
Archiv D. Schaller

Die damals 75-jährige Lili Mayer kam erst sehr spät in das Judenhaus Lortzingstr. 7. Vier Wochen zuvor war mit der großen Juni-Deportation, bei der acht Personen das Haus verlassen mussten, Platz für Jüdinnen und Juden geschaffen worden, die bisher noch in normalen Mietverhältnissen oder aber auch in anderen Judenhäusern gewohnt hatten. Auf ihrer Gestapokarteikarte ist als Einzugstag der 14. Juli 1942 vermerkt. Eine Unterkunft fand sie im zweiten Stock des Hauses, wo mit Sicherheit damals auch der Witwer Paul Kornblum noch wohnte. Diese letzte Station auf ihrem Lebensweg vor dem Lager Theresienstadt markiert zugleich den Tiefpunkt des sozialen Abstiegs, den sie selbst und ihre Familie im Laufe der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts in Wiesbaden zu verzeichnen hatte.

GDB
Weder ihre eigene Familie noch die ihres bereits verstorbenen Ehemanns Carl Mayer kamen ursprünglich aus der Kurstadt am Rhein. Ihr Großvater Mayer Rosendahl stammte aus München, wo er mit einer Louise Landauer verheiratet war. In der Sterbeurkunde seines Sohnes Leopold Rosendahl, dem Vater von Lili, wird er als Fabrikbesitzer bezeichnet.[1]
Was er fabrizierte, ist darin allerdings nicht angegeben. Aber dem Münchner Adressbuch von 1867 ist zu entnehmen, dass sein Sohn Leopold damals dort in der Kanalstr. 34 eine Zigarrenfabrik betrieb. Da der Vater damals schon verstorben war, liegt es nahe, dass der älteste Sohn, er war am 1. Januar 1831 in München geboren worden,[2] diese Fabrik von ihm übernommen hatte. Seine Mutter lebte damals als Witwe und Privatiere bei Leopolds Bruder Jakob in der Prannersgasse 3. Dessen Beruf ist im damaligen Adressbuch noch mit „Bezirksgerichts=Accessist“ angegeben, später führte der am 3. August 1833 geborene Jurist in Augsburg, wo er am 27. Dezember 1894 auch verstarb, ein Notariat. Wie aus seinem Sterbeeintrag hervorgeht, war er mit der am 22. August 1851 in Frankfurt geborenen Jüdin Lydia Fanny Rießer verheiratet.[3]
Ein weiterer Sohn von Mayer und Louise Rosendahl, der am 16. Januar 1843 ebenfalls in München geborene wesentlich jüngere Bruder von Leopold und Jakob, war der Kaufmann Isidor Julius Rosendahl. Er war wohl derjenige, der als erster aus der Familie den Weg nach Frankfurt gefunden hatte und am 8. Februar 1885 die Frankfurter Jüdin Emma Zuntz geheiratet hatte. Sie war am 3. Mai 1861 als Tochter von Salomon Zuntz und seiner Frau Fanny, geborene Katz, zur Welt gekommen.[4] Im folgenden Jahr erschien er dann erstmals im Frankfurter Adressbuch als General-Agent der ‚Providentia Versicherung’.
Wenige Jahre später zog dann auch sein Bruder Leopold, der inzwischen mit Jeanette Kappel ebenfalls eine jüdische Lebenspartnerin gefunden hatte, in die Mainmetropole. Ursprünglich war sie aber am 21. Juli 1846 in Köln geboren worden.[5] Wann und wo genau die Hochzeit stattgefunden hatte, konnte nicht ermittelt werden, aber das einzig bekannte Kind des Paares, Gabriele, genannt Lili, war am 12. Oktober 1867 noch in München zur Welt gekommen.[6]

https://www.findagrave.com/memorial/270402309/leopold-rosendahl#view-photo=295407948
Erstmals ist die Familie von Leopold Rosendahl im Frankfurter Adressbuch des Jahres 1882 eingetragen. Die Fabrik in München war inzwischen offensichtlich aufgegeben worden, denn er erscheint hierin nun als Kaufmann mit dem Zusatz „Rohtabake“, wohnhaft in der Friedberger Anlage 32 I. Das Ehepaar Rosendahl verstarben beide in Frankfurt, Jeanette am 20. August 1899, Leopold er am 5. April 1902.[7]
Lili war beim Umzug von München nach Frankfurt 15 Jahre alt und nur sechs Jahre später heiratete sie am 24. Februar 1888 in ihrer neuen Heimatstad den Arzt Carl Mayer, dessen vollständige Vornamen in der Urkunde mit Carl Ferdinand Adolf angegeben sind.[8]
Carl Mayer war am 8. Juni 1857 in Germersheim am Rhein, wenige Kilometer südlich der alten Bischofsstadt Speyer, geboren worden.[9] Aus dieser kleinen Stadt, einer alten freien Reichsstadt, in der Juden bereits im Mittelalter lebten und anlässlich der Pestepidemie im 14. Jahrhundert auch schon Pogrome zu erdulden hatten, stammte die mütterliche Linie von Carl Mayer. Seine Mutter Amalie Mathilde Kahn war dort am 29. September 1932 geboren worden.[10] Auch ihre Eltern, Ferdinand und Luise Jeanette Kahn, geborene Levi / Levy, waren bereits dort ansässig.[11]

Und auch von der davor liegenden Generation sind zumindest drei Namen überliefert.[12] Der Vater von Ferdinand war der Handelsmann Valentin Kahn, die Eltern von Jeanette waren David Levi / Levy und seine Frau Julie, geborene Wolf.
Valentin Kahn und ein Anverwandter namens Lazarus Kahn hatten 1875 der Gemeinde Germersheim jeweils einen größeren Betrag – 171 Mark bzw. 2.000 Mark, geschenkt, damit diese Land zum Bau eines städtischen Spitals erwerben konnte.[13] Das war kein riesiger Betrag, aber die Tatsache als solche zeigt, wie sehr man sich in den Jahren nach der Reichsgründung, einer Zeit, die von einer starken Welle antisemitischer Hetze geprägt war, darum bemühte, durch bürgerliches Engagement dieser Bewegung den Boden zu entziehen. Ein Albert Kahn war zu dieser Zeit Lehrer an der jüdischen Schule in Germersheim. Schon früher hatte die Familie Kahn auch in der jüdischen Gemeinde selbst offenbar eine bedeutende Rolle gespielt. 1832, dem Jahr, als Amalie Kahn geboren wurde und die Gemeinde nur aus fünf Familien mit „30 Seelen“ bestand – so Probst -, fand der Gottesdienst in einer Betstube im Haus von Benjamin Kahn statt, ganz sicher einem engen Verwandten von Ferdinand Kahn. Erst 1863 konnte man in die neu errichtete Synagoge umziehen.[14] Immer wieder übernahmen Mitglieder der Familie auch eine Funktion im Gemeindevorstand.[15]

Unbekannter Fotograf
Weniger weiß man über den väterlichen Zweig der Vorfahren von Carl Mayer. Sein Vater, der Kaufmann Abraham Mayer, stammte aus dem nur wenige Kilometer von Germersheim entfernten Niederhochstadt. Am 18. Juni 1828 war er dort als Sohn von Benjamin Mayer und Barbara Mayer, geborene Marx, geboren worden.[16] Wie viele Kinder Abraham und Amalie Mayer hatten, ist nicht bekannt, aber möglicherweise war Carl tatsächlich der einzige Nachkomme, denn der Vater verstarb mit nur dreißig Jahren am 23. August 1858 in seiner Heimatstadt Germersheim, ein Jahr nachdem sein Sohn Carl zur Welt gekommen war. Die Mutter überlebte ihn um rund 50 Jahre. Es muss einiges Vermögen in der Familie vorhanden gewesen sein, denn sonst wäre es kaum möglich gewesen, dass die verwitwete Mutter ihrem Sohn eine akademische Ausbildung hatte ermöglichen können.
Carl Mayer studierte Medizin, promovierte und ließ sich als Arzt in Frankfurt a. M. nieder, wo er zuletzt in der Kaiserstr. 25 seine Praxis betrieb. Dort hatte er am 24. Februar 1888 Lili Rosendahl geheiratet.[17] Noch im Jahr der Eheschließung wurde dem Paar am 20. November 1888 der Sohn Alfred geschenkt.[18] Erst einige Jahre später, am 26. November 1895, kam dann ebenfalls noch in Frankfurt der zweite Sohn Herbert zur Welt.[19]
Dr. Carl Mayer muss ein sehr qualifizierter Arzt gewesen sein, denn anders ist es nicht zu erklären, dass ihm, dem Sanitätsrat, 1902 die Stellung des leitenden Badearztes in dem nur wenige Jahre zuvor eröffneten, sehr renommierten Augusta-Victoria-Bad übertragen wurde. Zusammen mit dem Luxushotel ‚Kaiserhof’, einem der damals 30 Grandhotels der Stadt, war das Badehaus 1895 eröffnet worden. Während das einfache Volk sich mit Wasser aus Erbenheim vorlieb nehmen musste, durften die Gäste des Hotels, das mittels zweier beheizter Unterführungen direkt mit dem Bad verbunden war, sich in einem reservierten Bereich im Thermalwasser aus der Quelle an der Spiegelgasse vergnügen. Unzweifelhaft bedeutete die Stellung in diesem Haus eine besondere Ehre für den Arzt und seine Familie.

Postkarte aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Eigene Aufnahme
Offenbar durfte er sogar zunächst in dem großen Wohnkomplex einziehen, zumindest ist erst ab dem Jahr 1904/05 in den Adressbüchern unter einer von seiner Arbeitsstätte abweichenden Wohnanschrift zu finden. Aber bald hatte die Familie in der nicht weit vom Bad entfernten Martinstr. 15 ein Haus gefunden, das ihren gehobenen Ansprüchen genügte und dann auch käuflich erworben wurde. Zum Einzug schenkten Freunde ihnen ein Gästebuch, in dem viele Besucher in den folgenden Jahren Einträge hinterließen. Offenbar war man sehr an einem regen gesellschaftlichen Verkehr interessiert und man pflegte die entsprechenden Kontakte.[20]
Das Gästebuch der Familie Mayer
Hessische Landesbibliothek Hs 378
Zu den Gästen zählten auch später noch in Wiesbaden ansässige jüdische Familien, aber auch viele auswärtige Besucher. Unter ihnen auch der bekannte Komponist Paul Lincke, der am 27. September 1908 im Haus Mayer empfangen worden war und zur Erinnerung im Gästebuch eine kleine Notenfolge seines bekannten Luna-Walzers hinterließ.[21]

Hess. Landesbibliothek Hs 378

Wiesbadener Badeblatt vom 23. 9. 1909

Wie aus dem Wiesbadener Badeblatt dieses Monats hervorgeht, hatte zuvor am 23. September unter seiner Leitung das Städtische Kurorchester ein Konzert gegeben. Später unter den Nazis macht er dieser damals schon berühmte Komponist und Theaterkapellmeister dank enger Kontakte zum Kreis der NSDAP-Prominenz um Goebbels eine noch größere Karriere, ohne allerdings in die Partei eingetreten zu sein.[22]

HHStAW 458 800 (60)
Über die weitere berufliche Tätigkeit von Dr. Carl Mayer liegen für die folgenden Jahre keine Informationen vor, aber von den Kindern weiß man, dass Alfred, nachdem er zunächst noch in Frankfurt das Kaiser-Friedrich-Gymnasium besucht hatte, nach dem Umzug in Wiesbaden Schüler des hiesige humanistischen Gymnasiums, der heutigen Dilthey-Schule, wurde, wo er 1907 das Abitur bestand.[23] Anschließend nahm er ein Studium der Rechtswissenschaften auf, in dessen Verlauf er an den Universitäten in Heidelberg, München und zuletzt Berlin eingeschrieben war. Unterbrochen wurden die Studienjahre mehrfach durch den Wehrdienst und folgende Reserveübungen, die er aber zuletzt in Wiesbaden ableisten konnte. 1911 bestand er die Erste Juristische Staatsprüfung und wurde Referendar an Gerichten in Camberg, Wiesbaden und Frankfurt. 1913 reichte er in Heidelberg erfolgreich seine Dissertation mit dem Titel „Zur Entwicklung der Rottendelikte“ ein.[24]

HHStAW 430/1 6501 (4)
Weniger glatt entwickelte sich das Leben seines jüngeren Bruders Herbert, der laut der bei Einlieferung in die Heil- und Pflegeanstalt Eichberg im Juni 1918 erstellten Anamnese schon in der Grundschule durch aggressives Verhalten aufgefallen sein soll, dann als Jugendlicher mehrfach von zu Hause weggelaufen und später immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Zwar schaffte auch er 1913 die Höhere Schule in Wiesbaden bis zum Einjährigen, d.h. der Mittleren Reife, aber sein weiterer beruflicher Werdegang war durch viele Krisen überschattet. Er versuchte sich immer wieder in verschiedenen Jobs, aber nirgends hielt er es lange aus, bzw. die Arbeitgeber kamen mit seiner unzuverlässigen Art und seiner Persönlichkeit nicht zurecht. Er hatte in Wiesbaden zwar die Handelsschule besucht und in den verschiedenen Dokumenten ist er als Kaufmann bezeichnet, ob er aber eine entsprechende Ausbildung abgeschlossen hatte, ist aber nicht bekannt. Seine Anstellung bei einer Frankfurter wie auch bei einer Mannheimer Firma wurde wegen Unzufriedenheit der Arbeitgeber wieder frühzeitig gekündigt.
Bei Kriegsbeginn meldete er sich auf Druck seines Vaters als Freiwilliger bei einer Sanitätseinheit und diente im Lazarett, das in der Gutenbergschule eingerichtet worden war, aber auch da wurde er bald wegen Fehlverhaltens entlassen.
Dennoch fühlte er sich zum Militär besonders hingezogen, er ließ sich sogar Fantasieuniformen schneidern und trug gern gefälschte Ordensbänder oder auch einmal die Uniform seines Bruders, um sich als diesen ausgeben zu können. Halt fand er aber auch beim Militär nicht.
Bereits mit 19 Jahren waren seine Verhaltensprobleme, die sein Vater als „Moral insanity, Pseudologia phantastica“ diagnostizierte, so sehr eskaliert, dass er im Herbst 1914 für drei Monate in Frankfurt in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht werden musste.[25] Danach kam er nach Wiesbaden zurück, wo er wieder unterschiedliche Gelegenheitsarbeiten annahm, u.a. bei der Post, der Stadt und auch im Hotel ‚Nassauer Hof’. 1916 arbeitete er dann ein halbes Jahr in den Flugzeugwerken Brüning bei Hanau. Aber auch dort hatte er sich in kürzester Zeit mit seinem Auftreten „ganz unmöglich gemacht“ und wurde wieder entlassen. Nach seiner Rückkehr nach Wiesbaden, wo er sich als erfolgreicher Fliegeroffizier ausgab, wurde er Anfang 1917 zu einer Kompanie in Budenheim eingezogen, wo er nicht nur Betrügereien beging, sondern sich auch der Dokumentenfälschung schuldig machte. Zwei Wochen Militärarrest erhielt er dafür.
Insgesamt hatte sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs sein Zustand so sehr verschlimmert, dass sein Vater ihn am 24. Juni 1918 erneut, diesmal in die Psychiatrie Eichberg bei Kiedrich, einliefern ließ, wo er aber nach etwa einem Monat wieder entlassen wurde.
Allerdings war er inzwischen wegen seiner verschiedenen kriminellen Delikte zu einer dreijährigen Haftstrafe und einer Geldstrafe von 2.500 RM verurteilt worden, wie sich aus einer Aktennotiz des Landgerichtspräsidenten vom 12. Dezember 1919 ergibt.[26] Wo und wie lange er in Haft war, ist nicht bekannt. Überhaupt verlieren sich zu dieser Zeit seine Spuren für viele Jahre.
Der Vater hatte bei der Einweisung von Herbert in die Psychiatrie Eichberg geschrieben, dass er seinen Sohn leider nicht selbst übergeben könne, da er zu sehr erkrankt sei. Stattdessen würde sein älterer Sohn Alfred Herbert bringen. An welcher Krankheit der Vater litt, ist den Akten nicht zu entnehmen. Carl Mayer lebte noch ungefähr ein Jahr.

Am 6. Juli 1919 verstarb der Arzt, der vermutlich auch schon länger nicht mehr seiner beruflichen Tätigkeit im Augusta-Victoria-Bad nachkommen konnte, in Wiesbaden. In einer am 12. Dezember 1919 erstellten Aktennotiz des Landesgerichtspräsidenten war der Tod von Carl Mayer nach Aussage seines Sohnes Alfred, der damals dort seine Assessorenzeit absolvierte, durch „einen Schlaganfall, den er in Folge des Kummers und der Aufregung über seinen Sohn Herbert Mayer erlitten hat“, eingetreten.[27] Anders liest es sich in einem späteren Schreiben von Alfred, der sich in der NS-Zeit nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst um die Stellung eines Konsulenten bewarb. In diesem Bewerbungsschreiben erwähnte er kurz auch den Tod seines Vaters, um die vaterländische Gesinnung und Opferbereitschaft der Familie zu belegen. Er, Alfred Mayer, sei der Sohn „des am 6. Juli 1919 zu Wiesbaden verstorbenen Sanitätsrats Dr. med. Carl Mayer, dessen Tod ausweislich der Akten des Versorgungsamts Mainz auf eine Dienstbeschädigung zurückzuführen ist, die dieser während des Krieges bei seiner Tätigkeit als Oberstabs- und Bataillonsarzt erlitten hat, nachdem er sich im 58. Lebensjahre reaktivieren liess, um seinen Dienst während des Krieges zur Verfügung zu stellen.“[28]
Alfred selbst war, wie er in seinem Lebenslauf schrieb, „am Mobilmachungstag als Unteroffizier zu den Fahnen gerufen“ und zunächst in Polen eingesetzt worden. Mehrfach wurde er befördert und im Mai 1915 mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet.[29]
Gleichwohl muss die Familie damals eine schwere Zeit durchgemacht haben: Der Tod des Vaters, der psychisch erkrankte, dann inhaftierte Herbert, das Ende des Krieges mit all den politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten. Auch war man, wie alle Juden, mit einem wachsenden Antisemitismus konfrontiert, der durch die Dolchstoßlegende von der Rechten bewusst geschürt wurde, um von den eigenen Fehlern abzulenken. Möglicherweise war die Anschuldigung gegen Lili Mayer im Jahr 1920, sie habe sich des „Schleichhandels“ schuldig gemacht, ein Ausfluss dieser Stimmungsmache. Es wurde sogar ein Verfahren eröffnet, das aber wegen fehlender Verdachtsmomente sehr schnell niedergeschlagen wurde.[30]
Und mit der galoppierenden Inflation in den ersten Nachkriegsjahren verlor die Familie auch noch die finanzielle Grundlage ihrer Existenz. Zumindest betonte die Mutter in ihren späteren Schreiben an die Finanzbehörden, dass sie damals alles verloren habe.[31] Das Haus in der Martinstr. 15, in dem Lili Mayer all die Jahre wohnte, war laut den Wiesbadener Adressbüchern allerdings mindestens bis 1933 in ihrem Besitz geblieben. Erst danach zog sie an den Langenbeckplatz 3 bzw. in das dazugehörige Gartenhaus.[32] Der Gebäudekomplex gehörte der jüdischen Familie Vorsanger, die zusammen mit der Familie Steinberg in der Nähe des Bahnhofs eine weit über die Region hinaus bekannte Ladenbaufirma betrieb.[33]
Immerhin hatte inzwischen ihr Sohn Alfred eine Karriere als Rechtsanwalt gestartet. Nachdem er das Referendariat mit der zweiten juristischen Staatsprüfung erfolgreich abgeschlossen hatte, eröffnete er in Wiesbaden zunächst in der Karlstr. 8 eine Rechtsanwaltspraxis, mit der er sich auf zivilrechtliche Verfahren spezialisierte. Im September 1922 war er sowohl am Amts- als auch am Landgericht als Anwalt zugelassen worden. Einer sicheren Karriere im Justizbereich schien nichts im Wege zu stehen.
Angesichts dieser Perspektive heiratete er am 29. Juli 1922 in Wiesbaden die dort am 16. Juli 1887 geborene Dorothea Volk.[34] Sie war die Tochter von Georg Volk und seiner Frau Maria, geborene Sator, und stammte aus einer evangelischen Familie. Ihr Vater hatte sich zum Landesbotenmeister hochgearbeitet, ein Amt, das für die Kontrolle des Boten- und Postwesens eines Bezirks oder eines Territoriums zuständig war.[35] Kinder sind auch in den folgenden Jahren aus der Ehe nicht hervorgegangen.
Hatte er bis 1922 zunächst noch bei seiner Mutter in der Martinstr. 15 gewohnt, so war er nach der Eheschließung in die Kleine Frankfurter Str. 1 umgezogen. Auch die Praxisräume wurden damals in die Rheinstr. 48 verlegt. Offenbar waren aber die Einkünfte, die Dr. Alfred Mayer in der ersten Zeit erwirtschaften konnte, eher gering. Die Zahlen des Hyperinflationsjahrs 1923 täuschen über den tatsächlichen Wert der dem Finanzamt gemeldeten Einnahmen hinweg. Noch 1925, dem Jahr, in dem die erste große Wirtschaftskrise einigermaßen überwunden war und er ein Einkommen von etwas mehr als 4.000 RM zu verzeichnen hatte,[36] musste er beim Finanzamt um Stundung seiner Einkommensteuer bitten.[37] Die geforderte Summe von 500 RM könne er wegen nur zäher Eingänge von Außenständen und wegen der derzeitigen Gerichtsferien nicht auf einmal begleichen. Zudem sei er auch noch eine Vermögensteuer von 150 RM schuldig, obgleich er kein Vermögen außer dem Anteil am Elternhaus besitze, dessen Erträge aber der Mutter zustehen würden.[38]
In den folgenden Jahren stieg sein Einkommen dann allmählich an, betrug 1926 etwas mehr als 6.000 RM, im folgenden Jahr schon 15.000 RM, ging dann allerdings zwischen 1928 und 1930 wieder auf 8.000 RM zurück, dies, obwohl er am 17. Oktober 1929 zum Notar befördert worden war.[39] Abgesehen vom Jahr 1931, in dem er noch einmal nahezu 13.000 RM einnahm, blieben die Einkünfte auch in den übrigen Jahren bis 1933 unterhalb der zehntausender Marke.[40] Abzuziehen waren davon aber noch die Bürokosten und die Gehälter der Angestellten, sodass für den eigenen Lebensunterhalt nicht mehr viel übrig blieb. Es war wieder eine Zeit angebrochen, in der das Geld knapp wurde und er erneut mehrfach um Stundung seiner steuerlichen Verpflichtungen bitten musste.
Im Herbst 1931 hatte er seine Privatwohnung aus Kostengründen bereits aus der Uhlandstr. 17 in die Rheinstr. 8 verlegt. Im folgenden Herbst musste er aber erneut dem Finanzamt mitteilen, dass sich seine „wirtschaftlichen Verhältnisse“ im letzten Jahr „ganz wesentlich zu seinen Ungunsten verändert“ hätten.[41] Es stand sogar eine Zwangsvollstreckung an.[42]
Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 verschärfte sich die Situation für ihn noch einmal beträchtlich. Zwar zahlte er einen kleinen Betrag von seinen Steuerschulden ab, aber unter den gegebenen politischen Verhältnissen konnte er auf Dauer kaum mehr mit Rücksichtnahme rechnen. Dennoch bat er noch einmal darum, seine Schulden in Raten begleichen zu dürfen, „da es für mich einen Ruin bedeuten würde, wenn zwangsweise ein Betrag von etlichen 100 RM bei mir beigetrieben würde. Ich muss leider auch mitteilen, dass durch die weiter fortschreitende schlechte Geschäftslage ich genötigt war, obwohl ich dies bis in letzter Stunde vermeiden wollte, meinen Bürovorsteher nur noch halbtags zu beschäftigen und dass bei weiterem Druck es mir nicht möglich ist, die bisherige Beschäftigungsziffer meines Büropersonals aufrecht zu erhalten.“[43]
Zwar wurde die Bitte um Ratenzahlung zunächst abgelehnt, dann aber, nachdem er erklärt hatte, von Kündigungen absehen zu wollen, und nachdem er dem Finanzamt zwei Schreibmaschinen übereignet hatte, dann doch bewilligt.

HHStAW 467 1549 (100)
Im April 1933 war auch er als Jude zunächst aus der Anwaltsliste gelöscht worden, erhielt aber auf seinen Antrag vom 11. April hin wegen seines Einsatzes als hochdekorierter Frontsoldat im Ersten Weltkrieg doch die Genehmigung zur Weiterarbeit.[44] Am 27. August 1934 war er aber deshalb gezwungen, einen Eid auf Adolf Hitler zu leisten.[45]

HHStAW 467 1549 (131)
Am 22. Januar 1936 verlor er dann doch seine Zulassung als Notar.[46] Erstaunlich ist allerdings, dass man ihm von Seiten des Justizministeriums wegen seines geringen Einkommens einen Unterhaltszuschuss über drei Jahre in Höhe von monatlich 300 RM gewährte. Allerdings musste er dafür jährlich seine Bedürftigkeit nachweisen und sein Einkommen offenlegen.[47]
Tatsächlich war das im Vergleich zum Jahr 1931, dem letzten Jahr vor dem Einbruch, in dem es ihm bereits sehr schlecht ging, noch einmal deutlich zurückgegangen, wie auch das Finanzamt bestätigte. Er selbst hat im späteren Entschädigungsverfahren seine damaligen Einkommensverluste bis zum Jahr 1946 auf rund 160.000 RM oder 32.000 DM angesetzt.[48]

HHStAW 458 800 (55)
1938 kam dann das endgültige Aus. Am 27. September 1938, wenige Wochen vor der Reichspogromnacht, erhielten alle bisher noch amtierenden jüdischen Anwälte endgültig Berufsverbot. Nur wenige sollten unter dem Titel ‚Konsulent’ noch jüdische Bürger in juristischen Angelegenheiten vertreten dürfen. Am 31. Oktober reichte auch Dr. Alfred Mayer ein Gesuch beim Oberlandesgerichtspräsidenten in Frankfurt ein, in dieser Funktion zumindest befristet weiterhin seinen Beruf ausüben zu dürfen. Er wies darin auf die nationale Gesinnung seiner seit Jahrhunderten in Deutschland ansässigen Familie und die seiner arischen Frau hin, beschrieb seine derzeitige schwierige wirtschaftliche Situation und seine Verantwortung für seine eigene Mutter, aber auch für die ebenfalls vermögenslose Mutter seiner Frau. Deren Mann war 1926 verstorben, weshalb Maria Volk damals im Haushalt des Schwiegersohns lebte, genauso wie Marie, die 1890 geborene, unverheiratete Schwester von Dorothea Mayer. Sie hatte seit neun Jahren im Büro von Alfred Mayer mitgearbeitet und mit ihrem Gehalt ebenfalls die Mutter unterstützt. Eine Weiterbeschäftigung hätte also – so die Argumentation – primär die Lebensgrundlage einer arischen Familie, als die einer jüdischen gesichert. Die im Ersten Weltkrieg erworbenen verschiedenen Orden und Auszeichnungen blieben in dem Antrag nicht unerwähnt.
Er habe, so führte er weiter aus, „weder einer Loge noch der Schlaraffia [49] oder dem Rotary Club angehört. Er hat sich niemals weder kommunistisch noch marxistisch noch seperatistisch noch freimaurerisch betätigt. Er hat niemals Strafen, Dienststrafen oder ehrengerichtliche Strafen erlitten. Auch schriftliche Missbilligungen sind ihm nicht erteilt worden. In der Verfügung über sein Vermögen durch gerichtliche Anordnungen ist er nicht beschränkt. Er war jahrelang Mitglied des Vereins für das Deutschtum im Ausland und des Verbandes ehemaliger Achtziger [? – K.F.] und ist seit über einem Jahrzehnt Mitglied des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten.“[50]
Unerwähnt ließ er in diesem Antrag aus verständlichen Gründen aber, dass er neben dem Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten [RjF] laut Jüdischem Adressbuch von 1935 auch Mitglied im ‚Centralverein der Juden in Deutschland’ und im ‚Jüdischen Lehrhaus’ war. Nicht im Begleitschreiben, aber im Antragsformular, ist seine Mitgliedschaft in der ‚Deutschen Demokratischen Partei’ aufgeführt – allerdings nur „bis 1927 oder 1928.“
Es gab noch einen weiteren – aus Nazisicht – dunklen Fleck in seiner Biographie. Schon in seinem ersten Eintrag im Wiesbadener Adressbuch von 1922 stand neben seinem Doktortitel „Syndikus d. Mieterschutzvereins“ – und diese Funktion hat er wohl noch länger ausgeführt. In der Beurteilung des Landgerichtpräsidenten zu seinem Antrag heißt es anfangs noch recht positiv:
“Bei guter Befähigung hat er seinen Beruf mit Fleiß und Sorgfalt ausgeübt. Vor Gericht hat er sich eines sachlichen und korrekten Auftretens befleißigt, wenn er auch etwas hitzig und leicht aufbrausend war. Als Anwalt des Mieterschutzvereins hat er sich beim hiesigen Amtsgericht vor der Machtergreifung durch Reklame für seine Tätigkeit und gehässiger Prozessführung gegen Hauseigentümer mitunter unangenehm bemerkbar gemacht.“ Dann heißt es am Schluss: „Seine Führung und politische Haltung hat zu Beanstandungen keinen Anlass gegeben, eine staatsfeindliche Gesinnung hat er nicht gezeigt.“[51]
Selbst die Gestapostelle in Wiesbaden hatte keine Bedenken gegen eine Einstellung Alfred Meyers als Konsulenten: „Nachteiliges ist über Mayer bisher hier nicht bekannt geworden, Mayer ist Frontkämpfer.“[52]

HHStAW 458 800 (38)
Dass er die Stelle nicht erhielt, ihm stattdessen sein Kollege und Kamerad in der RjF Berthold Guthmann vorgezogen wurde, hatte er letztlich wohl doch dem Landgerichtspräsidenten zu verdanken, der sich inzwischen weiter umgehört hatte und am 29. November 1938 seinen Antrag ablehnte:
„Dr. Mayer steht Guthmann an Zurückhaltung und Beherrschtheit erheblich nach und hat sich auch in seinem Auftreten vor dem Landgericht (…) als hitzig und leicht aufbrausend erwiesen.“ Es folgen die bereits zitierten Anmerkungen zum angeblichen Verhalten in Mietstreitigkeiten. Abschließend heißt es: „Der Kreisgruppenführer der NSRB [NS-Rechtswahrerbund – K.F.] hat sich mit Entschiedenheit gegen eine Berücksichtigung seines Gesuchs ausgesprochen, da er im Gegensatz zu Guthmann wegen typisch jüdischer Eigenschaften und Denkweise für die Anwaltschaft nicht tragbar sei. Insbesondere sei auch sein Auftreten bis in die letzte Zeit gelegentlich ein recht dreistes gewesen. Ich vermag hiernach seine Zulassung als Konsulent nicht befürworten.“[53] Die Funktion wurde demgemäß Berthold Guthmann und nicht Alfred Mayer übertragen.[54]
Das Schreiben war nach dem Novemberpogrom verfasst worden, bei dem beide Aspiranten festgenommen und Berthold Guthmann ins KZ Buchenwald, Alfred Mayer nach Dachau eingeliefert worden waren. Bei den Novemberereignissen war auch das Büro von Alfred Mayer überfallen und die Einrichtung zerschlagen worden. Zwei wertvolle Schreibmaschinen hatten die SA-Männer konfisziert und die gesamte Bibliothek mit Sammlungen von Urteilen und Gesetzbüchern sowie unzählige Formularbögen mussten auf deren Geheiß bei einem Altpapierhändler abgeliefert werden. Die Kanzlei war nun endgültig geschlossen.[55]

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Vermutlich wussten seine Frau und seine Mutter nicht, was mit ihm nach der Verhaftung geschehen war, denn über das Rote Kreuz erging am 14. November 1938 eine Anfrage an die Gestapo, wo er sich befinde und wie es ihm gehe.[56] Fast ein Vierteljahr später, nachdem er schon längst wieder frei war, ging eine Antwort der Gestapo aus Berlin beim IRK ein, laut der Alfred Mayer am 14. November gefangen genommen und dann zwei Tage später nach Dachau überführt worden sei. Seine Entlassung sei am 15. Dezember 1938 erfolgt. „Er erfreut sich einer ausgezeichneten Gesundheit“, hieß es weiter, und er sei auch während seines Lageraufenthalts nicht krank gewesen.[57] Ganz anders erinnert sich der spätere Arzt und Jugendfreund, der im Entschädigungsverfahren bezeugte, Alfred Müller, ein „früher gesunder und blühender Mann“, sei trotz des relativ kurzen KZ-Aufenthalts „körperlich und seelisch gebrochen“ zurückgekommen.[58]
Als die Nachricht der Gestapo die Verwandten in Wiesbaden erreichte, hatte Alfred Mayer schon längst alle Formalitäten erledigt, um außer Landes gehen zu können.[59] Die Gestapo selbst hatte die Freilassung mit dieser Auflage verknüpft. Als Datum der Ausreise, der 16. April 1939, ist auf seiner Gestapokarteikarte eingetragen und auch die Abmeldung bei der Meldebehörde trägt dieses Datum.

HHStAW 518 828 I (86)
Diese ist allerdings von seiner Frau unterschrieben, die in Wiesbaden blieb.[60] Die Gründe dafür sind nicht bekannt, aber vermutlich erhielt sie als Nichtjüdin kein Einreisevisum für Großbritannien. Außerdem wollte sie sicher ihre über 80-jährige Mutter nicht zurücklassen, obwohl auch ihre Schwester ebenfalls noch in Wiesbaden wohnte.
Zwar war Alfred Mayer somit gerettet, aber zunächst ohne Arbeitserlaubnis zum Überleben auf die Unterstützung der Hilfsorganisation ‚Jewish Refugee Committee’ angewiesen. Ein britisches Pfund bekam er in den ersten beiden Jahren pro Woche. Erst ab Sommer 1941 erhielt er eine Anstellung als Bürokraft in der Stadtverwaltung von Caernaroon in Wales, für die er zunächst 12 Pfund, dann zuletzt 1946 18 Pfund im Monat erhielt, was damals einer Kaufkraft von etwa 300 DM entsprach.[61]
Ein Opfer der Shoa wurde dagegen sein Bruder Herbert, über dessen Lebensweg nach seiner Entlassung aus der psychiatrischen Anstalt Eichberg und der Haft nur wenig bekannt ist. Er war wegen seiner psychischen Probleme 1919 auch entmündigt worden. Ein Freund von Alfred Mayer, Rechtsanwalt Dr. Max Rosenthal aus Frankfurt, hatte sich bereit erklärt, die Vormundschaft zu übernehmen.[62] Wo er sich nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis aufhielt, ob er mit seiner eher unangepassten Lebensweise in weitere Konflikte mit der Staatsgewalt geriet, was zumindest nach 1933 als sehr wahrscheinlich angesehen werden muss, ist leider nicht bekannt. Aber allein die Tatsache, dass solche Dokumente nicht zu finden sind, lässt darauf schließen, dass er spätestens sehr bald nach der „Machtergreifung“ aus Deutschland geflohen sein wird.
Seine Mutter erwähnt allerdings erst in einem Schreiben an das Finanzamt Wiesbaden vom 17. Juli 1937, das er sich mittellos im Ausland befände und sie ihn trotz ihres geringen Einkommens durch laufende Zuwendungen unterstützen müsse.[63]
Laut ‚Mapping the Lives’ war er zunächst zu einem nicht bekannten Zeitpunkt nach Monaco gegangen, von dort dann nach Frankreich gezogen.[64] Wann er die Grenze überschritt, ist nicht bekannt, auch nicht, ob das freiwillig oder erst nach dem Juli 1941 geschah, als in dem bis dahin zumindest formal selbstständigen Staat Monaco alle dort lebenden Juden, Emigranten wie Einheimische, auf Geheiß der Deutschen registriert werden mussten. Auch konnte nicht ermittelt werden, ob er von Beginn an in Frankreich interniert worden war und ob das Lager Le Vernet, in dem er zu Tode kam, auch der erste und einzige Ort der Internierung war.

Gemeinfreie Luftbildaufnahme von 1942
Als 1939 das Lagersystem in Frankreich neu geordnet wurde, waren die beiden Lager Le Vernet und Rieucros dazu ausersehen, dort die „unruhigen Elemente“ auszusondern, Le Vernet für Männer, Rieucros für Frauen.[65] Beide waren ausschließlich für Staatsangehörige anderer Länder gedacht. Sie dienten nicht einfach nur der Internierung, sondern hatten eher den Charakter von Straflagern. Die Zustände und die Versorgung besonders in Le Vernet, das außen von der Armee, innen aber von der Garde Mobile, der reaktionären und brutalen französischen Bereitschaftspolizei, bewacht wurde, waren sogar schlimmer als in manchen deutschen KZs.[66] Diese Garde Mobile sorgte mit Ochsenziemern, die sie bei kleinsten Anlässen einsetzte, für „Ordnung“, jeden Tag mussten die Opfer viermal auf dem Appellplatz antreten und dort auch bei Eiseskälte oder hochsommerlicher Hitze jeweils bis zu einer Stunde in dürftiger Kleidung ausharren. Bei Verfehlungen drohte die Einweisung in das Lagergefängnis, wobei die ersten 24 Stunden völlig ohne Essen und Trinken zu bestehen waren. In den folgenden drei Tagen gab es nur Wasser und Brot. In den nicht heizbaren Baracken lagen die Gefangenen auf Holzpritschen, die jedem nur einen 50 cm breiten Schlafplatz ließen. Decken gab es nicht, bestenfalls etwas Stroh. Läuse, Flöhe, Mäuse, Ratten und anderes Ungeziefer wurden von den absolut unzureichenden hygienischen Verhältnissen angezogen und drangsalierten die erschöpften Menschen auch während der kurzen Nacht.
In Le Vernet bestand Arbeitszwang, die Männer schufteten im Straßenbau, in den Wäldern oder im Landbau. Dies alles bei völlig unzureichender Ernährung: 300 Gramm Brot, eine Tasse ungezuckerten Kaffee und mittags und abends gab es dazu eine dünne Wassersuppe. Die dürftige Nahrung musste auch in den kalten Wintern im Freien eingenommen werden. Gegessen wurde mit den Händen, Besteck oder gar Geschirr stand nicht zur Verfügung. Rostige alte Dosen dienten zur Aufnahme des täglichen Fraßes. Für 3000 Menschen gab es 18 Aborte. Viele der Internierten litten an Erkrankungen des Magen- und Darmtrakts, z. B. der Ruhr. Zwei Ärzte, ein „böser“ und ein „guter“, leiteten das Lazarett, in dem man, wenn man Glück hatte, bei Krankheit aufgenommen und nicht wegen angeblicher Simulation ins Gefängnis geschickt wurde.

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Das Lager selbst war in drei Sektionen aufgeteilt, in A, B und C, die jeweils durch Gräben und Stacheldraht voneinander getrennt waren. In Sektion A waren die „kriminellen Ausländer“ untergebracht, in B diejenigen, die wegen ihrer politischen Einstellung in Frankreich gestrandet waren. Das konnten von den Nazis geflohene deutsche Kommunisten und Sozialisten, aber auch die geschlagenen Freiwilligen des Spanischen Bürgerkriegs sein, Republikaner, Stalinisten oder die anarchistischen Anhänger Durrutis oder der POUM. Die letzte Gruppe bestand aus denjenigen, gegen die nichts Konkretes vorlag, die aber als feindliche Ausländer prinzipiell verdächtig waren. Sie waren, so auch Koestler selbst, zuvor in den Sammelstellen der großen Städte, den Stadien oder irgendwelchen Hallen, zusammengetrieben worden. Wie auch in anderen sogenannten ‚totalen Institutionen’[67] bildeten sich auch in Le Vernet interne Strukturen aus, die den Insassen das Leben zur Hölle machten und so etwas wie Solidarität der Opfer verhinderten. Die verschiedenen politischen Gruppen misstrauten sich, betrachteten sich sogar als Feinde, aber das größte Problem, so Koestler, ging von den Kriminellen aus, die das Lager in eine Plutokratie verwandelten und ihre Machtstellung auf Gewalt und Bestechung gründeten. Die Basis dafür war die Möglichkeit, Briefe, und auch Geld in das Lager zu schicken, womit die Insassen in einer kleinen Kantine für horrende Preise einkaufen konnten. Wer über genügend Geld verfügte, konnte auch die Wachmannschaften bestechen, konnte sich der Arbeitspflicht entziehen und Teil der mafiösen Strukturen werden.

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Wir wissen nicht, welcher Sektion Herbert Mayer dort zugeordnet war. Es ist trotz seiner Vergangenheit keineswegs sicher, dass er zur Sektion A gehörte, und selbst dann bedeutete das nicht notwendigerweise, dass er zu dieser kriminellen Clique gehörte. Obwohl Koestler viele Namen erwähnt, seiner fällt nicht. Er könnte in diesem System genauso zum Opfer geworden sein, zumal er vermutlich kaum über die nötigen Verbindungen nach draußen verfügte.
Ob Herbert Mayer am 18. Juni 1942 dort Opfer der in jeder Hinsicht inhumanen Verhältnisse wurde oder ob er durch unmittelbare Gewalt zu Tode kam, ist nicht bekannt.[68]
Zwar waren Ende 1940 einige prominente Insassen, wie etwa Arthur Koestler oder Gustav Regler, aus dem Lager entlassen worden, aber die weit überwiegende Mehrheit entging der Deportation nicht. Im Sommer 1942, nur wenige Wochen nach Herbert Mayers Tod, rollten die Züge zunächst nach Drancy, dann weiter in die Vernichtungslager des Ostens.[69] Eine Überlebenschance hätte Herbert Mayer wohl kaum gehabt, auch wenn er Le Vernet noch ein paar Wochen länger überstanden hätte.
Es ist auf Grund der Zerstörung der Meldeunterlagen im Zweiten Weltkrieg nicht bekannt, wie lange Herbert Mayer nach dem Ende seiner Schulzeit noch in Wiesbaden lebte, aber wesentliche Jahre seines Lebens hat er hier verbracht. Es wäre daher angebracht, dass auch sein Name auf dem Namensband der Gedenkstätte einen Platz finden würde. Dies ist bisher nicht der Fall.
Immerhin ist dort der Name seiner Mutter Gabriele Mayer zu finden. Aber auch die Dokumente, die Auskunft über das Leben der Witwe von Carl Mayer nach dessen Tod geben, sind eher rar. Es sind einzig die Akten des Finanzamts und der Devisenstelle, aus denen etwas zu erfahren ist. Allerdings setzen die Steuerakten erst mit dem Jahr 1932 ein, sodass der genaue Nachvollzug ihrer allmählichen Verarmung nicht mehr möglich ist. Schon damals, kurz vor der „Machtergreifung“, gab sie an, netto nur auf ein Jahreseinkommen von etwa 1.400 RM zu kommen. In den folgenden Jahren, für die Einkommensteuererklärungen noch vorliegen, ändert sich die Situation nur unwesentlich, viel mehr als 150 RM standen ihr monatlich nicht zur Verfügung.[70] Die Quellen, aus denen sie dieses Einkommen bezog, bestand zunächst aus einer mit 6 Prozent verzinsten Hypothekenforderung über 10.000 RM, an der sie zu einem Drittel beteiligt war.[71] Ihr Mann hatte noch vor seinem Tod verfügt, dass die ebenfalls beteiligten Brüder Alfred und Herbert zu Lebzeiten der Mutter auf ihren Zinsanteil verzichten sollten. Das waren insgesamt 600 RM im Jahr.[72] Die Schuldner waren die jüdischen Unternehmer Victor Eliascheff und Waldemar Rakowtschik, die in Berlin in den zwanziger Jahren eine Firma für Sanitärbedarf betrieben hatten.[73] Sie waren auch Eigentümer des Hauses Frankfurter Str. 34, auf dem die Hypothek lastete. Als Lili Mayer 1938 eine Vermögenserklärung abgeben musste, hatten beide Deutschland verlassen und auch die Gläubigerin wusste nicht, wo sie sich damals aufhielten.[74] Wie sie im März 1939 dem Finanzamt Wiesbaden mitteilte, bezog sie seit November 1938 keine Zinsen mehr aus dieser Hypothek.[75] Vermutlich hatten die Schuldner spätestens nach der Pogromnacht Deutschland verlassen.
Weiterhin bezog sie die Zinsen einer Hypothek, deren Eigentümer eigentlich ihr Sohn Alfred war und die auf ihr früheres Haus in der Martinstraße eingetragen war.[76] Auf Grund des Militärdienstes ihres Mannes erhielt Lili Mayer noch eine kleine Rente von monatlich 20 RM.
Daneben gab es noch eine Stiftung, die von der Familie ihrer Mutter angelegt worden war, die Markus und Mathilde Kappel –Stiftung, von der sie monatlich 100 RM bezog. Allerdings war diese Zahlung von ihrer tatsächlichen Bedürftigkeit abhängig. Es handelte sich somit um keine bedingungslose Rente, aber Lili Mayer hatte keine Probleme, diese Bedürftigkeit nachzuweisen.[77]

HHStAW 685 567a II (8)
Als nach der Reichspogromnacht auch sie zur Judenvermögensabgabe herangezogen werden sollte, versuchte sie das Finanzamt davon zu überzeugen, dass die verschiedenen Renten, nicht als kapitalisiertes Vermögen zur Berechnung dieser Sondersteuer für Juden herangezogen werden dürften.[78] In seiner Berechnung war die Behörde auf ein absurd hohes Vermögen von rund 12.500 RM gekommen, was eine Abgabe von 2.200 RM, zahlbar in vier Raten á 550 RM bedeutet hätte.[79] Wahrscheinlich musste sie die erste Rate bezahlen, aber auf eine erneute Bitte aus dem März 1939 wurde dann von der Einziehung der zweiten Rate Abstand genommen, weil ihr durch das Berufsverbot und die erzwungene Auswanderung ihres Sohnes nach England die bisherige Unterstützung weggefallen war und auch die Hypothekenzinsen nicht mehr eingingen. Die gleiche Bitte erging dann auch für die dritte Rate. Diesmal teilte ihr das Finanzamt mit, dass man „bis auf Weiteres“ auf die Einziehung der Judenvermögensabgabe gänzlich Abstand nehmen wolle.[80]

HHStAW 519/3 5104 (3)
Das Hausgrundstück in der Frankfurter Str. 34, auf das die wertlos gewordene Hypothek eingetragen war, hatte inzwischen durch Zwangsversteigerung seinen Besitzer gewechselt. Im Februar 1940 konnte die darauf lastende Hypothek für 7.200 RM abgetreten werden. Ihr Anteil an der Summe betrug 4.500 RM. Allerdings musste das Geld auf ein gesichertes Konto bei einer Devisenbank hinterlegt werden, da vermutlich im Zusammenhang mit dem Verkauf die Devisenstelle von ihr die Anlage eines solchen Kontos forderte. Vorläufig sollte sie monatlich über 300 RM frei verfügen dürfen, aber schon wenige Tage später veranlasste die für sie zuständige Dresdner Bank, dass der Betrag auf 250 RM herabgesetzt wurde.[81] Auch war sie von der Devisenstelle aufgefordert worden, eine Vermögenserklärung abzugeben, in der ihr Vermögen, ihr derzeitiges und zukünftiges Jahreseinkommen und ihre monatlichen Ausgaben genauestens aufzuführen waren. Ob sie das Formular richtig ausgefüllt hatte, ist insofern fraglich, als darin ihr Anteil an der im Februar übertragenen Hypothek im Wert von 4.500 RM noch als solche samt Verzinsung mit 75 RM erscheint und nicht als Bankguthaben. Davon abgesehen hatte sie auch noch Schulden von 600 RM, sodass ihr „Vermögen“ knapp 4.000 RM betrug.
Ihre monatlichen Ausgaben bezifferte sie auf 250 RM. 175 RM hatte sie für ihre allgemeinen Lebenshaltungskosten angesetzt, 50 RM betrug die Miete.[82]
Das Haus am Langenbeckplatz hatte sie bereits am 1. März 1939 verlassen, nachdem der wegen „Rassenschande“ verurteilte Hauseigentümer Abraham August Vorsanger aus der Haft entlassen und nach Frankreich ausgewandert war. Lili Mayer hatte damals ein Zimmer als Untermieterin des Ehepaars Hausdorff im Haus Leberberg 15 gefunden.[83] In diesem Zusammenhang hatte sie den größten Teil ihres bisherigen Mobiliars verkaufen müssen, wie sie dem Finanzamt am 23. März 1939 mitteilte.[84] Aber auch dort konnte sie nur bis Ende des Jahres bleiben. Die Vermieter, die in einer „Mischehe“ lebten, zogen im Oktober 1939 nach Berlin.[85]

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nerotal_43_%28Wiesbaden%29.jpg in Graustufen
Vom 23. Dezember 1939 an kam sie als Untermieterin im Nerotal 43 unter. Es handelt sich bei diesem Haus, das im Besitz des einst vermögenden jüdischen Ehepaars Carl und Anna Bacharach war, um eines der späteren Judenhäuser. Carl Bacharach war unter ungeklärten Umständen nach seiner Inhaftierung bei der Gestapo im Juni 1939 verstorben, seiner Frau gelang Ende 1940 die Flucht über Australien nach Argentinien. Zum Zeitpunkt des Einzugs von Lili Mayer in diese Villa im Nerotal, war das Konzept der Judenhäuser in Berlin zwar schon beschlossen, die Umsetzung in Wiesbaden aber noch nicht in Angriff genommen. Dennoch war das neue Mietgesetz, das die freie Wohnungswahl der Juden stark einschränkte, schon verabschiedet und oft blieb Suchenden keine andere Wahl, als in Häuser jüdischer Eigentümer zu ziehen. Laut ihrer Gestapokarteikarte konnte sie ein Zimmer bei dem Ehepaar Guttmann bewohnen, das drei Monate später in die Moritzstr. 25, ebenfalls ein künftiges Judenhaus, wechselte.

HHStAW 519/3 5104 (10)
Im Nerotal 43 verbrachte Lili Mayer die vielen Monate vom Dezember 1939 bis zum 14. Juli 1942, in denen ihre Lebensmöglichkeiten immer weiter eingeschränkt wurden. Konkrete Nachrichten darüber gibt es aber kaum. Einmal, im November 1941, beantragte sie zusätzlich zu ihrem Freibetrag von 250 RM für ein halbes Jahr monatlich zusätzlich 150 RM, um damit ihre „deutschblütige“ Schwiegertochter zu unterstützen, die nach der Auswanderung ihres Mannes ohne Einkommen zurückgeblieben war.[86]

HHStAW 519/3 5104 (11)
Ein weiteres Schreiben verfasste sie etwa ein halbes Jahr später, kurz bevor sie das Haus verließ oder verlassen musste. Sie bat am 30. März 1942 um die Freigabe von zusätzlichen 200 RM, da ihr „ohne Einhaltung des 3-monatl. Kündigungstermins“ gekündigt worden war. Vermutlich stammte dieser Passus über die Kündigungsfrist noch aus der Zeit, als sie die Wohnung bei Frau Bacharach angemietet hatte, aber um solche Rechte kümmerte sich nach der Verabschiedung des neuen Mietgesetzes inzwischen niemand mehr, schon gar nicht eine vom Finanzamt eingesetzte Hausverwaltung. „Da momentan kein leeres Zimmer mit Kochgelegenheit für mich frei zu machen ist, entstehen mir Unkosten, die ich von mir, monatlich bewilligten Summe nicht tragen kann, so bitte ich mir von meinem Konto 676 M 200 frei zu geben.“[87]
Ob sie das Geld erhielt, ist der Akte nicht zu entnehmen, vermutlich aber eher nicht. Laut einer Liste, die vermutlich eine NSDAP-Parteistelle 1942 nach der Deportation vom 10. Juni über den dadurch freigewordenen Wohnraum erstellt hatte, war Lili Mayer bisher im Nerotal 43 zuletzt alleine in einem einzelnen Zimmer im Souterrain des Hauses untergebracht. Dieses Zimmer war ihr möglicherweise wegen der Forderung nach einer Kochgelegenheit bzw. nach einer zusätzlichen Freigabe von Geld gekündigt worden. Am 14. Juli 1942 musste sie dann vielleicht deswegen noch einmal die Wohnung wechseln und in das Judenhaus Lortzingstr. 7 ziehen, wo sie im zweiten Stock einen Platz fand.[88]

HHStAW 3008/2 16559
Am 4. September forderte die Devisenstelle sie in einem Schreiben, das an ihre alte Adresse im Nerotal gerichtet war, noch einmal auf, ihre gegenwärtigen Kosten für ihren Lebensunterhalt anzugeben. Zu diesem Zeitpunkt war sie aber weder unter der früheren, noch unter der letzten Adresse mehr erreichbar. Sie war mit dem letzten großen Transport, der Wiesbaden am 1. September 1942 mit 356 zumeist älteren Jüdinnen und Juden verließ, aus ihrem Zimmer in der Lortzingstr. 7 über Frankfurt nach Theresienstadt deportiert worden. Ihre Gestapokarteikarte trug bereits den Vermerk, dass die inzwischen 75-Jährige krank und in Behandlung bei Dr. Goldschmidt sei. Es ist umso erstaunlicher, dass sie das Leben im dortigen Ghetto noch bis zum 20. Februar 1944 überstand.[89] Über die näheren Umstände ihres Todes ist nichts bekannt.

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Alfred Mayer, der in England die NS-Zeit überlebt hatte, kehrte am 21. August 1946 aus seinem britischen Exil nach Deutschland zurück, wo er zunächst in Darmstadt im Lager für ‚Displaced Persons’, DPs’, aufgenommen und registriert wurde. Grund für seine Rückkehr waren nach seinen eigenen Angaben zum einen seine noch in Wiesbaden lebende Frau und zum anderen der mit dem Ende des Krieges eingetretene Verlust seiner bisherigen Arbeitsstelle in England. Offensichtlich beabsichtigte er aber ursprünglich, nicht in Deutschland bleiben zu wollen. Auf einem Formular der UNRA, ausgefüllt am 29. Januar 1948, hatte er noch angegeben, sich in England oder den USA niederlassen zu wollen.[90] Möglicherweise hatte er seine Pläne geändert, nachdem er in Wiesbaden wieder mit seiner Frau zusammenleben konnte, die damals in der Sonnenberger Str. 11 im zweiten Stock eine Wohnung hatte.[91] Notwendiges Mobiliar für das neue Zuhause und für die Ausstattung des Büros musste er sich leihen bzw. anmieten. Zwar erhielt er eine Notstandsbeihilfe von 1.000 RM,[92] aber eine Vorauszahlung auf die zu erwartende Entschädigung blieb ihm zunächst versagt, weil – so die Behörde – wegen noch fehlender Ausführungsbestimmungen zum Entschädigungsgesetz eine Vorauszahlung nicht möglich sei.[93] Später wurden ihm dann doch 4.000 DM ausgezahlt, die dann aber auf die Entschädigung von insgesamt 8.452 DM für den Schaden am beruflichen Fortkommen angerechnet wurden.[94] Wie üblich gab es auch in seinem Fall Streit um die Frage, ab welchem Zeitpunkt es eine Verdrängung aus seinem Beruf gegeben hatte. Die Entschädigungsbehörde setzte das Datum der Ausreise, also den April 1939, an, Alfred Mayer forderte hingegen, dass das Jahr 1933, seit dem seine Einnahmen deutlich zurückgegangen waren, zur Berechnung herangezogen werden müsse.[95]
Und tatsächlich wurde die zu zahlende Summe 1955 entsprechend auf etwas mehr als 20.000 DM angehoben, zumal er nach seiner Rückkehr nicht sofort in seinen Beruf zurückkehren konnte.[96] Zuvor waren ihm im Dezember 1951 bereits die 75 DM Haftentschädigung für die Zeit, die er in Dachau hatte verbringen müssen, ausgezahlt worden.[97] 75 DM für einen Monat KZ, eigentlich ein beschämender Betrag.
Die anderen Entschädigungen, etwa für den Verlust der Bibliothek oder die Judenvermögensabgabe, konnten das erfahrene Leid, den gewaltsamen Tod von Mutter und Bruder, die Trennung von der Ehefrau und die schwierigen Lebensumstände als Exilant nicht aufwiegen. Auch die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen. Er kam aus England mit einer Diabeteserkrankung und einem Herzleiden zurück, die ihn in seiner Arbeitsfähigkeit zunehmend einschränkten. Nach zwei schweren Herzinfarkten musste er seine Praxis aufgeben. Dr. Alfred Mayer verstarb am 20. Mai 1960 in Wiesbaden.[98]
Veröffentlicht: 10. 06. 2025
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[1] Sterberegister Frankfurt 980 / 1902.
[2] Das Geburtsdatum ist so auf seinem Grabstein angegeben, siehe https://images.findagrave.com/photos/2024/140/UNCEM_2361715_1a0587b9-073c-4d8a-8e50-ba2c44b57420.jpeg?v=1716136838. (Zugriff: 10.6.2025).
[3] Sterberegister Augsburg 301 / 1881, dazu Heiratsregister Frankfurt Bornheim 301 / 1881.
[4] Heiratsregister Frankfurt 88 / 1885.
[5] HHStAW 458 800 (10).
[6] Heiratsregister Frankfurt 184 / 1888.
[7] HHStAW 458 800 (12) und Sterberegister Frankfurt 980 / 1902.
[8] Ebd. In den Personalunterlagen von Adolf Mayer ist das Heiratsdatum fälschlicherweise mit dem 26.2.1888 angegeben, siehe HHStAW 458 800 (8).
[9] Heiratsregister Frankfurt 184 / 1888.
[10] HHStAW 458 800 (9).
[11] Sterberegister Wiesbaden 278 / 1908
[12] Sie sind genannt in der Heiratsurkunde von Wilhelm Kahn, einem Bruder von Amalie Mathilde Kahn, siehe Heiratsregister Abenheim / Osthofen 34 / 1861.
[13] Probst, Germersheim, S. 409.
[14] Ebd. S. 253.
[15] https://www.alemannia-judaica.de/germersheim_synagoge.htm. (Zugriff: 10.6.2025).
[16] HHStAW 458 800 (12).
[17] Heiratsregister Frankfurt 184 / 1888. In seiner Personalakte hat sein Sohn Alfred das Heiratsdatum der Eltern fälschlicherweise mit dem 26.2.1888 angegeben, siehe HHStAW 456 800 (8).
[18] Geburtsregister Frankfurt 3999 / 1888.
[19] Geburtsregister Frankfurt 5140 / 1895. Auf dem Erinnerungsblatt des Aktive Museum Spiegelgasse ist sein Name fälschlicherweise mit Helmut angegeben, siehe https://www.am-spiegelgasse.de/offline/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/EB-Mayer-Lili.pdf. (Zugriff: 10.6.2025).
[20] Hessische Landesbibliothek Hs 378. Es war vermutlich ein Geschenkt des in Frankfurt ansässigen Sanitätsrats Georg Avellis und seiner Frau Laura, zumindest waren sie diejenigen, die sich als erste dort eingetragen hatten.
[21] Ebd. S. 10.
[22] Schon 1933 hatte er den Marsch ‚Unsere braunen Jungs’ komponiert, der zum Repertoire der SS-Leibstandarte Adolf Hitler gehörte.
[23] HHStAW 458 800 (15). Auch im Folgenden siehe die Angaben in seinem Lebenslauf. Zu seinen militärischen Dienstzeiten siehe ebd. (18).
[24] HHStAW 467 1549 (o.P.).
[25] HHStAW 430-1 6501 (3). Zu seiner Erkrankung siehe die auf dem Eichberg angelegte Krankenakte passim., besonders die Anamnese und sein selbst geschriebener Lebenslauf, ebd. (2f., 4). Unpräzise ist die Formulierung in Faber / Rönsch, Wiesbadens jüdische Juristen, S. 152, Herbert sei „behindert“ gewesen.
[26] HHStAW 467 1549 (68).
[27] Ebd. (69).
[28] HHStAW 458 800 (o.P.).
[29] Am 13. Juli 1934 erhielt er „im Namen des Führers und Reichskanzlers“ sogar noch das von Hindenburg gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“, ebd. (o.P.).
[30] HHStAW 467 1549 (68, 73, 74)
[31] HHStAW 685 567b (11).
[32] Im Jüdischen Adressbuch von 1935 ist fälschlicherweise ihre Adresse mit Luxemburgplatz 3 angegeben.
[33] Siehe oben https://moebus-flick.de/die-judenhaeuser-wiesbadens/grillparzerstr-9/. (Zugriff: 10.6.2025). Das Haus am Langenbeckplatz wurde im Krieg zerstört.
[34] Heiratsregister Wiesbaden 638 / 1922.
[35] Die Vorfahren von Dorthea Volk sind in Alfred Mayers Antrag auf die Zulassung zum Konsulenten bis ins dritte Glied im Sinne eines Ariernachweises genauestens aufgeführt, siehe 458 800 (o.P.).
[36] HHStAW 685 561a (16).
[37] Möglicherweise ist ein anonymes Schreiben an das Finanzamt, das dessen Autor mit „Einer im Namen der Gerechtigkeit“ unterzeichnet hatte, noch vor dem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus zu sehen, auch wenn darin explizit keine judenfeindlichen Formulierungen zu finden sind. Alfred Mayer wurde unterstellt, seiner Steuerpflicht nicht nachzukommen, obwohl er über genügend Geld verfügen würde. Auch sollen ihm und seiner Frau Pässe zugeschanzt worden sein, die ihnen Auslandsreisen ermöglichen würden. Es gibt allerdings keinen Hinweis darauf, dass das Finanzamt die Anschuldigungen ernst nahm. Ebd. (6).
[38] Ebd. (8).
[39] HHStAW 458 800 (16, 45).
[40] HHStAW 685 561a (passim).
[41] Ebd. (115).
[42] Ebd. (117).
[43] Ebd. (119f.).
[44] HHStAW 467 1549 (100).
[45] Ebd. (101).
[46] Ebd. (103).
[47] Ebd. (110ff.), auch HHStAW 480 800 (o.P.).
[48] HHStAW 518 828 I (18).
[49] Zur Schlaraffia siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Schlaraffia. (Zugriff: 10.6.2025).
[50] HHStAW 480 800 (o.P.).
[51] Ebd.
[52] Ebd. (41).
[53] Ebd. (40).
[54] Bei der Entscheidung spielte allerdings auch der Wiesbadener Oberstaatsanwalt Hans Quambusch eine entscheidende Rolle. Zu seiner Person, i.B. seine Verbindung zu Berthold Guthmann siehe den Exkurs: Hans Quambusch.
[55] HHStAW 518 828 I (12), dazu auch HHStAW 518 828 I (2a, 12).
[56] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01010602/0065/55763398/001.jpg (Zugriff: 10.6.2025).
[57] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01010602/0065/55763399/001.jpg. (Zugriff: 10.6.2025).
[58] HHStAW 518 828 I (124).
[59] Dazu gehörte auch die Zahlung der ihm auferlegten Judenvermögensabgabe in Höhe von insgesamt 2.000 RM, siehe HHStAW 685 561a II (6).
[60] HHStAW 518 828 (o.P.).
[61] Ebd. (52).
[62] Ebd.
[63] HHStAW 685 567b (11).
[64] https://www.mappingthelives.org/bio/82d513de-665a-4f27-95e3-6b30a0a9c66f?restrict_to_map_bounds=false&coordinates_show_all=false&forename=Herbert&surname=Mayer&res_single_fd=false&birth_single_fd=false&death_single_fd=false&deportation_single_fd=false&emigration_single_fd=false&expulsion_single_fd=false&imprisonment_single_fd=false&lat=50.3061856&lon=12.3007083&zoom=6&map_agg=residence&language=de. (Zugriff: 10.6.2025).
[65] Eggers, Unerwünschte Ausländer, S. 39. Eggers’ Ausführungen über Le Vernet, die auf den Seiten 229-232 zusammengefasst sind, basieren zum großen Teil auf dem Unterkapitel ‚Purgatorium’ des zweiten Bandes der Gesammelten autobiographischen Schriften von Arthur Koestler, der selbst 1940 für ein Jahr dort inhaftiert war und umfassend über die Zustände in dem Lager berichtet hat, siehe Koestler, Abschaum der Erde, S.379-428.
[66] Koestler weist allerdings zurecht darauf hin, dass viele Gefangene in Le Vernet starben, dort aber im Unterschied zu deutschen KZs nicht systematisch gemordet wurde. Koestler, Abschaum der Erde, S. 328.
[67] Der Begriff stammt von Goffmann, Asyle, S. 13-123.
[68] https://collections.yadvashem.org/en/names/14999030. (Zugriff: 10.6.2025).
[69] Eggers, Unerwünschte Ausländer, S. 171.
[70] HHStAW 685 567a II. (passim).
[71] Ebd. (2, 3).
[72] Ebd. II (4). Die Hypothek war im Grundbuch auf die Frankfurter Str. 34 eingetragen.
[73] https://digital.zlb.de/viewer/image/34457317_1926/1174/?activetab=fulltext. (Zugriff: 10.6.2025).
[74] HHStAW 685 567 II (2).
[75] Ebd. (8).
[76] Ebd. (3). Das Haus hatte ein Herr Jütting gekauft. Dieser Name taucht auch auf einer von der NSDAP erstellten Liste auf, laut der dieser 1941 auch das Haus Victoriastr. 15 von dem jüdischen Besitzer Riffelt erworben haben soll. Siehe HHStAW 483 10127.
[77] HHStAW 685 567b (13, 14).
[78] HHStAW 685 567a II (4 f.).
[79] Ebd. (7).
[80] Ebd. (10, 14). Auch auf die Einziehung der 5. Rate, deren Höhe ihr am 11.11.1939 übermittelt wurde, verzichteten die Finanzbehörden. Ebd. (12, 15).
[81] HHStAW 519/3 5104 (1, 3).
[82] Ebd. (4).
[83] HHStAW 685 567b (37).
[84] HHStAW 685 567a II (8).
[85] Josef Hausdorff gelang von dort nach Frankreich, wo er in Gurs interniert und im März 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Der Sohn Hans konnte nach Argentinien entkommen, wohin ihm seine nichtjüdische Mutter, die die NS-Zeit in Berlin überlebte, nach dem Krieg folgte.
[86] HHStAW 519/3 5104 (10).
[87] Ebd. (11).
[88] Die Kündigung muss ihr, anders als auf dem Erinnerungsblatt des Aktive Museum Spiegelgasse dargestellt, sich noch auf das Zimmer im Nerotal und nicht auf das Judenhaus Lortzingstr. 7 beziehen, denn der Brief mit der Bitte um die zusätzlichen Gelder an die Devisenstelle trägt nicht nur das Datum vom 21.6.1942, war somit zu einem Zeitpunkt geschrieben, als sie noch im Nerotal wohnte, sondern trug auch als Absenderadresse diese Anschrift, siehe ebd.
[89] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/45651-lili-gabriele-mayer/. (Zugriff: 10.6.2025). Siehe auch HHStAW 518 76488 (8). Eine Sterbeurkunde wurde vom Sonderstandesamt Arolsen mit der Nr. 1487 / 1957 ausgestellt. Hier ist allerdings der Geburtsname ihrer Mutter fälschlicherweise mit Koppel statt mit Kappel angegeben.
Über die Deportation vom 1. September 1942 siehe ausführlich Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 132-169.
[90] https://collections-server.arolsen-archives.org/H/CM1/Post_War/03020101/0495/157049869/004.jpg. (Zugriff: 10.6.2025).
[91] https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/79464688?s=Alfred%20Mayer&t=2921940&p=7. (Zugriff: 10.6.2025). Vom Oktober 1940 bis August 1956 hatte er eine Anstellung als Schreibe in Caernarvon in Wales. https://collections-server.arolsen-archives.org/H/CM1/Post_War/03020101/0495/157049869/001.jpg. (Zugriff: 10.6.2025).
[92] HHStAW 518 828 I (2a).
[93] Ebd. (22).
[94] Ebd. (34).
[95] Ebd. (49).
[96] Ebd. (59).
[97] Ebd. (23).
[98] Ebd. II (12). Seine Frau verstarb am 20.9.1975 ebenfalls in Wiesbaden, ebd. (49).