; Kingreen, Kingreen, „Wir werden darüber hinwegkommen“, S. 103; generell zu diesem Transport, Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 117-122, Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 214.

[72] Siehe zu diesem Transport Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 213 f und umfassend Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 96-102, 117-132.

[73] HHStAW 469/33 2693 (11).

[74] Ries, Friedrichssegen, S. 29.

[75] Siehe Rummel, Friedrichssegen, S. 502-505.

[76] Kingreen, Großmarkthalle, S. 153-190, i.B. S. 172 ff.

[77] HHStAW 518 77759 (8).

[78] Siehe dazu Rummel, Friedrichssegen, S. 486, Anm. 285, S. 494, Anm. 324 und S. 495, Anm. 325.

[79] Ries, Friedrichssegen, S. 29 f. Am Morgen dieses Tages hatte sich der aus Eltville stammende Arzt Conrad Davidsohn noch selbst in der Lahn ertränkt.

[80] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/26431-josef-neumann/. (Zugriff: 15.3.2025).

[81] Zu Treblinka siehe Berger, Treblinka, S. 99-115, zu den angegebenen Zahlen S. 108.

[82] Heiratsregister Rauenthal 5 / 1913. In der Heiratsurkunde ist nicht erwähnt, aus welchem Raboldsheim Gustav Nußbaum stammte, aus dem bei Schwäbisch Hall oder dem bei Bad Hersfeld. Wahrscheinlich ist aber der letztgenannte Ort, da dort bis 1927 eine jüdische Gemeinde bestand, deren letzter Vorsteher zudem ein Daniel Nußbaum war, siehe https://www.alemannia-judaica.de/raboldshausen_synagoge.htm. (Zugriff: 15.3.2025).

[83] Meyer / Mentgen, Sie sind mitten unter uns, S. 153.

[84] Ebd. Oskar Nußbaum heiratete laut einer Anzeige in der Ingelheimer Zeitung am 6.8.1933 in Wiesbaden Hanna Strauß aus Michelfeld in Baden, siehe ebd. S. 251.

[85] Ebd. S. 248.

[86] Ebd. S. 153.

[87] Zit. nach ebd. S. 251.

[88] Wie rigoros die Behörden in den Ortschaften Rheinhessens die Diskriminierung der Juden und ihrer Geschäfte durchsetzten, ist nachzulesen bei S. 442-444. Zu den weiteren Arisierungen in Ingelheim siehe ebd. S. 448-452.

[89] Freudige Gefolgschaft, S. 430.

[90] Meyer / Mentgen, Sie sind mitten unter uns, S. 250.

[91] Müller, Novemberpogrom in den rheinhessischen Landgemeinden, passim.

[92] Ebd. S. 54. Siehe dazu auch die Zeugenberichte über die Vorgänge in Schwab / Köhler, Zeitspiegelungen, S. 26-28.

[93] Freudige Gefolgschaft, S. 453.

[94] Umfassend ist diese Deportation von Monica Kingreen aufgearbeitet worden, siehe Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 321-360.,

[95] Siehe zum Sammellager Mainz und die dortigen Abläufe ebd. S. 326-332. Hier sind auch verschiedene Abschiedsbriefe und Zeitzeugenberichte abgedruckt.

[96] Ebd. S. 322.

[97] Zu diesem Transport siehe neben Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 351-355 auch Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.333 f.

[98] Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 352-355.

[99] Siehe zur Organisation und zum Massenmord in Treblinka, Berger, Treblinka, S. 99-115.

[100] Richard Glazar, zitiert nach: Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 357. Bei Meyer / Mentgen, Sie sind mitten unter uns, S. 251 wird ihr Todesort noch mit Auschwitz angegeben, eine Vermutung, die heute kaum mehr haltbar ist.

[101] https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de937969. (Zugriff: 15.3.2025).

[102] Siehe zu den folgenden Ereignissen Benz, Theresienstadt, S.198 f. und https://www.holocaust.cz/de/geschichte/ghetto-theresienstadt/die-letzten-transporte-und-das-kriegsende-in-theresienstadt/. (Zugriff: 15.3.2025).

[103] Ein Vermerk über das Treffen von Himmler in VEJ 11, Dok. 195, S.528 f. Angeblich war das Treffen auf Initiative der amerikanischen Regierung zustande gekommen.

[104] Über die Fahrt selbst liegt die Tagebuchaufzeichnung von Vilma Cohn-Leven vor, die u.a. auch erwähnt, dass es ihnen strengstens verboten war, über die tatsächlichen Zustände in Theresienstadt zu berichten. Man werde sich sonst an den Zurückgebliebenen schadlos halten. Siehe VEJ 11, Dok.. 290, S.747-753.

[105] Zu den damaligen Passagieren in die Freiheit gehörten auch Julius und Nelly Elkan, geborene Hirsch, Schwiegersohn und Tochter der Eigentümerin des Judenhauses Blumenstr. 7 Amalie Hirsch, geborene Ballin.

[106] Raymonde wurde am 5.12.1936 und Evelyne am 4.10.1939 geboren, siehe Meyer / Mentgen, Sie sind mitten unter uns, S. 251.

[107] Zum Schicksal dieser Familie, die hier nicht umfassend dargestellt werden kann, siehe die Ausführungen des Deutsch-Israelischer Freundeskreis Ingelheim unter https://dif-ingelheim.de/geschichte/familie-Nußbaum/. (Zugriff: 15.3.2025). Hier ist auch ein langes Interview mit Ruth Kapp zu finden, die aus ihrer damaligen Perspektive als verstecktes Kind, über die Zeit der Verfolgung in Frankreich berichtet. Ihre Biographie ist auch in einem Buch von Stacy Cretzmeyer, Ruths Geschichte. Die abenteuerliche Geschichte eines jüdischen Mädchens, 2001, veröffentlicht worden. Ruth Kapp, die heute in den USA verheiratet ist, engagierte sich selbst, wie auch ihre Kinder, seit vielen Jahren an ihrem Wohnort Philadelphia in der Erinnerungsarbeit an den Holocaust.

[108] Die Familie wurde später gefasst und ermordet, siehe ebd.

[109] HHStAW 518 77759 (78).

[110] Sterberegister Rauenthal 34 / 1918, dazu „Neumann, Betti, geborene Meyer (oder Löwenstein) (1925) – Eltville“, in: Jüdische Grabstätten https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/juf/id/19703. (Stand: 21.8.2023.

[111]

[112] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/search/collections/1631/records/3066486?tid=&pid=&queryId=62beaefd-9dbb-455b-af28-c2fc8796d42e&_phsrc=svo5759&_phstart=successSource. (Zugriff: 15.3.2025).

[113] https://www.ancestry.de/discoveryui-content/search/collections/1631/records/10575981?tid=&pid=&queryId=bb51258f-7034-42a2-bd08-ce557eb3f993&_phsrc=svo5754&_phstart=successSource. (Zugriff: 15.3.2025).

[114] https://www.mappingthelives.org/bio/c13d0aef-d58d-45a8-b5d7-e5da11f47ef8?forename=Albert%20&surname=Neumann&res_single_fd=false&birth_single_fd=false&death_single_fd=false&deportation_single_fd=false&emigration_single_fd=false&expulsion_single_fd=false&imprisonment_single_fd=false&lat=50.3061856&lon=12.3007083&zoom=6&map_agg=residence&language=de. (Zugriff: 15.3.2025).

[115] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.. 227.

[116] https://www.ancestry.de/search/collections/61758/records/6069701. (Zugriff: 15.3.2025).

[117] Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 191.

[118] Siehe umfassend zur Familie Obernauer http://www.gedenk-buch.de/KAPITEL/70e%20OBERNAUER%20Hermann.htm. (Zugriff: 15.3.2025).

[119] Ebd. und https://www.ancestry.de/search/collections/2280/records/51722742. (Zugriff: 15.3.2025).

[120] Geburtsregister Rauenthal 21 / 1876.

[121] Geburtsregister Rauenthal 25 und 26 / 1877.

[122] Sterberegister Rauenthal 25 / 1877.

[123] https://www.wiewaswie.nl/nl/zoeken/. (Zugriff: 15.3.2025). Die Jahreszahl auf der Passagierliste ist überschrieben und daher nicht mehr eindeutig zu lesen.

[124] https://www.wiewaswie.nl/nl/detail/36018979. (Zugriff: 15.3.2025).Möglicherweise hatten die Eltern eigentlich an Käthe bzw. Käthchen gedacht, was der orthografisch nicht ganz sichere Standesbeamte dann nur entsprechend dem Klang in das Register eintrug.

[125] https://www.joodsmonument.nl/en/page/131565/jakob-van-der-hoek. (Zugriff: 15.3.2025).

https://collections.yadvashem.org/en/names/12604087. (Zugriff: 15.3.2025).

[126] Geburtsregister Rauenthal 2 / 1879.

[127] https://www.ancestry.de/search/collections/62058/records/90855759. (Zugriff: 15.3.2025).

[128] https://gw.geneanet.org/xavierr?lang=de&pz=xavier+charles+robert&nz=raisin+dadre&p=joseph&n=kabacoff. (Zugriff: 15.3.2025). Dass die Informationen eher vage und mit sehr viel Vorsicht zu betrachten sind, ergibt sich schon daraus, dass der Geburtsort von Kettchen mit „Rassenthal“ angegeben ist.

[129] https://collections.yadvashem.org/en/names/15813774. (Zugriff: 15.3.2025).

[130] https://collections.yadvashem.org/en/names/15813774. (Zugriff: 15.3.2025).

[131] https://www.findagrave.com/memorial/32350275/albert-kabacoff#view-photo=15906174. (Zugriff: 15.3.2025).

[132] Stadtarchiv Eltville 2058 Judenangelegenheiten (ohne Paginierung).

[133] Geburtsregister Rauenthal 36 / 1881 und Sterberegister Rauenthal 16 / 1882.

[134] Geburtsregister Rauenthal 36 / 1884.

[135] Siehe https://www.ancestry.de/search/collections/2280/records/6646906?tid=&pid=&queryId=ab22d689-1307-40c7-97e0-c6bb7fc3e3fc&_phsrc=svo6038&_phstart=successSource. (Zugriff: 15.3.2025). Auf dem Einbürgerungsantrag von Max Neumann ist nur der Vorname und das Geburtsdatum seiner Frau eingetragen, aber die stimmen mit dem Eintrag für Amalia unter Genanet überein, siehe https://gw.geneanet.org/joelle241?n=gans&oc=&p=amalia. (Zugriff: 15.3.2025). Sie hatte fünf Geschwister und ihre Eltern waren demnach Jacob Nathan und Caroline Leena Gans, geborene Weinberg.

[136] Stadtarchiv Eltville 2058 Judensachen, ohne Paginierung, siehe auch https://www.ancestry.de/search/collections/2280/records/6646906?tid=&pid=&queryId=ab22d689-1307-40c7-97e0-c6bb7fc3e3fc&_phsrc=svo6038&_phstart=successSource. (Zugriff: 15.3.2025).

[137] https://www.alemannia-judaica.de/eltville_synagoge.htm. (Zugriff: 15.3.2025).

[138] Stadtarchiv Eltville 2058 Judensachen, ohne Paginierung

[139] Ebd.

[140] https://www.ancestry.de/search/collections/2442/records/5255625. (Zugriff: 15.3.2025).

[141] https://www.ancestry.de/search/collections/2280/records/6258220?tid=&pid=&queryId=2812750e-267d-4144-ad3c-95f99e349fe1&_phsrc=svo6048&_phstart=successSource. (Zugriff: 15.3.2025).

[142] https://www.ancestry.de/search/collections/3693/records/45172931 und https://www.ancestry.de/search/collections/60901/records/801179309. (Zugriff: 15.3.2025).

[143] https://www.ancestry.de/search/collections/61406/records/2149434 und https://www.ancestry.de/search/collections/2499/records/3880635. (Zugriff: 15.3.2025). Er war am 5.3.1918 in Würzburg als Sohn von Siegfried und Berta Hess, geborene Laupheimer zur Welt gekommen.

[144] Geburtsregister Rauenthal 13 / 1889.

[145] https://www.alemannia-judaica.de/eltville_synagoge.htm. (Zugriff: 15.3.2025).

[146] Geburtsregister Rauenthal 52 / 1890.

[147] Siehe zur Biografie von Julius und seiner Familie https://www.warmaisa.de/stolpersteine/neumann-julius-1890-1942-helene-geb-sonnheim-1894-1942-arthur-1921-1942/. (Zugriff: 15.3.2025). Auf die Angaben der Wormerser Stolpersteininitiative wird hier zurückgegriffen.

[148] Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 295. Siehe umfassend zu diesem Transport und auch zu den Verhältnissen in Piaski ebd. S.295-321, dazu auch Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S.S. 186 f.

[149] Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 299 f.

[150] Falsch ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit die Angabe im Gedenkbuch des Bundesarchivs Koblenz, die Familie sei in Belzec ermordet worden.