Daniel und Paula Gallinger, geborene Lehrberger


Lortzingstraße_7_1925
Lortzingstr. 7 um 1925
Archiv D. Schaller
Lortzingstr. 7
Lage des ehemaligen Judenhauses Lortzingstr. 7

 

 

 

 

 


Wie ihr Mitbewohner Ludwig Stern konnte auch das Ehepaar Daniel und Paula Gallinger vor ihrem Umzug nach Wiesbaden auf eine erfolgreiche Karriere als Geschäftsleute zurückblicken. Die guten Jahre hatten sie in der alten SchUM-Stadt Worms verbracht, wo die Familie Gallinger zu den alteingesessenen und sehr renommierten Unternehmerfamilien gehörte.[1]

Daniel Gallinger, Klara Guggenheimer Gallinger, Johanna Hesselbergerg, Leopold Gallinger, Rosalie Benedikt Gallinger, Marianne Gallinger, Paula Gallinger Lehrberger, Emilie Eugenie Gallinger Goldschmidt, Siegmund Salomon Goldschmidt, Dr. Alfred August Gallinger, Elisabeth g, Lee Gallinger, Mina Gallinger Ciener, Paula Gallinger, Kenneth Gallinger, Louis Gallinger, Meier Lehrberger, Therese Lehrberger Lahnstein, Emma Lehrberger Weil, Carl Weil, Ida Lehrberger Weil, Moritz Weil, Mathilde Lehrberger Berger, Philipp Berger, Hans Weil, Therese Weil Köster, Robert Hugo Köster, Thea Margarete Berger Peper, Hijman Peper, Fairy Peper, Anselm Weil, Konstanze Weil
Stammbaum der Familien Gallinger und Lehrberger
PLS

Bis ins frühe 18. Jahrhundert lässt sich der Stammbaum der Gallingers zurückverfolgen. Allerdings lebte und starb der älteste Ahn der Familie, Jacob Gallinger, mit seiner Frau Miriam / Mariam selbst nicht in Worms, sondern in Mannheim, wo auch noch ihr Sohn Jachil im Jahr 1759 zur Welt gekommen war. Er, Jachil Jacob, war aber derjenige, der dann zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt in die Domstadt zog, in der Juden seit der Antike lebten und in der sie in den vergangenen Jahrhunderten sowohl gute, wie auch – gerade während der Kreuzzüge und der Pest – schlimmste Zeiten der Verfolgung hatten ertragen müssen.

Jachil Gallinger war nicht nur Handelsmann, sondern zugleich auch Lehrer bzw. sogar „Schulmeister“. Zumindest wird er in einem Verzeichnis über die israelitischen Bewohner der Stadt von 1801/02 so bezeichnet.[2] Er war nach Worms gekommen, weil er dort mit Klara Guckenheim eine Ehefrau gefunden hatte. Wann die Ehe geschlossen wurde, lässt sich nicht mehr exakt datieren, aber es muss vor 1801 gewesen sein, denn in dem genannten Verzeichnis wird Klara – hier Klärchen – bereits als seine Frau bezeichnet. Sie wohnten damals im Haus Nr. 27,[3] hatten keine Kinder und auch kein Gesinde. Eigentlicher Anlass für die Aufstellung des Verzeichnisses war aber die Wahl neuer Vor- und Nachnamen. So heißt es in dem Verzeichnis: „Galinger, Jachil änderte seinen Namen um in Daniel Gallinger.“[4] Nicht nur dem Nachnamen wurde ein weiteres „l“ eingefügt, sondern auch der Vorname verlor zwar nicht seine jüdischen Wurzeln, aber er wurde zumindest eingedeutscht.

Am 20. Juni 1829 verstarb Claire / Klara Gallinger im Alter von 70 Jahren, ohne noch Kinder bekommen zu haben. Nur ein Vierteljahr später, am 3. September 1829, heiratete der ebenfalls siebzigjährige Witwer erneut und zwar Johanna Hesselberger, dreißig Jahre und zehn Monate alt. Sie war die Tochter von Leopold und Elisabeth Hesselberger, geborene Mayer, aus Pfeddersheim.[5] In der Heiratsurkunde ist der Bräutigam noch mit seinem alten Namen Jachiel Jacob Gallinger benannt, was allerdings zu einem späteren Zeitpunkt korrigiert wurde.

In dieser zweiten Ehe wurden trotz des hohen Alters von Daniel Gallinger noch sechs Kinder geboren, von denen aber die meisten bereits im Kindesalter verstarben. Nur die Älteste, Marianne, geboren am 24. Juni 1830,[6] sowie der acht Jahre später, am 10. August 1838 geborene Leopold, erreichten – soweit bekannt – das Erwachsenenalter. 1852 wohnte die Familie in der Wormser Judengasse E 59.[7]

Rechnung der Firma Leopold Gallinger aus dem Jahr 1901

Leopold Gallinger, der Vater des Wiesbaden Judenhausbewohners, ehelichte am 19. März 1865 in seiner Heimatstadt die am 4. Februar 1839 geborene Rosalie Benedict aus der pfälzischen Gemeinde Albisheim, Tochter von Samuel und Barbara Benedict, geborene Marx.[8] Im folgenden Jahr kam am 22. August 1866 ihr Sohn Daniel, der spätere Bürger Wiesbadens, zur Welt.[9] Bevor in den folgenden Jahren seine beiden Geschwister Alfred August und Emilie Eugenie geboren wurden, gründete der Vater in Worms zunächst in der Kämmererstr. 34 sein Geschäft, das die Basis für den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der Familie darstellte. War sein Vater noch als Trödler umhergezogen, so bezeichnete sich Leopold Gallinger nun als Leinwandhändler und Agent, Letzteres, weil er neben dem Textilgeschäft auch eine Agentur der Westdeutschen Versicherungs-Aktienbank aus Essen betrieb.

Gallinger
Das Geschäfts- und Wohnhaus der Familie Gallinger in der Kaiser-Wilhelm-Straße
Mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Worms

Das Geschäft wurde in das neu erworbene, repräsentative Gebäude in der Kaiser Wilhelmstr. 17 – nach einer Neunummerierung war es dann die Nr. 8 – verlegt und avancierte bald zu einem der führenden Textilgeschäfte in Worms.

Familie und Geschäft Gallinger im Wormser Adressbuch von 1910

Der Titel eines „Hoflieferanten“ im Großherzogtum Hessen, der auch auf Kundschaft aus den höchsten gesellschaftlichen Kreisen schließen lässt, unterstreicht ebenfalls die Bedeutung des Unternehmens von Leopold Gallinger. Zwar ist nicht bekannt, wann ihm der werbewirksame Titel verliehen wurde, aber 1879, einige Jahre nach der Reichsgründung, wurde in Worms der Altertumsverein gegründet, Leopold Gallinger war eines der Gründungsmitglieder und ist in der Liste der damals Versammelten bereits mit diesem Namenszusatz aufgeführt.[10]

Das Grab von Leopold und Rosalie Gallinger auf dem Jüdischen Friedhof in Worms
https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/MGPM5T5F7FN4HVAWJXY2QBSNNBHIFSVI

Nachdem der Seniorchef am 10. Februar 1899 in Worms verstorben war,[11] übernahm Daniel als ältester Sohn diese Rolle. Er bewohnte auch das Geschäftshaus in der Kaiser Wilhelmstraße, während seine Mutter, die auch weiterhin Mitinhaberin war, in die Chrimhildenstr. 10 verzog.[12] Sie überlebte ihren Ehemann um mehr als zwanzig Jahre. Erst am 16. Februar 1922 verstarb auch sie und konnte im Familiengrab neben ihrem Mann beigesetzt werden.[13]

Beide Eltern hatten noch erleben dürfen, wie ihre am 13. März 1869 geborene Tochter Emilie Eugenie durch die Vermählung mit dem aus Hannover stammenden Siegmund Salomon Goldschmidt eine eigene Familie gründete. Sie gaben sich am 10. November 1892 in Worms das Ja-Wort.[14]
Zum Jahresbeginn 1908 zogen sie nach München, wo Siegmund Salomon Goldschmidt in der Ainmillerstr. 10 eine Vertretung für Papierwaren betrieb. 30 Jahre wohnten sie dort und ebenso lange existierte ihr Geschäft. Am 4. Oktober 1938 musste es auf Druck der Nationalsozialisten abgemeldet werden und ein Dreivierteljahr später mussten auch Siegmund und Eugenie ihre Wohnung verlassen und in das Judenhaus in der Leopoldstr. 52a ziehen.

Altenheim Mathildenstr
Das Altenheim Mathildenstraße in München
Mit Genehmigung des Stadtarchivs München

Am 18. Oktober 1941 wurden sie in das Jüdische Altenheim in der Mathildenstr. 8 / 9 verbracht, das inzwischen faktisch ebenfalls einem weiteren Judenhaus geworden war. Im Frühjahr 1942 lebten etwa 100 Menschen dicht gedrängt zu zweit oder zu dritt in den einzelnen Zimmern. Im Frühjahr sollten die Bewohner erneut in verschiedene Häuser umgesiedelt werden, weil die Stadt, aber vor allem NS-Gliederungen wie die DAF und die SS Interesse an dem Gebäude hatten. Den Zuschlag erhielt die SS, die das Gebäude samt Inventar zum Preis von 127.500 RM kaufte, um dort ein „Lebensborn-Heim“ einzurichten. Der Preis wurde aber nie ausgezahlt, was ohnehin nur der buchhalterischen Korrektheit gedient hätte, da der Eigentümer, die ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland’ längst zum Instrument der SS umfunktioniert worden war.[15]

Siegmund Goldschmidt
Kennkarte von Siegmund Samuel Goldschmidt
https://stadtarchiv.muenchen.de/scopeQuery/getimage.aspx?veid=862144&deid=10&sqnznr=1&width=520&klid=9

Einen Tag nachdem der Kaufvertrag zustande gekommen war, beschlossen Eugenie und Siegmund Goldschmidt gemeinsam in den Tod zu gehen. Mit der Überdosis eines Schlafmittels beendeten sie am 25. bzw. 26. März ihr Leben aus eigenem Beschluss.[16] Vielleicht wollten sie den erneuten Umzug schon nicht mehr mitmachen, aber sie wussten wohl auch, dass sie für den Transport vorgesehen waren, der am 3. / 4. April 1942 etwa 1000 Juden aus Bayern und der Oberpfalz, darunter 343 Jüdinnen und Juden aus München, in das Ghetto von Piaski im „Generalgouvernement“ bringen sollte. Siegmund Goldschmidt war fast 85 Jahre alt, seine Frau hatte gerade das 73ste Lebensjahr vollendet. Eine Chance, diese Tortour zu überleben, hatten sie beide nicht.[17]

Bevor Eugenie und Siegmund Goldschmidt in den Tod gingen, hatten sie ein Testament gemacht, mit dem sie ihren noch vorhandenen Besitz verteilten. Ob einer der benannten tatsächlich noch in den Genuss der Erbschaft kam, ist nicht überliefert. Es war ohnehin nur sehr wenig, was sie hinterlassen hatten: Gebrauchsgegenstände im Wert von knapp 1.900 RM und ein Bankguthaben mit etwa 600 RM.[18]

Neben nicht identifizierbaren Personen befand sich unter den Bedachten auch ein Paul Goldschmidt, Sohn des verstorbenen Julius Goldschmidt, einem Bruder von Siegmund.
Weiterhin sollte auch eine Elsa Gallinger, geborene Sahlberg, „Universitätsprof. Gattin“ am Erbe beteiligt werden. Sie war die Ehefrau des jüngeren Bruders von Daniel Gallinger, die damals in Bad Homburg v. d. H. in der Hölderlinstr. 10 wohnte, während er selbst aus Deutschland hatte fliehen müssen.

Geburtseintrag von August Gallinger

Alfred August Gallinger, geboren am 11. August 1871 in Worms,[19] gehörte in den Jahren der Weimarer Republik und auch wieder im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des Geisteslebens. In einem Nachruf anlässlich seines Todes am 7. Juni 1959 hat Alois Wenzel von der Ludwig Maximilians Universität in München einen Abriss über sein Leben verfasst.[20] Seine akademische Laufbahn begann eher holprig, denn wegen Problemen in der Familie – um welche es sich handelte, hat er wohl nie öffentlich gemacht – musste er mit der Mittleren Reife das Gymnasium verlassen. Was er in den folgenden Jahren machte, ist nicht bekannt, aber 1896 besuchte er – ohne Abitur – in München Vorlesungen in Philosophie und Naturwissenschaften. Gleichzeitig bereitete er sich darauf vor, die formalen Anforderungen für die Hochschulreife zu erlangen, die er im Jahr 1900 mit dem Erhalt des Abiturzeugnisses erfüllte. Schon ein Jahr später wurde er mit einer Arbeit „Zum Streit über das Grundproblem der Ethik in der neueren philosophischen Literatur“ promoviert. Danach wandte er sich aber zunächst naturwissenschaftlichen Forschungen zu, studierte Medizin und wurde 1908 auch als Dr. med. promoviert. Nach seinem praktischen Jahr als Arzt, das er beim Roten Kreuz in München und im Deutschen Krankenhaus in Neapel absolvierte, erhielt er noch im selben Jahr seine Approbation. Zwar wandte er sich danach wieder philosophischen Fragen zu, ohne aber sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragestellungen zu verlieren. Dass gerade dieser Grenzbereich zwischen Naturwissenschaft – Medizin und Psychologie – und Philosophie zu seinem Forschungsgebiet wurde, zeigt die 1914 veröffentlichte Schrift „Zur Grundlegung einer Lehre von der Erinnerung“, mit der er dann auch habilitiert wurde. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrach dann jäh seine akademische Karriere.

August Gallinger
Gegenrechnung – Cover des Buches von August Gallinger
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/4/45/Gallinger_Gegenrechnung.jpg/640px-Gallinger_Gegenrechnung.jpg

Als Freiwilliger zog auch er in den Krieg, wurde als Arzt an der Front eingesetzt und war so in all den Jahren unmittelbar mit dem schrecklichen Leid der verletzten Soldaten konfrontiert. Neben diversen Tapferkeitsmedaillen wurde er auch mit dem EK I und EK II ausgezeichnet, Ehrungen, die man im Nachhinein kaum mehr wirklich wertschätzen kann, wenn man die  problematische Rolle Deutschlands am Ausbruch dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bedenkt. Immerhin verschafften sie ihren jüdischen Trägern gerade in den ersten Jahren der Diktatur zunächst noch einige kleine Vorteile. Zuletzt geriet August Gallinger noch in französische Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung ging er wieder zurück nach München, wo er 1920 zum Professor ernannt wurde. Wie sehr ihn die Kriegsjahre und die folgende Gefangenschaft geprägt hatten, zeigen seine Veröffentlichungen in der damaligen Zeit. So trug eines seiner Hauptwerke den Titel „Die Bestie im Menschen“, ein anderes Werk „Gegenrechnung“ befasste sich mit den „Verbrechen an kriegsgefangenen Deutschen“. „Seine Liebe zu Deutschland und sein Gerechtigkeitssinn“ – so Wenzel in seiner Laudatio – „ließen ihn kämpfen für die Wiederanerkennung der moralischen Gleichberechtigung des deutschen Volkes als Fundament für eine echte Verständigung.“[21]
Die Nazis wollten aber keine Gleichberechtigung, sondern Suprematie in Europa, und weil August Gallinger zudem Jude war, wollten sie ihn schon gar nicht mehr als Lehrkraft an einer deutschen Universität. 1934 wurde zunächst eine von ihm angesetzte Lehrveranstaltung verboten, im folgenden Jahr wurde er zunächst beurlaubt und dann zum Ende des Jahres 1935 entzogen die NS-Behörden ihm generell die Lehrbefugnis und auch den Professorentitel.
1939 erlaubten sie ihm die Ausreise nach Schweden, wo er sich in Stockholm niederließ und das Ende der Nazi-Herrschaft abwartete. Nicht mit nach Schweden war seine Frau Elisabeth, geborene Sahlberg, gegangen, die Gründe dafür sind nicht bekannt. Die beiden hatten am 29. Dezember 1926 in Traunstein geheiratet, geboren war seine Frau aber am 29. Juni 1895 in Barmen im Regierungsbezirk Düsseldorf. Zum Zeitpunkt der Eheschließung lebte sie aber im bayrischen Gauting.[22] Weder sind in der Heiratsurkunde die Namen der Eltern, noch die Konfession der Getrauten erfasst, aber es liegt nahe, dass die Braut keine jüdischen Wurzeln hatte. Anders wäre nicht nachzuvollziehen, weshalb sie damals in Deutschland blieb und weshalb ihr Schwager bzw. ihre Schwägerin ihr und nicht ihrem jüdischen Ehemann Geld vererbten.[23] Zwar ist auf einer nach dem Krieg erstellten Liste der Münchner Polizei, in der die jüdischen Bewohner der Stadt erfasst wurden, auch ihr Name neben dem ihres Mannes notiert, aber da die Basis der Liste Steuerakten waren, das Ehepaar vermutlich gemeinsam veranlagt wurde, ist auch sie automatisch mit diesem „Rassemerkmal“ der Nazis verbunden worden. Über ihren tatsächlichen familiären Hintergrund sagt die Quelle nichts aus.[24]
Nach der Befreiung kehrte August Gallinger nach München auf seinen Lehrstuhl zurück und hielt Vorlesungen bis in sein 85stes Lebensjahr. Auch beteiligte er sich intensiv an den politisch-philosophischen Debatten der Nachkriegszeit, auch über die Grenzen des Ost-West-Konflikts hinweg. So nahm er z. B. an einem Symposium über „Das Problem der Freiheit im Lichte des Wissenschaftlichen Sozialismus“, das 1956 in Ost-Berlin mit führenden Philosophen der Marxistischen Theorie, u. a. Ernst Bloch, Wolfgang Harich und Roger Garaudy, von der dortigen Akademie der Wissenschaften ausgerichtet wurde.[25]
Am 7. Juni 1959 erlag August Gallinger in München einem Krebsleiden,[26] wann seine Frau verstarb, konnte nicht ermittelt werden.

 

Daniel Gallinger
Geburtseintrag für Daniel Gallinger

Während seine Geschwister Worms aus beruflichen oder familiären Gründen verlassen hatten, war Daniel Gallinger in seiner Heimatstadt geblieben und führte mit seiner Mutter das elterliche Geschäft sehr erfolgreich durch die Blütezeit des Kaiserreichs während der ersten knapp eineinhalb Dekaden des neuen Jahrhunderts.[27] Steuerunterlagen aus diesen frühen Jahren lagen schon in den Entschädigungsverfahren nach dem Krieg nicht mehr vor, aber es bestand damals kein Zweifel daran, dass das Leinen- und Wäscheausstattungsgeschäft mit seinen zeitweise 10 Angestellten einen ausgesprochen guten Ruf genoss. Wie sehr Daniel Gallinger auch unter seinen Kollegen anerkannt und geachtet war, lässt sich daran ablesen, dass er über viele Jahre Vorsitzender des Vereins selbstständiger Kaufleute und Beiratmitglied in der Industrie und Handelskammer und auch Handelsrichter tätig war.[28] Zum geschäftlichen Erfolg gesellte sich auch noch das private Glück.

Heiratsurkunde von Daniel und Paula Gallinger, geb. Lehrberger

Am 22. Oktober 1902 heiratete der damals 36jährige Daniel Gallinger die 23jährige, am 25. Februar 1879 in Frankfurt Rödelheim geborene Paula Lehrberger. Sie war eine von vier Töchtern des Buchdruckereibesitzers Meier Lehrberger und seiner Frau Therese, geborene Lahnstein.[29] Knapp zwei Jahre später wurde am 28. Juli 1904 in Worms ihr einziges Kind, der nach seinen Großvater benannte Sohn Leopold, genannt Leo, geboren.[30]

Tietz Mainz
Das Kaufhaus Leonard Tietz in Mainz um 1930
https://www.future-history.eu/de/ansicht/kaufhaus-leonhard-tietz-mainz-1920-alexander

Nach seiner schulischen Ausbildung in der Volksschule und dem Wormser Gymnasium, das er mit dem sogenannten Einjährigen abschloss, absolvierte er bei der ‚Pfälzischen Bank’ eine Lehre. Im Hinblick auf seine zukünftige Rolle im elterlichen Geschäft arbeitete er danach etwa eineinhalb Jahre im Mainzer Kaufhaus von Leonard Tietz in der Schusterstraße, das zu dem großen Tietz-Konzern gehörte, der später der Arisierung zum Opfer fiel. Eine weitere Qualifizierung in seinem Beruf erhielt er bis zum Ende 1927 in dem Frankfurter Textilgeschäft ‚Försterling & Co.’. Danach kehrte er zurück in das elterliche Geschäft in Worms, in dem 1928 von seinem Vater Prokura erteilt wurde.[31]

Anzeige der Geschäfts Försterling in Frankfurt aus dem Adressbuch 1928

Aber das waren bereits die Jahre, in denen die deutsche Wirtschaft nach einer nur wenige Jahre dauernden Erholungsphase in die zweite große Krise der Nachkriegszeit hereinschlitterte. Die Krise, die dieses Mal globale Dimensionen annahm, ließ ein Ausstattungsgeschäft, dessen Angebot vielleicht nicht ausschließlich Luxusgüter, aber doch eher Waren umfasste, auf die man in Notzeiten verzichten konnte, nicht unberührt. Leider liegen nur Geschäftszahlen aus den Jahren von 1929 bis 1934 vor. War im ersten der genannten Jahre noch ein Ertrag von 12.000 RM erwirtschaftet worden, so konnten in den folgenden Jahren überhaupt keine Gewinne mehr realisiert werden. Zwar ist den Zahlen nicht zu entnehmen, ob es auch Verluste gab, aber das muss der Fall gewesen sein. Dass man von der Substanz lebte, zeigt die Verminderung des Betriebskapitals um fast die Hälfte.[32]

Liquidation des Unternehmens Gallinger
HHStAW 685 184

Leopold Gallinger gab im Entschädigungsverfahren zwar an, dass die Umsätze in den Jahren 1927 bis 1932 noch weiterhin angestiegen seien und man in diesen Jahren aber immerhin noch so viel verdient habe, um den monatlichen Lebensunterhalt der Familie mit bis zu 700 RM bestreiten zu können.[33] Ende 1935 kam es dann zur Liquidation des Unternehmens.[34] Auf der Basis eines Vergleichs mussten sich die Gläubiger mit höchstens 35 Prozent ihrer Forderungen zufriedengeben. Ein versteuerbares Vermögen sei, so der Vergleichsverwalter, nicht mehr vorhanden und bat daher das Finanzamt Worms, auf noch fällige Vermögenssteuern zu verzichten.[35]

Und tatsächlich war in der Bilanz von 1935 eine Unterbilanzierung von 42.000 RM festgestellt worden. Bankschulden, Hypotheken Verbindlichkeiten bei Lieferanten beliefen sich auf etwa 100.000 RM, hinzu kamen private Darlehen bei seinem Bruder August, bei seinen Schwägerinnen Weil und anderen in der Höhe von rund 15.000 RM. Auch der Wert der Immobilie in Worms, die inzwischen unter Zwangsverwaltung stand,[36] war von 80.000 RM auf etwa 67.000 RM herabgesetzt worden. Aber immerhin bezog er 1935 als Mieteinnahmen aus dem Haus noch etwas mehr als 9.000 RM, denen allerdings Kosten wie Steuern und Versicherungen in Höhe von fast 5.000 RM gegenüberstanden. Immerhin blieben ihm davon zumindest 1935 noch etwa 4.000 RM zum Leben.[37] Aber schon im folgenden Jahr schrieb Daniel Gallinger dem nun für ihn zuständigen Finanzamt Wiesbaden, dass die Mieteinnahmen seines Anwesens in Worms nicht ausreichen würden, um die laufenden Lasten an Steuern und Zinsen zu decken.[38]

Es steht außer Frage, dass das traditionsreiche Geschäft der Familie Gallinger in Worms nicht erst durch die Nazis zugrunde gerichtet wurde, sondern bereits zuvor der Wirtschaftskrise zum Opfer gefallen war.[39] Allerdings hätte es vielleicht nach dem Vergleichsverfahren unter anderen politischen Verhältnissen möglicherweise noch die Möglichkeit gegeben, das Unternehmen zu retten. Unter den gegebenen Bedingungen war das aber aussichtslos und Daniel und Paula Gallinger verließen mit ihrem Sohn Leo Worms, um ihren Lebensabend in der Anonymität der Kurstadt Wiesbaden zu verbringen.[40] Es wurde aber alles andere als ein ruhiger Lebensabend für den inzwischen im 70sten Lebensjahr stehenden Daniel Gallinger.

Ummeldung der Familie Gallinger nach Wiesbaden
HHStAW 685 184a (16)

Nach ihrem Umzug am 28. Februar meldeten sie sich am 1. März 1936 bei der dortigen Polizei an. Eine Wohnung fanden sie bei der Privatiere Frau Stahlschmidt-Overmann in der Wielandstr. 14 im Erdgeschoss. Es handelte sich offenbar um ein Untermietverhältnis, denn auch sie selbst wohnte dort im Parterre.[41] Wie groß ihre Wohnung dort war, ist nicht bekannt.

Ihr Sohn Leo blieb auf jeden Fall höchstens wenige Wochen in Wiesbaden und in der dortigen Wohnung. Seine Emigration musste er schon in Worms vorbereitet haben. Sein Reisepass, ausgestellt 1931, wäre im September 1936 ungültig geworden. Schon allein deshalb gab es einen gewissen Zeitdruck. Bereits 1934 und 1935 hatte er bei Kehl am Rhein mehrfach die deutsch-französische Grenze überschritten oder in die Schweiz eingereist um Devisen vermutlich für die Auswanderung zu erwerben. Mit seiner Einreise nach Frankreich am 5. April 1936 als „Transmigrant“ machte er den letzten Schritt, um Deutschland endgültig zu verlassen. Das amerikanische Visum mit der Nr. 22139 war nur wenige Tage zuvor, am 1. April, in Stuttgart ausgestellt worden. Von Wiesbaden war er mit dem Zug über Straßburg, Paris nach Cherbourg gefahren, wo er am 8. April 1936 die „Aquitania“ bestieg, die ihn am 14. des gleichen Monats noch nach New York brachte.[42] Als Kontaktperson hatte er einen Cousin namens Albert Bejach in Cincinnati angegeben, der auch die Fahrtkosten von New York nach Indianapolis übernahm, wo sich Leo Gallinger, der sich in den USA Lee nannte, niederließ.[43]

Leopold Gallinger Leopold Gallinger

 

 

 

 

 

Reisepass von Leo Gallinger mit dem Visum für die USA
HHStAW 518 11685 (33)

Lee Gallinger
Überfahrt von Leo Gallinger in die USA
https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/22204999:7488?tid=&pid=&queryid=c33d2e81-a0e9-4ee1-bca2-b1bccc691a39&_phsrc=svo4842&_phstart=successSource

Zurückgeblieben waren die Eltern, die offenbar selbst nicht mehr die Kraft für einen solchen Schritt hatten. Für sie begannen nun die letzten und schlimmsten Jahre, die sie bis zu ihrer Deportation in größter Armut verbrachten. Noch im Jahr 1936 fragte Daniel Gallinger beim Wiesbadener Finanzamt an, ob ihm wegen seines geringen Einkommens und seines hohen Alters keine Steuerbefreiung oder wenigstens eine Ermäßigung gewährt werden könne. Offenbar hatte er noch nicht realisiert, dass die speziell gegen Juden gerichteten Steuerrichtlinien des NS-Staates gerade das Ziel hatten, den finanziellen Ruin der Juden als Vorstufe zur physischen Auslöschung herbeizuführen.[44] Viele Briefe und zumeist vergebliche Bittgesuche an das Wiesbadener Finanzamt füllen seine Steuerakte.

Aus der Steuererklärung 1937: Gallingers werden von Ida Weil finanziell unterstützt
HHStAW 685 184

Im April 1938 musste sich das Ehepaar Gallinger von ihrer Wormser Immobilie trennen, mit deren Einkünften sie bisher wenigstens teilweise ihren Lebensunterhalt hatten bestreiten können. Am 12. April 1938 war das Haus an ein Wormser Ehepaar für 63.500 RM veräußert worden.[45] Fraglich, ob die ehemaligen Eigentümer angesichts der hohen Schulden von dem Geld etwas in die eigenen Hände bekamen. Sie lebten wohl in all den Jahren weitgehend von Zuwendungen in der Höhe von monatlich etwa 200 RM, die sie von Paulas Schwester Ida, verheiratete Weil, erhielten.[46] Nicht nur das Haus war verloren, im selben Jahr mussten sie sich auch von ihrem Schmuck – Erinnerung an bessere Zeiten – und anderen Wertgegenständen wie Leuchter und Teppiche trennen. Sie erhielten dafür immerhin 1.501 RM, eine geringe Abfindung für den tatsächlichen Wert.[47]

Daniel Gallinger vergaß die Zwangsnahmen in seiner Steuererklärung anzugeben
HHStAW 685 184a (63)

Bei der am 22. Februar 1939 abgegebenen Steuererklärung hatte Daniel Gallinger versehentlich vergessen, die seit August 1938 verpflichtende Namenszusätze Israel bzw. Sara anzugeben, eine Unterlassung,[48] die, wenn sie vorsätzlich verweigert wurde, mit einem halben Jahr Gefängnis, bei Fahrlässigkeit mit immerhin noch einem Monat Haft bestraft werden konnte.[49] Offenbar wurde die Entschuldigung für das „Versäumnis“ akzeptiert, denn über eine Inhaftierung von Daniel Gallinger ist nichts bekannt.

In der Einkommensteuererklärung des Jahres 1940 ist als Adresse nicht mehr die Wielandstr. 14, sondern der Kaiser-Friedrich-Ring 80 angegeben, wo das Ehepaar im dritten Stock gewohnt haben soll.[50] Bei dieser Adresse handelte es sich um eines die Wiesbadener Judenhäuser. Allerdings hatte er laut der Gestapokarteikarte bereits am 28. Juni 1939 seine bisherige Wohnung verlassen bzw. verlassen müssen und war in die Wallufer Str. 13 gezogen.[51] Auch dieses Haus war Ende 1939 offiziell zu einem der Ghettohäuser Wiesbadens erklärt worden. Dort soll er bis zum 5. August 1940 gewohnt haben. Am 25. Februar 1940 wurde unter dieser Adresse eine „JS-Mappe“, eine „Judensicherungsmappe“, angelegt, mit der die Devisenstelle seine Finanzen kontrollieren konnte. Vorläufig wurde ihm ein Freibetrag von monatlich 200 RM zugestanden, mit dem er den gemeinsamen Lebensunterhalt bestreiten sollte.[52] Verlangt wurde auch von ihm eine eidesstattliche Vermögenserklärung, in dem Auskunft über das gemeinsame Vermögen, Einkommen und die laufenden Ausgaben gegeben werden musste. Unter Vermögen trug er ein „Möbel f. 2 Zimmer“ – mehr besaßen Daniel und Paula Gallinger nicht mehr. Als Einkommen konnten sie auch hier nur die Zuwendung der Schwester von Paula in der Höhe von 2.400 RM im Jahr angeben. Entsprechend beliefen sich ihre Ausgaben für Wohnung – immerhin 92 RM – und sonstige Lebenshaltungskosten auf genau diesen Betrag von 200 RM im Monat. Am 4. März 1940 hatten sie bei der ‚Hardy & Co.-Bank‘ in Berlin ein gesichertes Konto angelegt, über das von da an alle finanziellen Transaktionen zu laufen hatten.[53]

Immer wieder muss man in den Briefen in der folgenden Zeit an die Devisenstelle über die finanziellen Schwierigkeiten lesen, die durch die Krankheit von Paula Gallinger hervorgerufen wurden. So stellte Daniel Gallinger am 27. Juni 1940 den Antrag, man möge ihm über den Freibetrag hinaus 125 RM gewähren, weil er die Kosten für Arzneien usw. nicht aus seinem normalen Budget finanzieren könne. Die Devisenstelle lehnte das zunächst mit dem Verweis ab, er habe neben dem genehmigten Freibetrag kein weiteres Geld auf seinem Konto. In einem neuen Antrag ergänzte Daniel Gallinger, er habe einen Teil seines Hausrats verkauft und dadurch 129,22 RM eingenommen, auf die er jetzt zurückgreifen wolle.[54] Die bisher formlose Bitte, musste im Juli noch einmal auf dem entsprechenden Formblatt erneuert werden, aber dann wurde die Auszahlung tatsächlich genehmigt.[55] Solche Briefwechsel, die sich in der Akten mehrfach wiederholen, offenbaren nicht nur die Not, in der sich viele, früher auch oft sehr reiche jüdische Bürger inzwischen befanden, sondern auch die überbordende Bürokratie dieses Kontrollstaates, die die Täter und Opfer gleichermaßen strangulierte.

Gestapo-Karteikarte der Familie Gallinger mit den verschiedenen Wohnanschriften

Am 12. August teilte Daniel Gallinger der Devisenstelle erneut einen Umzug mit. Er sei „durch die Krankheit meiner Frau gezwungen (gewesen), eine andere Wohnung zu nehmen“, schrieb er.[56] Da die neue Wohnung im dritten Stock lag, kann der Grund für den erneuten Wechsel kaum die schlechte Lage der bisherigen Wohnung gewesen sein, sondern wird vermutlich eher finanzielle Gründe gehabt haben. Entsprechend bat er auch darum, die Umzugskosten von seinem beschränkt verfügbaren Konto überweisen zu dürfen, damit sein monatliches Budget nicht belastet würde.[57] Die neue Wohnung lag im Kaiser-Friedrich-Ring 80, einem weiteren Judenhaus. Zumindest aus dem Schreiben muss man schließen, dass der Umzug nicht angeordnet, sondern durch den Druck der finanziellen Lage „freiwillig“ zustande gekommen war.

Wie groß die Not des Paares damals war, zeigt eine weitere Bitte vom 26. Februar 1941 um die Freigabe von nur 10 RM, die sich Daniel Gallinger von seinem Sohn aus den USA hatte schicken lassen.[58]
Den folgenden Umzug in das Judenhaus Lortzingstr. 7, der laut seiner Gestapokarteikarte nach einem Dreivierteljahr am 9. Mai 1941 stattfand, hatte Daniel Gallinger der Devisenstelle nicht gemeldet. Durch einen erneuten Antrag um zusätzliche Mittel von seinem Konto – ein in Frankfurt in der Eschersheimer Anlage 18 wohnender Jude Ernst Kiefer hatte ihm 200 RM zur Verfügung gestellt – war die Behörde auf die „strafwürdige“ Unterlassung aufmerksam geworden.[59] Die neue Anschrift wurde ohne weitere Folgen im Juli 1941 in die Registratur übernommen, nachdem sich Daniel Gallinger für seine „Nachlässigkeit“ entschuldigt hatte. Das Paar bewohnte dort im Erdgeschoss ein einziges Zimmer.[60]

Die Juden in der NSDAP-Zelle 10, darunter Daniel und Paula Gallinger
HHStAW 483 10127 (48)

Als im Herbst 1941 die Vorbereitungen für die geplanten Deportationen der jüdischen Bevölkerung Gestalt annahmen und die Block- und Zellenleiter den Auftrag erhielten, systematisch in ihren Bereichen nach dort wohnenden Jüdinnen und Juden zu fahnden und sie im Hinblick auf ihre Arbeitsfähigkeit zu charakterisieren, etwa durch Angabe ihres Alters, erstellte auch der Zellenleiter der Zelle 10 in der NSDAP-Ortsgruppe Süd eine Liste „seiner“ Juden, auf der auch Daniel und Paula Gallinger im Alter von 74 bzw. 61 Jahren notiert waren.[61]
Diese Liste ist das letzte Lebenszeichen des Paares. Sie wurden mit vielen anderen, zumeist älteren Jüdinnen und Juden, am 1. September 1942 mit dem Sonderzug „Da 503“ über Frankfurt, wo er endgültig zusammengestellt wurde, nach Theresienstadt deportiert. 1110 Menschen umfasste dieser Transport, der gerade im Hinblick auf die Wiesbadener Opfer sehr gut dokumentiert ist, von dem es sogar eine Reihe Fotos gibt.[62]

Bahnhof von Treblinka
https://encyclopedia.ushmm.org/images/large/b4bb4228-b653-4d3e-b9a3-88edca3dff03.jpg

Als nach dem Ende des Krieges und der NS-Herrschaft ihr Sohn 1952 die amtliche Todeserklärung für seine verschollenen Eltern beantragte, wusste man noch wenig über das Schicksal der damals Deportierten. So kam es, dass am 30. Januar 1953 der Todeszeitpunkt von beiden auf das Ende des Krieges, somit auf den 8. Mai 1945 festgesetzt wurde.[63] Inzwischen weiß man mehr. Beide blieben nicht in Theresienstadt, sondern wurden schon nach nur vier Wochen am 29. September mit dem Transport XII/2 in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka verbracht. Die Ankunft dort, der 1. oder 2. Oktober 1942 wird auch ihr tatsächlicher Todestag gewesen sein.[64]

 

Ihr Sohn Leo / Lee war nach seiner Ankunft in Amerika in Indianapolis im Staat Indiana geblieben und muss dort als Kaufmann auch bald Arbeit gefunden haben. Im Entschädigungsverfahren konnte er ein stetig steigendes Einkommen nachweisen, das nach 1943 immer über 3.000 Dollar im Jahr lag.[65]
1939 hatte er die am 14. August 1915 geborene Mina Ciener geheiratet, die zwar schon in Amerika zur Welt gekommen war, deren Eltern aber aus Ungarn stammten.[66] Bevor die Ehe zu einem nicht bekannten Zeitpunkt wieder geschieden wurde, waren dem Paar die drei Kinder Paula, Kenneth und Louis geschenkt worden.[67] Lee Gallinger verstarb am 10. April 1984 im Krankenhaus von Indianapolis.[68]

 

In den schwierigen letzten Jahren, aber auch schon zuvor, als es mit der Firma von Daniel Gallinger nicht mehr zum Besten stand, war das Paar von Verwandten finanziell unterstützt worden. Zwei von Paula Gallingers drei Schwestern hatten in die Saarbrücker Familie Weil eingeheiratet, die in der gleichen Branche wie ihr Mann aktiv war. Am 6. Oktober 1896 hatte zunächst Emma, geboren am 19. August 1874 in Rödelheim, Carl Weil,[69] dann ein Jahr später Ida, am 26. August 1876 ebenfalls in Rödelheim geboren, dessen jüngeren Bruder Moritz geehelicht.[70] Carl und Moritz waren zwei von insgesamt wohl sechs Kindern von Emanuel und Henriette Weil, geborene Lion.[71]

Weil
Kaufhaus Weil in Saarbrücken

Der aus Ingenheim in der Pfalz stammende Vater hatte 1865 am St. Johanner Markt zunächst ein Textillager eröffnet, dass dann 1909 durch ein großes Kaufhaus mit dem Namen „E. Weil & Söhne“ in der Bahnhofstraße ersetzt wurde.[72] Nach dem Tod des Firmenpatriarchen übernahmen zumindest einige der Söhne die Firma in gemeinsamer Regie. Carl soll aber seinen Anteil bereits 1910 verkauft haben und anschließend mit seiner Frau Emma und seinem am 8. September 1898 in St. Johann geborenen Sohn Hans nach Berlin verzogen sein.[73] Über ihr Leben dort konnten keine weiteren Informationen ermittelt werden. Zu einem nicht bekannten Zeitpunkt zog Emma mit ihrem Sohn zurück nach Frankfurt, wo sie am 26. Juli 1922 verstarb.[74] Ihr Sohn heiratete dort am 4. Juli 1926 Senta Maria Julie Kauffeld aus Kreuzburg im heutigen Lettland.[75] Noch in Frankfurt war ihnen am 28. März 1928 ein Sohn namens Anselm und am 27. September 1930 die Tochter Konstanze geboren worden.[76] Der gesamten Familie von Hans Weil gelang noch rechtzeitig die Flucht. Über Nordirland konnte sie im November 1939 in die USA emigrieren. Der Vater von Hans war zu Beginn der NS-Zeit am 27. Januar 1934 in Berlin verstorben.[77] In der Sterbeurkunde ist als seine Frau eine Margarete, geborene Albrecht, eingetragen. Ob die Ehe mit Emma schon vor ihrem Umzug nach Frankfurt gescheitert war, oder ob die zweite Ehe erst nach ihrem Tod geschlossen wurde, konnte nicht ermittelt werden.

 

Ida Weil war die Schwester von Paula, die ihre Verwandten in Wiesbaden in all den Jahren finanziell unterstützte. Sie war noch vor dem Machtantritt der Nazis mit dem Tod ihres Mannes Moritz am 13. Januar 1929 Witwe geworden.[78] Aus der Ehe war aber viele Jahre zuvor am 13. Juni 1898 die Tochter Therese hervorgegangen, die am 17. Oktober 1919 Robert Hugo Köster heiratete.[79] Er fungierte in den zwanziger Jahren als Geschäftsführer des Saarbrücker Kaufhauses „Weil & Söhne“. Vermutlich als das Haus 1936 arisiert wurde, verließ auch das Ehepaar Köster mit ihrem Sohn Friedrich und der Mutter Ida Weil Deutschland, um sich in Frankreich niederzulassen. In der Steuererklärung ihres Schwagers aus dem Jahr 1936 ist der damalige Wohnsitz von Ida mit Paris angegeben.[80] Eine entsprechende Angabe in den Unterlagen der folgenden Jahre fehlt leider. Wie die Familie spätestens nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich überlebte, ist nicht bekannt, aber immerhin ist sicher, dass sie überlebte! Ida Weil verstarb im Pariser Vorort Boulonge-Billancourt am 7. Februar 1944, ein halbes Jahr bevor Frankreich befreit wurde.[81]
Ihre Tochter blieb offenbar nach dem Krieg in Frankreich, blieb auch in Boulonge, wo sie am 25. April 1965 verstarb.[82] Ihr Ehemann soll laut dem oben erwähnten Zeitungsbericht über das Kaufhaus wieder nach Saarbrücken zurückgekehrt sein, wo er am 26. September 1972 verstarb.[83]

 

Philipp Berger
Ignatz bzw. Philipp Berger im Adressbuch Frankfurt von 1908

Zwar erlebte auch Paulas Schwester Mathilde, geboren am 3. November 1877, das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland nicht mehr, aber wegen ihres frühen Todes musste sie auch die Schrecken dieser Zeit nicht mehr selbst ertragen. Am 21. Januar 1900 hatte sie in Rödelheim den Frankfurter Philipp Berger geheiratet, das älteste von sieben Kindern des Ehepaars Ignatz und Helene Berger, geborene Lissa, aus Frankfurt.[84] Auch Bergers waren eine recht begüterte Familie, denn das Ehepaar besaß eine Firma in Frankfurt mit einer Fabrik und Lagerräumen für Rohprodukte in Oberursel und auch Immobilien in Frankfurt. Nach ihrem Tod – 1892 war der Vater, 1911 die Mutter verstorben – wurde Philipp Inhaber des Unternehmens. Er wohnte mit seiner Frau in Frankfurt im Grüneburgweg 51, einem der Häuser, die zum Besitz der Firma gehörten.
Am 22. Januar 1907 wurde ihre Tochter Thea Margarete geboren. Kurz bevor sie den 15sten Geburtstag feiern konnte, verstarb ihr Vater am Neujahrstag des Jahres 1922 mit 52 Jahren. Die Mutter erlebte nur noch wenige Monate der nationalsozialistischen Jahre. Ihr Todestag war der 23. Oktober 1933. Wie ihr Mann wurde sie in Frankfurt begraben.

Hijmann Peper
Geburtseintrag für Hijman Peper in Amsterdam
https://www.openarchieven.nl/saa:9853345a-3b28-56a3-e053-b784100ade19/de

Möglich ist, dass ihre Tochter Thea schon vor 1933 wegen des für Jüdinnen und Juden zunehmend bedrohlicher werdenden Klimas in Deutschland in die Niederlande ausgewandert war, in jedem Fall heiratete sie am 7. Juli 1932 in Amsterdam den Kaufmann Hijman Peper, Sohn von Moses Pfeffer und Serlina Frankvoorder.[85] Am 4. November 1934 wurde in Amsterdam ihre Tochter Fairy geboren.[86]

Fairy Peper
Fairy Peper
https://www.joodsmonument.nl/image/2016/3/28/fairy_peper_113321.jpg%28%29%28mediaclass-victim-image.6c5871958aac18645b4a764129c4d9cf417df34d%29%28crop-%2B161%2B138%29%28850D30E6E19EE4FD3984D1387F883CFA%29.jpg

Die Familie lebte dort 1941 in der Newtonstr. 15, wie man aus einer Suchanzeige für eine Haushaltshilfe im ‚Jüdischen Wochenblatt’ vom 5. Dezember dieses Jahres erfährt.[87] Das ist insofern erstaunlich, als die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung 1941 gerade in den Städten schon ein für alle gefährliches Ausmaß angenommen hatte. Anfang 1941 waren alle Jüdinnen und Juden registriert worden. Juden konnten bald nur noch mit besonderen Lebensmittelkarten einkaufen und auf ihren Kennkarten prangte bereits das große „J“. Neben Aktivisten des solidarischen Generalstreiks 1941 waren auch schon 389 Geiseln zunächst nach Buchenwald, dann nach Mauthausen deportiert worden, von denen kaum einer überlebte. Und nur wenige Wochen bevor das Inserat der Familie in der Zeitung erschien, war in Holland die Zweigstelle der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ eingerichtet worden, deren einziger Zweck die Deportation der nach Holland geflohenen und der einheimischen Juden war.

Wann die Familie Berger in das Sammellager Westerbork gebracht wurde, ist nicht bekannt, aber von dort wurde sie am 31. August 1943 mit mehr als 1000 weiteren Opfern nach Auschwitz deportiert, wo sie am 3. September ermordet wurden. Ihre Tochter Fairy war acht Jahre alt, als sie zusammen mit ihrer Mutter – wenigstens das muss man hoffen – die Kammer betrat, in die von der Decke das hereinströmende tödliche Zyklon-B den Eingepferchten einen grausamen Todeskampf bereitete.[88]

 

Veröffentlicht: 10. 09. 2024

 

 

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Anmerkungen:

[1] Das Aktive Museum Spiegelgasse hat für die Familie Gallinger ein Erinnerungsblatt herausgegeben, siehe https://www.am-spiegelgasse.de/offline/wp-content/downloads/erinnerungsblaetter/Erinnerungsblatt-Gallinger-Daniel-Paula080731.pdf. (Zugriff: 10.09.2024).

[2] https://ia800603.us.archive.org/31/items/wormscommuf001/wormscommuf001.pdf. [interne Seitenzählung S. 19 und S. 65 von 89] (Zugriff: 10.09.2024).

[3] Die Zählung der Häuser begann mit der Nr. 1. am Mainzer Tor Außenseite und endete am Mainzer Tor Stadtseite, ebd.

[4] Ebd. Im Weiteren heißt es, dass seine Frau Klärchen aus Worms stammte. Der folgende Satz ist dann verwirrend, weil er durch eine Auslassung fälschlicherweise auf Daniel Gallinger Bezug nimmt: „Seine Frau Kehle, eine geborene Seligmann, nennt sich nun Claire.“ Kehle / Claire Seligmann war aber nicht die Frau von Daniel Gallinger, sondern von einem Benjamin Wolff. Dies ergibt sich aus einem weiteren 1808 erstellten Dokument in französischer Sprache – Worms gehörte von 1792 bis 1814 zum französischen Staat -, in dem die jüdischen Bewohner noch einmal Auskunft über ihre Namen geben mussten. Im Eintrag 386 bestätigen Claire und Daniel Gallinger die zuvor gewählten Namen, im Eintrag 389 zu Benjamin Wolff heißt es dann, dass seine Frau Kehle, geborene Seligmann, den Namen Claire führen wolle. Siehe https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/5665838:61456?tid=&pid=&queryid=3fbc9cbd-987c-4a40-847c-df22d5d5a0b4&_phsrc=svo4802&_phstart=successSource. (Zugriff: 10.09.2024).

[5] Heiratsregister Pfeddersheim 35 / 1829.

[6] http://www.wormserjuden.de/Biographien/Gallinger.html. Marianne Gallinger heiratete am 31. 8. 1863 einen Jakob Baum.

[7] https://adressbuecher.net/addressbook/entry/547460021e6272f5cfd25556. (Zugriff: 10.09.2024)

[8] Heiratsregister Worms 72 / 1865.

[9] Ebd. https://www.worms.de/neu-de-wAssets/docs/bildung-bieten/Stadtarchiv/Wormsgau/Der-Wormsgau-12-1976-1978/15_Bd.-12WG_-12.-Band.pdf. (Zugriff: 10.09.2024).

[10] https://www.worms.de/neu-de-wAssets/docs/bildung-bieten/Stadtarchiv/Wormsgau/Der-Wormsgau-12-1976-1978/15_Bd.-12WG_-12.-Band.pdf. (Zugriff: 10.09.2024).

[11] Siehe Grabstein von Leopold und Rosalie Gallinger unter https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/MGPM5T5F7FN4HVAWJXY2QBSNNBHIFSVI. (Zugriff: 10.09.2024).

[12] Siehe Adressbuch Worms von 1910.

[13] Sterberegister Worms 107 / 1922.

[14] Heiratsregister Worms 285 / 1892.

[15]. Siehe zum Altenheim der Lipschütz’schen Versorgungsanstalt in der Mathildenstraße 8/9 https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=altenheim_mathildenstrasse. (Zugriff: 10.09.2024).

[16] Beischreibung auf Heiratsregister Worms 285 / 1892. Siegmund Goldschmidt starb laut Standesamt III München  1077 /1942 am 25.3.1942, Eugenie laut Eintrag 1078 / 1942 am 26.3.1942. Siehe auch https://collections-server.arolsen-archives.org/G/wartime/02010101/0331/1399381/001.jpg. (Zugriff: 10.09.2024).

[17] https://gedenkbuch.muenchen.de/index.php?id=gedenkbuch_link&gid=2239. (Zugriff: 10.09.2024). Beide sind in einem gemeinsamen Grab auf dem Neuen Israelischen Friedhof in München beigesetzt. Zum Transport nach Piaski siehe Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 191.

[18] https://collections-server.arolsen-archives.org/G/wartime/02010101/0333/1397828/001.jpg. (Zugriff: 10.09.2024).

[19] Geburtsregister Worms 246 / 1871.

[20] https://epub.ub.uni-muenchen.de/13651/1/lmu_chronik_1958_59.pdf. (Zugriff: 10.09.2024). Chronik der Ludwig-Maximilians-Universitär München – 1958/1959, S. 17 f.

[21] Ebd. S. 17.

[22] Heiratsregister Traunstein 55 / 1926.

[23] In Mapping the Lives, das auf der Residentenliste von 1939 beruht, ist ihr Name nicht vorhanden.

[24] https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/70121354?s=Elisabeth%20Gallinger&t=551508&p=0. (Zugriff: 10.09.2024).

[25] Siehe die Liste der Teilnehmer und ihrer Beiträge unter file:///C:/Users/Nutzer/Downloads/10.1515_9783112620007-toc-1.pdf. (Zugriff: 10.09.2024)

[26] Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München – 1958/1959, S. 17 f.

[27] Die Jahre waren charakterisiert durch eine außergewöhnliche wirtschaftliche Dynamik. In den beiden Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sich das Bruttoinlandsprodukt nahezu verdoppelt, siehe Ullrich, Nervöse Großmacht, S. 127 ff.

[28] HHStAW 518 11683 (54, 65).

[29] Geburtsregister Frankfurt Rödelheim 20 / 1879 und Heiratsregister Frankfurt Rödelheim 49 / 1902.

[30] Geburtsregister Worms 821 / 1904

[31] Zu seinem Werdegang siehe HHStAW 518 11685 (32).

[32] Ebd. (76).

[33] HHStAW 518 11685 (32), tatsächliche Umsatzzahlen  liegen für diesen Zeitraum aber nicht vor. Siehe zum angeblichen Einkommen HHStAW 518 11685 (77). Die Frage des Einkommens spielte im Verfahren insofern eine wichtige Rolle, weil sie u.a. Kriterium dafür war, ob beim Schaden im beruflichen Fortkommen, die Entschädigungssumme am Einkommen eines Beamten des mittleren oder des höheren Dienstes zu orientieren war. Durch ein Verfahren vor dem 8. Zivilsenat am Oberlandesgericht Frankfurt wurde am 1.3.1966 entschieden, dass die Einstufung der Entschädigungsbehörde in den mittleren Dienst rechtens war. Ebd. (91-101). Das generelle Problem der Verfahren bestand darin, dass als ungefährer Bezugspunkt für die Einschätzung der Wirtschaftskraft der jeweiligen Unternehmen das Jahr 1930 festgesetzt war, das Jahr, in dem die Weltwirtschaftskrise fast ihren Höhepunkt erreicht hatte und auch schon erste antisemitische Boykottaufrufe die jüdischen Handelsunternehmen beeinträchtigten.

[34] HHStAW 685 184a Einkommensteuer (14).

[35] HHStAW 685 184 Vermögensteuer (1). Auch für das folgende Jahr galt Daniel Gallinger als „Vermögensteuerfrei“, ebd. (9).

[36] HHStAW 685 184a Einkommensteuer (17).

[37] Ebd. (20).

[38] Ebd. (31).

[39] Völlig aus der Luft gegriffen sind die, zudem mit falschen Fakten gespickten Vermutungen über den Niedergang des Unternehmens durch die unsägliche, aber dennoch immer wieder von den Entschädigungsbehörden hinzugezogene Auskunftei Blum aus Wiesbaden: „Nach dem Tode des Grossvaters ging das Geschäft an den Vater des Herrn Leo Gallinger über. Dieser setzte sich nach 1918 mit seinem Bruder, der studiert hatte und in Schweden wohnhaft geworden war, auseinander.
Er hatte nur einen Sohn, den Leo Gallinger. Der Sohn tat aber nicht gut. Es kam zu Differenzen zwischen dem Vater und Sohn und wanderte der Sohn schon vor 1930 aus.
Der Vater hat sich nach der Auseinandersetzung mit seinem Bruder wirtschaftlich nicht mehr erholen können und hatte nur noch bescheidenen Unterhalt aus seinem Geschäft. Er hatte Verpflichtungen an vielen Stellen, gab dann gleich nach 1933 sein Geschäft auch auf. (…)
Er siedelte nach Wiesbaden über. In Wiesbaden lebte er als Privatmann sehr zurückgezogen. Er hatte kein Einkommen.
Der Zusammenbruch in Worms sei auf den Sohn Leo und auf die Folgen der Auseinandersetzung mit seinem Bruder zurückzuführen gewesen.“
HHStAW 518 11685 (28). Das „Gutachten“ war am 14.1.1961 erstellt worden.

[40] Nicht ausgeschlossen ist, dass ihre Entscheidung, sich in Wiesbaden niederzulassen, auch verwandtschaftliche Gründe hatte. Im Israelitischen Altenheim in der Walkmühlstr. 85 wohnte 1936/37 eine „L. Gallinger“, vermutlich Lina Gallinger, geborene Dahlsheimer, die Witwe des am 1.1.1921 in Wiesbaden verstorbenen Abraham Gallinger, der um 1840 in Gaugrehweiler in der Pfalz geboren worden war. Die Witwe ist nur in diesem einen Jahr in einem Wiesbaden Adressbuch zu finden. Geboren war sie am 26.12.1857 in Niederkirchen, sie verstarb am 8.3.1942 in Frankfurt, wo sie seit November 1938 in der Westendstr. 104 wohnte. Siehe https://collections-server.arolsen-archives.org/G/SIMS/01020401/0007/114652995/001.jpg. (Zugriff: 10.09.2024).
Falsch ist deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit die Angabe in der Broschüre des Aktiven Museums Spiegelgasse, Spurensuche II, S. 30 f., laut der es sich bei der Bewohnerin L. Gallinger um Paula Gallinger, geborene Lehrberger, gehandelt habe. Ein entsprechender Eintrag ist auf der Gestapokarteikarte ihres Ehemanns nicht vorhanden und es wäre auch eher außergewöhnlich, wenn sie alleine dorthin gegangen wäre, anschließend dann wieder mit ihrem Mann in das Judenhaus Wallufer Str. 13 gezogen wäre. Willkürlich ist zudem die Gleichsetzung der Vornamen Lina und Paula.

[41] HHStAW 685 184a (16, 19). Das Haus gehörte einer Erbengemeinschaft Krüger und wurde von dem Rechtsanwalt Dittmar verwaltet.

[42] Die Ausreise ist exakt nachvollziehbar anhand der Einträge in seinem Reisepass und https://www.ancestry.de/discoveryui-content/view/22204999:7488?tid=&pid=&queryid=4f4d71da-9cd9-4d7b-bf32-c7a9da7d9e23&_phsrc=svo4848&_phstart=successSource. (Zugriff: 10.09.2024). Als Kontaktperson hatte er einen Cousin namens Albert Bejach. Auf der Gestapokarteikarte seines Vater heißt es „Sohn Leopold am 8.4.36 nach Cinninaty, (Ohio) U.S.A. ausgewandert“. Allein diese sicheren Quellen strafen das „Gutachten“ der Auskunftei Blum Lügen, laut dem Leo bereits vor 1930 ausgewandert sein soll, siehe HHStAW 518 11685 (28).

[43] HHStAW 518 11685 (12).

[44] Füllberg-Stollberg, Sozialer Tod.

[45] HHStAW 685 184a (54).

[46] Diese Einnahmen wurden in den Einkommensteuererklärungen der Jahre 1936 bis 1941 angegeben. Siehe HHStAW 685 184a (46, 56, 62, 73, 76, 90).

[47] HHStAW 685 184b (o.P.).

[48] HHStAW 685 184a (63).

[49] RGBl I 1938, S. 1044.

[50] HHStAW 685 184a. (76).

[51] Ein Ummeldeformular des Umzugs liegt auch in HHStAW 685 184b (o.P.) vor. Die Seite ist leider zum großen Teil zerstört und nur noch partiell lesbar.

[52] HHStAW 519/3 1933 (1).

[53] Ebd. (2).

[54] Nach seinem Auszug aus der Wielandstraße hatte er wohl einen Teil seiner Einrichtung bei der Spedition Jacob in Wiesbaden untergestellt, wie aus einem Schreiben der Steuerfahndung vom 27.10.1939 hervorgeht. Weil die Unterbringung weitere Kosten verursachte wird er sich entschieden haben, sich davon zu trennen., siehe HHStAW 685 184a (70).

[55] Ebd. (13, 15).

[56] Ebd. (16). Laut seiner Gestapokarteikarte hatte der Umzug am 5.8.1940 stattgefunden.

[57] Ebd. (16).

[58] Ebd. (23). Im Erinnerungsblatt für das Ehepaar ist eine Faksimile dieses Schreibens abgedruckt, leider aber mit der falschen Quellenangabe. Statt auf die Devisenakte, ist dort auf die Entschädigungsakte HHStAW 518 11638 verwiesen. Der Betrag wurde am 4.3.1941 freigegeben.

[59] Ebd. (24). Wer Ernst Kiefer war und in welcher Beziehung er zu dem Beschenkten stand, konnte nicht geklärt werden.

[60] Unbekannte Liste X 1.

[61] HHStAW 483 10127 (48).

[62] Siehe zu diesem Transport Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 317 ff., umfassend Kingreen, Deportation der Juden aus Hessen, S. 132-169.

[63] HHStAW 469/33 3647 (19).

[64] https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/11663-paula-gallinger/. und https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/11659-daniel-gallinger/. (Zugriff: 10.09.2024), dazu Gottwaldt / Schulle, Judendeportationen, S. 227.

[65] HHStAW 518 11685 (31). Erst Mitte bis Ende der 50er Jahre scheint es ihm wirtschaftlich nicht mehr so gut gegangen zu sein.

[66] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/117169853/person/152470829293/facts.  (Zugriff: 20.8.2024).

[67] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/117169853/person/152471248320/facts?_phsrc=svo4877&_phstart=successSource. (Zugriff: 20.8.2024). Als Lee Gallinger im Januar 1957 den Entschädigungsantrag einreichte, waren nur die ersten beiden Kinder geboren, die laut des im Antrag genannten Alters um 1944 und 1949 zur Welt gekommen sein müssen, siehe HHStAW 518 11685 (1). Da Mina Ciener am 12.10.1957 eine zweite Ehe mit Oswald Oliver Landy einging, muss die Ehe mit Lee Gallinger vor diesem Datum geschieden worden sein.

[68] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/60716/images/44494_350679-02234?pId=4698904. (Zugriff: 20.8.2024). Die Todesnachricht überbrachte sein ältester Sohn Kenneth, der damals in San Antonio in Texas wohnte.

[69] Heiratsregister Frankfurt Rödelheim 32 /1896. Carl Weil war am 27.10.1867 in St. Johann / Saarbrücken geboren worden.

[70] Heiratsregister Frankfurt Rödelheim 35 / 1897. Moritz Weil war am 20.8.1870 ebenfalls In St. Johann / Saarbrücken geboren worden. Da Mina Ciener am

[71] Zur Familie Weil, zu deren Kaufhaus und seiner Arisierung siehe den Artikel von Marco Reuter in der Saarbrücker Zeitung vom 8.12.2020. Ob es sich bei der „Übernahme“ aber tatsächlich um einen reinen Freundschaftsakt handelte, wie der Artikel suggeriert, muss doch sehr bezweifelt werden. Zumindest spricht die Tatsache, dass es nach dem Krieg ein Restitutionsverfahren gab, gegen diese Sichtweise.

[72] In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich auch ein Wein- und Geschäftshaus, das ebenfalls der Familie Weil gehörte. Es steht an der Ecke Bahnhofstraße / Futterstraße und beherbergt heute eine Filiale von Peek & Cloppenburg.

[73] Geburtsregister St. Johann 499 / 1898. Dem Paar waren noch zwei weiter Kinder in St. Johann geboren worden, die aber beide das erste Lebensjahr nicht erreichten. Alice Therese war am 1.8.1899 geboren worden, sie verstarb nach zwei Wochen am 15.8. des gleichen Jahres. Geburtsregister 393 / 1899 und Sterberegister 234 / 1899 St. Johann. Fritz, geboren am 14.1.1901, verstarb am 16.11.1901. Geburtsregister 49 / 1901 und Sterberegister 340 / 1901 St. Johann.

[74] Sterberegister Frankfurt I 920 / 1922.

[75] https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/2280/images/47294_302022005557_0643-00479?pId=6747929. (Zugriff: 10.09.2024). Senta Kauffeld war am 14.12.1898 geboren worden.

[76] Ebd.

[77] Sterberegister Berlin Wilmersdorf 145 / 1934.

[78] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/162694458/person/142275200733/facts. (Zugriff: 10.09.2024).

[79] https://gedenkbuch.saarbruecken.de/en/memorial_book/person_details/person-5379. (Zugriff: 10.09.2024).

[80] HHStAW 685 184a (46).

[81] https://gedenkbuch.saarbruecken.de/en/memorial_book/person_details/person-10647. (Zugriff: 10.09.2024).

[82] https://gedenkbuch.saarbruecken.de/en/memorial_book/person_details/person-5379. (Zugriff: 10.09.2024).

[83] https://gedenkbuch.saarbruecken.de/en/memorial_book/person_details/person-5376. (Zugriff: 10.09.2024).

[84] https://www.ancestry.de/family-tree/person/tree/183679925/person/352399549978/facts. (Zugriff: 10.09.2024).

[85] https://www.openarchieven.nl/nha:e2f44a22-fa5e-424d-a786-12681e2ae595/de. (Zugriff: 10.09.2024).

[86] https://www.joodsmonument.nl/en/page/89797/fairy-peper. (Zugriff: 10.09.2024).

[87] https://www.joodsmonument.nl/image/2016/3/28/hijman_peper.jpg%28mediaclass-warvictim-carousel.67d08ede1706aa86ac21a1f8fb99afb12f769340%29.jpg. (Zugriff: 10.09.2024).

[88] In Yad Vshem ist für Hijman Peper der falsche Nachname Fefer angegeben, auch ist hier das Geburtsdatum falsch mit dem 23. statt dem 25.10.1899 angegeben, eine Angabe, die man in verschiedenen Aufzeichnungen findet. Der Geburtseintrag nennt aber eindeutig den 25. als Geburtstag. https://collections.yadvashem.org/en/names/4278974. (Zugriff: 10.09.2024) Für Fairy https://collections.yadvashem.org/en/names/4278968. (Zugriff: 10.09.2024), für Thea Margarete https://collections.yadvashem.org/en/names/14369069. (Zugriff: 10.09.2024).